Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2021
Copyright © 2021 by Sina Scherzant und Marius Notter
Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung zero-media.net, München
Coverabbildung Fritzi Stuke/Kombinatrotweiss
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-00930-1
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-00930-1
«Auf Gleis 4 fährt ein – der ICE 1699 nach Frankfurt am Main Hauptbahnhof», ertönte die Lautsprecher-Durchsage in Kassel-Wilhelmshöhe.
«Wird auch langsam mal Zeit, dass der hier eintrudelt», brummte Achim und sah mit verkniffenem Gesichtsausdruck auf die Zuganzeige. «ICE 1699 nach Frankfurt am Main Hauptbahnhof – heute 10 Minuten später» stand dort in gelb-leuchtender Schrift.
«Wenn du dich auf die Bahn verlässt, biste verlassen», stimmte ihm seine Frau Anette zu und lehnte sich mit verschränkten Armen an ihren Rollkoffer. So langsam tat ihr der Rücken weh. Sie waren extra vierzig Minuten früher am Bahnhof gewesen. Man konnte ja nie wissen!
Wenn da mal zwei Ampeln etwas länger rot sind, dann hat man den Salat, sagte Anette immer.
«Ich lauf noch mal ganz schnell zum Wagenreihungsplan. Bin mir nicht sicher, ob ich wirklich richtig geschaut habe!»
«Anette, du standest vorhin mindestens zehn Minuten vor dem Wagenreihungsplan. Außerdem kommt der Zug da hinten schon. Ich hab keine Lust, dass du jetzt wegrennst, und dann steh ich hier mit den zwei Koffern!»
Ach, Mensch. Ihr Göttergatte hatte natürlich recht. Anette hatte sich den Plan sogar mit dem Smartphone abfotografiert, aber das Foto war so verschwommen, dass sie kaum etwas entziffern konnte. Am liebsten hätte sie nur zur Sicherheit noch mal schnell auf den Plan geschaut. Aber sie wollte natürlich den Zug nicht verpassen. Schon gar nicht heute!
Achim und Anette waren nämlich auf dem Weg nach Frankfurt zu ihrer Tochter Annika, die dort gerade eine berufsbegleitende Weiterbildung zur Versicherungs- und Finanzrechts-Fachwirtin absolvierte.
«Mama, an dem Wochenende 16./17. hätte eigentlich ein Blockkurs stattgefunden, aber der fällt aus. Da könntet ihr mich doch dann endlich mal besuchen! Ihr habt meine Wohnung noch überhaupt nicht gesehen!», hatte Annika vor drei Wochen am Telefon mit unüberhörbarem Vorwurf in der Stimme gesagt.
Das stimmte tatsächlich, aber es war auch wirklich nicht einfach, Achim zu solchen Spontanausflügen zu überreden. Mal abgesehen von ihrem alljährlichen, zweiwöchigen Sommerurlaub am Gardasee, blieb der nämlich am liebsten zu Hause in Hildenberg.
«Auf die Schnelle kriegen wir doch eh keine Tickets mehr. In drei Wochen schon? Das hätte sich unser junges Fräulein ja auch mal früher überlegen können», hatte er nur gebrummt und kaum von seiner Zeitung aufgesehen. Doch Anette hatte ihn ignoriert, fix ihre Lesebrille hervorgeholt und den Computer in ihrem kleinen Arbeitszimmer hochgefahren. Das wär doch gelacht, wenn sich da nicht noch ein Schnapper finden ließe! Als sie dann im Internet die Verbindungen gecheckt hatte, war sie tatsächlich fündig geworden. Es gab sogar noch Sparpreise für einzelne Verbindungen, die Achim aber sofort mit einem Kopfschütteln abgetan hatte.
«Da müsste ich mir ja den Freitag auch noch freinehmen. Nee nee, das ist nicht drin», hatte er aus dem Wohnzimmer gerufen, nachdem Anette ihm die Zeiten durchgegeben hatte. Auf Anettes Vorschlag hin, dass sie ja auch mit dem Auto fahren könnten, war es fast zum Eklat gekommen. Wie er denn in so einer riesigen und chaotischen Stadt wie Frankfurt einen Parkplatz finden solle, hatte Achim seine Frau angeherrscht.
«Jörg und Biggi sind im letzten Jahr sogar mit dem Auto nach Amsterdam gefahren», hatte Anette spitz erwidert, woraufhin Achim sich erhoben hatte und ohne ein weiteres Wort in seine Kellerwerkstatt verschwunden war. Anette, die Achims griesgrämige Phasen nur allzu gut kannte, hatte schließlich einfach zwei Tickets für den späten Freitagnachmittag gekauft – fünfzehn Euro teurer als die Spartickets am Vormittag, aber das verschwieg sie geflissentlich.
