Für meine Eltern Annemarie und Alwin
und meine Schwester Diana

eins

Für einen Mann, der als Komiker Erfolg haben wollte, besaß ich die unschätzbare Gabe, die Dinge sehr ernst zu nehmen. Ich parkte das Auto auf einem entlegenen Stellplatz neben dem Supermarkt an der Cromwell Road und schaltete erst die Scheinwerfer, dann den Motor aus. Einen Moment blieb ich aufrecht und regungslos sitzen. Nach einem vollen Novembertag ohne ein Zeichen von der Sonne machte sich die Dunkelheit gemächlich über das Grau Londons her, schüchtern klopfte der Regen auf die Windschutzscheibe. Meine Finger brauchten meine Augen nicht, um das Seitenfach aufzuklappen und sich darin zurechtzufinden. Das Licht eines Autos, das wendete, fiel kurz über mich. Ich ließ mich schon nicht mehr von dem Gedanken abhalten, dass ich beobachtet werden könnte. Ich nahm den Korken einer Weinflasche aus dem Seitenfach und stopfte ihn mir in den Mund.

Dann begann ich zu sprechen. Vor allem vielsilbige Wörter wie »Supermarktparkplatz« oder »Ordnungsliebhaber«, jede Silbe betont, danach die Wörter so schnell wie möglich herausgeschossen schließlich getragen und wohlgeformt ausgesprochen, und noch einmal das Ganze von vorn und noch einmal. Der Korken zwischen meinen Zähnen wackelte. Diese Übung lockere die Kiefermuskeln, hatte mir eine Sprachlehrerin gesagt, die Wörter kämen dann leichter und klarer heraus; nachher.

Ich wusste, nichts kann dich wirklich auf einen Auftritt vorbereiten, aber gerade deshalb bereitete ich mich so gewissenhaft vor: um mich selbst zu täuschen. Wenn ich mich gut vorbereitete, fand ich das Selbstvertrauen zu glauben, ich würde mich auf den Auftritt freuen.

Ich ließ den Korken im Mund, um mich an irgendetwas festzuhalten, als ich den Motor wieder einschaltete. Die Scheibenwischer kratzten. Ich sah auf die Autouhr und rechnete. Zwanzig nach sechs. Zum Churchill Arms war es eine Viertelstunde. Ich konnte noch über eine Stunde herumfahren.

Die letzten zwei Stunden vor einem Auftritt verbrachte ich immer im Auto, auch wenn es zum Klub oder Pub nur 15 Minuten waren oder es mit der U-Bahn schneller gewesen wäre. In Zeitungsinterviews erzählten Schauspieler oft, sie würden auf der Bühne schlagartig andere Menschen. Diese Fähigkeit hätte ich gern besessen. Ich wurde schon Stunden vor dem Auftritt ein anderer Mensch, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte, außer Auto zu fahren.

Mehr als 30, 40 Gäste würden nicht im Churchill Arms sein, montagabends, viele von ihnen wollten nur ein Bier trinken und wussten gar nichts von der Comedy. So wie für sie sollte der Abend auch für mich einfach dahinplätschern. Es war nicht mehr als ein bezahltes Training für die großen Auftritte am Wochenende oder, besser gesagt: für meine großen Auftritte irgendwann in der Zukunft. Mir war die Bedeutungslosigkeit der Veranstaltung bewusst. Ich konnte mich bloß nicht dementsprechend verhalten. Auch nach über zwei Jahren auf der Bühne war jeder Auftritt ein Kraftakt. Ich fühlte, ich müsse den Zuschauern das Lachen aus dem Mund reißen, immer wieder von Neuem.

Für mich war jeder Auftritt das Größte. Ob montagabends vor 30 Leuten im Pub, die ich nur als Hintergrundgesäusel auf ihrem Weg in den Vollrausch begleitete, oder in Tempeln wie dem Comedy Store, wo du in der Dunkelheit nichts sahst, aber die Anspannung spürtest, wenn 300 Leute kollektiv mit dem Ausatmen warteten, um auf ein Wort, einen einzigen Satz von dir in Lachen auszubrechen. Ich war oft im Comedy Store. Als Zuschauer.

Ich wusste, ich war nicht besonders gut. Aber ich war gut genug, um mir meine Träume zu erhalten.

Für den Notfall besaß ich mein Lachen. Wenn das Publikum sich zierte, lachte einfach ich über meine Sprüche. Sie mochten meine Gags mittelprächtig finden, aber meinem Lachen widerstanden nur die rettungslos Bösartigen. Wenn ich auf die Bühne trat, zitterten mir auch im dritten Jahr die Finger, dann jedoch lachte ich schon mein tiefes einstudiertes Lachen, und es breitete sich aus. Es infizierte zunächst meinen eigenen Körper, die Gesten wurden rund und leicht. Die Leute sahen, wie ich glühte vor Freude am Spiel, in meinen Augen blitzte die Lust an der Ausgelassenheit. Die Leute steckten sich an, ohne es zu merken.

Ich glühte schon. Dabei wartete ich nur, dass die Ampel an der Ecke zur Warwick Road auf Grün sprang.

Ich lieh mir vor einem Auftritt immer den Wagen von Jim, stellte die Musik laut, manchmal drückte ich schon nach dem ersten Lied auf die Wiederholungstaste, ich drückte sie wieder und wieder, ich hörte nur dieses eine Lied, Maggie May von Rod Stewart, zwei Stunden lang, 21-mal Maggie May. Ich mochte das Lied nicht besonders. Aber die CD war die einzige im Auto. Ich glaube, Jim hörte nur Radio.

