Frank Maria Reifenberg
Unsichtbare Blicke
Thriller
Rowohlt Digitalbuch
Frank Maria Reifenberg, im Westerwald aufgewachsen, seit 20 Jahren Wahlkölner, nach dem Abitur Ausbildung zum Buchhändler, danach Texter in Public-Relations-Agenturen, später mit eigener Agentur, zum Jahrtausendwechsel noch einmal von vorne begonnen: Ausbildung an der Internationalen Filmschule Köln. Schreibt seit über zehn Jahren Drehbücher und Konzepte für Film und Fernsehen, Romane und Erzählungen oder auch mal das Libretto für eine Jugendoper, wenn man ihn – wie die Bayerische Staatsoper – darum bittet.
«Du bist ein Schwein», flüsterte ich. «Kannst du mich auch hören?»
«Nein», antwortete er. Dann begann er, sich zu entschuldigen, es schönzureden; dass er auf mich aufgepasst hätte, nicht mehr, nur aufgepasst. Ich starrte auf den Bildschirm, in die winzige Kamera. Sollte er so viele Bilder von mir machen, wie er wollte. Sollte er die Tränen sehen. Und die Wut. Und die Verachtung. «Wer bist du?», schrie ich. Immer wieder. Wer bist du. Wer. Wer. Wer. Bist. Du.
Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2012
Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Die Zitate auf den Seiten 62 und 291/292 aus «Madame Bovary» von Gustave Flaubert folgen der Übersetzung von Caroline Vollmann
Die Zitate auf den Seiten 197/198 sind dem Film «Matrix» in der deutschen Fassung von Alexander Löwe entnommen
(USA 1999, Regie Andy und Larry Wachowski, Produzent Joel Silver, Warner Bros Pictures)
Umschlaggestaltung Simon Schmidt
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Buchausgabe 978-3-499-21617-6 (1. Auflage 2012)
ISBN Digitalbuch 978-3-644-45881-9
www.rowohlt-digitalbuch.de
ISBN 978-3-644-45881-9
Für Udo.
«Es wäre gut, viel nachzudenken,
um von so Verlornem etwas auszusagen,
von jenen langen Kindheits-Nachmittagen,
die so nie wiederkamen – und warum?»
(Rainer Maria Rilke, «Kindheit»)
Ich erkannte den Tod am Geruch. Kaum jemand in meinem Alter hatte schon so oft mit ihm zu tun gehabt, aber man gewöhnte sich daran. Der Geruch des Todes tat nicht weh, nicht so wie andere Gerüche.
Lange Zeit hatte ich wegen dieser Sache mit den Gerüchen geglaubt, ich sei verrückt, irgendwie sonderbar. Ich nahm Gerüche wahr wie andere eine Berührung, einen Windhauch, das Brennen der Augustsonne auf der Haut. Beim Betreten von Frau Sudermanns Zimmer spürte ich den Tod.
In den ersten Minuten fügte er dem Gemisch der Ausdünstungen in diesem Haus etwas hinzu, das man nicht verwechseln konnte. Trocken und mehlig fühlte er sich an. Der Tod schnitt nicht, er brannte nicht, stach nicht; weich war er, wie Mehl an den Händen.
Frau Sudermanns Zimmer lag im Dunkeln; nur das grüne Licht über der Tür warf einen schwachen Schein; es war der rechteckige Kasten mit dem Männlein, das durch eine offene Pforte abhauen will. Notausgang. Dahinter konnte man noch die Umrisse eines Kruzifixes erkennen, das vor ein paar Wochen den Sicherheitsvorschriften hatte weichen müssen. Den alten Leuten hatte das Kreuz wahrscheinlich mehr gebracht, die meisten konnten sowieso nicht mehr fliehen, wenn es brannte – mit oder ohne Notausgangszeichen.
Frau Sudermann hatte sich ihren Notausgang gesucht, das wusste ich sofort. Mehlig. Trocken. Warum bei mir?, fragte ich mich, warum starben die alten Leute so gerne, wenn ich da war?
Wie schon vor ihr drei andere Bewohner in diesem alten Schuppen, der den protzigen Namen Fürstlich Bergfeldscher Stift trug, hatte sie sich ausgerechnet meine Schicht ausgesucht, um von einer Welt abzutreten, die sie sowieso nicht mehr verstand, einer Welt, die mit der in ihrem Kopf in nichts mehr übereinstimmte.
Sie hatte unter ganz und gar unfürstlichen Bedingungen ihre Zeit abgesessen. Irgendwann war mir klargeworden, dass meine abendlichen Besuche ein, wenn nicht sogar der Höhepunkt jeder Woche waren, immer dienstags. Nur diesen Tag konnte Frau Sudermann richtig benennen, wenn man sie danach fragte. Ihr Jahr hatte nur noch 52 Tage gehabt, die sie unterscheiden konnte; die Dienstage mit mir.
In der Schule verstand niemand, warum ich die Stelle angenommen hatte.
Es sei eklig mit den stinkenden Alten, das klebe doch an einem, hatte Sarah gemeint, und in den blauen Kitteln sähe ich wie ein Müllsack auf Beinen aus, von der miesen Bezahlung ganz zu schweigen. Aber es war der einzige Job, für den ich die Erlaubnis meiner Eltern bekam. Wenn ich neben der Schule arbeiten wollte, gab es nur diese Möglichkeit.
Ich mochte Frau Sudermann. Hatte sie gemocht. Sie würde mir fehlen.
Mit einem Kichern hatte sie sich abends auf die Seite gedreht, damit ich ihr Kissen aufschütteln und das Laken geradeziehen konnte. Ich hatte ihr Löffel für Löffel Haferbrei mit Zimt eingeflößt, ihre immer noch vollen, aber nun grauen Haare gebürstet und geflochten oder gewartet, während Frau Sudermann ihr Geschäft auf dem Toilettenstuhl erledigte.
Nur wenn sie von Karl sprach, schien sie völlig klar zu sein.
Ich brauchte einige Zeit, bis ich verstand, wer dieser Karl war. Es war nicht der alte Herr, der gemeinsam mit Adele auf den Familienfotos zu sehen waren, die über ihrem Bett hingen. Karl war ihr Liebhaber gewesen.
An diesem Abend wusste ich schon, bevor ich die Klinke zu Frau Sudermanns Zimmer losgelassen hatte, dass sie keine Wünsche mehr haben würde. Sie war auf dem Weg zu Karl.
Ich schaltete nicht die Deckenlampe ein. Die alte Dame fürchtete sich vor dem grellen Schein der Leuchtstoffröhren. Ich zündete eine der geweihten Kerzen an, die die Nonnen von ihren Fahrten in einen französischen Wallfahrtsort mitbrachten. Im sanften Schein der Flamme setzte ich mich zu Frau Sudermann auf die Bettkante.