Seitdem freute sich Anette wie verrückt auf den Kurztrip. Endlich mal wieder raus aus Hildenberg! Seit fast dreißig Jahren lebten Anette und Achim nun schon in dem kleinen, beschaulichen Örtchen.
Wir können uns ja nicht vorstellen, noch mal woanders zu leben! Hier haben wir alles, was wir brauchen, sagte Achim immer, und Anette stimmte ihm dabei auch von ganzem Herzen zu. Trotzdem brauchte sie ab und an einen Tapetenwechsel. Frisch verheiratet waren die beiden damals aus dem angrenzenden Nachbarort nach Hildenberg gezogen und hatten ein kleines Häuschen in der ruhigen Siedlung «Am Rosengarten» gekauft. So ruhig wie in der Rosengarten-Siedlung, in der seit jeher ausschließlich Familien und Paare jenseits der sechzig wohnten, hätte es nach Anettes Geschmack gar nicht sein müssen. Doch Achim hatte darauf bestanden, dass weder ein Kindergarten, noch eine Schule und schon gar kein Jugendzentrum in unmittelbarer Nähe zu ihrer ersten gemeinsamen Behausung stehen dürften. So war die Wahl schließlich auf die Siedlung am Ortsrand gefallen, in der man an einem Sonntagnachmittag wahrscheinlich sogar den Fall einer Stecknadel hören würde.
Ordentlich in Weiß und Hellgrau gestrichene Doppelhaushälften prägten das Ortsbild in diesem Teil Hildenbergs. Vor jeder Haustür befand sich ein kleines Rechteck, das die meisten Bewohner mit einer adretten Mischung aus sorgsam gemähten Grünstreifen, Kies-Formationen und kleinen Büschen in Tontöpfen gestaltet hatten. Wer es etwas flippiger mochte, stellte noch einen Steinfrosch, eine bunte Glaslibelle auf einem Stab oder eine kleine Holzbank in einer grellen Farbe dazu. Damit niemand auf die Idee kam, dass eine solche Bank mehr als nur der Zierde dienen könne, wurden darauf gerne verschiedene dekorative Kantenhockerfiguren platziert. So thronte vor dem Haus der Ahlmanns ein großer Vogel, dessen Rumpf aus einem Granitstein bestand. Die Gliedmaßen und der spitze Schnabel waren aus Edelstahl. Ausladend saß der Vogel auf der kleinen Bank, die Achim auf Anettes Wunsch hin hellgrün gestrichen hatte. Direkt daneben ragte der Ahlmann’sche Carport in den Himmel, den sie sich vor einigen Jahren angeschafft hatten, nachdem bei allen in der Nachbarschaft nach und nach die Garagen durch schmucke Holzkonstruktionen ersetzt worden waren. Anette war in Hildenberg und in der Siedlung «Am Rosengarten» bekannt wie ein bunter Hund, sie wusste immer, was im Ort gerade los war, und wenn sie durch ihre Siedlung lief, wurde in alle Richtungen gegrüßt:
«Frau Meier, wie geht’s dem Fipsi? Was kam denn beim Tierarzt raus?»
«Inge, grüß dich! Sehen wir uns heute Abend im Frauenverein?»
«Yoga fällt heute aus, Babsi. Haste die WhatsApp von Manu schon gelesen?»
Und dennoch … so hin und wieder ein bisschen mehr Trubel, mal etwas Unerwartetes, das wär schon was, dachte sie des Öfteren. An den Samstagabenden ausnahmsweise nicht im Wirtshaus «Zur vollen Kelle» das Jägerschnitzel oder das Bäuerinnenomelett essen, sondern die Auswahl zwischen italienischem Restaurant, trendiger Cocktailbar und Kino haben, das würde ihr gefallen. Aus diesem Grund genoss Anette es so, wenn sie die Kleinstadtidylle ein paar Mal im Jahr verlassen konnte. Hier ein kleiner Weihnachtsmarkttrip mit den Arbeitskolleginnen, im Sommer zwei Wochen Gardasee mit Achim oder ab und an ein Wochenende im Wellnesshotel mit Biggi, ihrer besten Freundin und Nachbarin, das musste schon drin sein. Wobei die letzte Wellnesstour wenig entspannend gewesen war. Anette hatte allergisch auf die Fruchtsäurebehandlung reagiert und die Hälfte des Wochenendes in der Notaufnahme verbracht. Da war sie dann doch froh gewesen, als sie wohlbehalten zurück in Hildenberg angekommen war. Zu Hause war es doch am schönsten … und am sichersten, dachte sie in diesen Momenten. Passend dazu hatte sie im Hausflur ein hübsches Holzschild über dem Schuhschrank angebracht, dessen Aufschrift ihr Inneres widerspiegelte: «Zu Hause ist da, wo nicht nur der Schlüssel passt, sondern auch das Herz sich wohlfühlt».
