Daniel Wisser

Die erfundene Frau

Erzählungen

Luchterhand

für Daniela

Roswitha

Den anderen im Büro erzählte Roswitha nicht, dass sie zweimal mit ihrem Arbeitskollegen Sascha ausgegangen war. Er galt als Sonderling. Und er kam auch Roswitha ein wenig sonderbar vor. Dass er immer wieder sagte, er finde Roswitha den schönsten Vornamen überhaupt, schmeichelte ihr. Roswitha selbst erinnerte ihr Name an alte, dicke Frauen in Trachtenkleidung, Schürzen oder Hausanzügen.

Als sie das erste Mal mit Sascha ausgegangen war, hatte er sie beim Abschied gefragt, ob sie ihn küssen wolle. Warum sie Nein gesagt hatte, wusste sie nicht. Beim zweiten Date verärgerte Sascha sie ein wenig. Er hatte eine noble Champagnerbar vorgeschlagen, kam und erklärte ihr gleich als Erstes, er habe seine Geldtasche mit allen Karten zu Hause vergessen. Also bezahlte Roswitha am Ende des Abends, was ihr nichts ausmachte. Aber als sie bezahlt hatte, rügte Sascha sie, sie habe viel zu viel Trinkgeld gegeben. Roswitha war verärgert. Noch mehr war sie verärgert, als Sascha beim Abschied keinen weiteren Annäherungsversuch unternahm. Das war seine letzte Chance, schwor Roswitha sich. Keine Treffen mehr. Im Juni war das gewesen.

An einem Tag im September, an dem Sascha sich morgens krankgemeldet hatte, wurde Roswitha ins Personalbüro gebeten. Ihr wurde mitgeteilt, man habe Sascha fristlos entlassen. Er werde nicht mehr kommen. Man beauftragte sie, seinen Schreibtisch zu räumen und arbeitsrelevante Akten von privaten Papieren und Gegenständen zu trennen.

Roswitha war überrascht, aber sie machte sich an die Arbeit. Sie überlegte kurz, ob sie Sascha anrufen und ihn fragen sollte, was geschehen war. Dann aber dachte sie, er werde sich schon melden. So kam es ihr höflicher und würdevoller vor. Vielleicht wollte er auch nicht darüber reden. Obwohl Roswitha schon neugierig war. In den Raucherzimmern kursierten erste Gerüchte, aber solche Geschichten waren meist falsch.

Erst in der untersten Lade fand Roswitha persönliche Gegenstände. Ein paar Ansichtskarten. Offensichtlich von einer Frau, die mit Lippenstift einen Kuss auf die Karte gedrückt hatte. Sie waren unterschrieben, aber Roswitha konnte den Namen nicht entziffern. Eine schwere Büchse voller Münzen, ein Umschlag mit einem Zehneuroschein und Rechnungen. Und ein Notizbuch. Wie viel Geld in der Büchse war, konnte Roswitha nicht abschätzen. Sie legte die Büchse in den Karton für die Privatsachen. Dann öffnete sie das Notizheft. In sehr schöner Schrift standen dort in jeder Zeile ein Datum, ein Kommentar und ein Geldbetrag:

12.11.2013

auf der Straße gefunden

0,20

15.11.2013

im Supermarkt auf dem Boden gelegen

16.11.2013

im Kaffeeautomaten gefunden

0,10

So ging es dahin. Dann aber stieß Roswitha auf folgende Zeile:

2.12.2013

aus Roswithas Kaffeekasse genommen

2,00

Den letzten Eintrag fand sie nicht nur einmal, sondern zigmal. Was für ein Arschloch, dachte Roswitha. Tatsächlich hatte sie eine Büchse mit Münzen in einer Schreibtischschublade, die sie nie absperrte. Ihr war nicht aufgefallen, dass Sascha sich dort bedient hatte. Aber in dem Moment, als sie darüber nachdachte, fiel ihr ein, dass sie manchmal sicher gewesen war, eine Ein- oder Zweieuromünze obenauf gelegt zu haben, sie aber nicht mehr fand. Sie hatte immer gedacht, sie habe sich eben geirrt. Offensichtlich hatte Sascha es auf die Zweieuromünzen in ihrer Kaffeekasse abgesehen gehabt.