In den Interviews der großen Sonntagszeitungen, die ich zwanghaft las, behaupteten Schauspieler oder Filmregisseure immer, die aufregendsten Ideen kämen ihnen beim Laufen oder Spazierengehen, da hatte ich es besser: Ich brauchte mich weniger anstrengen, mir reichte die Bewegung des Autos, um die Gedanken in Gang zu bringen. Mit Maggie May war ich nicht zu stoppen. Der Verkehr auf der Warwick Road stockte, die Fußgänger überholten uns, ihre Oberkörper vorgebeugt, Kopf und Schultern gegen den harmlosen Regen gestemmt. Ich betrachtete den Mann im Auto auf der Spur neben mir, sein stämmiger Hals sprengte beinahe den obersten Hemdknopf, in der linken Ohrmuschel steckte ein verkabelter weißer Knopf. Du bist so wichtig, dachte ich, und schon überholten sich die Gedanken. Laut sagte ich zu dem fleischigen Mann, der mich nicht hören konnte: »Handys. Das Wichtigste im Leben: Mein Handy könnte klingen. Überall sieht man die Typen, die den ganzen Tag mit dem Freisprechknopf im Ohr herumlaufen. Als müssten sie jederzeit bereit für einen Anruf sein. Also, die bekommen vielleicht fünf Anrufe am Tag. Ich laufe doch auch nicht den ganzen Tag mit Messer und Gabel herum, weil ich fünfmal am Tag esse. Oder lasse den ganzen Tag meinen Penis aus der Hose hängen, weil ich fünfmal am Tag auf Toilette muss.«

Der Gag war noch nicht ausgereift, ich musste die Sätze noch einige Mal laut hin und her schieben, ein wenig variieren, aber die Pointe war da, damit ließ sich arbeiten.

Die Leute lachten über alles, wenn ich nur gut vorbereitet war, wenn mein Lachen aus mir herausbrach.

Wegen des Feierabendverkehrs dauerte es fast zwanzig Minuten, bis ich die Runde um West Kensington gefahren war und wieder den Parkplatz am Supermarkt erreichte. Das Auto vibrierte kurz, als ich den Motor abstellte. Ich löste den Sicherheitsgurt und schloss die Augen. Dann atmete ich fest ein. Ich spürte das Senken meiner Brust so klar, dass ich die Umrisse der Lungen auf meiner Haut mit Filzstift hätte nachzeichnen könne. Ich atmete noch fester aus. Dies wiederholte ich 20-mal. Dann schlug ich mir fünfmal mit den flachen Händen im schnellen Rhythmus auf die Wangen und stieg aus.

Im Supermarkt herrschte ebenfalls Feierabendverkehr. Die Einkaufswagen von amerikanischen Dimensionen rollten stockend durch die Gänge, ich versuchte so stramm wie möglich zu marschieren, ohne Misstrauen zu erregen. Ein kurzer Spaziergang zähmte meine Aufregung. Angesichts des Regens, so sanft und zutraulich er auch sein mochte, wusste ich keinen besseren Ort als den Supermarkt.

Als ich zu dem Regal mit den Fruchtsaftkartons gelangte, begannen die Gedanken zu laufen. Dies war wie ein amerikanischer Supermarkt, dieser Gigantismus, diese übertriebene Klimatisierung, als ob sie mit dem Tiefkühlgemüse auch die Kunden einfrieren wollten. Amerika … Waffen. Die Gedanken rannten, ich blieb stehen. Die Fruchtsaftkartons verwandelten sich in ein Publikum. »Wisst ihr noch, letztens nach dem Schulattentat in den USA«, sagte ich, ohne ein Wort auszusprechen, zu den Fruchtsäften: »Im Fernsehen interviewten sie eine von diesen proper gebauten amerikanischen Mamis. Sie war gerade im Supermarkt, ihr Einkaufswagen quoll über vor lauter Fruchtsaftkartons, und sie quakte in die Kamera: ›Es sind nicht die Pistolen, die Menschen töten! Es sind die Menschen, die Menschen töten!‹ Ja, gut«, hörte ich mich wieder von der nölenden Amerikanerinnenstimme zu meiner eigenen wechseln: »Aber Menschen mit Pistolen haben es ein wenig leichter.«

Und sie würden lachen, das Churchill Arms würde vibrieren vor Lachen.

Ein Schwarzer, die eine Hälfte des Kunstfellkragens seiner Jacke gedankenlos aufgestellt, sah mich fragend an, als er mit einer Hand zwei Apfelsaftkartons aus dem Regal nahm. Aber ich lächelte einfach weiter.

»Entschuldigung!«

Ich drehte mich nicht um, sondern machte mich auf die zweite Runde durch den Supermarkt. Zur Tarnung warf ich nun doch ab und an einen prüfenden Blick auf die Marmelade oder das Thunfischfach.

»Sir!«

Beim Tiefkühlgemüse musste ich mich umdrehen. So schwerhörig, wie ich tat, konnte niemand sein.

Der Schwarze mit dem Fellkragen stand direkt hinter mir.

»Was haben Sie gesagt, Sir?«, stieß er hervor, sein Atem ging heftiger, als es ihm guttat.

»Ich? Ich habe gar nichts gesagt.«

»Und ob Sie etwas gesagt haben, da vorne bei dem Fruchtsaftregal.«

Er trug die zwei Liter Apfelsaft noch immer in der linken Hand, die groß genug war, die beiden Kartons zu umfassen.

Ich lächelte, und da ich nach vier Jahren in England die Bräuche des Landes angenommen hatte, ohne mich noch an ihrer Absurdität zu stören, sagte ich: »Entschuldigung.«

»Sie haben auf mich geschaut und gesagt: ›Dieser Mensch hat eine Pistole!‹«

Ich lächelte schon wieder; ohne dass ich es diesmal gewollt hätte.