Ihr Kopf war auf die Brust gesackt, wodurch sie nicht mit offener Kinnlade dasaß, glücklicherweise, denn für mich war dies das Schlimmste: Nicht der starre Blick, nicht die eingefallenen Wangen machten mir Angst, sondern dieser dunkle Schlund, der sich öffnete, wenn jemand starb. Durch ihn machte sich die Seele aus dem Staub, irgendwo musste sie ja raus, und andere Fluchtwege fand ich für eine Seele ein bisschen widerlich. Schwester Theofila, die kaum jünger als Frau Sudermann war, wickelte immer eine Mullbinde ums Kinn der Toten und verknotete sie auf dem Scheitel, was auch aus dem stolzesten Menschen einen Hampelmann mit Schleifchen auf dem Kopf machte.
Ich hielt die magere Hand der Toten. Sie war noch nicht kalt. Wir warteten gemeinsam.
«Josie?»
Ich schreckte auf und zog meine Hand zurück, woraufhin Frau Sudermanns Arm kraftlos nach unten baumelte. Einen Herzschlag lang bildete ich mir ein, die Gestalt im Bett habe gesprochen. Ich nahm das leblose Körperteil und bettete es auf die Wolldecke, die Frau Sudermann in besseren Zeiten selbst gehäkelt hatte.
Die Deckenlampe flammte auf. Ich kniff die Augen zu.
«Mein Gott, schon wieder?», sagte die Person an der Tür.
Ich erkannte die Mutter Oberin. Sie trug die schlichte Arbeitskluft der Schwestern, einen fast bis zum Boden reichenden Rock aus grauer Wolle, eine hochgeschlossene Bluse, darüber eine taubenblaue Schürze. Die nach hinten gekämmten und zu einem straffen Knoten gebundenen Haare verliehen Schwester Martha nicht die Strenge, die sie sich wünschte. Sie war Ende vierzig, wirkte aber deutlich jünger. Sie kramte ein Smartphone aus der Kitteltasche hervor.
«Du wirst noch unser Todesengel», sagte die Schwester.
Ich zuckte bei diesem Wort zusammen. Noch vor kurzem hatte ich einen Zeitungsartikel gelesen, in dem es um eine Pflegerin ging, die so bezeichnet wurde. Sie hatte ein ganzes Dutzend Senioren aus dem Weg geräumt, aus Mitleid, wie sie vor Gericht behauptete. Allerdings stellte sich heraus, dass die Raffgier größer als das Mitleid gewesen war: Sie hatte Schmuck, Bargeld und Sparbücher mitgehen lassen.
«Doktor Wiener? Totenschein, ja», hörte ich die Schwester ins Telefon sprechen. «Frau Sudermann, vor …», sie schaute mich fragend an.
«Sie muss eben erst eingeschlafen sein», sagte ich.
Ich sagte immer eingeschlafen, weil für mich alle anderen Begriffe gnadenlos klangen. Von uns gegangen, verschieden, das Zeitliche gesegnet und noch schlimmer: den Löffel abgegeben oder ins Gras gebissen, was Sarahs Lieblingsausdruck dafür war.
«Halbe Stunde, ja, bis später», beendete die Chefin des Pflegeheims das Gespräch. «Du kannst gehen, ich kümmre mich um alles.» Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: «Dein Verehrer wartet sicher schon.»
Ich konnte den Schreck nicht verbergen. Mit etwas zu offenem Mund stand ich etwas zu lange vor ihr. Ich hätte eine von Schwester Theofilas Schleifen brauchen können.
Das spöttische Lächeln im Gesicht der Mutter Oberin bestätigte es: Ich weiß es, Josefa Sonnleitner, ich weiß es!, stand hinter diesem Lächeln. Du hast versucht, es zu verheimlichen, vielleicht kannst du deinen Eltern etwas vormachen, aber mir entgeht nichts.
Ich hatte nicht die geringste Lust, darüber auch nur einen Ton von mir zu geben, also lächelte ich sie nur an, strich Frau Sudermann noch einmal eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ging. Wie sollte eine Nonne etwas davon verstehen? Eine Braut Gottes, wie sie sich selbst oft bezeichnete.
Im Erdgeschoss verstaute ich die Kittelschürze, die ich bei der Arbeit tragen musste, in meinem Spind und raffte meine Klamotten. In der Küche füllte ich ein Glas an dem steinernen Spülbecken und stürzte das Wasser mit ein paar großen Schlucken runter.
Nachdem die hintere Tür, die direkt aus der Küche in den Garten des Stifts führte, in meinem Rücken mit einem satten Plopp ins Schloss gefallen war, lehnte ich mich für ein paar Atemzüge an das raue Holz. Alles in dem alten Gebäude war massiv, fest, gewaltig.
Der Regen hatte eine kurze Pause eingelegt. An der Bushaltestelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Schatten einiger Goldregenbüsche raschelte etwas.
Ich zog die Klammer aus dem Knoten, der meine Haare im Nacken festhielt, schüttelte sie aus, holte zweimal tief Luft und überquerte den Kiesweg, der hinunter zur Landmarkstraße führte. Ich saugte die vom Regen gereinigte Luft in meine Lungen und rannte zur Bushaltestelle, weil Bugsie mit dem letzten 143er oberhalb von Berlages Hof um die Ecke bog. Der Regen prasselte wieder los. Er schlug die gelben Blüten von den Goldregenbüschen.
Jemand trat aus dem Schatten.
Er konnte sich nicht an den Geruch gewöhnen, das störte ihn. Die Belüftungsrohre brachten zwar genug Sauerstoff herein, aber die modrige Feuchtigkeit hing trotz aller Bemühungen im Raum. Wenn er den Duftspender aus dem Drogeriemarkt voll aufdrehte, dominierte das künstliche Aroma von Lavendel, aber sie bekam davon Kopfschmerzen.
Es hatte ihn viel Arbeit gekostet, das Zimmer so schön herzurichten für sie, einfach war das nicht gewesen. Wie sollte man sich in ein Wesen wie sie hineindenken?
Fühlen, hineinfühlen musst du dich, dachte er, aber das war er nicht gewöhnt.
Ein Wesen, das war das richtige Wort für sie, weil sie so etwas Unwirkliches hatte, nicht so billig wie die anderen, die er oft auf der Straße sah, gleich gegenüber dem Büro konnte er sie von seinem Fenster aus Tag für Tag beobachten, eine wie die andere, schmal, dünn, glatte lange Haare, meistens an der Seite gescheitelt, wer schrieb ihnen eigentlich vor, dass sie alle diese Frisur und enge, tiefsitzende Jeans zu tragen hatten, enge T-Shirts, weit über die Hüften gezogen, aber mit einem Ausschnitt, so tief?
Nun, was gingen sie ihn an? Sein Mädchen war anders, und es hatte es verdient, dass er es ihm schönmachte.
Dieser Raum sollte mehr sein. Schon auf den ersten Blick warm und kuschelig, eine Heimat, das war etwas anderes als einfach nur die Bude eines Teenagers. Sagte man das überhaupt noch? Teenager? Eigentlich war sie doch schon eine junge Frau. Sie hatten so viel Zeit verloren, aber nun war sie da.