Roswitha überlegte, das ganze Buch zu durchforsten, um zusammenzuzählen, was Sascha ihr gestohlen hatte. Zu diesem Betrag müsste sie noch die Hälfte der Rechnung in der Champagnerbar (inklusive Trinkgeld) addieren. Ergab die Summe, die das Arschloch ihr schuldete. Sollte sie das dann ins Buch schreiben, einen Minusbetrag mit Rotstift? Roswitha warf das Notizbuch in den Karton und rief den Haustechniker an, er könne Saschas Sachen abholen. Wie gut, dass ich ihn niemals geküsst habe, dachte sie.

Zehn Monate später, im Juli, hatte Roswitha Urlaub und nahm am Hauptbahnhof einen Zug nach Venedig. Wie immer war sie viel zu früh am Bahnhof, kaufte noch Wasser, Gebäck und zwei Tageszeitungen und setzte sich auf eine Bank in der großen Halle. Sie mochte es, die Menschen am Bahnhof zu beobachten und ihnen Namen zu geben. Dann aber entdeckte sie jemanden, der schon einen Namen hatte: Sascha. Er trug eine braune Hose und ein braunes Sakko, schien ein wenig schlanker als früher zu sein und trug jetzt einen Vollbart. Roswitha hielt die Zeitung vor das Gesicht. Sie wollte nicht, dass Sascha sie entdeckte. Sascha ging zu den Fahrkartenautomaten und steckte die Hand in jeden Auswurfschlitz. Er suchte offensichtlich nach Rückgeld, das liegen geblieben war. Dann ging er durch die Halle zum hinteren Ausgang. Roswitha stand auf und ging mit ihrem Trolley langsam hinterher. Vor der Trafik war ein Zigarettenautomat. Auch hier suchte Sascha nach Münzen, dann verließ er die Bahnhofshalle, wobei er ständig auf den Boden schaute.

In Venedig fand Roswitha einen kleinen Laden mit schönen Notizbüchern in der Auslage. Sie betrat das Geschäft und nahm ein Notizbuch in die Hand: innen edles Papier, außen glattes schwarzes Leder. Sie kaufte es. Einfach so. Abends saß sie in ihrem Lieblingscafé am Rialto Mercato und schlug das Buch auf. Sie überlegte, was sie hineinschreiben könnte. Dass sie sich wünschte, noch in diesem Urlaub von einem Mann geküsst zu werden? Zu deprimierend. Wann sie das letzte Mal von einem Mann geküsst worden war? Sie erschrak. Es war viereinhalb Jahre her. Das konnte sie nicht in das Notizbuch schreiben. Zu deprimierend.

Silvia

Nachdem Ilona gekündigt hatte, machten Karl und sie Urlaub in Italien. Jeden Tag tranken sie um 17:00 Uhr Aperitivo, jeden Tag gingen sie gut essen und jeden Tag hatten sie Sex. Karl gefiel, dass Ilona Italien mochte. »Hier lebt man noch richtig«, sagte sie einmal. Und ein anderes Mal: »Die Italiener wissen, wie’s geht!«

Dann fuhren die beiden für zwei Wochen nach Berlin, um eine Freundin von Ilona zu besuchen. Karl kam es so vor, als wäre Ilona ihm gegenüber plötzlich abweisend und feindselig. Wenn er sie in der Nacht berührte, nahm sie seine Hand und entfernte sie von ihrem Körper. Mehrmals ging das so, zuerst mit dem Hinweis, die Freundin könne sie hören, später ohne Erklärung. »Jetzt sei nicht beleidigt. Du hast nicht immer Anspruch auf mich«, sagte Ilona.

Zurück zu Hause ging Karl wieder arbeiten. Ilona saß den ganzen Tag auf dem Sofa. Wenn Karl später kam als sonst, sagte sie: »Hast du noch deine Freundin getroffen?« Karl antwortete nicht. Abends klagte Ilona über Beschwerden. Sie sei nun in den Wechseljahren. Sie fühle sich nicht mehr als richtige Frau. Karl wollte sie trösten und legte seine Hand auf ihren Oberschenkel. »Das ist alles, was dir dazu einfällt, du Sexmolch?«, fragte Ilona. Karl schwieg. Er dachte, dass es das Wort Sexmolch gar nicht gab. Er versuchte, den Aperitivo genau so zu machen, wie er in Italien gewesen war. Doch er schmeckte anders. Und er wirkte nicht.

Einmal fuhren sie im Auto. An der Ampel blickte Karl gedankenverloren aus dem Beifahrerfenster. Ilona hatte ihn beobachtet und schien zu glauben, dass er die Radfahrerin an der Ampel anstarrte.