»Das muss ein Missverständnis sein.«

»Das ist kein Missverständnis. Das ist Rassismus. Ich habe es satt, dass für Leute wie Sie ein Schwarzer automatisch als Krimineller gilt. Sehe ich etwa so aus, als würde ich eine Waffe tragen?«

»Ja, so sehen Sie aus.« Der Gedanke war nur der Reflex meines Berufszynismus, der selbst in unangenehmen Situationen immer als Erstes reagierte. Ich sagte: »Sie sehen tadellos aus.«

»Darum geht es nicht! Es geht darum, dass Sie hier herumlaufen, mich anstarren und sagen: ›Dieser Mensch trägt eine Pistole.‹ Wer sind Sie überhaupt, der Supermarktdetektiv oder ein selbst ernannter Hilfssheriff? Ich sollte die Polizei rufen.«

Niemand wollte mehr Tiefkühlgemüse kaufen. Die Leute schoben ihre Einkaufswagen schnell an uns vorbei, die Blicke starr auf die Einkaufswagenschiebestange gerichtet, peinlich betreten über unsere Unfähigkeit, die privaten Gefühle im öffentlichen Raum zurückzuhalten.

»Nun, es ist so, dass ich manchmal, um, nun, verstehen Sie, um zu trainieren, innerlich rede. Und, vielleicht habe ich, ohne es zu merken, die innerlichen Sätze etwas laut gemurmelt, und Sie haben dabei etwas nicht ganz richtig verstanden, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Wollen Sie mich verarschen?«

»Nein, es ist nur so, wenn ich Ihnen erklären würde, wie es gewesen sein muss, würden Sie es mir nicht glauben.«

»Ich glaube Ihnen kein Wort!«

»Natürlich. Es war ein Missverständnis, ich bitte Sie um Verzeihung.«

»Kommen Sie mir jetzt nicht mit diesem Um-Verzeihung-Bitten. Sie haben es gesagt, und Sie haben es gemeint.«

Ich sah auf seine Apfelsäfte, ich sah auf seine Finger, auf den einen, der auf mich zeigte, und auf die anderen, die sich in die Kartons krallten, tiefer und tiefer mit einer enormen Leichtigkeit, und ich erkannte, dass ein glückliches Ende schon ausgeschlossen war. Ich dachte, Hauptsache, es nimmt nicht das Ende, das ich mir ausmale. Ich griff mir drei Tüten Tiefkühlerbsen aus der Truhe, mein Atem hüpfte kurz, als ich die Plastikpackungen an meine Brust drückte.

»Entschuldigung, ich muss gehen, sonst tauen meine Erbsen auf.« Ich marschierte schon. Im Vorbeigehen widmete ich mich noch mit höchst interessiertem Blick den Südfrüchten, ich konnte also schon nicht mehr angesprochen sein von dem Gebrüll hinter mir, »und was, wenn ich wirklich eine Pistole trage, was, wenn ich sie gleich raushole?«. Ich bezahlte drei Familienpackungen Tiefkühlerbsen. Sollte ich dem Churchill Arms unter Spesen aufschreiben, dachte ich im Hinausgehen und fuhr schnellstens los, weil die Stadt einem Komiker zwar unaufhörlich Rohmaterial lieferte, ich aber auch als Komiker nicht immer die lustige Seite daran sehen konnte.

Ich atmete fest ein und schwer aus, konnte mich allerdings nicht mehr selbst täuschen, dass dies Atemübungen waren. Ich durfte die Dinge nicht immer so ernst nehmen, sagte ich mir. Doch es ließ sich nicht mehr übersehen: Das zerbrechliche Gleichgewicht meiner Vorbereitung war gestört. Ich drückte die Vorlauftaste des CD-Spielers, ich ertrug Maggie May nicht mehr. Zwei Möglichkeiten sah ich. Ich absolvierte mein gesamtes Vorbereitungsprogramm noch einmal, wobei ich dann einen neuen, dunklen Supermarktparkplatz finden musste und mir in der Nähe kein anderer einfiel. Oder ich pfiff auf meine Vorbereitungsregeln.

Ich trank in den Stunden vor einem Auftritt nie Kaffee oder Alkohol. Ich fuhr ins O’Sullivan’s und bestellte einen Kaffee mit Rum. Ich versuchte, in den Stunden vor einem Auftritt mit niemandem zu reden. Ich sprach den Barkeeper an.

»Schön warm.«

»Regnet es nicht mehr?«

»Ich meine den Kaffee.«

»Ach so. Sie hatten einen harten Arbeitstag, was?«

»Ich hatte einen harten Arbeitstag und habe das Härteste noch vor mir.«

»Das haben wir alle.«

»Natürlich«, sagte ich schnell schuldbewusst.

Sein weißes Haar, das nicht mehr genügte, um die Kopfhaut zu verbergen, hatte den gelben Stich des vergangenen Blonds. Die Tränensäcke sowie die Furchen auf der Stirn gaben ihm das Aussehen eines Mannes Mitte fünfzig, also musste er um die 45 sein. Ich blicke auf den Boden und dachte, viel jünger ist der Teppich auch nicht. Ich war der Einzige am Tresen.

»Es ist nur so, dass, also, ich hatte gerade eine bizarre Begegnung.«

Seine Augen, über denen die Lider schwer hingen, suchten die entfernte Wand des Pubs. Sein Schweigen war das Startzeichen, ich durfte weiterreden, er war in Gedanken bereits woanders und musste nicht zuhören.