Man konnte viel mit Licht machen, Licht war sehr wichtig, vielleicht noch wichtiger als die Farben. Licht und die richtigen Stoffe. Viele Kissen und Decken, auf dem Bett, auf dem Sessel aus lindgrünem Plüsch. Helles Grün, viel Weiß, hier und da ein Tupfer Rosa, eher Altrosa, sie sollte sich nicht wie eine Barbiepuppe fühlen, indirekte Beleuchtung und zwei Leuchtröhren, die perfekt Tageslicht simulierten.
Zu ihrem Empfang hatte er ein Stück von Frederic Chopin aufgelegt, das Nocturne Nr. 1 in e-moll, einen kurzen Moment hätte er fast der Schmetterlings-Etüde den Vorzug gegeben, aber irgendwie hatte es nicht dem Anlass entsprochen, zu wenig feierlich, zu verspielt, flirrend, ein Schmetterling halt.
Das Bild auf dem Überwachungsmonitor ermöglichte ihm, jeden Winkel des Raums zu beobachten. Sie hatte sich im Sessel zusammengekugelt und die Decke über den Kopf gezogen. Wahrscheinlich steckten die Ohrhörer des MP3-Players tief in ihrem Gehörgang; das tat sie immer, wenn sie sich seinen Blicken entziehen wollte. Das mochte er nicht, aber er wusste, dass ein Mädchen in ihrem Alter das brauchte.
Er schaute auf die Uhr. Es war höchste Zeit.
Er überprüfte den Riegel an ihrer Zimmertür, dann schlüpfte er in die Regenjacke. Das Wetter war wirklich fürchterlich. Wenn es nicht bald besser würde, gäbe es wieder Ärger mit dem durchsickernden Wasser. Er stapfte durch das feuchte Moos, überquerte die schmale Lichtung, immer auf anderen Wegen, das war wichtig, keine ausgetretenen Pfade, darauf achtete er. Die Natur hatte sich das Gelände zurückgeholt. Es war nicht zu erwarten, dass jemand sich hierher verirrte, alleine schon, weil es im Umkreis von fünfzehn Kilometern kein bewohntes Gebäude gab. Nur ein einziges Mal hatte er ein paar Rotzlöffel mit dem Gewehr vertreiben müssen. Wenn er daran dachte, musste er lachen, wie waren sie gerannt und dann auf ihre Mountainbikes gesprungen!
Im Haus hielt er sich nicht lange auf. Die Milch wärmte er in der Mikrowelle auf, gab einen ordentlichen Klecks Honig hinein, das war schön, wie der goldgelbe Saft in dicken Tropfen hinab in die heiße Flüssigkeit glitt, um sich fast sofort aufzulösen. Die Tüte mit den Mandelkeksen war leer, wie schade, die mochte sie, aber ein Schokobrownie war auch nicht schlecht, das musste sie einsehen, doublechoc, sie war nicht undankbar, und morgen würde er wieder ihre Lieblingsplätzchen besorgen.
Ein paar Minuten später öffnete er die Stahltür zu ihrem Zimmer.
«Kleines, es ist Zeit», sagte er.
Sie rührte sich nicht.
«Das ist doch gar nicht schön, wenn du die Musik so laut machst, und es schadet deinen Ohren, auch wenn es Chopin ist», murmelte er.
Er zog die Decke von dem Sessel; sie war mit üppigen Pfingstrosen bedruckt, ein bisschen altmodisch vielleicht für ein so junges Mädchen, dachte er. Einen kurzen Augenblick verstand er nicht. Das Licht war schummrig, um diese Zeit schaltete es sich automatisch auf Abendstimmung.
Das Tablett entglitt seiner Hand.
Milch ergoss sich über die Pfingstrosen, die Sessellehne; sie zog Schlieren, als sie sich mit dem Blut auf der Sitzfläche vermischte.
«Was hast du getan?», schrie er.
Sie antwortete nicht.
Ich zuckte zusammen. «Felix!», entfuhr es mir, als ich erkannte, wer aus dem Schatten getreten war. Felix Diuso. Hatte er dort auf mich gewartet? Was machte er hier, an einem Dienstagabend, an dem im Umkreis von fünf Kilometern nur ein Altenheim und Langeweile auf ihn warteten?
Außer, dass er – laut Sarah – in festen Händen war, wusste ich wenig von ihm. Eine Information, die sie mir sofort gesteckt hatte, als er zum Beginn des Halbjahrs auf unsere Schule gekommen war. Eine Information, deren Quelle sie nicht preisgeben wollte. Eine Information, die völlig irrelevant für mich war, und ich hatte mit einem kühlen «Na und?» reagiert. Sarah stachelte das erst recht an. Nach kurzer Zeit hatte sich jedoch ihr Interesse gelegt, wahrscheinlich, weil sie sich die Zähne an ihm ausgebissen hatte. Ausdauer gehörte nicht zu Sarahs Stärken.
Eine Klasse über uns und süß war er, das jedenfalls stand fest, und mein «Na und?» war ein reines Ablenkungsmanöver gewesen.
«Hab ich dich erschreckt?», fragte er.
Natürlich hatte er das. Ich schüttelte den Kopf. Der fruchtige Duft der Goldregenbüsche fuhr wie ein kühler Schauer über meinen Rücken. Er zupfte ein paar Blüten aus den Haaren, dunkle Locken, die ihm tief in die Stirn hingen.
«Das wollte ich nicht», sagte er.
Eine letzte Blüte wollte sich nicht von ihm trennen. Meine Hand zuckte, um sie zu greifen, aber ich brach die Bewegung auf halbem Weg ab. «Steht dir gut», sagte ich.
Er lächelte. Ein schiefes, verzogenes Lächeln, das mir schon ein paarmal an ihm aufgefallen war. Es wurde begleitet von einem Tippeln, linker Fuß, rechter Fuß, kick nach etwas, das nur er sehen konnte. Mit einer Hand zog er die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf; sein Gesicht verschwand im Dunkeln. Als habe er es selbst erkannt, schob er sie wieder zurück und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare.
Der Bus erlöste ihn. Er kurvte in die Haltebucht, mit einem Zischen öffnete sich die Tür, und Musik strömte nach draußen. Bugsie hatte abends immer diesen Sender drin. Swing, Filmmusik, Chansons von vor fünfzig oder mehr Jahren. Die muffige Luft von unzähligen Leuten, die Bugsie den regnerischen Tag über transportiert hatte, mischte sich mit dem Körpergeruch des Fahrers. Kein schönes Gefühl.
Felix ließ mir den Vortritt. Wir waren die einzigen Fahrgäste. Ich nahm den Platz gleich in der ersten Bank. Mir wurde schlecht, wenn ich nicht sehen konnte, wohin wir fuhren, besonders im Dunkeln. Felix ging leider zwei Reihen weiter nach hinten. Ein Tusch beendete das Stück im Radio.