Jetzt standen Anette und Achim nebeneinander am Gleis und sahen zu, wie sich der ICE aus der Ferne näherte und schließlich in noch hohem Tempo an ihnen vorbeischoss.
Als der Fahrtwind ihnen entgegenpeitschte, zogen sich beide eilig die Reißverschlüsse ihrer Jack-Wolfskin-Anoraks nach oben. Während Achim sich in dem Outlet-Center in Holland, in das sie im vergangenen Herbst gefahren waren, für die schlichte schwarz-graue Variante entschieden hatte, fiel Anette in ihrer bordeauxfarbenen Jacke mit den orangen Reißverschlüssen mehr auf. Lange hatte sie damals überlegt, ob sie nicht doch einfach die dunkelgrüne Jacke nehmen sollte, doch die Verkäuferin hatte ihr zu der frecheren Version geraten. Das passe so gut zu Anettes kastanienbraunen Haaren, hatte sie gemeint und ihr begeistert zugenickt.
Farbe hin oder her – jetzt waren Achim und Anette jedenfalls froh, dass sie nicht auf den Wetterbericht gehört und die dicken Anoraks angezogen hatten.
«Ob ich mir den Plöger und seine Prognosen anhöre oder gegen ’ne weiße Wand gucke, am Ende bin ich genauso schlau», hatte Achim gewettert, als er am Morgen aus dem Fenster schaute. Tatsächlich waren die warmen Strahlen der März-Sonne, die am Vorabend angekündigt worden waren, nirgends zu sehen. Stattdessen war der Himmel lückenlos von einer grauen Wolkenschicht bedeckt gewesen, und in der Nacht hatte es sogar noch ordentlich geregnet.
Am Gleis wurde Anette plötzlich unruhig.
«Kannst du die Wagennummern entziffern? Der Zug ist noch so schnell. Ich kann das gar nicht erkennen!», rief sie ihrem Mann über den Zuglärm hinweg zu.
«Wir werden wohl richtig stehen, Anette!»
«Manchmal ändert sich die Wagenreihung spontan … Warte, jetzt kann ich was lesen! Ach nee, das ist nur die 2 für die 2. Klasse, die Waggonnummern sind aber wirklich klein.» Anette verengte die Augen zu schmalen Schlitzen, um besser sehen zu können.
«Oh nein. 23 steht da!», schnaufte sie, «wir haben doch in Wagen 22 reserviert!»
«Na, Jesses Gott. Was ein Terz!», brummte Achim und zog den Haltegriff aus seinem Koffer.
Eilig machten sich die beiden auf den Weg zum benachbarten Waggon. Sie hievten ihre taubenblauen, identischen Rollkoffer in aller Hektik in den Zug, wobei die Kofferanhänger, auf die Anette in gut leserlichen Druckbuchstaben «Achim und Anette Ahlmann» sowie ihre Adresse und Achims Telefonnummer aus dem Büro geschrieben hatte, kräftig hin und her baumelten. Beinahe wäre Anette sogar ihr Proviantbeutel von der Schulter gerutscht, während sich Achim in der Hektik ganz böse den Kopf an einer Klappe über der Einstiegstür stieß. Hinter ihnen drängten schon weitere Fahrgäste in den Zug, sodass Achim keine Zeit blieb, die schmerzende Stelle zwischen seinen grauen, seit einigen Jahren lichter werdenden Haaren abzutasten. Keuchend versuchte er, seinen Koffer durch den engen Gang des Zuges zu manövrieren. Anette direkt vor ihm! Ebenfalls schnaufend. Was eine Hektik! Mit hochroten Köpfen kämpften sich die zwei zu ihren reservierten Plätzen vor. Anette, die die Klarsichthülle mit den Fahrkarten fest umklammert in der Hand hielt, schaute auf die Sitzplatzanzeigen und murmelte vor sich hin: «62 und 63 …, 66 und 67 …, 71 und 72!» Hier müsste es sein! Mit einem Ruck blieb sie stehen und starrte entgeistert auf die Plätze zu ihrer Linken. Achim prallte gegen ihren Rücken.
«Anette, meine Güte, du kannst doch nicht einfach …», polterte er los, doch dann bemerkte auch er den Grund für Anettes ruckartigen Stopp.