»Jemand hat mich im Supermarkt beschuldigt, eine Pistole zu tragen.«

»In Ordnung.«

»Das heißt, falsch – jemand hat mich im Supermarkt beschuldigt, ihn zu beschuldigen, eine Pistole zu tragen.«

»In Ordnung.«

»Ich bin noch immer ganz durcheinander.«

Etwas ließ ihn aufhorchen. Er sah mir ins Gesicht.

»Dein Akzent kommt mir bekannt vor.«

»Ich bin Deutscher.«

»Du bist der lustigste Deutsche, den ich je getroffen habe.«

»Nicht, dass es da viel Auswahl gebe.«

Er lachte ehrlich erheitert. »Du hast ja wirklich Humor.«

»Nein.«

Wie jeder Deutsche in London, der den Ansatz eines Witzes kundgetan hatte, musste ich es tausendmal gehört haben: der lustigste Deutsche, den ich je getroffen habe. Ich musste meine Antwort 999-mal heruntergeleiert haben: nicht, dass es da viel Auswahl gab. Und trotzdem war es auch beim tausendsten Mal noch erwärmend zu spüren, wie die Pointe wirkte.

Die Uhr hinter dem Tresen zeigte fünf vor halb acht, und auch wenn sie sicher falsch ging, wusste ich, es war Zeit zu gehen. Ich trank den restlichen Irish Coffee in einem Zug aus und sagte in der Laune, ein Abschiedsgeschenk zu hinterlassen: »Handys. Das Wichtigste im Leben: Mein Handy könnte klingeln. Ich wette, bei Ihnen kommen auch diese Typen herein, die den ganzen Tag mit dem Freisprechknopf im Ohr herumlaufen. Als müssten sie jederzeit bereit für einen Anruf sein. Also, die bekommen vielleicht fünf Anrufe am Tag. Ich laufe doch auch nicht den ganzen Tag mit Messer und Gabel herum, weil ich fünfmal am Tag esse. Oder lasse ich etwa den ganzen Tag meinen Penis aus der Hose hängen, weil ich fünfmal am Tag auf Toilette muss?«

Die Lider der Barkeeperaugen versuchten, was sie nie mehr schaffen würden, sich zu heben. Aber selbst der Versuch hochgezogener Augenbrauen sagte alles, was der Mann hinter seinem beeindruckenden Bauch dachte.

»In Ordnung«, sagte ich, »war nur ein Versuch. War nicht witzig, was? Ich arbeite dran. Auf Wiedersehen.«

Ich verließ das O’Sullivan’s in der Gewissheit, dass der Schwarze mit Kunstfellkragen nicht mehr der einzige Mensch in dieser Stadt war, der mich für verrückt hielt, und dass, so viele wunderbare Gags über amerikanische Pistolen ich mir auch ausdenken würde, ich selber immer mein bester Witz bleiben würde: ein lustiger Deutscher.

»Ein deutscher Komiker!«

»Ein lustiger Deutscher!!«

»Das ist der beste Witz, den ich je gehört habe!!!«

Irgendwer würde es irgendwann auch an diesem Abend im Churchill Arms rufen. Meine Ohren würden dann glühen vor Glück; weil die Engländer auch ganz andere Sachen rufen konnten.

Ins Churchill Arms waren es, falls ich gleich einen Parkplatz fand, nicht mehr als fünf Minuten. Ich überlegte, zu Fuß zu gehen, aber ich wollte mich ordentlich vorbereiten. Das Autofahren sollte mich noch einmal entspannen. Außerdem schaffte ich es mit dem Wagen noch schnell in die Patisserie Valerie in der unteren Hälfte der Kensington Church Street, am Churchill Arms vorbei.

Drei Stunden vor einem Auftritt aß ich nichts mehr. Weil ich, der vor einem Auftritt nie Kaffee oder Alkohol trank, einen Kaffee mit Rum getrunken hatte, überfiel mich jedoch der Hunger.

Die Holland Avenue führte immer geradeaus, Kensington ging in Notting Hill über, aber die Häuser blieben gleich, rechteckige Bauten aus Backstein, von der Nacht in Tinte getaucht, nur in den Fenstern spiegelte sich matt das gelbe Licht der Straßenlaternen. Eine Stadt, die so viele Geheimnisse barg, benötigte eine eintönige Fassade, um sie alle zu verstecken.

»Wache auf, Maggie, ich denke, ich habe dir etwas zu sagen, es ist später September, und ich sollte wirklich wieder in der Schule sein«, sang ich, stellte die Musik noch etwas lauter und begriff, dass man eine Stadt wie einen Menschen lieben kann.

Ich fuhr am Churchill Arms vorbei, Geranien verbargen die Fenster, durch die niemand hineinsehen sollte. Ich wurde immer beschwingter und nahm Fahrt auf. Das Auto auch.

»Oh, Maggie, ich wünschte, ich hätte dein Gesicht nie gesehen, du hast einen erstklassigen Idioten aus mir gemacht, aber ich bin so blind, wie ein Idiot es nur sein kann«, grölte ich. Meine linke Hand dirigierte mit erhobenem Zeigefinger die eigene Stimme. Nach der langen, sanften Kurve kam schon die Patisserie Valerie. Ich sah im Rückspiegel nach, ob ich mich noch wiedererkannte. Meine Freude hatte sich selbstständig gemacht und mir ein Lachen ins Gesicht gezeichnet, das man nur sympathisch finden konnte oder geisteskrank.