«Alles original», sagte Bugsie. «Noch echte Musik, hörste? Nich’ wie heute, der ganze Dreck aus dem Computer und so … da, Posaunen, haste gehört?»
Ich nickte, kramte mein Buch aus der Tasche, schaute mich um und verstaute es wieder. Lesen im Bus hatte eigentlich dieselbe Wirkung wie zu weit hinten sitzen. Ich warf einen schnellen Blick über die Schulter. Nicht schnell genug. Felix fing ihn auf und erwiderte ihn mit seinem schiefen Lächeln. Er fingerte seinen MP3-Player aus der Tasche und drehte die Lautstärke voll auf.
Am liebsten wäre ich hingegangen.
Neben ihn setzen, einen Ohrstöpsel nehmen, den Kopf an seine Schulter legen, die Augen schließen, seine leisen Regungen spüren, wenn er mit der Musik wippte, hoffen, dass sein Geruch etwas Schönes mit mir machte. Einen winzigen Augenblick spielte ich mit diesem Gedanken. Einfach die ganzen Regeln über den Haufen werfen.
Wie und wann und in welcher Reihenfolge, wer, mit wem, was tun darf, wenn man sich kennenlernt. Ganz bestimmt war ich nicht diejenige, die sich über die Regeln hinwegsetzte und den ersten Schritt machte. Wie sehr wünschte ich mir, in so etwas lässiger zu sein, wie Sarah, die sich grundsätzlich nahm, wonach ihr war.
Eigentlich war Felix genau der Richtige, um Regeln, für die keiner richtig verantwortlich sein wollte, Regeln sein zu lassen.
Er wirkte müde, noch blasser als sonst, was aber auch an der fahlen Innenbeleuchtung des Busses liegen konnte. Felix grinste, zog die Kapuze seines Sweatshirts tief in die Stirn und lehnte den Kopf an die Scheibe. Mit geschlossenen Augen folgte er den Gitarrensounds, die sich leise klirrend einen Weg nach draußen bahnten.
Sein Vater war Italiener, und er hatte nichts von den Knollennasen und den kantigen Gesichtszügen der Einheimischen hier, keine roten Wangen, keine struppigen Straßenköterhaare. Darin waren wir uns ähnlich: Meine kupferroten Haare, die sich nur mit Tüchern und Spangen oder in einem Pferdeschwanz bändigen ließen, passten auch nicht hierher.
Ich fragte mich, was Felix an dieser Haltestelle gemacht hatte.
«Fly me to the moon, let me play among those stars, let me see what spring is like on Jupiter and Mars. In other words, hold my hand. In other words …», stimmte der Sänger im Radio nach einem endlosen Intro das nächste Stück an.
Bugsie fiel sofort in den Text ein, erstaunlich gut, wie mir auffiel. Der unglaublich fette Bugsie, der zwischen den Sternen herumhüpft und nach dem Frühling auf dem Mars sucht! Händchenhaltend mit einer Marsianerin. Ich musste grinsen.
«… baby kiss me …»
Geh einfach ein paar Meter nach hinten, dachte ich, geh ein paar Bänke weiter und frag ihn, irgendwas, ob er dir bei Mathe helfen kann oder woher er die coole Umhängetasche mit dem Vogel drauf hat oder was auch immer.
«Buzz und die anderen haben das vom Mond runtergespielt, echt, kannste glauben», plapperte Bugsie, «achtundsechzig war das, im Juli. Mann, hab ich an dem Tag geschwitzt, da war ich neu bei denen hier.» Er schlug aufs Lenkrad.
«Neunundsechzig», hörte ich hinter mir die Stimme von Felix. Zum zweiten Mal an diesem Abend jagte er mir einen Schrecken ein. Er stand direkt hinter mir, lehnte einen Unterarm auf das Kopfteil der Sitzlehne. «Es war 1969.»
«Klugscheißer», knurrte Bugsie. Er griff nach einem Becher und schüttete sich aus einer Thermoskanne Kaffee ein. Das Lenkrad fixierte er mit seinem dicken Bauch. «Auch ’n Schluck?», fragte er, aber ich lehnte mit einem Lächeln ab. Felix bot er nichts an.
Bugsie ächzte beim Versuch, die Kanne auf die Ablage rechts vor mir zu stellen. Vielleicht waren im Laufe des Tages seine Fettwulste den entscheidenden halben Zentimeter gewachsen. Er ruckte noch einmal nach vorne, verriss das Lenkrad ein kleines bisschen, aber das reichte aus.
Das rechte Vorderrad rutschte von der Straße, deren Randstreifen im Winter durch den Frost an vielen Stellen abgebröckelt war. Bugsie reagierte schnell, er krallte sich am Lenkrad fest. Die Kanne schepperte über die Ablage, sprang auf und ergoss ihren Inhalt auf eine alte Ausgabe der BILD. Ein Politiker spendete seiner Frau eine Niere, das fiel mir noch ins Auge, bevor der Bus ganz abrutschte.
«Scheiße», zischte Bugsie.
«Alter», brüllte Felix.
«I wanna wake up in a city that never sleeps», tönte das nächste Lied aus dem Lautsprecher.
Der Bus kippte zur Seite. Ganz langsam.
Bugsie rutschte hinter dem Lenkrad hervor, klammerte sich mit einer Hand an den Schaltknüppel, kullerte dann aber die drei Stufen zur Tür hinunter. Sein wuchtiger Körper riss die Kasse, aus der er gewöhnlich das Kleingeld in eine kleine Schale klimpern ließ, mit.
Ich konnte mich seitwärts abstützen, glitt jedoch an der beschlagenen Scheibe, auf die ich mit beiden Händen patschte, ab. Meine Stirn titschte nur ganz zart ans Glas, weh tat es trotzdem.
Felix verlor das Gleichgewicht, wie in Zeitlupe sah ich ihn auf mich zusegeln. Ich wurde gegen die Scheibe gequetscht. Sein Schlüsselbein drückte in meine rechte Brust, und seine Locken kitzelten meine Wange, meine Nase, meine Lippen. Ich saugte die Luft durch die Nase. Limonen. Er benutzte ein Shampoo mit Limonenduft.
Es roch gut. Und es tat gut. Es war ein ganz neues Gefühl, das dieser Geruch auslöste. Ich würde noch ein paar Nasen mehr davon brauchen, um es endgültig zu beurteilen.
Ein paar Herzschläge lang war es ganz still. Nur die Wischblätter schrappten über die Frontscheibe. Felix machte keinen Versuch, von mir runterzuklettern. Auf einmal konnte ich nicht anders. Lachen, ich musste lachen, schallend lachen. Vielleicht, weil Bugsie mit ausgestreckten Beinen auf dem Rücken lag und sich nicht wieder zurückschwingen konnte.
Bevor der Busfahrer fragen konnte, ob uns etwas passiert sei, steckte ihn mein Lachen an. Er prustete, versuchte, es zu unterdrücken, aber dann platzte es auch aus ihm heraus.
