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Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel bei Manilla Press, ein Imprint von Bonnier Books UK, London
© Heather Morris, 2020
Für die deutsche Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2021
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München, nach einem Entwurf von Nick Stearn
Covermotiv: Shutterstock.com
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
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Für Christopher Charles Berry, meinen Urgroßvater, der mir als Erster beibrachte zuzuhören.
Allen Rettungskräften weltweit, die so tapfer für unsere Sicherheit kämpfen und uns während dieser Pandemie Hoffnung auf eine hellere, bessere Zukunft geben.
Den Mitarbeitenden, Patienten und ihren Angehörigen, mit denen ich in meiner Zeit im Monash Medical Centre in Melbourne arbeiten durfte. Sie brachten mir bei, für andere zu sorgen.
1. Januar 2020. Ein neuer Tag, ein neues Jahr, ein neues Jahrzehnt. Ein leises Gefühl von Hoffnung, für uns Einzelne und für uns als Mitglieder der globalen Gemeinschaft, dass es ein »gutes Jahr« wird. Oder wie Lale Sokolov sagte, mein lieber Freund, dessen unglaubliche Geschichte ich im erzählt habe: »Wenn du am Morgen aufwachst, ist es ein guter Tag.« Gute Vorsätze, neue und alte aus den letzten Jahren, werden gefasst, vielleicht unseren Nächsten, unseren Liebsten zugeflüstert. Wenn wir unsere Hoffnungen und Wünsche für das Jahr formulieren, so heißt es, dann ist es wahrscheinlicher, dass sie sich erfüllen.
Das Feuerwerk von letzter Nacht, egal ob wir es am Nachthimmel oder vor dem Fernseher verfolgt haben, ist erloschen, die Partys sind zu Ende, alle möglichen Hausmittel gegen Kater kommen zum Einsatz. Ich wohne in Melbourne an der Ostküste von Australien. Bei uns wurde dieses Jahr zurückhaltend gefeiert, an vielen Orten gab es kein Feuerwerk. Trotzdem formulierten wir unsere Wünsche, Hoffnungen und Träume, aber auch die waren zurückhaltend. Wir alle sorgten uns wegen der Waldbrände, die vor etwa einer Woche ausgebrochen und noch längst nicht unter Kontrolle waren. Nein, sie wüteten immer schlimmer. Viel schlimmer.
In den folgenden Wochen wurden Städte ausgelöscht, Menschen verloren ihr Leben, ihre Häuser, ihre Nachbarschaft. Die Folgen für Flora und Fauna waren verheerend. Es gingen Bilder um die Welt, auf denen die beiden bekanntesten Symbole Australiens – Kängurus und Koalas – zu Symbolen der Zerstörung und Verzweiflung wurden. Neuseeland, Kanada und die USA schickten Feuerwehrleute zur Unterstützung in dieser schon bald nationalen Katastrophe. Drei von ihnen kehrten nicht heim zu ihren Familien – sie starben, als bei einem Einsatz ihr Löschflugzeug abstürzte.
Prominente aus der ganzen Welt spendeten hohe Summen für die Betroffenen. Kleine Kinder verzichteten auf ihre Sommerferien und verkauften auf der Straße Kekse, um irgendwie Geld zu sammeln. Vom britischen Königshaus trafen gute Wünsche und Gebete ein. Aus der ganzen Welt kamen Künstler nach Australien und veranstalteten das größte Livekonzert, das es hier je gegeben hatte. Viele Millionen Dollar gingen an die Einsatzkräfte und an die Hilfsorganisationen, die sich um die Betroffenen kümmerten.
Mehrere Wochen lang schien es, als könnte nichts diese ungeheuerliche Feuersbrunst stoppen, zu der sich kleinere Brände vereint hatten und die aus den Bergen auf die Küste zuhielt. Das Schlimmste erwarten, das Beste hoffen. In diesem Fall war das Beste sintflutartiger Regen. Alle beteten wir um Regen. Und am Ende kam er. Der Himmel öffnete sich, und tagelang regnete es – eine große Hilfe beim Löschen vieler Feuer. Die Wassermassen richteten auf den ausgetrockneten Böden weitere schlimme Schäden an, es kam zu Erdrutschen, wo das Gelände durch den Verlust stabilisierender Bäume brüchig geworden war. Jetzt überflutete das Wasser kleine Städte, ertränkte Vieh, zerstörte noch mehr Häuser.