Den Schlag, laut, aber dumpf, fast ohne Widerhall, nahm ich im ersten Moment gar nicht richtig wahr.

zwei

Ich versuchte, nicht mehr hinzusehen, doch so sehr ich mich auch bemühte, mein Blick kehrte immer wieder zu ihm zurück. Seine linke, zierliche Hand starrte mich an. Die dünnen Finger zeigten, halb ausgestreckt, nach oben. Als wollten, als könnten sie sich noch an etwas festklammern. Sie lagen in einer winzigen Pfütze.

Ich verstand nicht, warum sie ihn nicht endlich wegbrachten.

Die Blaulichter der Polizeiautos und des Krankenwagens drehten sich ohne Sirene. Auf der anderen Seite des rotweiß gestreiften Absperrbandes liefen die Motoren der sich stauenden Autos noch immer geduldig mit der pumpenden Gleichmäßigkeit, die die Welt verloren hatte. Die übergroßen neongelben Regenschutzanzüge der Rettungssanitäter quietschten bei ihren schnellen Schritten. Nie hörte ich besser.

Ich stand fünf Meter entfernt, am Bordstein. Hinter mir durften die Fußgänger weiterhin den Bürgersteig nutzen, ich sah sie nicht und spürte, wie sie einen Schritt zulegten. Hart und abgehackt schlugen ihre Absätze auf den nassen Asphalt. Warum brachten sie ihn nicht endlich weg?

Sie hatten die Trage aus dem Krankenwagen geholt, mit dem rotbraunen Winterfutter, doch ich konnte nicht sehen, ob sie ihn wenigstens endlich daraufgebettet hatten, ein kniender Sanitäter in reflektierendem Gummianzug versperrte mir die Sicht. Aber ich wollte doch sowieso nicht hinblicken und sah neben dem knienden Sanitäter bloß die Hand, die Finger, noch immer auf Halt hoffend, halb erhoben. Das Fahrrad, strahlend rot, lag weiterhin zwischen uns. Das Vorderrad hatte endlich aufgehört, sich in der Luft zu drehen. Niemand interessierte sich für mich.

»Der Verkehr staut sich bereits bis Notting Hill Gate zurück.«

»Ich habe dem Verkehrsdienst schon vor einer Ewigkeit über Funk Bescheid gegeben, damit sie jemanden schicken, der das regelt.«

»Wenn wir die Einbahnstraßenreglung in Campden Gardens aufheben, könnten wir sie über Gordon Street runter auf die High Street Ken umleiten.«

»Das ist Sache des Verkehrsdiensts. Ich mache hier nur meinen Job.«

Der Polizist, der mich bei seiner Ankunft kurz angebunden nach dem Geschehenen befragt hatte und mich dann, nicht unfreundlich, angewiesen hatte zu warten, trug ein weißes Diensthemd mit kurzen Ärmeln. Er ging zu dem Notarzt und den Sanitätern, blieb einen Schritt von ihnen entfernt stehen und stemmte die Hände in die Hüften. Für ihn lief auch das Chaos nach Regeln ab. Aber ich verstand wirklich nicht, warum sie ihn nicht endlich wegbrachten, sie mussten ihn doch wegbringen, der Motor des Krankenwagens lief doch noch. Sie hatten doch keine Zeit zu verlieren, dachte ich. Obwohl ich wusste, dass es zu spät war.

Ich rieb mir die Schläfen und legte dabei die Handflächen vor die Augen. Zwischen meinen Fingern hindurch sah ich seine kleine Hand. Und zum ersten Mal bekam ich Angst um mich. Es war nicht meine Schuld gewesen, ich hatte nur einen Schlag gehört, ohne Widerhall, und dann war ein Schatten vor meiner Windschutzscheibe vorbeigeflogen, ein schwarzer Fleck in schwarzer Nacht, nur kurz erkennbar, schwarz auf schwarz, welche Schuld konnte mich denn da treffen, ich verstand überhaupt nicht, was passiert war, wie es passieren konnte, natürlich würde ich der Polizei von dem Irish Coffee erzählen müssen, falls sie mich fragte, ein Irish Coffee, nur ein Irish Coffee. Ich hatte mich noch nie so nüchtern gefühlt, so schlagartig nüchtern.

Ein Mann im halblangen, wehenden Mantel hob das Absperrband hoch und schlüpfte halb gebeugt mit einer Selbstverständlichkeit darunter hindurch, dass sich seine Berechtigung dazu nicht anzweifeln ließ. Der Polizist in den kurzen Ärmeln, den ich vor mir selbst, ohne darüber nachzudenken, meinen Polizisten nannte, sah den Mann im Mantel aus den Augenwinkeln und kam ihm entgegen.

Vielleicht hörte ich ihre gesamte Unterhaltung – vielleicht filterte meine Wahrnehmung nur bestimmte Gesprächsfetzen heraus. Vielleicht redete mein Polizist auch einfach deutlicher, wenn er die wichtigen Fakten erwähnte. Jedenfalls war mir, als sähe ich einen Text und nähme nur die mit Textmarker leuchtend unterstrichenen Schlüsselbotschaften auf.

»Mit dem Fahrrad.«

»Über die Windschutzscheibe.«

»Keine Chance.«

»Ein Ausländer. Deutscher. Die kapieren es nie mit dem Linksfahren.«

Ich faltete meine Hände über der Nase. Ich blies den Atem in meine Hände hinein. Ich sollte doch nicht hinschauen.

Die Trage knirschte auf dem feuchten Straßenboden, Sicherheitsgurte rasteten ein, »bereit?«, sagte eine Stimme, ich ging davon aus, dass sie einem der Sanitäter gehörte. Ihre schweren Stiefel schlugen auf den Asphalt, und das Pochen in meinem Kopf wurde schneller. Meine Augen begannen zu schwimmen.