«Mann, du bist vielleicht eine coole Socke», flüsterte Felix und rappelte sich auf.
«If I can make it there, I’ll make it anywhere», klang es aus dem Radio.
«Gehen wir zu Fuß?», fragte Felix, als wir Bugsie auf die Beine gestellt und durch die Tür auf der Fahrerseite aus dem gestrandeten Wrack geklettert waren.
Ich nickte.
«Auf keinen Fall», mischte Bugsie sich ein. «Ihr müsst die Polizei und den Krankenwagen abwarten.»
«Herr Buggendorp! Sehen wir so aus, als bräuchten wir einen Krankenwagen?», fragte Felix.
Fly me to the moon, dachte ich.
Wir hatten noch mehr als zwei Kilometer vor uns, es regnete, und wenn ich ehrlich war, pochte es in meinem linken Handgelenk ziemlich unangenehm. Andererseits hatte ich jetzt die Gelegenheit, Felix Diuso etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Es gab keine Regeln mehr oder neue, ich wusste es nicht. Wir hatten schließlich schon aufeinandergelegen.
«Kommst du?», fragte ich.
Felix nickte. «Willste meine Jacke?»
In other words, hold my hand, dachte ich.
Er war so süß, überließ mir die Jacke, obwohl es regnete. Der weiß noch, was sich gehört, hätte Frau Sudermann gesagt.
Felix plauderte über Musik, über das Konzert, von dem er gerade kam, eine Clubsession von einer Band, deren Namen ich nicht kannte, und einmal, als ein durchgedrehter Typ in einem kastigen Auto an uns vorbeiraste, riss er mich am Arm zur Seite.
«Scheiß Lehrer», brüllte er.
Obwohl das alles blitzschnell passierte und wir kaum erkennen konnten, was und wer uns da fast um die Ecke brachte, hatte Felix die Automarke erkannt.
«Volvo, Lehrerporsche mit viel Platz und so sicher», er dehnte das so weit in die Länge, «jedenfalls, wenn du drinsitzt! Spießerkarre.»
Er hielt meinen Arm immer noch. Sein Ausbruch war so plötzlich und heftig, und er drückte, fest, zu fest.
«Du ziehst heute das Unglück wohl an», sagte er wieder ganz sanft und lächelte.
«Oder du?!», war meine Antwort. Kommt drauf an, wie man es sieht, war jedoch mein Gedanke. Den Arm bewegte ich nicht, keinen Millimeter.
Ich wusste, es entsprach genau dem, was mein Vater erwartete, wenn ich abends unterwegs war, aber ich wünschte mir, dass Felix wenigstens einen klitzekleinen Versuch startete. Tat er nicht. Er hielt einfach meinen Arm und spielte verlegen mit der Zunge an seiner Unterlippe.
«Man sieht dich so selten, irgendwo …», sagte er.
«Wir sehen uns jeden Tag in der Schule.»
«Ja, klar, aber ich meine, so draußen, anderswo, du weißt schon.»
Oh ja, ich wusste.
«Es ist ziemlich weit nach … überall», sagte ich.
«Hast du kein Fahrrad?»
«Doch.»
«Na also.»
«Meine Eltern sind ziemlich … ängstlich.»
«Alle Eltern sind ängstlich.»
Was wollte er hören? Vielleicht: Ich habe die beschissen strengsten Eltern dieser Welt und nichts als Ärger, wenn ich nach acht Uhr irgendwo abhänge und mit den Jungs einen zische, wie Sarah es nannte.
Ich schwieg eine Weile. Er schwieg auch.
«Bin vielleicht nicht so ein guter Unterhalter», sagte er nach einer gefühlten Ewigkeit. «So mit Reden und so.»
Im selben Moment nahm er zwei Schritte Anlauf, schwang die Arme nach vorne und legte die nächsten paar Meter auf den Händen gehend zurück. Seine Jacke hing ihm dabei über den Kopf, die Umhängetasche schlitterte nach unten und verhedderte sich zwischen den Ellbogen, was sein Kunststückchen nach wenigen Schritten beendete. Ich reichte ihm die Hand, um ihm auf die Beine zu helfen, aber er federte sich einfach selbst in den Stand, klopfte seine Klamotten und die Hände ab, rückte die Tasche zurecht und stapfte weiter.
«Man tut, was man kann», sagte er. Es klang nicht eingeschnappt, sondern ganz ernst, als wollte er sagen, das war das, was ich gerade konnte, und ich hoffe, es ist bei dir gut angekommen.
Kurz vor der Einfahrt zu unserem Haus setzte er sich auf den Holzzaun der großen Pferdeweide des Reiterhofs nebenan. «Ich warte, bis du im Haus bist», sagte er.
«Okay», erwiderte ich und streckte ihm die Hand entgegen.
Er drückte sie. Seine Hände fühlten sich rau und trocken an und waren erstaunlich kräftig und groß. Als hätte er meine Gedanken erraten, sagte er: «Unser Nachbar hat eine Schreinerei, ich helfe manchmal.»
«Verstehe», antwortete ich.
Er nickte.
«Na dann, vielen Dank für die Jacke.»
Ich reichte sie ihm. Bevor er danach greifen konnte, zog ich sie zurück.
«Oder vielleicht soll ich sie … waschen?»
«Geht schon», sagte er und nahm sie mit beiden Händen.
«Gut», sagte ich.
Er winkte noch einmal, als ich auf unser Haus zuging. Ich traute mich nicht, mich ein zweites Mal umzudrehen, tat es dann aber doch. Ich sah, wie er sein Gesicht in die Jacke drückte, und drehte mich sofort wieder um. Mit einem Lächeln auf den Lippen rannte ich auf das Haus zu.
An unserer Haustür musste ich klingeln. Mein Schlüssel ließ sich nicht drehen. Es hatte sich ausgelächelt. Bitte, flehte es in mir, bitte lass mir diesen Abend, aber ich wusste, ich würde kein Gehör finden.
Mein Vater öffnete. Der Geruch von Rosenkohl und gebratenem Schweinebauch zog nach draußen.
«Warum, Josie?»
Diese Frage diente nicht wirklich dazu, den Grund meiner Verspätung herauszufinden. Gab es Probleme? oder Musstest du länger arbeiten? wären die normalen Fragen gewesen, besorgte Fragen, die Väter ihren Töchtern stellten, wenn sie mitten in der Nacht vor der Haustür standen, die verriegelt war, in deren Schloss der Schlüssel steckte, von innen.
Wahrscheinlich hatte er seit einer knappen Stunde im Flur vor meiner Zimmertür gestanden und gewartet. In der Dunkelheit. Er hatte sich nicht auf die Stufen der Holztreppe gesetzt, sich nicht den kleinen Hocker aus Mamas Bügelzimmer geholt, sich nicht einmal an die Wand gelehnt.