Die Ereignisse, die Australien im Januar 2020 heimsuchten, fanden weltweit Beachtung, nicht etwa, weil so etwas sonst nirgends vorkommt, sondern weil Australien wegen des Sommers auf der Südhalbkugel das einzige Land war, das am Anfang dieses neuen Jahrzehnts in Brand stand. Die nördliche Halbkugel erholte sich noch von ihrem eigenen Höllensommer. Dabei stand das Schlimmste noch bevor. Genau in dieser merkwürdigen Zeit der Verunsicherung hörten wir zum ersten Mal das Wort Coronavirus oder Covid-19.
Seither hat sich die Welt über alle Maßen, über allen Glauben, ja über jedes Verständnis hinaus verändert. Wir alle erleben eine Pandemie ungekannten Ausmaßes; niemand, der heute auf der Welt ist, hat so etwas schon einmal mitgemacht. Für uns als Einzelne und als Gemeinschaft ist das Stressniveau wie nie zuvor gestiegen. Jobverluste. Scheidungen. Eine Krankheit, von der viele sich nur langsam oder auch gar nicht erholen werden. Tod. In unseren klassischen und sozialen Medien werden jeden Tag neue tragische Geschichten erzählt. Rund um die Uhr sind sie verfügbar, und wir wenden uns ab und sehen doch wieder hin, so groß ist unser Bedürfnis, bei solchen Katastrophen Zuschauer zu sein. Wir sind zusammengerückt, aber leider sind wir auch auseinandergerückt. Vielleicht können einige von uns das emotionale, gesundheitliche und ökonomische Leid auch nur eingerollt in der Embryonalhaltung ertragen.
Seitdem versuchen wir, füreinander zu sorgen. Schließlich sind wir Herdentiere, brauchen menschliche Verbindungen und Kontakt. Wir suchen das Positive in unserem neuen Leben. Das Lächeln eines kleinen Kindes, das den Überlebensschmerz vergisst, kann in einem emotionalen Tief ein gewaltiger Antrieb sein. Aufzustehen, weil ein Haustier auf sein Futter wartet, bringt viele von uns durch den ganzen Tag. Isolierung wirkt sich auf viele von uns verheerend aus. Wo ist meine Herde? Wo ist mein Stamm? Erinnern wir uns: Sie sind da, wie wir selbst, und warten auf den Tag, an dem wir sagen können: »Wir haben das gemeinsam durchgestanden. Jetzt sind wir stärker.« Die vielen Memes, die uns daran erinnern, dass unsere Großväter für uns einen Krieg ausgefochten haben, während von uns lediglich verlangt wird, auf dem Sofa zu sitzen und Netflix zu schauen, verharmlosen das echte Trauma, das es für so viele Menschen bedeutet, sich gezwungenermaßen isolieren zu müssen. Lale sagte immer: »Man braucht einfach nur morgens aufzuwachen.« Vielleicht sind wir heute aufgefordert, in mehr als einer Hinsicht aufzuwachen.
Könnte es sein, dass unsere Erde uns auffordert, das Tempo zu drosseln? Fleht sie uns nicht seit Jahrzehnten an, uns besser um sie zu kümmern? Wie oft muss sie uns noch warnen, bis wir anfangen, ihr zuzuhören? Viele tun das längst. In fast jedem Land streiten Regierungen und Wissenschaftler in den letzten Jahren immer heftiger über die Auswirkungen des Klimawandels. Bewundernswerte, inspirierende Aktivisten, Jung und Alt schließen sich dem Anliegen an und erklären den Mächtigen, erklären uns allen, dass es höchste Zeit ist, den Mund zu halten und unserer Erde zuzuhören.
Covid-19 ist ein gemeinsamer Feind, der keinen Unterschied macht zwischen Religion, Politik, sexueller Orientierung, Hautfarbe oder Alter, und seine Auswirkungen sind weltweit spürbar. Angesichts dieses unbekannten, neuen Feindes machen wir Dinge anders, und das hat unerwartete, positive Folgen. Nach nur wenigen Wochen in dieser Krise berichteten China und viele europäische Städte von saubererer Luft und weniger Verschmutzung. Während wir uns drinnen verschanzten, wurde der Himmel heller, die Flüsse sauberer. Wir konnten sehen, was uns draußen erwartete.