»Geben Sie mir bitte Ihren Führerschein?«

Ich versuchte zu schlucken.

»Ich muss Ihre Personalien aufnehmen.«

»Im Auto.« Ich erkannte meine Stimme nicht wieder. »Ich habe den Führerschein im Auto.«

»Ich gehe mit Ihnen hin.«

Der Wagen parkte unmittelbar neben mir, halb auf dem Bürgersteig, die Fahrertür angelehnt. Den Schlüssel dagegen hatte ich beim Aussteigen in die Hosentasche gesteckt. Manche Reflexe funktionieren weiter, wenn man bereits den Kopf verloren hat.

Für einen Polizisten hatte mein Polizist das falsche Gesicht. Die Warmherzigkeit ließ sich auch nicht durch seine raue Stimme vertreiben.

Ich hielt mich an der Fahrertür fest. »Quatsch, ich habe ihn natürlich gar nicht im Auto, sondern hier in meiner Jacke«, ich holte die flach gepresste Geldbörse aus der Innentasche und den lappigen Führerschein aus der Geldbörse.

Der Krankenwagen fuhr ab. Die Sirene schaltete er nicht mehr ein.

»Hören Sie, ich verstehe nicht, wie das passieren konnte, ich habe überhaupt nichts gesehen, und plötzlich hörte ich einen Schlag, ich wusste nicht, wie mir geschah, ich bin doch ganz normal gefahren, ich bin sofort ausgestiegen und habe ihn in die stabile Seitenlage gebracht, vielleicht hätte ich andere Hilfsmaßnahmen ergreifen sollen, aber das fiel mir halt ein, stabile Seitenlage, ich habe doch überhaupt nichts gesehen, plötzlich war da dieser Schlag, der ist mir einfach reingefahren, von links, den Berg hinunter, was er für ein Tempo draufgehabt haben muss, ich weiß auch nicht, warum, wie konnte das passieren.« Während ich redete, hatte ich durchgehend das Gefühl, kein Wort sagen zu können.

Mein Polizist blickte mich an, sagte nichts und senkte die verständnisvollen Augen langsam wieder auf den Führerschein.

»Reden hilft jetzt auch nichts mehr. Vielleicht hätten Sie die Musik nicht so laut drehen sollen, hatten Sie die Musik laut? Sicher hatten Sie die Musik laut, ich kenne Leute wie Sie mit Autos wie diesem«, er hielt den Führerschein hoch, »Andreas Merkel, so heißen Sie?«

»Ja. Also, ja.«

»Geboren am 20. August 1971 in Emden. Das ist wohl Deutschland, was?«

Den Vorwurf konnte ich nicht überhören.

»Ihre Adresse?«

Ich gab die Antworten, ohne den Mund zu bewegen. Über dem vorderen Rad war der rote Lack des Autos abgesplittert, der Regen fiel darauf und gab der Beule Glanz.

»Das ist Ihr Auto, nehme ich an?«

»Nein, es gehört Jim. Jim Merton. Vermutlich brauchen Sie seine Adresse? Die weiß ich gar nicht, also, ich meine, die Postleitzahl weiß ich nicht, die Straße schon, 11 Rowallan Road in Fulham, aber hören Sie, es war wirklich nicht meine Schuld, ich schwöre es Ihnen, mein Gott, das war doch noch ein Kind, der Junge, ein Kind, haben Sie die Hand gesehen, die Hand, ich habe ein Kind – verstehen Sie, ich habe ein Kind ge–«

»Das ist nicht Ihr Auto?« Seine raue Stimme unterbrach mich herrisch.

»Nein, es, also –« Er fiel mir erneut ins Wort: »Sie sind kein geübter Autofahrer?«

»Ich habe es einfach geliehen, von meinem Manager, Manager, das klingt jetzt blöd, aber ja gut, das ist er halt, ich will Ihnen doch nur die Wahrheit sagen, mein Gott, man wird sich doch noch ein Auto leihen dürfen.« Ich ließ die Tränen einfach weiterlaufen, auch wenn sie bereits auf meine Jacke fielen.

Er tat, was Engländer am besten können. Der Gedanke kam mir wie aus einem anderen Leben, aus einem Leben, das nun lange zurücklag: Er tut, was Engländer am besten können; sich taub stellen.

»Der Fahrzeugschein?«

»Der muss, also, keine Ahnung, der muss ja wohl im Handschuhfach liegen. Aber ich habe Jims Nummer im Handy gespeichert, wir können ihn doch anrufen.«

Nur noch seine Füße standen neben mir. Sein Oberkörper hing bereits in Jims Ford Escort. Als Erstes nahm er den Korken aus dem Handschuhfach. Er betrachtete ihn einen Augenblick zwischen spitzen Fingern, legte ihn dann auf den Beifahrersitz und durchsuchte die Papiere. Wenn er die Stereoanlage anschaltet, dachte ich, wird er feststellen, wie hoch die Lautstärke gedreht war.

Offenbar fand er, was er suchte. Sein Oberkörper kam wieder aus dem Wagen hervor.

»In Ordnung. Geben Sie mir bitte die Autoschlüssel. Unsere Techniker nehmen den Wagen mit zur Spurensuche. Wir benachrichtigen den Besitzer des Wagens und überprüfen, ob er nicht gestohlen wurde. Sie kommen mit mir auf die Wache, eine Blutprobe, das ist obligatorisch.«

Er klang, als habe er den Satz schon hundertmal exakt so gesagt; als habe er abgeschlossen mit mir.