Auf dem Fensterplatz Nummer 71 saß ein junger Mann mit dunklen Haaren, in Kapuzenpulli und Jeans. Er trug Kopfhörer und blickte konzentriert auf seinen Laptop, der vor ihm auf dem kleinen Ausklapptisch stand. Anette stierte einige Sekunden lang wie hypnotisiert auf den goldenen Ring, der aus der Nase des Mannes ragte. Als sie ihren Blick endlich von diesem – wie sie fand – überaus anstößigen Piercing lösen konnte, sagte sie mit fester Stimme: «Entschuldigung, junger Mann, aber wir haben hier reserviert!» – keine Reaktion. Der junge Mann war offenbar so in die Inhalte auf seinem Laptop vertieft, dass er Anette gar nicht wahrnahm. Das kann ja wohl nicht wahr sein, dachte sie und spürte, wie ihr Puls in die Höhe schnellte. Was sollten sie denn jetzt machen? Etwa den Schaffner rufen? Hoffentlich kam es hier nicht gleich zum nächsten Eklat. Das ganze Brimborium mit Achim war nämlich nach dem Ticketkauf noch weitergegangen. Drei Tage vor Reiseantritt, als Anette ihm die Route verkündet hatte, hatte er die ganze Tour beinahe noch abgeblasen.
«Wir fahren erst im Regionalzug nach Kassel und dann mit dem ICE wieder runter? Das ist ja eine halbe Weltreise!», hatte er geschimpft und Anette auf einer imaginären Deutschlandkarte aufgezeigt, dass sie zuerst in die völlig entgegengesetzte Richtung fahren würden.
«Das weiß ich doch», hatte Anette daraufhin genervt gezischt, «du wolltest dir den Tag ja nicht freinehmen. Wären wir heute Morgen gefahren, hätten wir über Köln fahren und fünfzehn Euro sparen können.» Doch auch diese Verbindung hatte Achim als völlig hanebüchen abgetan, obwohl ihn die verpasste Ersparnis schon geärgert hatte.
«In diesen lahmen Bummelzug steig ich nicht ein, Anette! Da kann man nicht reservieren, das ist nur Stress. Dann lass ich den Wagen eben in Kassel stehen», hatte er ihr schließlich verkündet.
Auch wenn Anette das Ganze für völligen Irrsinn gehalten und innerlich die Augen verdreht hatte, war sie ruhig geblieben. Hauptsache die Fahrt zu Annika konnte stattfinden, sollte Achim eben seinen Willen kriegen.
Sie riss sich selbst aus ihren Gedanken. Noch immer saß der Gepiercte auf dem Platz Nummer 71. Auf ihrem Platz! Verzweifelt blickte sie sich zu ihrem Mann um.
«Lass mich mal machen», brummte der und schob Anette zur Seite.
«HALLO! Sie sitzen auf unseren Plätzen», rief Achim so laut, dass sich die Köpfe einiger Fahrgäste zu ihnen umdrehten, und klopfte dem jungen Mann unsanft auf die Schulter. Zu Tode erschrocken blickte dieser auf und nahm die Kopfhörer ab.
«Äh, ja?», sagte er und sah erstaunt in zwei aufgebrachte Gesichter.
«Sie», Achim sprach nun sehr langsam und zeigte mit dem Finger auf den jungen Mann, «sitzen auf unseren», dabei deutete er auf sich und Anette, «Plätzen», und haute zur Visualisierung mit der flachen Hand ein paar Mal auf den freien Sitz.
«Wir – haben – hier – reserviert», mischte sich nun auch Anette ein. Sie redete genau wie ihr Mann sehr langsam und betonte jede einzelne Silbe, dabei ließ sie den jungen Fahrgast nicht aus den Augen. Ihre Handtasche hielt sie jetzt ganz fest mit beiden Händen. Man konnte ja nie wissen. Kannst den Leuten immer nur vorn Kopf gucken, ne, war eine Weisheit ihrer besten Freundin Biggi.
«Hm, komisch», sagte der junge Mann und ließ sich von Achims und Anettes merkwürdiger Sprechweise nicht aus dem Konzept bringen, «ich habe hier auch reserviert.»
«Das kann ja wohl nicht sein», polterte Achim los, der langsam die Geduld verlor und Anette die Klarsichtfolie aus der Hand rupfte.
«Hier steht’s doch. Wagen 22, Platz 71 und 72. Schwarz auf weiß!», rief er laut durch den Wagen und blickte sich mit triumphierendem Blick um. Sollten die anderen Fahrgäste doch ruhig mitbekommen, was hier gerade vor sich ging und dass er, Achim Ahlmann, mit Hilfe seiner Fahrkarte einwandfrei nachweisen konnte, dass ihm der Platz zustand.
«Das hier ist aber Wagen 24», sagte der junge Mann freundlich und deutete auf die Anzeige am Ende des Waggons.