»Und passt alles?«, fragte Ilona.

»Was meinst du?«, fragte Karl.

»Die Radfahrerin. Gefällt sie dir?«

Karl schwieg.

Ilona fuhr weiter. »Die hat wirklich einen super Arsch«, sagte Ilona, »hat deine Freundin, die du nach der Arbeit triffst, auch so einen super Arsch? Wenn das so weitergeht, lasse ich mich scheiden.«

Früher hatte Ilona zu Mittag mit ihren Kolleginnen gegessen und Karl hatte in dieser Zeit nicht anrufen dürfen. Nun aber saß sie zu Hause und schrieb Karl SMS. Eine davon lautete: Du bist gesehen worden. Letzte Woche. In der Burggasse. Hand in Hand mit einer blonden Frau. Es reicht.

Jetzt gab es also schon Spitzel, die für sie arbeiteten. Karl überlegte, wann er in der Burggasse gewesen sein könnte. Er überquerte die Burggasse manchmal, aber er konnte sich nicht erinnern, in letzter Zeit dort in einem Lokal oder Geschäft gewesen zu sein oder die Burggasse auch nur entlanggegangen zu sein. Er antwortete: Was wird das jetzt? Wir reden am Abend.

Ilona wollte sich in einem Lokal treffen. Karl war froh, dass sie immerhin wieder außer Haus ging. Sie trafen sich in einem Kaffeehaus. Ilona setzte sich und legte sofort los: »Also, wie heißt sie?« Kein Kellner weit und breit. Karl schob das Set mit Salzstreuer, Pfefferstreuer und Zahnstochern von einer Kante des Tisches zur anderen. »Silvia«, sagte er.

»Silvia«, sagte Ilona schon ein wenig freundlicher. »Und hat sie vielleicht auch einen Nachnamen?«

Karl spielte weiter mit dem Salzstreuer. Plötzlich nahm Ilona ihm den Salzstreuer weg.

»Hör auf! Das nervt«, sagte sie.

Karl wusste, das brachte Unglück. Er hatte es in einer Zeitschrift gelesen: Die Hindus glauben, es bringt Unglück, wenn eine Person einer anderen Person Salz von Hand zu Hand übergibt. Karl blickte aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite las er auf einem Schild Optik Böhmert.

»Also«, sagte Ilona, »willst du mir jetzt ihren Nachnamen sagen?«

»Böhmert«, sagte Karl, »Silvia Böhmert.«

Ilona war zufrieden: »Kennst du sie von Facebook?«

Karl schüttelte den Kopf: »Sie ist nicht auf Facebook.«

Karl schlief diese Nacht in der Wohnung seiner Mutter. Die Wohnung stand ohnehin leer, seit die Mutter nach Innsbruck gezogen war. Karl kam sonst nur für die Hauptkehrung und das jährliche Stromzählerablesen. Er war zu faul, das Bett frisch zu überziehen, und legte sich auf das Sofa. Er zog Hose und Unterhose aus und stellte sich Silvia vor. Groß war sie. Genauso groß wie er. Das brünette Haar war schulterlang. Nein, länger. Sie hatte ein Kinngrübchen. Oder besser Wangengrübchen, die sich nur beim Lachen bildeten. Erstaunlich schöne und feste Brüste. Nicht zu große. Ihre Schultern und Arme waren schlank. Ihr Nacken der schönste der Welt. Eine SMS kam: Geht’s oder störe ich dich und deine Silvia beim Vögeln?

Am Morgen machte Karl zwei weiche Eier. Das heißt, er versuchte es. In der Wohnung seiner Mutter gab es einen Elektroherd, nicht einen Gasherd wie zu Hause. Karl nahm zwei Eierbecher und stellte sie auf den Tisch, daneben Löffel und Salzstreuer. Er erklärte Silvia, sie müsse den Salzstreuer nach dem Essen auf den Tisch stellen und dürfe ihn keinesfalls ihm in die Hand geben. Das bringe Unglück. Die Eier waren viel zu weich, fast roh. Das war Karl noch nie passiert. Er entschuldigte sich bei Silvia und aß beide Eier.

Karl legte eine E-Mail-Adresse für Silvia Böhmert an. Sie hat Schuhgröße 41, beschloss er. Und er schrieb alle ihre Daten in ein kleines Heft.