Kerzengerade stand mein Vater bei solchen Gelegenheiten. Er rührte sich kaum. Er hatte sich unter Kontrolle, bis auf eine winzige Ausnahme: Die Finger seiner linken Hand spielten am Saum des Pullovers oder am Reißverschluss der Strickweste oder im Sommer an den unteren Knöpfen der Hemden, die er fast immer trug – weiße an Sonn- und Feiertagen und zu besonderen Anlässen, sonst karierte aus Flanell. Das Gefummel erzeugte ein schabendes Geräusch.
Jetzt versperrte er mir den Weg. Natürlich würde er mir nicht den Zutritt zum Haus verweigern, ganz im Gegenteil, am liebsten würde er mich drinnen einsperren.
Seine verbohrte Art lag wie ein dumpfer schwerer Schleier über dem Haus, über Mama, über allem, was er tat, was er anfasste, was er sagte. Wenn ich ins Haus wollte, musste ich mich an ihm vorbeischieben, sein süßliches Rasierwasser riechen, den knochigen Ellbogen an meiner Brust spüren, wenn er keinen Millimeter zur Seite trat. Hätte er mich nur einmal betatscht, wäre alles klar gewesen, ich hätte ihm das Leben zur Hölle gemacht, aber so war es nicht, nie gewesen.
Horst Sonnleitner war einer der wenigen Menschen, der wenigen Männer, dem man hundertprozentig glauben konnte, was er sagte. Ganz sicher regte sich in keiner Zelle dieses Mannes irgendetwas Unanständiges, nicht einmal der entfernte Gedanke daran, seine Tochter könnte etwas anderes sein als ein Wesen, das vor der Welt da draußen geschützt werden musste.
«Warum tust du uns das an, Josie?»
«Ich tue euch nichts an.»
«Die Erlaubnis, diese Stellung anzunehmen, war an eine Auflage geknüpft.» Er klang, als verlese er das Protokoll der letzten Sitzung des Kirchenbeirats.
«Frau Sudermann ist gestorben.»
Ich hätte ihm einfach sagen können, wie es war. Der Bus, ein Unfall, zu Fuß gegangen. Mit Felix Diuso.
Das wäre das Ende gewesen.
Er legte die Stirn in Falten. Einen kurzen Augenblick dachte er nach. «Das ist keine Entschuldigung.»
Kein du hättest anrufen können oder deine Mutter kommt eines Tages um vor Sorge folgte auf diesen Satz. Er meinte es genau so, wie er es gesagt hatte. Das war keine Entschuldigung. Der Tod war keine Entschuldigung dafür, wenn man Regeln brach. Regeln waren wichtiger als der Tod, wichtiger als alles, wichtiger als Liebe, wichtiger als Wärme, wichtiger als Freude, wichtiger als ich.
Bevor ich etwas erwidern konnte, knarrte die zweite Stufe der Holztreppe. Die zweite und die sechste von oben gaben diesen gequälten Ton von sich. Mama duckte sich ein wenig, um unter den Stufen, die noch eine Etage weiter hinaufführten, hindurchschauen zu können.
«Horst?», fragte sie leise.
Sie trug den Morgenmantel aus gelbem Frottee, den ich ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. Mit einer Hand hielt sie ihn vor der Brust zusammen. Ihre Füße steckten in Filzschluffen – ebenfalls ein Weihnachtsgeschenk, im letzten Jahr. Ich sollte ihr nicht solche Sachen schenken, dachte ich, als Nächstes kam dann ein elektrischer Quirl. Sie verdiente schönen Schnickschnack, von ihrem Mann bekam sie ihn garantiert nicht.
«Schlaf weiter, sie ist jetzt da», wimmelte mein Vater sie ab, aber sie stieg die Stufen hinab und fragte, ob ich Hunger hätte oder eine heiße Milch mit Honig wollte.
Ja, hätte ich am liebsten gesagt, ja, Milch, heiß und mit viel Honig, Graubrot dazu, nur mit Griebenschmalz oder Butter, so wie sie es früher oft für mich gemacht hatte, wenn ich vom Spielen unten am alten Wehr gekommen und durchfroren war, vor dem Abendbrot, was schon damals ein Grund für dicke Luft war, bevor alles wirklich schwierig wurde.
Aber das hätte sie unweigerlich in die stille Auseinandersetzung mit meinem Vater gezogen, sie zwischen die Fronten gestoßen, wo sie sich am Ende dann doch auf seine Seite schlug, schlagen musste.
Ich schüttelte den Kopf. «Frau Sudermann ist tot», sagte ich.
«Die mit dem Gutshof, in … in …» Sie kramte in ihrem Gedächtnis nach dem Ort.
Ich war erstaunt, wie viel sie von dem behielt, was wir gelegentlich besprachen, wenn sie seine Hemden bügelte und ich auf dem abgewetzten Sofa im Bügelzimmer herumlag.
«Königsberg», sagte ich.
«Genau», sagte sie. «Komm schon rein, du erkältest dich.»
Mein Vater trat einen Schritt zur Seite. Unsere Blicke verfingen sich für den Bruchteil einer Sekunde, als ich an ihm vorbeihuschte. Ich hauchte Mama einen Kuss auf die Stirn und beeilte mich, in mein Zimmer zu kommen.
Er war viel zu spät losgefahren, und der Unfall auf der A3 hatte ihn Zeit gekostet, nur weil ein Stümper nicht in der Lage war, seinen Wohnwagen auf der Straße zu halten oder mit 180 Sachen den Berg runtergebrettert war. Jeder Affe wusste, dass es die Senke am Ende in sich hatte, vor allem bei Regen und Sturm, aber dieser Holländer hatte wahrscheinlich Gas gegeben, weil er an den Blitzern vorbei war, gedacht hatte, er sei in Sicherheit.
Es war klar, er würde sie verpassen; selbst wenn er ordentlich Gas gab, alle Geschwindigkeitsbegrenzungen ignorierte, er würde es nicht schaffen.
«Du bleibst ruhig», schrie er und schlug aufs Lenkrad, «bleib ruhig, du bist kein Idiot, du hast es zu sehr in die Länge gezogen, es ist nicht wichtig, nicht so wichtig, dass du es länger und länger ziehen musst.»
Sie war nicht sein Mädchen gewesen. Punkt. Aus. Schluss. Das hatte er schon seit Wochen gewusst, aber einfach kein Ende gefunden. Verdammt, geahnt, er hatte es geahnt. Wissen war etwas anderes, aber jetzt wusste er es.
Hinter ihm flammte das Fernlicht einer Limousine auf.
«Arschloch, verdammtes Arschloch!», platzte es aus ihm heraus.
Ein schneller Blick in den Rückspiegel, und er wusste alles, klar, Dauerblinker links, Pachtschein für die Überholspur, von hier bis München, fast schon auf dem Grünstreifen mit den breiten Schluffen, warte nur, wenn die Leitplanke dir die Alufelgen abwetzt, Vorsprung durch Technik, was? Hemd, steifer Kragen, wahrscheinlich das Einzige, was du noch steif kriegst, was? Jackett hinten am Haken, goldene Manschettenknöpfe, nicht die billigen Dinger aus Plastik, so wie alle ihre Hemden zuknöpften, und Freisprechanlage, sicher, ein paar Geschäfte machen, bei 180 Stundenkilometern; oder der Fotze, von der er gerade kam, noch mal ins Ohr sabbern. Er kannte diese Typen.