Sie warteten mit dem Einsteigen, bis ich auf der Rückbank des Polizeiautos Platz genommen hatte. Mein Polizist ging um den Wagen herum zum Steuer. Der andere Polizist warf sich auf den Beifahrersitz. Er schob den Stuhl ruckartig und möglichst weit zurück, sodass meine Beine eingequetscht wurden. Dann schaltete er das Radio ein. Es lief ein Poplied.

Wir fuhren den Berg hinunter, auf der anderen Straßenseite lag die Patisserie Valerie, dunkel waren Schaufenster und Reklameleuchten. Wegen eines Croissants. Oder wegen eines Muffins oder was immer ich gewählt hätte, war das passiert. Ich schlug den Kopf gegen die Seitenscheibe. Niemand redete.

Die Polizeiwache Kensington sah aus wie ein Gefängnis. Das gelblich kranke Licht der Straßenlaternen hob den sechsstöckigen Backsteinkasten nur schemenhaft aus der Nacht hervor. Sie brachten mich durch den Hintereingang hinein.

Der Erste, dem ich unmittelbar hinter den zwei Stahltüren begegnete, war der Toilettenmann. Er trug einen Stapel benutzter Handtuchrollen hinaus. Polizeiwache, dreckige Handtücher, Toilettenmann, meine Gedanken begannen ohne Vorwarnung zu laufen, ich konnte sie gerade noch stoppen, bevor mein Gehirn einen Gag daraus fabrizierte. Ich hasste mich. Ich nahm mir nicht ab, dass ich machtlos gegen diese Besessenheit war, dieses permanente Suchen nach Gags, selbst hier, selbst jetzt.

Eine Neonröhre summte. Die Türen der Büros, an denen wir vorbeigingen, standen offen. Ich vermied es, hineinzusehen. Zwei Polizisten kamen uns entgegen, wir mussten hintereinandergehen, um sie vorbeizulassen. Sie grüßten stumm, sie gingen nicht auffällig schnell, und doch lag in ihren Bewegungen hoch konzentrierte Eile.

»Gary!«

Wir blieben prompt stehen.

Der andere, nicht mein Polizist, lehnte sich an den Türrahmen eines Büros.

»Kevin?«

»Habt ihr es gehört? Über Funk?«

»Was meinst du?«

»In Ladbroke Grove haben wir drei Bärtige hochgenommen. Sprengstoff. Gehören offenbar zum Ring um Abu Hamsa. Die Jungs brauchen noch Verstärkung bei der Wohnungsdurchsuchung. Fahrt ihr hin? Oder was ist das da?«

Ich wusste, ohne dass ich hinsah, dass er mit seinem Nicken auf mich zeigte.

»Verkehrsunfall. Ein 13-jähriger Junge.«

»Verfluchte Welt.«

»Craig kümmert sich um die Blutprobe, dann fahren wir sofort hin. Sprengstoff. Verdammte Ayatollahs. Es ist klar, dass wir nach dem 11. September als Nächste dran sind. Irgendwann werden wir zu spät kommen.«

Er bekam keine Antwort mehr.

Wir nahmen die Treppen bis in den vierten Stock. Mein Polizist, der offensichtlich Craig hieß, ging in ein Zimmer. Der Beamte Gary drehte sich wortlos um und verschwand in den Aufzug. Mir sagten sie nichts. Deshalb ging ich davon aus, dass ich auch in den Raum eintreten sollte.

Zwei Schreibtische mit Computern aus dem vergangenen Jahrhundert waren aneinandergeschoben. Mehr Stühle, als ich auf einen Blick zählen konnte, standen ohne ersichtliches System herum. Keiner wurde mir angeboten. An der Wand hing ein Kalender, das Blatt für September zeigte ein Pferderennen auf der Zielgeraden.

Mein Polizist, die weiße Haut seiner Unterarme gerötet, schaltete einen Computer an.

»Dann mal los«, sagte er. Ich war mir sicher, er redete zu sich, nicht zu mir.

Er fragte mich noch einmal nach all den persönlichen Daten, die er am Unfallort erfasst, die er in dem Notizblock vor sich liegen hatte.

»Beruf?«

Das war neu. Oder hatte ich schon vergessen, dass er mich auf der Straße danach gefragt hatte?

Ich überlegte nicht einmal, ehe ich antwortete.

»Fensterinstallateur.«

In den Atempausen, in denen die Computertastatur unter seinen zwei Zeigefingern klapperte, dachte ich über die Erwiderungen nach, die ich ihm geben musste, wenn das Verhör richtig begann. Ich würde nichts ohne einen Anwalt sagen, das würde ich sagen, sie würden mich doch nicht über Nacht in eine Zelle sperren. Das langsame Klappern der Computertasten erschöpfte mich. Gedanken, Gefühle, alles wurde vom Hämmern der Tasten aus meinem Kopf geschlagen, bis ich ganz und gar leer war.

Irgendwann klingelte das Telefon.

»Das Auto ist nicht gestohlen gemeldet«, sagte er, nachdem er aufgelegt hatte. »Gut. Des Weiteren weise ich Sie auf Ihr Recht hin, alle Aussagen, die über die Personenfeststellung hinausgehen, zu verweigern.«

»Ja?«

Es war eine Frage. Er nahm es als Zustimmung.

»Dann brauche ich noch eine Unterschrift.« Er hatte ein Formular mit meinen persönlichen Daten ausgedruckt, jedenfalls nahm ich an, dass es meine persönlichen Daten waren, ich las nur Merkel und Andreas ganz oben in den Kästchen Name und Vorname. Dreimal fasste ich nach, damit der Kugelschreiber richtig in meiner Hand lag. Ich unterschrieb steif, als hielte ich einen Pürierstab in den Fingern.