Einige Monate später waren Ilona und Karl auf eine Party eingeladen. Die Frauen waren im Garten, die Männer standen in der Küche. Karl gefiel die Geschlechtertrennung nicht. Er ging in den Garten, um den Frauen zuzuhören. Dort wurde über Religion gesprochen. Ilona schien schon ein wenig betrunken zu sein. Sie ergriff das Wort: »Wir wurden aus der Rippe des Mannes erschaffen. Wer glaubt so einen frauenfeindlichen Scheiß? Aus der Rippe des Mannes. Eine spare rib, oder was? Wahrscheinlich auch noch beim Grillen.«

Es war Karl unangenehm, dass Ilona so viel redete. Zurück in der Küche erzählte ein Bekannter der Gastgeber von der krankhaften Eifersucht seiner Freundin, die jede Frau, die ihm irgendwo begegne, verdächtige, etwas mit ihm anzufangen. Karl dachte sich nichts dabei, als er sagte: »Ilona hat mich so lange gequält, ihr den Namen der Frau zu sagen, mit der ich sie betrüge, bis ich sie erfunden habe. Ich habe sogar eine E-Mail-Adresse für sie angelegt. Ich schreibe ihr E-Mails, und dann schreibe ich mir selbst zurück.« Das Gelächter schmeichelte Karl.

Es wurde weiter getrunken, später waren alle im Garten um den Grill versammelt. Einer der Zuhörer aus der Küche sagte laut zu Karl: »Diese Geschichte mit der erfundenen Frau ist super. Wie hieß sie noch? Ich bin schon von deiner Erzählung ganz verliebt in sie. Silvia wie?«

Karl versuchte, leise zu antworten, aber es war schon zu spät.

»Böhmert«, sagte er noch, da stand Ilona schon vor ihm.

»So, jetzt lasse ich mich endgültig scheiden«, sagte sie laut.

»Warum? Weil ich dich nicht betrogen habe?«, fragte Karl.

Die Umstehenden lachten über Karls Antwort.

Ilona versuchte es mit silvia.boehmert@gmx.at, silvia.boehmert@gmail.com, silvia.boehmert@chello.at, silvia.boehmert@aon.at, silvia_boehmert@yahoo.com und vielen anderen mehr. Sie schrieb:

Sehr geehrte Frau Böhmert,

mein Mann hat mir von Ihnen erzählt. Bitte, das ist keine Rache- oder Droh-E-Mail. Ich möchte wirklich mit Ihnen reden. Mein Mann betrügt mich seit Jahren. Wir sind seit 18 Jahren zusammen. Ich weiß, dass ihm etwas in unserer Beziehung fehlt. Er hält mich nicht mehr an der Hand, küsst mich nur sehr kurz und widerwillig, schläft am liebsten getrennt von mir. Ich vermisse die Zärtlichkeit von früher. Ob Sie mir wohl sagen können, was ihn wirklich anturnt? Bestimmt gab es doch zwischen Ihnen beiden eine erste Verliebtheit.

Mein Mann leugnet alles. Neuerdings behauptet er, Sie nur erfunden zu haben. Das ist sehr demütigend für mich. Bitte helfen Sie mir!

Herzlich, Ilona Vass

Frau Ilse

Es blieb nichts anderes übrig, als Pacer mitzunehmen. Der kleine Schoßhund, ein reinrassiger Malteser, hatte das wenige, das er gefressen hatte, wieder erbrochen. Frau Ilse weinte drei, vier Tränen, tupfte sie mit einem Taschentuch aus ihrem Gesicht, bückte sich und wischte mit demselben Taschentuch das Erbrochene vom Teppich. Sie steckte die Leine in die Handtasche und trug den kleinen Hund vor das Haustor. Auf der Straße befestigte sie die Leine und ging mit Pacer ganz langsam über die Habsburgergasse zum Graben. Der Hund quälte sich bei jedem Schritt, aber Frau Ilse konnte ihn nicht die ganze Strecke tragen. Immer wieder musste sie an der Leine ziehen, damit Pacer wieder ein paar Schritte weiterging.

Pacer war eben alt. Benannt hatte ihn Frau Ilses Mann, der vor sieben Jahren verstorben war, nach dem Helden, den Elvis Presley im Film Flammender Stern gespielt hatte. Es war der Lieblingsfilm des Ehepaars Kaminek. Einmal im Jahr wurden Freunde eingeladen, um den Film gemeinsam anzusehen. Frau Ilses Mann war ein Fan von Barbara Eden. Und wäre der junge Malteser ein Weibchen gewesen, hätte sie bestimmt Jeannie geheißen, denn da Herr Kaminek Barbara Eden verehrte, verehrte er auch die Bezaubernde Jeannie.