Von meinem Schreibtisch aus sehe ich durchs Fenster auf die Straße. Heute sehe ich da keine Autos und Lieferwagen, sondern Menschen. Männer und Frauen jeden Alters, allein, zusammen, viele mit kleinen Kindern, noch mehr mit Hunden. Sie spazieren über die Straßen, sie reden miteinander, ich höre sie bis hier. Sie hören einander zu. Ihre Hunde bellen andere Hunde an, die sich hinter Holzzäunen verstecken, aber doch präsent sind. Sie halten Abstand, sie nehmen einander wahr. Viele bleiben für einen kleinen Plausch stehen. Was sagen mir diese Interaktionen? Zum ersten Mal seit Menschengedenken haben wir ein gemeinsames Ziel. Einen gemeinsamen Feind, den wir besiegen werden, wenn wir alle unseren Beitrag dazu leisten.
Mitten im Lockdown beobachtete ich einmal einen Lieferwagen, der vor einem Nachbarhaus parkte; ein junges Mädchen holte eine Kiste voller Lebensmittel aus dem Laderaum. Unwillkürlich musste ich lächeln, denn mit dem Baguette, das oben herausragte, wirkte die Szene fast hollywoodreif. Ich sah zu, wie das Mädchen an die Tür klopfte, die Kiste auf die Veranda stellte und einen Schritt zurücktrat. Die ältere Dame, die in dem Haus wohnt, hatte sie wohl kommen sehen, denn die Tür ging augenblicklich auf. Ich hörte, wie sie sagte: »Danke, danke«, wieder und wieder. Ich hörte das Zittern in ihrer Stimme. Hätte ich in diesem Moment sprechen müssen, hätte ich keinen Ton herausgebracht. Mit einem breiten Lächeln und einem »Sehr gerne, dann bis übermorgen!« hüpfte das Mädchen zu ihrem Wagen zurück.
Wenn ich später an diese Szene zurückdachte, ging mir nicht die ältere Frau durch den Kopf, sondern das junge Mädchen. Hatte sie sich für diesen Dienst gemeldet, weil sie ihren Job verloren hatte? Studierte sie, hatte aber gerade keine Seminare? Woher stammten die Lebensmittel, die sie lieferte? Waren es Spenden, oder hatte sie sie selbst bezahlt?
Wir können nie wissen, was im Leben anderer Menschen los ist – außer es geht um unsere Familie und Freunde. Was bringt jemanden dazu, mitleidig und großzügig zu handeln? Was bringt jemanden dazu, verbal aggressiv oder handgreiflich zu werden oder sogar jemanden anzupöbeln, der ihm helfen möchte? Bei meiner Arbeit im Krankenhaus ist mir diese Reaktion oft begegnet. Und meine Tochter und mein Schwiegersohn, beide Polizisten, erleben sie nur allzu häufig. Wieder einmal werde ich daran erinnert, dass wir niemals über andere urteilen sollten, bevor wir nicht eine Meile in ihren Schuhen gelaufen sind. Ende Mai löste die brutale Ermordung von George Floyd durch einen Polizisten in den USA eine Welle der Wut aus und stärkte weltweit die Forderungen nach Anerkennung des Grundsatzes »Black lives matter«. Mich erinnert das an etwas, was Lale einmal zu mir sagte: »Es ist nicht wichtig, welche Farbe deine Haut hat, welches deine Religion, deine Ethnie, deine sexuelle Orientierung ist. Wir bluten alle in derselben Farbe.« Er brachte es auf den Punkt. Wir sind alle Menschen.
Zurzeit ist es sogar schwierig, freiwillige Hilfe anzubieten, weil wir überall Abstand halten müssen. Viele wollen gerne, vielen ist es ein Bedürfnis zu helfen, wo sie können. Für Menschen, die alleine leben, ist die Isolierung besonders hart, bis zu dem Zeitpunkt, an dem das junge Mädchen, das ich beobachtet habe, das Haus der älteren Dame wieder betreten darf, ihr beim Auspacken und Einräumen der Lebensmittel helfen und vielleicht bei einer Tasse Tee noch mit ihr plaudern darf. Auf physischen Kontakt verzichten zu müssen, ist besonders schwer zu ertragen – Menschen brauchen Berührung, eine Umarmung oder einen Kuss von einer Freundin, einem Verwandten, einem Enkelkind.