»So. Die Blutprobe.«

Er stand auf, ich hatte die gesamte Zeit gestanden. Wir gingen wieder durch den langen Korridor, dessen Wände uns bedrängten, mein Polizist blieb durchweg einen Schritt voraus.

Hielten sie mich für verdächtig, für schuldig, ermittelten sie gegen mich? Ich würde geschehen lassen, was immer auch passierte.

Mein Polizist brachte mich in einen Raum, der eher wie ein Labor als ein Revier aussah. Ein Polizist im Ärztekittel nahm mir Blut ab.

»Das Resultat erhalten wir in ungefähr einer Woche. Haben Sie etwas getrunken?«

»Eigentlich nicht.«

»Eigentlich nicht.«

»Ich meine, nein. Nein, ich habe nichts getrunken.« Ich gab mir Mühe, die Wörter so klar wie möglich auszusprechen. Damit der Satz mich selbst überzeugte.

»Gut, Sie können gehen.« Der Polizist im Ärztekittel schrieb mit schwarzem Filzstift etwas auf das Reagenzglas mit meinem Blut.

Ich erstarrte auf der Pritsche. Ich wusste nicht, was er meinte. Mein Polizist sah mich an, zum ersten Mal seit er am Unfallort eingetroffen war. »Sie können gehen.«

»Wohin?«, fragte ich, ehe ich nachdenken konnte.

»Wohin Sie wollen, Hauptsache, Sie gehen.«

»Aber.« Wird denn gegen mich ermittelt, wollte ich fragen. »Aber, der Junge«, sagte ich, und die Sinnlosigkeit der Aussage wurde mir schon bewusst, während ich die Wörter noch aussprach. »Er war doch noch ein Kind, der Junge.«

Der Polizist im Ärztekittel war hinter einem verblichenen blauen Plastikvorhang verschwunden. Mein Polizist leckte sich kurz mit der Zunge über die Lippen, um sich selbst davor zu bewahren, die Beherrschung zu verlieren.

»Sie waren in einen Verkehrsunfall verwickelt und in keine Straftat. Sie hatten Vorfahrt. Sie haben, soweit bislang erkennbar, nicht gegen die Verkehrsordnung verstoßen – wenn wir mal davon ausgehen, dass die Blutprobe negativ ist, was wir sehen werden. Es gibt für Sie, nach derzeitigem Stand, keinen Grund für Selbstvorwürfe. Sie sind einfach nur Zeuge. Als solcher werden wir uns in den nächsten Wochen mit Ihnen in Verbindung setzen und Sie noch einmal auf die Polizeiwache bitten, um Ihre Beobachtungen zu protokollieren. Sie haben das Recht, in Begleitung eines Anwalts zu erscheinen.«

Verkehrsunfall. Einfach nur Zeuge. Ich verstand genau, was er sagte: Wir jagen hier islamische Terroristen, und ich muss mich mit einem banalen Trottel wie Ihnen herumschlagen.

»Dann?«

»Dann was?«

»Dann gehe ich?«

»Ich bitte darum.«

Ich wartete, dass er sich in Bewegung setzte, um mir den Ausgang zu zeigen. Er schaute mich nur an, plötzlich unendlich müde. Mir ging auf, dass nicht nur ich, sondern auch er den Jungen gesehen hatte, die verdammte Hand mit den halb ausgestreckten Fingern in der Pfütze.

»Entschuldigung«, sagte ich. Unsicher trat ich in den Korridor.

Die Tür zum Hauptausgang ließ sich nicht öffnen. Ich rüttelte daran, dann blickte ich zurück. Der Pförtner, der mich gesehen haben musste, tat, als sehe er mich noch immer nicht.

»Entschuldigung, könnten Sie mir bitte die Tür öffnen.« Ich musste die fünf Schritte zurückgehen und den Satz wiederholen, ehe er, ohne hinter seiner Plexiglasscheibe aufzublicken, den Knopf drückte.

Es hatte aufgehört zu regnen. Die Luft war von jener trügerischen Londoner Frische, die man im ersten Augenblick leicht für belebend hielt und die einen nach kürzester Zeit frösteln und leiden ließ. Ich lief schnell los und blieb sofort stehen, sobald ich das Polizeirevier hinter mir gelassen hatte. Rassells Blumenladen, las ich. Eine Holztafel hing an der Wand des Geschäfts. »Novemberratschläge« stand mit weißer Kreide darauf geschrieben: »Benutze Herbstdünger für Rasen. Bestelle Knospen. Pflanze Lilien und Herbstkrokusse.« Eine Frau, die ihren Golden Retriever ohne Leine ausführte, schlenderte auf der anderen Straßenseite, den Regenschirm noch aufgespannt. Vereinzelte Autos fuhren vorbei. Im Pub schräg gegenüber ging die Tür auf und ließ mehr als einen Spalt heiteres Licht und einen Schwall animierter Stimmen heraus. Im Churchill Arms würden sie genauso kommen und gehen, reden und lachen, ohne überhaupt zu merken, dass etwas fehlte. Nur der Wirt würde kurz mit der Seite seiner Hand die Aufschrift »Heute Comedy« von der Kreidetafel wischen. Vielleicht murmelte er dabei kurz zu sich selbst: Noch nicht einmal auf einen Deutschen kann man sich heutzutage noch verlassen.

Es konnte noch nicht viel später als 21 Uhr sein. Das gelbe Licht eines Taxis kam wie gerufen auf mich zu. Sekunden später fuhr es selbstverständlich und gemütlich an mir vorbei. Ich hatte es nicht geschafft, meinen Arm zu heben.