Aus Gewohnheit wollte Frau Ilse den Meinl am Graben betreten. Kurz vor dem Eingang machte sie aber halt. Sie hatte dort in den letzten sieben Jahren immer dieselben Sachen gekauft: das, was ihr Mann gerne gegessen hatte. Meistens verdarben die Lebensmittel dann zu Hause. Frau Ilse aß seit dem Tod ihres Mannes nur noch Brot, Streichkäse und Schokolade. Alles andere warf sie nach zwei Wochen weg. Sie kaufte trotzdem immer Bresaola, 250 Gramm Leerdammer, Kapern, Lachs und Feta, weil es besser aussah, wenn sie mit der Einkaufstasche vom Meinl am Graben nach Hause zurückkehrte. Pacer hatte in den letzten beiden Jahren nur noch Trockenfutter gefressen und es nach fast jedem Essen wieder erbrochen.

Schluss, dachte Frau Ilse an diesem Tag. Keine Lebensmittel mehr, die ohnehin nicht gegessen werden. Ich brauche eine neue Handtasche. Sie wusste, wo sie hinwollte: Louis Vuitton. Schon oft hatte sie, wenn sie gegenüber ins Schwarze Kameel auf einen Prosecco gegangen war, die Auslage gemustert und wusste daher bereits, was sie wollte. Pacer legte sich, kaum im Geschäft angekommen, auf den Boden. Als Frau Ilse der Verkäuferin die Tasche zeigte, die sie kaufen wollte, musste sie den liegenden Pacer an der Leine hinter sich her über den Boden des Geschäfts schleifen.

Frau Ilse war sicher: Diese Tasche sollte es sein. Die Verkäuferin verschwand im Lager. Frau Ilse bückte sich, um Pacer aufzuheben. Sie stieß ihn mehrere Male an. Als sie ihn aufhob und anblickte, sah sie zwei erstarrte Augen. Das war’s, dachte Frau Ilse. Pacer ist nicht mehr.

Nun hatte Frau Ilse einen toten Ehemann und einen toten Hund. Als die Verkäuferin zurückkam, beherrschte sie sich trotzdem: »Verzeihen Sie, ich möchte nicht … mein Hund … Er ist gerade … von uns gegangen.«

Die Verkäuferin legte die rechte Hand auf die Brust: »Mein Gott, ist das schrecklich!«

Das Entsetzen der Verkäuferin entsetzte Frau Ilse. »Er war schon alt«, sagte sie, »sehr alt. Könnten Sie mir bitte nur eine Tragetasche geben, damit ich …«

Die Verkäuferin konnte sich kaum beruhigen. »Aber natürlich«, sagte sie und eilte davon, um eine Papiertragetasche zu holen.

Eigentlich hatte Frau Ilse die Handtasche wirklich kaufen wollen. Keinesfalls wollte sie den Eindruck erwecken, sie habe nur eine Ausrede gesucht, die Tasche nicht zu kaufen. Vielleicht hielt man es für einen raffinierten Trick, um in ein so mondänes Geschäft zu gehen und gratis eine Tragetasche zu bekommen? Frau Ilse hängte die Leine ab, steckte sie in die Handtasche und legte den toten Pacer in die Papiertragetasche.

Auf der Straße blieb Frau Ilse nach wenigen Schritten stehen. Was nun? Den Tierarzt anrufen oder gleich die Tierbestattung? Ihre Beine waren schwach, sie schaffte nur fünf Schritte. Dann stellte sie die Tragetasche mit dem toten Hund auf den Boden. Sie blickte sich um. Am kürzesten war der Weg ins Schwarze Kameel. Ein Glas Wein oder Prosecco würde jetzt bestimmt guttun.

Frau Ilse trank beides und dann noch ein Glas Prosecco. Sie hatte ihr Halstuch abgenommen und es in die Tragetasche gelegt, um den toten Pacer damit zuzudecken. Der Prosecco gab ihr Kraft. Sie überlegte, belegte Brötchen aus der Vitrine auszusuchen, dachte dann aber, die Pietät erfordere, dass sie jetzt nicht aß. Inzwischen hatte sie dem Tierarzt eine SMS geschickt und dieser hatte ihr – ebenfalls per SMS – sein Beileid ausgesprochen und angekündigt, Pacer um etwa 15:00 Uhr abzuholen und alles Weitere zu veranlassen. Ob sie im Krematorium dabei sein wolle oder nicht, überlasse er ihr.