Wir werden in den nächsten Monaten oder vielleicht Jahren alle einen Schritt zurücktreten müssen, bis die Auswirkungen von Covid-19 verarbeitet sind. Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen Probleme stellen bereits jetzt alle Länder vor große Herausforderungen. Einige Karrieremöglichkeiten kehren vielleicht nicht zurück, man wird nach neuen Formen von Ausbildung und Arbeit suchen müssen. Auch in den Familien werden die Auswirkungen immens sein, wir kennen das von der Weltwirtschaftskrise. Andererseits wissen wir, dass wir anpassungsfähig sind, dass wir uns für ein anderes Leben entscheiden können. Vielleicht ist es nicht so wie vorher, vielleicht ist es sogar besser. Unser Blick auf die Welt wird sich möglicherweise eine Zeit lang auf die Gemeinschaft und die Nachbarschaft beschränken, in der wir leben. Das muss nicht unbedingt schlecht sein. Indem wir uns zusammenschließen und unsere Geschichten teilen, wie wir persönlich durch die Pandemie gekommen sind, können wir zuhören und lernen, und wir werden lachen und weinen. Es wird eine neue Welt sein und häufig eine dunklere Welt, aber vielleicht wird es auch eine bessere. Wir müssen jetzt akzeptieren, was vor uns liegt, wir dürfen nicht der Nostalgie verfallen, sondern müssen offen sein für die unvermeidlichen Veränderungen, die vor uns allen liegen.
Ja, wenn wir Covid-19 hinter uns haben, fährt die Industrie wieder hoch, und dann brauchen wir viele schlaue Menschen, die für uns sicherstellen, dass alles läuft. Aber können wir mit der sauberen Luft um die Nase nicht überlegen, wie unsere Industrie sich digital umstellen, die Emissionen verringern und sie irgendwann ganz zurückfahren könnte? Wenn wir so schlau sind, Covid-19 zu bekämpfen, sollten wir auch so schlau sein, diese Gelegenheit zu ergreifen und für einen sauberen Planeten zu kämpfen. Wie stark sich Covid-19 wirklich auf den Klimawandel auswirkt, wird momentan immer sichtbarer, und in kürzester Zeit wird uns gerade bewusst, wie schnell wir eine sauberere, sicherere Umwelt schaffen können. Vielleicht sollten wir wirklich alle einmal innehalten und horchen, was unsere Erde uns gerade vorführt. Sie kann sich regenerieren, aber sie kann es nicht alleine: Wir, ihre Bewohner, müssen mithelfen. Wir müssen unserer Erde zuhören.
In geht es ums Zuhören; wie wir, indem wir anderen zuhören, Inspiration im Alltagsleben der Menschen um uns herum finden können.
Als ich Lale Sokolov ein paar Wochen nach dem Tod seiner Frau zum ersten Mal begegnete, sagte er mir, er hoffe, er werde noch lang genug leben, um mir seine Geschichte erzählen zu können. Aber eigentlich wollte er nicht bei mir sein, sagte er jedes Mal, wenn ich vor seiner Tür stand, er wollte bei Gita sein. Das sagte er mir jeden Tag, bis er dann irgendwann hoffte, er werde zumindest noch so lange leben, dass er reden und ich zuhören konnte, um seine Geschichte aufzuschreiben.
Vorbereitet war ich darauf nicht. Was ich aber mitbrachte, ohne dass ich damals darüber nachgedacht hätte, war meine Gabe zum Zuhören. Zum echten, aktiven Zuhören. Tag für Tag ging ich zur Arbeit in den sozialen Dienst eines großen Melbourner Krankenhauses. Dort hatte ich mit Patienten zu tun, mit Angehörigen, Pflegerinnen und anderem Krankenhauspersonal: Sie redeten, ich hörte zu. Häufig wussten sie nicht, was sie sagen sollten oder sie sagen konnten, was sie dachten, fühlten – ja, eher fühlten als dachten. Aber das war nicht wichtig. Indem ich ganz ruhig blieb und ihnen vermittelte, dass ich nicht weggehen würde, dass ich da war und zuhörte und helfen würde, wenn ich konnte, fanden sie häufig die nötigen Worte. Es war ein Privileg, der Mensch zu sein, mit dem ein Fremder plötzlich redete, und gelegentlich sogar in seiner tragischen oder traumatischen Lebenssituation etwas Kleines bewirken zu können.