Aber er beherrschte sich, obwohl seine Familienkutsche mehr unter der Haube hatte, als man von so einem Schweden erwarten sollte. Er tippte auch nicht die Bremse an, wie er es in seinem eigenen Auto getan hätte, um dem Affen einen hübschen Adrenalinstoß zu verpassen. Er setzte den Blinker, lauschte dem Klicken, das er verursachte, klick, einmal, klick, zweimal, klick, dreimal, und zog schnell auf die mittlere Spur. Der Audi A8 rauschte schon an ihm vorbei, bevor auch nur alle vier Reifen des Kombis den weißen Streifen überquert hatten.
«Wichser», schoss er ihm hinterher und wiederholte das Wort ein paarmal.
Hinter Kassel tankte er und zahlte bar. Wenn es eben ging, tankte er nicht bei einer Tour, ansonsten zahlte er natürlich bar, er war kein Idiot. Er hatte alles im Griff, auch wenn es ihm zunehmend Sorgen bereitete, dass er so ausgerastet war. Warum hatte er die Kontrolle verloren, warum? Und warum hatte er sie nicht verbluten lassen? Woher der Drang, es wieder so zu tun, wie damals?
Überhaupt, er hätte sie früher loswerden müssen, aber das hatten wir schon, ermahnte er sich, das hatten wir schon, hör auf mit diesen Gedanken. Er spürte die Wallungen in sich aufsteigen. Das war nicht gut.
Auf dem Parkplatz packte er seine Thermoskanne und die Blechdose aus. Der Geruch von jungem Gouda und sauren Gurken wehte ihm entgegen, obwohl er gar keine auf die Brote gelegt hatte. Er fragte sich, warum selbstgeschmierte Brote nach ein paar Stunden diesen Muff entwickelten. Es erinnerte an Spüllappen, die man zu lange benutzte. Nicht mehr lange, und er hätte den Käse kaum von einer Cervelatwurst unterscheiden können, wenn er überhaupt jemals Wurst essen würde. Sämtliche Scheiße warfen sie in den Wurstbrei, sogar Reste von einem Kopftuch hatte man in einer Fleischwurst gefunden.
Er biss von dem Graubrot ab und spülte mit einem Schluck Pfefferminztee nach. Er war immer noch heiß. Der Hersteller garantierte einen maximalen Temperaturverlust von fünf Grad in sechzehn Stunden.
Ein Tramper kam auf ihn zu. Unrasiert, braune Locken, einen großen Rucksack auf dem Rücken, einen kleineren vorne auf dem Bauch, an der Seite baumelten eine Isomatte und zwei Tassen aus Aluminium. Ob er auf dem Heimweg sei, wollte der Kerl wissen, nein, und wenn, ich würde einen verlausten Typ wie dich nicht mitnehmen! Aber das sagte er nicht.
Etwas von dem heißen Tee tropfte auf seine Hand; er hatte die Kanne nicht ordentlich verschlossen, maximal fünf Grad in sechzehn Stunden, das bedeutete, mindestens 75 Grad, auf seiner Handfläche, aber er beherrschte sich, das war wichtig. Beherrschung war wichtig.
Keine Miene verzog er und entschuldigte sich bei dem Tramper, dem schmuddeligen Nichtsnutz, freundlich war er und erklärte ihm, dass das Auto nur von einem Freund geliehen sei, er führe nach Süden, fast entgegengesetzte Richtung, habe nur kurz hier einen Schlenker über die Raststätte gemacht, den Freund abgesetzt, der arbeite hier.
Er lächelte den Typ an, zog die Tür zu und fuhr los.
Er war bisher noch nie angesprochen worden. Keiner hatte ihn bisher angesprochen. Beim nächsten Mal würde er keine Pause machen.
Der Gedanke war falsch. Es gab kein nächstes Mal.
Das nächste Mädchen war die Richtige, und er würde sie nicht wegbringen müssen. Diese würde bei ihnen bleiben, alles würde seine Richtigkeit haben, endlich. Es gab keinen Zweifel daran. Bei den anderen hatte er Zweifel, da hatte er es sich gewünscht und noch nicht gewusst, wie er eins und eins zusammenzählen musste. Aber die Testergebnisse hatten ihn eines Besseren belehrt.
Er drückte die Play-Taste am CD-Player.
«Uuuuuaaaah», schwebte die Stimme der Frau durch den Wagen. Bambambaram bam, bollerte ein Instrument, dumm, dumm das Schlagzeug, irgendwann ein Glockenspiel, alles verlogen, sie machten es am Computer, das wusste er. Die Sängerin war nicht mehr jung, aber die Stimme war doch die eines Mädchens, in allen Liedern. Sie saß auf dem Cover neben einem Mann, der dem Tramper ähnlich sah. Eine Sonne leuchtete zwischen den beiden.
«Wir sind alle gut und schön», sang sie, «so wie wir sind, wir sind alle Energie, die keiner verliert oder gewinnt, wir bewegen die Welt, dieser Weg hört niemals auf, wie gut kann die Zeit hier auf der Welt sein.» Dann wieder das Schweben. «Wie gut kann die Zeit hier auf der Welt sein. Ja. Wie gut kann die Zeit hier auf der Welt sein. Ja.»
Bambababambambambabaram. Er stimmte in den Refrain ein. Lauthals sang er mit. «Never say never, sag niemals nie, denn es gibt Eichhörnchen, die fahren Wasserski …»
Er wollte losfahren, überlegte es sich aber doch noch einmal. Er kannte die Raststätte, sie hatte einen offenen WLAN-Zugang. Er holte das Laptop aus der Tasche.
Ich tickerte mit ein paar Freundinnen, oder was man im Netz Freundinnen nannte. Den Computer hatte ich meinem Vater mit ziemlich viel Mühe und der Unterstützung unseres Informatiklehrers abgeschwatzt. Ein Freund von Sarah hatte die Kindersicherung mit links geknackt, obwohl Maik Rotter, der Computerhändler, meinen Eltern hoch und heilig versprochen hatte, ihr Töchterchen, wie er sich ausdrückte, käme damit auf keine Website, die ihren zarten Äuglein schadete. Dann hatte er gekichert, wie ich es nur von den Jungs aus der Schule kannte, wenn sie bekifft waren.
Der lange Typ schadete auf jeden Fall meinen Äuglein, so hässlich und abgemagert, wie er war. Rotters geschorener Kopf glich einem Totenschädel. Ich hatte den Mund gehalten, um bloß nicht irgendeinen Anlass zu geben, der den Kauf des Geräts gefährdete.