Achim und Anette wirbelten herum. Während Anette noch in ihrer Handtasche wühlte, um ihre Brille hervorzuholen, lief Achim bereits dunkelrot an.
«24 … Wagen 24, oh …», stammelte er, fing sich aber schnell wieder und sagte mit lauter Stimme zu Anette, als wäre das ihr alleiniger Fehler: «Das hier ist Wagen 24, Anette. Wir sind falsch!»
Er schnappte sich – ohne den jungen Mann noch eines weiteren Blickes zu würdigen – seinen Rollkoffer und stampfte in Richtung Wagen 23 davon. Anette, die die Suche nach ihrer Brille aufgegeben hatte, entschuldigte sich murmelnd und mit hochrotem Kopf bei dem jungen Mann, bevor sie Achim aus dem Waggon folgte. Meine Güte, was eine Blamage. So was war ihr ja noch nie passiert. Hoffentlich hatten die anderen Fahrgäste nichts von dieser peinlichen Aktion mitbekommen. Nicht auszudenken, wenn sich das Ganze bis nach Hildenberg rumsprechen würde. Vor ihrem inneren Auge tauchte Frau Meier auf. Sie war die Bäckerin im Ort und Tratschquelle Nummer eins. Unwillkürlich musste sich Anette vorstellen, wie Frau Meier, während sie gerade allerlei Rosinenschnecken und Quarkbällchen in Tüten packte, laut durch den Laden rief: «Haben Sie das von den Ahlmanns gehört? Die haben sich ja wieder was geleistet!»
Ein heißes Gefühl der Demütigung wirbelte Anettes Magen durcheinander. Schnell verscheuchte sie die Gedanken an Frau Meier und eilte ihrem Mann hinterher, der bereits das Ende von Wagen 23 erreicht hatte.
Geschafft! Als Achim und Anette endlich auf ihren richtigen Plätzen saßen, atmeten beide hörbar aus. Am liebsten würde Anette ihre Schuhe ausziehen und sich erst mal ein bisschen langmachen, so gut es eben ging in diesem Blechtunnel. Eigentlich lohnte sich das aber gar nicht so richtig, da sie in anderthalb Stunden sowieso schon in Frankfurt ankommen würden. Stattdessen öffnete Anette nun ihren Proviantbeutel. Das schicke Teil war ihr absoluter Lieblingsbeutel!
Den hatte sie – genau wie den knallroten «Meins! Finger weg!»-Sticker auf ihrem Koffer – letztes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt an einem Stand gekauft, der allerlei lustige Beutel, Schilder und Sticker angeboten hatte. Gemeinsam mit ihren «Mädels» aus dem Frauenverein hatte sie bestimmt zwanzig Minuten an dem Stand verbracht und sich scheckig gelacht.
«Guck dir mal den Beutel an! ‹Kalorien sind kleine Tiere, die nachts die Kleidung enger nähen!› Köstlich!»
«Das Schild hier muss ich meinem Göttergatten mitbringen!»
«Birgit, was hältste von dem Sticker? – Zum Schießen!»
Die ausgelassene Stimmung der Truppe hatte damals wohl auch daher gerührt, dass sich die Frauen auf der Hinfahrt den ein oder anderen Piccolo gegönnt hatten. Im Regionalzug waren sie von einigen Fahrgästen deswegen sogar schief angeschaut worden. Woraufhin Anette lauthals gerufen hatte: «Tja, wenn se uns einmal im Jahr loslassen, dann is was los.»
Jedenfalls hatte sie sich damals so lange am Stand durch die verschiedenen Beutel gewühlt, bis sie ihr absolutes Traumexemplar gefunden hatte: ein violetter Beutel, auf dem in Schnörkelschrift «Realität ist was für Menschen, die Angst vor Einhörnern haben» stand. Alle waren sich einig gewesen, dass das mit Abstand der witzigste Beutel von allen war. Als die Verkäuferin dann auch noch gesagt hatte:
«Oh, die sind der Renner. Da haben Sie den allerletzten erwischt», war Anette stolz wie Oskar gewesen. Seitdem war der Beutel immer dabei. Ob beim Einkaufen, auf Reisen, oder auf dem Weg zum Yogakurs.
Als Achim die voll bepackten Tupperdosen sah, die Anette aus dem Beutel zog, begannen seine Augen das erste Mal an diesem Tag zu leuchten. Was gibt’s Besseres als eine ordentlich belegte Stulle mit Wurst und ein hart gekochtes Ei dazu, dachte er sich. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, als Anette die beiden Tischchen vor ihnen ausklappte und die Brote gerecht aufteilte.