Inzwischen wird mir dieses Privileg, Geschichten hören zu dürfen, durch die Zuschriften von Lesern des und des zuteil. Staunend und dankbar empfange ich die tiefen Emotionen, die mir entgegengebracht werden, und es berührt mich, dass mein Erzählen von Lales und Cilka Kleins Geschichten so viele Menschen angesprochen hat, dass die Lektüre ihrer Geschichten sich umfassend ausgewirkt hat auf Männer und Frauen, Alte und Junge überall in der Welt, dass sie ihnen in einem dunklen Moment ihres Lebens geholfen hat. Ich hoffe aufrichtig, dass ich, wenn sie mir schreiben und mir von ihrer Hoffnung berichten, am nächsten und übernächsten Morgen wieder aufzuwachen, weiterhin etwas Kleines bewirke. Ich habe keinen physischen Kontakt zu meinen Leserinnen, aber oft stelle ich mir ihre Gesichter vor, male mir sie und das Umfeld, das sie beschreiben, aus. Und indem ich die Briefe der Menschen lese, höre ich ihnen auch zu.
Inzwischen ist mir klar, dass Zuhören eine Kunst ist; und ich habe die Hoffnung, dass Sie, angeregt durch die Lektüre dieses Buchs, vielleicht auch beschließen, dies aktiver zu betreiben. Ich verspreche Ihnen, wenn Sie das tun, werden die Geschichten, die Sie zu hören bekommen, Sie verändern – und zwar zum Guten. Nur wenn wir die Geschichten der anderen hören, können wir Empathie für sie empfinden, ihnen eine Stimme sowie die Hoffnung geben, dass jemand anderem etwas an ihnen liegt. Wir müssen ihrem Mut mit Offenheit und ihrer Verletzlichkeit mit Mitgefühl begegnen, und wir müssen sie ermuntern, es wieder zu tun.
In diesem Buch werde ich erzählen, was es für mich bedeutet hat, meinem geliebten Urgroßvater zuzuhören, und wie lehrreich und lustig es sein kann, unseren Alten zuzuhören. Ich werde berichten, wie wichtig es ist, Kindern zuzuhören. Ich bin Mutter und Großmutter, und wenn ich auch nicht behaupten kann, eine perfekte Mutter gewesen zu sein (wie meine Kinder sicher bestätigen würden!), so denke ich doch, dass ich das eine oder andere gelernt habe, indem ich meinen Kindern zugehört und den Wert ihrer Gedanken und Gefühle anerkannt habe, egal wie klein oder trivial sie damals wirken mochten. Ich werde Sie an ein paar weiteren Geschichten über meine Zeit mit Lale teilhaben lassen und erzählen, was ich gelernt habe, indem ich diesem einzigartigen Menschen zugehört habe und auch den vielen anderen, die den Mut hatten, mir aus äußerst persönlichen und emotionalen Phasen in ihrem Leben zu berichten. Und ich werde Ihnen von allen Lektionen, die ich gelernt habe, die schwierigste mitgeben: dass man vor allem zuhören muss.
Ich möchte Ihnen in diesem Buch ein paar Gedanken dazu anbieten, wie aktives Zuhören aussehen kann. Durch Zuhören und Lernen kommt man womöglich selbst in die Lage, anderen Hoffnung zu geben. Es gibt keinen Anfang und kein Ende im Kreislauf des Hörens und Weitergebens dieser Geschichten. Sie gehören niemandem, und niemandes Lebenserfahrungen sind gültiger als die eines anderen. Sie sind einzigartig, individuell, aber indem wir sie anhören, können wir ein bisschen klüger werden, ein bisschen mehr Mitgefühl und Verständnis entwickeln, und wir können unser eigenes Leben mit dem bereichern, was andere uns über ihr Leben zu erzählen haben.
Außer meiner Lebenserfahrung qualifiziert mich nichts dazu, anderen Ratschläge zu geben, wie sie ihr Leben leben sollen oder für welchen Weg sie sich entscheiden sollen, wenn mehr als einer vor ihnen liegt; auch schließe ich mich keinem Glauben und keiner Religion an. Was ich anbieten kann, ist nur, was ich aus meinem persönlichen Glück gelernt habe, dass andere bereit waren, mir ihre Geschichten zu erzählen – und aus meiner Bereitschaft, ihnen zuzuhören. Kinderleicht? Ja, tatsächlich. Probieren Sie es einfach.