Frau Ilse überlegte, noch einen Prosecco zu trinken. Sie hätte ihn auch gerne getrunken, dann aber fiel ihr ein, dass sie daraufhin bestimmt zur Toilette musste. Und die Toiletten waren ein Problem im Schwarzen Kameel, sie lagen im Untergeschoss, die Treppe hinunter war steil und machte Frau Ilse Angst. Mit dem toten Pacer in der Hand würde sie es sicher nicht schaffen. Am liebsten hätte Frau Ilse sich klein gemacht wie die bezaubernde Jeannie und wäre in einer Proseccoflasche verschwunden, die Tragetasche mit dem armen toten Pacer in der Hand.

Frau Ilse machte einen Kontrollgriff, tappte ins Leere und blickte nach unten. Das konnte nicht sein! Wo war die Louis-Vuitton-Tragetasche? Ihre Handtasche war da, die hatte sie auf dem Schoß, aber die Tragetasche mit dem toten Pacer war fort. Sie stand auf und suchte alles ab, dann alarmierte sie die Kellnerin. Zwei Kellner halfen bei der Suche. Ohne Ergebnis.

Auf dem Heimweg kaufte Frau Ilse beim Meinl am Graben alles, was ihr seliger Gatte gerne gegessen hatte. Als sie das Geschäft verließ, schrieb sie dem Tierarzt eine SMS, es tue ihr leid, aber sie habe den toten Hund mit dem Taxi bereits selbst ins Krematorium gebracht, aus Angst, die Verwesung könne schon einsetzen.

Als Frau Ilse zu Hause ankam und das Vorzimmer betrat, wurde ihr übel. Sie wollte schnell ins Badezimmer, aber sie hatte keine Kraft dafür. Wenn nur ein Riese sie an der Leine führen und an dieser Leine ins Badezimmer schleifen könnte. Sie erbrach sich. Der saure Geschmack von Prosecco im Mund steigerte die Übelkeit. Sie brauchte vier Taschentücher, um das Erbrochene aufzuwischen.

Es war nicht einmal 13:00 Uhr, als Frau Ilse in der Küche am Esstisch saß und nicht wusste, was sie mit diesem Tag noch anfangen sollte. Sie betrachtete die Packung Hundefutter. Sie schrieb dem Tierarzt eine weitere SMS, um ihm mitzuteilen, er könne jede Menge Hundefutter bei ihr abholen.

Am frühen Abend saß der Tierarzt an Frau Ilses Küchentisch.

»Möchten Sie ein Stück Brot mit Butter und Bresaola?«

Der Tierarzt winkte ab. Er fragte, wie es im Krematorium gewesen sei.

Frau Ilse musste ausweichend antworten, die wirkliche Geschichte wagte sie nicht zu erzählen, dass jetzt ein Dieb in der Stadt herumlief, mit dem toten Pacer in einer Papiertragetasche. Wahrscheinlich hatte der Dieb den armen toten Hund längst in eine Mülltonne geworfen, wo er nun verweste. Nein, sie schaffte es nicht.

»Schmerzfrei muss der Tod sein, hat mein seliger Mann immer gesagt«, sagte Frau Ilse. »Schmerzfrei! Vielleicht ein Stück Leerdammer und ein paar Kapern dazu?«

Linda

1

»War das wirklich die letzte Chemo?«, fragte Linda.

»Ja«, antwortete Michael.

»Drei, haben sie gesagt. Nur drei Behandlungen«, sagte Linda, »das war jetzt die achte.«

»Ich weiß, mein Schatz. Aber du bist tapfer. Du schaffst das.«

Im Garten der Klinik standen zwei Gärtner, ein älterer und ein sehr junger. Sie diskutierten und gestikulierten dabei. Der jüngere Gärtner bückte sich und deutete dabei auf seine Kniescheibe.

»Die haben ein gutes Leben«, sagte Linda. »Jeden Tag beobachte ich sie.«

Linda erzählte, dass die Gärtner niemals von Pflanzen oder Bäumen oder über ihre Arbeit redeten, sondern immer über Fußball. Der jüngere Gärtner zeige dem älteren seine Verletzungen vom letzten Match. Dabei verwende der Junge Fachausdrücke, die er falsch ausspreche. So sage er immer Miniskus, wenn er vom Meniskus spreche, und wenn er Luxation sagen wolle, komme ein ganz seltsames Wort heraus, das sie gar nicht nachahmen könne.