«Hier noch Zugestiegene?», ertönte die ruhige, aber eindringliche Stimme der Schaffnerin kurz darauf, während Achim gerade vergeblich versuchte, dem zehn Jahre alten 2-in-1 Salz- und Pfefferstreuer von Tupper durch heftige Schüttelbewegungen mehr als zwei Kügelchen Salz für sein Ei zu entlocken. Anette, die gerade das zweite Ei pellte, fegte mit der freien Hand hastig die Eierschalen von der Klarsichthülle, die vor ihr auf dem Tisch lag und als Unterlage gedient hatte. Achim griff nach der Hülle und fischte die zwei ausgedruckten Tickets heraus, während Anette ihre Finger an einem mitgebrachten Zewa abwischte.
Sie beobachteten, wie die anderen Zuggäste kontrolliert wurden, und fühlten sich plötzlich ohne triftigen Grund aufgeregt.
«Hoffentlich stimmt mit den Fahrkarten alles», flüsterte Anette ihrem Mann nervös zu.
Als die Schaffnerin auf ihrer Höhe war, streckte Anette ihr umgehend das Ticket entgegen, das Achim ihr zuvor gereicht hatte. Die Schaffnerin scannte das Ticket und hob dann die Augenbrauen.
«Sie sind Achim Ahlmann?», fragte sie Anette und musterte sie von oben bis unten.
Verwirrt schaute Anette zu Achim, und der schaute ebenso verwirrt zur Schaffnerin. Doch dann dämmerte etwas in Achims Kopf. Die Tickets waren ja personalisiert! Anstatt seinen Fehler aufzuklären, rief er ausgelassen:
«Na Mensch, wissen Sie, meine Frau und ich sind schon so lange zusammen, da kann man mal durcheinanderbringen, wer wer ist.» Er lachte kurz über seinen eigenen Witz und fügte in Anettes Richtung hinzu: «Wir sind noch nicht zu einer Person verschmolzen, Anette! Ich brauch noch meine Freiheit!»
Daraufhin lachte er schallend los und schaute aufmerksamkeitsheischend zur Schaffnerin, doch weder die noch Anette waren in sein Lachen eingestimmt.
«Achim. Jetzt gib ihr doch bitte einfach das richtige Ticket», herrschte Anette ihren Mann an und zog ihm das Blatt aus der Hand.
«Hier, da isses. Entschuldigen Sie.»
So langsam hatte Anette genug. Zuerst meckerte Achim über die Reise an sich, dann über den Fahrtverlauf, anschließend spielte er sich im falschen Waggon auf wie der große Zampano, und jetzt das! Während sie den ganzen Stunk abbekam, konnte er vor anderen noch den Lustigen mimen. Das allein könnte sie ja noch verkraften, schließlich mochte sie Achims Humor normalerweise, aber dass er heute den ganzen Tag so tat, als wäre sie an allem schuld, das war zu viel. Er hatte doch beim hektischen Einstieg genauso wenig auf die Anzeige am Zug geachtet. Anette spürte, wie sie sich immer mehr in die Sache hineinsteigerte, während Achim neben ihr in aller Ruhe sein gekochtes Ei weiter aß. Sie könnte die Sache jetzt natürlich auf sich beruhen lassen und den Rest der Fahrt nur ein wenig vor sich hin schmollen, aber Anette wäre nicht Vorsitzende des Hildenberger Frauenvereins geworden, wenn sie vor Konflikten zurückschrecken würde. Die Wahl damals war ein Kopf-an-Kopf-Rennen gewesen, wie es seit der Neugründung 1970 nicht mehr stattgefunden hatte. Ihre Konkurrentin war eine Zugezogene namens Julitta Baumgärtner gewesen, die mit neumodischem Firlefanz wie «Feministischen Filmabenden» und «Ernährungswochenenden» zuerst alle in ihren Bann gezogen hatte. Doch dann war ihr ein entscheidender Fehler unterlaufen. Zum sonntäglichen Kuchenverkauf nach der Kirche war Julitta nicht nur zu spät gekommen, nein, sie hatte doch tatsächlich eine aufgetaute Fertigtorte mitgebracht.
«Alles nur Fassade», hatte Biggi damals gewettert, «wenn es drauf ankommt, dann stehste mit so einer an der Spitze ganz schön blöd da!» Ob es Biggis Schimpftirade oder Anettes dreistöckige Käsesahnetorte gewesen war – sie konnte es selbst nicht mehr so genau sagen –, die Zweidrittelmehrheit der Stimmen hatte damals jedenfalls Anette eingeheimst. Die Ernährungswochenenden machten sie trotzdem noch, aber die Baumgärtner kam nur noch unregelmäßig zu den wöchentlichen Frauenabenden. Stattdessen engagierte sie sich jetzt wohl im Ortsverein des Naturschutzbundes.