Sarah war nicht online. Eigentlich verrückt, wir hätten uns fast Lichtzeichen mit der Nachttischlampe geben können. Im Winter konnte man in sternklaren Nächten sogar die Außenbeleuchtung des Hofes der Trautmanns sehen.
Ich schaute auf Chatattack4U, ob wenigstens Geronimo da war, aber er tauchte erst spät, weit nach Mitternacht auf. Eigentlich schlief ich um diese Zeit, an diesem Abend bekam ich jedoch kein Auge zu. Frau Sudermann, Bugsies Stunt mit dem Bus, Felix – alles polterte lautstark durch meinen Kopf.
«Alles safe bei dir?», flimmerte die Nachricht in einem kleinen Fenster am oberen rechten Rand des Bildschirms auf.
Das war fast immer der erste Satz, wenn wir chatteten. Als Antwort musste eine Textzeile aus einem bestimmten Lied kommen, damit wir sicher sein konnten, wer am anderen Ende vor dem Monitor saß.
«Sag niemals nie», tippte ich ein.
Geronimo hatte mir beigebracht, was ich tun musste, um alle Hinweise auf meine Tätigkeiten auf dem Laptop zu verwischen, und meine Eltern waren Lichtjahre entfernt von allem, was mit dem Computer und dem Internet zu tun hatte; in unserem Flur stand noch ein Telefon mit Wählscheibe und Schnur. Aber ich wollte kein Risiko eingehen. Wenn Mama oder Papa in meinem Zimmer auftauchten, was sie selten wagten, jedenfalls nicht, ohne zu klopfen und meine Antwort abzuwarten, flimmerte immer hausaufgaben.de oder eines der Lernprogramme für Englisch-Vokabeln auf dem Bildschirm.
«Denn es gibt Eichhörnchen, die fahren Wasserski», antwortete Geronimo.
Ich kicherte. Ich konnte sein Augenverdrehen sehen. Er hasste Gruppen wie 2Raumwohnung.
«Wo warst du?», gab ich ein.
«Viel zu tun», kam zurück, «bist ja selbst noch nicht lange on.»
Ich fragte mich, woher er das wissen konnte. Das Programm zeigte es nicht an, das wusste ich. Wir tickerten ein bisschen hin und her, aber ein Gespräch kam nicht in Gang. Irgendetwas musste passiert sein.
Geronimo war vor ein paar Wochen aufgetaucht. Zuerst hatten wir ein paar Nachrichten auf SchülerVZ ausgetauscht, waren dann aber zu Chatattack4U gewechselt. Irgendwie hatte er sich von den anderen unterschieden, vor allem durch das, was er nicht machte. Er machte mich nicht an, seine zweite Frage war nicht die nach einem Foto oder meiner Telefonnummer gewesen. Manchmal schickte er mir Bilder, von verwunschenen Plätzen, die ich gerne besucht hätte.
Eines hatte ich als Bildschirmhintergrund gespeichert: eine Nachtaufnahme vom Himmel über Berlin. Der Hintergrund war fast schwarz, in der Mitte dominierte die kreisrunde Mondkugel, vor deren silbriger Scheibe sich die Silhouette einer Frauengestalt, eine Statue aus dem neunzehnten Jahrhundert, abzeichnete. Fast wirkte dieser Schattenriss wie eine Schwarzweißaufnahme.
Es sei eines seiner Lieblingsbilder, hatte er geschrieben, und ich hatte mich gewundert; für einen Jungen in seinem Alter war es ein ungewöhnlicher Geschmack, so romantisch. Er war einfach ungewöhnlich, anders.
Sarah hatte sofort darauf getippt, dass er schwul sei. Jungs, mit denen man wie mit einer besten Freundin chatten könnte, seien garantiert schwul, es gebe keine Freundschaft zwischen Frauen und Männern, niemals, behauptete sie.
Es war bisher auch nicht wie Freundschaft. Schon gar nicht wie Flirten. Ich hatte noch nie mit jemand so offen über die Probleme mit meinem Vater gesprochen. Für meinen Geschmack nahm Geronimo ihn viel zu oft in Schutz. Denk doch mal an ihn, versuch, dich in seine Lage zu versetzen, was fühlt er denn dabei!
Ich wollte mich nicht in seine Lage versetzen. Ich wollte nicht fühlen wie er, um Gottes willen – nein, gerade um dessen willen nicht. Wie sehr solche Sprüche in einem steckten. Unsere ganze Familie hatte er dem Regime dieser Gemeinde unterworfen. Keine eigene Meinung war mehr erlaubt, alles wurde abgeklopft, ob es der Lehre entsprach, und im Internet hatte ich eine Seite gefunden, die sich sehr deutlich mit dieser Lehre auseinandersetzte. Leider wurden die Brüder des Lichts dort nicht als Sekte eingestuft, noch nicht und nur knapp nicht.
«Biste wieder in einen Stall eingebrochen?», fragte ich.
«Nope, sie haben das mit der alten Kohlenrutsche gecheckt.»
«Aber das ist doch nicht der einzige Weg nach draußen?»
«Stimmt.»
Mehr kam nicht. Er lebte in einem Internat und hatte sich einer ziemlich entschiedenen Gruppe von Veganern angeschlossen, die alle paar Wochen durch Aktionen in Hühner-KZs oder Großschlachtereien Schlagzeilen machte; über einen der Einbrüche hatte sogar hier in der Rundschau ein Artikel gestanden.
Er hatte mal durchscheinen lassen, dass seine Eltern ihn in diese Schule entsorgt hatten, so war sein eigener Ausdruck gewesen, entsorgt: «Wie einen Haufen Müll, den man zurücklässt, irgendwo.»
Geronimo hielt mit nichts hinterm Berg. Irgendwie war es wohltuend, jemanden am anderen Ende zu haben, der sich nicht nur über die Bauchmuskeln von Werwolfdarstellern in Vampirfilmen oder neue Sonnenbrillenmodelle unterhalten wollte.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihm in der letzten Zeit, aber ich traute mich nicht zu fragen. Sonst pulsierte der Button, der seine Anwesenheit und die Bereitschaft zu tickern bekundete, im Chatattack4U-Fenster immer, jedenfalls nach der Essenszeit, die dort im Wohnheim so strikt eingehalten wurde.
Wer um sechs Uhr abends nicht am Tisch saß und diesen eine halbe Stunde später mit vollem Bauch verlassen hatte, blieb hungrig oder musste sich von etwas ernähren, das er reingeschmuggelt hatte. Essen, Alkohol, Zigaretten und Computer waren streng verboten, Drogen und Pornos sowieso. Wie Geronimo und sein Zimmerkumpel Tommi es bisher geschafft hatten, fast alles das vor den Filzern zu verbergen, war mir ein Rätsel. Im Testosterontrakt, wie er die Abteilung der älteren Internatsschüler nannte, flogen dauernd Jungs auf, nur ihn traf es nie.
«Springe nie ohne Netz und doppelten Boden», hatte Geronimo mal geschrieben und sich nicht weiter von mir löchern lassen.