Linda blickte zum Infusionsständer. Der Beutel war noch sehr voll. »Du solltest wieder mal was für dich machen, Michi. Etwas, das dir Spaß macht.«

»Was macht mir denn Spaß?«, fragte Michael.

»Ich weiß nicht. Fahr nach München und geh ins Hofbräuhaus!«

»Allein?«

»Geh mal wieder Boule spielen mit deinen Kollegen. Fahr mit dem Rad nach Bratislava. Schau dir im Kino einen Film an. Du musst doch nicht jeden Tag neben deiner kaputten Frau sitzen!«

»Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut«, sagte Michael.

2

Michael war nervös, als er läutete. Die Tür ging auf.

»Hallo! Hast du einen Termin?«, fragte die Frau an der Tür.

»Ja«, sagte Michael. »Nein!«

»Also, ja oder nein?«

»Ich habe keinen Termin«, sagte Michael.

»Ist gut, Schätzchen«, sagte die Frau. »Komm mit! Bist du das erste Mal bei uns?«

»Nein«, sagte Michael.

Natürlich war er das erste Mal hier. Was für eine dumme Frage, dachte Michael. Er folgte der Frau über eine Treppe in einen Korridor. Links und rechts waren Zimmer. Es war niemand zu sehen. Die Frau öffnete eine Zimmertür: »Mach’s dir bequem, ich schicke die Mädchen vorbei, und du suchst dir eine aus, o. k.?«

Im Zimmer gab es ein Bett, eine Duschkabine und ein Tischchen mit einem Fauteuil. Michael hätte die Musik gerne leiser gemacht, aber dann verstand er, wozu sie gut war. Alles war sauber. Am Bettgestänge waren Handschellen festgemacht. Die Handschellen störten Michael. Er wollte keine Handschellen.

Nach einigen Minuten hörte Michael Stöckelschuhe näher kommen. Die Tür ging auf. Ein junges, dunkelhäutiges Mädchen kam lächelnd zur Tür herein. Er stand auf und gab ihr die Hand.

»Ich bin Marina«, sagte das Mädchen.

»Michael«, sagte Michael.

Das Mädchen gefiel ihm, aber sie hieß in Wirklichkeit bestimmt nicht Marina. Warum nur hatte er seinen richtigen Namen gesagt?

»Ich schicke jetzt die anderen Mädchen zu dir«, sagte Marina.

»Ja«, sagte Michael. »Das heißt nein. Kannst du nicht bei mir bleiben?«

»Aber sicher. Eine Stunde, eine halbe Stunde oder Quickie?«, fragte Marina.

»Eine Stunde«, sagte Michael.

Er wunderte sich über seine Bestimmtheit. Sie verlangte 180 Euro. Er zückte seine Brieftasche.

»Leg das Geld hier auf den Tisch, o. k.? Gehst du dich duschen, mein Schatz?«, sagte Marina. »Ich komme gleich zu dir.«

Michael nahm zwei Hunderter aus der Brieftasche und legte sie auf den Tisch. Dann zog er sich aus. Er überlegte, ob es im Zimmer eine Kamera gab. Er betrat die Duschkabine. Langsam seifte er sich mit dem Duschgel ein, das dort bereitstand. Es war stark parfümiert. Wie gut, dass er Linda an diesem Tag nicht besuchen musste. Sie hatte es ihm verboten. Er solle mal einen Tag für sich haben. Michael hatte protestiert, nun aber war er froh, dass er eingewilligt hatte. Linda würde sofort riechen, dass er ein anderes Duschgel verwendet hatte. Obwohl man ihnen erklärt hatte, dass es während und nach der Chemotherapie zu Geruchs- und Geschmacksverlust kommen könne, redete Linda schon seit der ersten Behandlung oft von Gerüchen. Vielleicht tat sie nur so, als könne sie gut riechen.