«Da passt die auch besser hin», hatte Biggi in einem derart feindseligen Ton gesagt, dass Anette wieder einmal froh gewesen war, dass Biggi ihre Freundin und nicht ihre Feindin war.
«Du, das Ei hättste ruhig noch ’ne Minute länger im Wasser lassen können», sagte Achim plötzlich neben ihr mit vollem Mund und entsorgte die Eierschalenreste in dem kleinen Mülleimer unter ihren Plätzen. Anette spürte, wie ihr Puls in die Höhe schoss, und bereits eine Zehntelsekunde später platzte die ganze angestaute Wut aus ihr heraus: «Weißt du was, Achim? Zukünftig kannste dir dein Ei selber kochen, den Koffer alleine packen, die Reiseverbindung raussuchen und in den richtigen Wagen einsteigen! Vielleicht musst du sogar etwas weniger arbeiten, denn wenn ich’s richtig anstelle, dann werde ich im September die neue Bürgermeisterin von Hildenberg, und dann muss die ganze Familie mal öfter mit anpacken!»
So. Die Katze war aus dem Sack. Anette schlug sich mehr verblüfft als entsetzt die Hand vor den Mund. Ihr Herz schlug heftig gegen ihre Rippen, doch so schwer war es gar nicht gewesen. Die Anspannung der letzten Wochen schien mit einem Mal in sich zusammenzufallen und von einer seltsamen Art von Aufregung ersetzt zu werden, wie sie sie zuletzt bei ihrer Führerscheinprüfung hatte.
In Wahrheit gab es nämlich noch einen weiteren Grund, warum Anette so vehement auf die Fahrt nach Frankfurt bestanden hatte. Vor wenigen Wochen hatte sie eine Entscheidung getroffen, von der sie ihrem Mann bisher nichts erzählt hatte. Nur Freundin Biggi und Tochter Annika waren eingeweiht. Letztere hatte schon mehrfach betont, dass Anette endlich mit Achim über das Thema sprechen müsse. Diese schob das Gespräch jedoch immer wieder auf. Anette wusste eben, wie sehr Achim Veränderungen hasste! Daher hatte sie beschlossen, ihrem Mann fernab von Hildenberg in entspannter Atmosphäre von ihren Bürgermeister-Plänen zu erzählen. Ein bisschen gutes Zureden von Tochter Annika, und schwups – sie hätte Achim auf ihrer Seite gehabt.
Doch ein Blick auf ihren Göttergatten ließ ihre Sorgen wieder die Überhand gewinnen. Mit verkniffenem Gesicht saß er da und blickte stur auf das halb angebissene Brot in seiner Hand. Was, wenn Achim jetzt plötzlich anfing zu schreien, schoss es Anette durch den Kopf. Eigentlich war er ja kein schlimmer Choleriker, da hatte sie im Frauenverein schon Geschichten von ganz anderen Kalibern gehört. Mit der Daniela wollte sie wirklich nicht tauschen! Trotzdem kannte sie Achim, und es würde ja schon reichen, wenn er hier mit der flachen Hand auf den kleinen Ausklapptisch hauen würde. Schon das würde im ruhigen Zugabteil alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aber jetzt war es sowieso zu spät.
Ihr Puls ging schneller und ihr Atem stoßweise, während ihre Hände wie von alleine ihr eigenes Ei aus der Tupperdose nahmen und es routiniert weiter pellten. Sie blickte zu Achim, der immer noch wie in Trance auf das belegte Brot in seiner Hand stierte. Offenbar wusste er nicht, was er sagen sollte. Anette konnte ihm förmlich beim Denken zusehen. Geistesabwesend legte er das Brot – ohne eine Unterlage zu verwenden – auf den Tisch vor sich. Anette zuckte kurz. Da war doch alles voller Bazillen auf diesen Tischen! Sie überlegte noch, ob sie es wagen konnte, unauffällig ein Zewa-Tuch unter das Brot zu schieben, als plötzlich Achims Stimme neben ihr ertönte:
«Also, ich glaub, mein Schwein pfeift! Wovon willste denn leben, wenn du noch mehr Zeit in dem Irrenhaus, das die Leute Rathaus nennen, verbringst? Und, wie willst du das überhaupt anstellen? Der alte Kolloczek klebt doch auf dem Bürgermeisterstuhl! Der hat’s die letzten 25 Jahre gemacht und wird’s noch mal fünf machen. Wenn du zu viel Freizeit hast, dann kannste mir ja beim Heckeschneiden helfen. Mann, Mann, Mann! Anette, also wirklich. Wer hat dir das denn eingeredet, oder hat dich der Größenwahn ganz von allein gepackt?»