Fast die ganze Flasche Duschgel brauchte Michael auf. Er stieg aus der Duschkabine und trocknete sich mit dem Badetuch ab, das auf dem Bett lag. Lange saß Michael mit dem Badetuch um die Hüften auf dem Bett. Endlich hörte er auf dem Gang wieder Stöckelschuhe. Marina betrat das Zimmer und zog sich gleich aus. Michael fand das schade, er hätte das gerne getan – und zwar langsam. Außerdem störte ihn, dass sie das Zimmer nicht abgesperrt hatte. Er wies sie darauf hin. Sie lachte, ging zur Tür und drehte den Schlüssel um. Dann versetzte sie ihm im Scherz einen Stoß, sodass er aufs Bett fiel. Sie legte sich zu ihm. Sie hatte schöne, feste Brüste. Er dürfe sie sogar küssen, sowohl die Brüste als auch Marina.

Michael bekam sofort eine Erektion. Er war schockiert über sich selbst. Wie gut alles funktionierte! Dass er kein schlechtes Gewissen hatte! Er dachte nicht an Linda. Nur, indem er dachte, dass er nicht an sie dachte, dachte er an sie.

»Magst du von vorne oder von hinten?«, fragte Marina.

Michael wählte die Missionarsstellung. Bald kam er zum Höhepunkt. Der erste Sex seit mehr als zwei Jahren. Routiniert zog Marina ein Taschentuch aus der Spenderbox, entfernte das Kondom, wickelte es ein und warf es auf den Boden neben das Bett.

Dann lag er neben Marina, und sie erzählte von ihrer Heimat Kuba. Er wolle unbedingt einmal nach Kuba reisen, sagte Michael.

»Hier bei euch ist das Leben Stress«, sagte Marina, »und ihr Österreicher redet einfach nichts. Jeden Tag muss ich nachdenken, was dieses Schweigen bedeutet. Oder ihr sagt Ja oder Nein, ein paarmal am Tag. Und das war’s. Es ist furchtbar. Im Sommer bin ich gerne hier, aber im Winter ist es furchtbar.«

Michael mochte das dunkelhäutige Mädchen, und sie tat ihm leid. Bestimmt war sie froh, wenn er wieder weg war. Ob sie einen Heiratsantrag von ihm annehmen würde? Sie müsste dann nicht mehr mit Männern ins Bett gehen, die zu Hause keinen Sex hatten. Sie könnte zu Hause bleiben, während er arbeiten ging, und im Winter für ein paar Monate nach Kuba fliegen.

Michael hatte eine seltsame Fantasie: Er sah sich selbst mit seinem Chef beim Mittagessen. Tatsächlich gingen die beiden manchmal gemeinsam essen. Michael hörte sich selbst sagen: »Meine Frau … meine zweite Frau … Sie ist Kubanerin.«

»Bist du verheiratet?«, fragte Marina.

»Nein«, antwortete Michael.

Marina lachte. Sie nahm seine Hand und streichelte seine Finger, bis sie bei seinem Ehering angelangt war.

»Ja«, sagte Michael, »meine Frau … sie … Du musst wissen, dass …«

Marina hielt ihm ihren Zeigefinger an die Lippen. Sie begann sein Brusthaar zu streicheln und leicht in seine Brustwarzen zu beißen. »Mach dir keinen Kopf! Jeder dritte Mann geht ins Puff«, sagte sie.

Diesmal machten sie es von hinten. Danach duschte Michael wieder. Nun war das Duschgel leer.

Marina begleitete Michael die Treppe hinunter zur Eingangstür und hielt dabei seine Hand.

»Das war fein. Ich hoffe, du hattest Spaß, mein Schatz«, sagte Marina.

»Ja«, antwortete Michael.

»Kommst du wieder?«, fragte Marina.

»Ja.«

Er wollte Marina auf die Wange küssen, aber sie hielt ihn am Kinn fest und drückte kurz ihre gespitzten Lippen auf seine.

Als er vor die Tür trat, ging er ein paar Schritte zur Straßenbahn, blieb kurz stehen und machte sein Mobiltelefon an. Er war erleichtert: Linda hatte nicht angerufen.

3

Linda saß im Rollstuhl an der großen Glasscheibe, durch die man den Garten sehen konnte. Der untere Teil war voller Finger- und Handabdrücke. Besonders Kinder, die zu Krankenbesuchen mitgenommen wurden, hinterließen hier ihre Spuren.

Linda fuhr nicht in den Garten hinaus, heute nicht. Es war zu kalt. Sie erschrak, als Schwester Carina sie von hinten an den Schultern fasste.

»Warten Sie auf Ihren Mann?«, fragte die Schwester.

»Ich habe ihm verboten, heute zu kommen«, sagte Linda.

»Na, Sie sind aber streng!«