Anette hörte abrupt auf, das Ei zu schälen. Jetzt war sie es, die wütend wurde. So wenig traute Achim ihr also zu. Der alte Kolloczek, wie alt war der mittlerweile? Mindestens 75. Der überlebte doch keine Amtszeit mehr, so wie der dem Spätburgunder zugetan war. Außerdem wusste Anette aus sicherer Quelle, dass Kolloczeks Frau ihm bereits die Pistole auf die Brust gesetzt hatte.
«Noch eine Amtszeit wird die nicht mitmachen», hatte Biggi ihr gesteckt, die war mittwochs immer im gleichen Rückenfitness-Kurs wie die Kolloczek. Da hatte sie ihr wohl erzählt, dass sie ihre Rente nicht damit verschwenden wollte, von Stadtfest zu Stadtfest zu rennen.
«Wenn der Rudolf dieses Jahr nicht Schluss macht, dann flieg ich alleine nach Madeira, aber dann muss der nicht glauben, dass ich danach zu ihm zurückkomme», hatte die Kolloczek angeblich noch zu Biggi in der Umkleidekabine gesagt.
Anette presste nun ein «Das ist jetzt nicht dein Ernst» zwischen ihren Lippen hervor und funkelte Achim wütend an. Sie holte tief Luft, doch als sie gerade zum verbalen Gegenschlag ausholen wollte, brummte ihr Mann: «Beruhig dich jetzt mal und mach hier keine Szene. Die Leute gucken schon!»
Anette stieg die Zornesröte ins Gesicht, doch sie schaute sich verstohlen um, während ihre Hände den bunt gemusterten Seidenschal kneteten, den sie im Zug immer wegen der Klimaanlage trug. Alle Fahrgäste um sie herum schauten entweder müde aus dem Fenster oder starrten auf ihre Handys und Laptops. Niemand sah in ihre Richtung. Doch Anette wusste auch, dass sie sich einen Streit hier drinnen nicht leisten konnten, wenn sie jetzt laut wurde, zischte und räusperte es von allen Seiten, und das wäre schlimmer als alles andere. Sie schluckte ihre Wut mühsam runter.
Dass Achim kein Verständnis für ihre Ambitionen zeigte, überraschte sie leider nur wenig. Er selbst hegte keine größeren Wünsche oder gar Träume. Für ihn war wichtig, dass der Vorgarten und die Terrasse ordentlich waren und er hin und wieder einen Abend alleine zu Hause hatte. Dass sie da also nicht auf der gleichen Welle schwammen, war ihr von vornherein bewusst gewesen, und das war auch in Ordnung so, aber dass er ihre Pläne als größenwahnsinnig bezeichnete, das tat schon weh. Traute er ihr den Posten nicht zu, oder lag es etwa daran, dass er sich keine Frau als Oberhaupt von Hildenberg vorstellen konnte? Aber so verstockt war Achim doch gar nicht, oder? Im Nachbarort regierte Heidemarie Bornkemann schließlich auch seit fast acht Jahren, und dagegen hatte er nie was gesagt. Klar, einfach würde es trotzdem nicht werden. Das sah Anette ja an Volker aus dem Stadtrat. Ständig unterbrach er sie in den Sitzungen oder speiste sie mit unwichtigen Hilfsarbeiten ab, um dann schnell vor die Kamera des Lokalredakteurs zu hüpfen, während sie mit hochrotem Kopf Kisten von A nach B schleppte. Dabei hatte sie doch mehr als ein Mal bewiesen, dass sie nicht nur anpacken, sondern auch Verantwortung übernehmen konnte. Zehn Jahre lang war sie im Vorstand des Hildenberger Kegelclubs gewesen und hatte dafür gesorgt, dass die Stadt die Kosten für die neue Eckbank im Kegelkeller übernommen hatte. Außerdem organisierte sie einmal im Monat eine spaßige Aktivität für die Hildenberger Seniorengruppe «Graue Papageien», sie plante die Kuchenverkäufe des Frauenvereins auf den örtlichen Festveranstaltungen, und sie saß nun seit fast fünf Jahren im Hildenberger Stadtrat. Obwohl sie sich dort bereits die Position der Heimatpflegerin erkämpft hatte, waren ihre Handlungsoptionen begrenzt. Sie traf mit ihren Ideen häufig auf Widerstand, der sich jedoch vor allem durch die Trägheit der überwiegend männlichen Ratsmitglieder ergab.
«Diese Schlaftabletten! Denen kannste auch beim Laufen die Schuhe besohlen», schimpfte Anette häufig nach den Sitzungen. Fast alles, was sie vorschlug, war den feinen Herren zu aufwendig, zu anstrengend oder kostete zu