GRM

Inhaltsverzeichnis

Begann lausig.

Es gab keinen Computerbug.

Es gab keine verdammte Katastrophe.

Dabei hatten sich die Bewohner der westlichen Welt darauf gefreut, dass nach den unendlich öden 90er Jahren endlich etwas passieren würde. Etwas, das nicht mit einer Finanzkrise zu tun hätte, die nur für Investmentbanker eine Aufregung bereitstellte, auf den letzten Metern vor dem Aufprall ihrer fitten Körper auf dem Asphalt. Wird mein enorm fitter Körper ebenso auf dem Pflaster zerplatzen wie ein weißer, dicker, untrainierter Verliererleib? Oder wird er abprallen, in die Luft federn?

Es war die Zeit, in der Facebook groß wurde. In der viele ältere Leute dachten, das Internet bestünde nur aus dieser Idiotenplattform.

Es war die Zeit der massenhaften Falschmeldungsverbreitung, der Massenmanipulation. Die Menschen wurden unglaublich schnell süchtig nach den Likes ihrer Unbekannten. Die Jugendlichen wurden noch schneller abhängig von einer Erregung, die aus der Mischung von Mobbing, Gewalt, Sex und Bullshit entstand.

Es war die Zeit, in der zur realen Grausamkeit der Menschen noch die virtuelle hinzugefügt wurde.

In der die Sehnsucht nach Verständnis zu einer Wut der Unwissenden wurde.

Nie gab es so viele durch das Netz befeuerte Verschwörungstheorien. Der Vatikan, die Koch-Brüder, die Hayek-Gesellschaft, der Club of Rome, die Reptiloiden, die flache Erde – mit der täglich immer komplizierter scheinenden Weltlage wuchs der Wunsch der Bevölkerung nach einem Donnergott.

Es war die Zeit vor irgendwas.

Es ist ja immer die Zeit vor irgendwas.

Später also, nachdem das neue Jahrtausend sich ein wenig warmgelaufen hatte, gab es dann doch ein kollektives Ereignis, das die Menschen in einer Erregung vereinte: Ein Flugzeug flog ins Pentagon und hinterließ ein Loch im Gebäude, das wirkte so, als hätte jemand mit der nassen Hand einen Tunnel in eine Sandburg gegraben. Zwei

Es war das Jahrtausend, in dem der Zweifel über die Weltbevölkerung kam. Und es normal wurde, dem Staat und den Geheimdiensten, der Presse und den Brillenträgern, dem Wetter, den Büchern, den Impfungen, den Wissenschaftlern und den Frauen zu misstrauen.

Das neue Jahrtausend brachte den Menschen, die das Glück hatten, frisch geboren worden zu sein, eine Reihe unschlagbarer Vorteile. Weltweit ging es der Bevölkerung besser. Hieß es. Sie lebten länger, zufriedener, die Bildung nahm zu, die Säuglinge überlebten das Säuglingsstadium. Die Märkte hatten es gerichtet. Prost auf die Märkte.

Es gab ein paar Verlierer. Sie hatten entweder Pech gehabt oder sich nicht hinreichend um Erfolg bemüht. Jeder konnte aus seinem Leben etwas machen. Wenn er nur wollte. Großartig.

Man gewann fossile Brennstoffe. Mit hydraulischer Fraktuierung wurde der Meeresboden von Erdgas und -öl befreit. Stuxnet – der Computervirus – verlangsamte das iranische Atomprogramm. Blockchain, das die Banken überflüssig machen würde, war erfunden. Die E-Bombe dito. Die Welt sortierte sich neu, der Westen kämpfte um den Erhalt seiner Wichtigkeit. Im Osten schlossen sich China, Russland, Japan und Korea zusammen, um die Märkte neu zu interpretieren.

Die Sprachkommunikation mit Computern wurde eingeführt. AI war noch kein populäres Thema. Die Menschen

 

Das ist die Geschichte von

Don

Gefährderpotenzial: hoch

Ethnie: unklare Schattierung von nicht-weiß

Interessen: Grime, Karate, Süßigkeiten

Sexualität: homosexuell, vermutlich

Soziales Verhalten: unsozial

Familienverhältnisse: 1 Bruder, 1 Mutter, Vater – ab und zu, aber eher nicht

Sie beginnt in Rochdale.

Fucking Rochdale. Ein Ort, den man ausstopfen und als Warnung vor unmotivierter Bautätigkeit in ein Museum stellen müsste. Messingschild: »So leben Menschen im neuen Jahrtausend, wenn sie sich nicht an die Gegebenheiten der Märkte anpassen.«

Ein Sammelbecken für die Unnützen. Ein Pool nicht-genmodifizierten Ausschusses.

Also Rochdale. Ein kleines Kaff in der Nähe von Manchester. Bekannt für sein konstantes Wetter. Also schlecht. Rochdale war laut den Berechnungen bereits im fünften Jahr die deprimierendste Stadt des Königreiches. Stadtgewordene Gehirnschäden sind absolut nicht konsumfördernd, und also befand sich die Stadt im Todeskampf.

Rochdale war in den überschaubaren Zirkeln Objektophiler berühmt für die sieben Hochhäuser. Mithin sah man sie verstohlen um die Sozialbauten streichen und hektisch die blätternde Fassade lecken. In den Seven Sisters, so ihre inoffizielle Bezeichnung, war jede Woche etwas los. Was meist mit dem Ableben eines Menschen zu tun hatte. Don beneidete die Menschen, die dort leben durften. Sie hatten das interessantere Leben. Interessanter als das ihre, das in einer ganz normalen Sozialsiedlung ein paar Minuten entfernt stattfand. In den Seven Sisters wurde im großen Stil mit Drogen gehandelt, da erschlugen sich Familienmitglieder, und immer wieder sprangen oder – sagen wir – glitten Menschen aus einem der oberen Stockwerke in die Tiefe. Don hatte damals noch keine Toten gesehen und war überzeugt, dass der Anblick ihr ein großes Geheimnis offenbaren würde. Vielleicht würde er noch einmal die Augen öffnen, der Tote, und im Stil einer BBC-Reporterin mit Helmfrisur fragen: »Und, wie ist das so für einen jungen Menschen« – innehalten und nachdenken, ob das Substantiv zutreffend

Der Tote würde kurz insistieren: »Ist Ihre Ausdrucksweise wirklich kindgerecht?«, bevor er weiter tot sein würde.

Don war nicht mehr Wurmfortsatz ihrer Eltern, sondern ein selbständiger Mensch. Sie hatte keine Angst mehr, wenn ihre Mutter nicht anwesend war, suchte deren Gesicht nicht mehr nach Anzeichen des Unmutes ab, sie fragte sich nicht mehr, wie sie ihre Mutter endlich glücklich machen könnte. Kurz gesagt, fragte Don sich nicht mehr, welche Anstrengungen sie unternehmen könnte, damit sie endlich geliebt würde. Es ging Don besser ohne diese komplette emotionale Abhängigkeit.

Wäre sie älter und von ihrer Wichtigkeit erfüllt, würde sie Dinge murmeln wie: »Ich kann sehr gut mit mir alleine sein.« Es fragte sie nur keiner, denn Don war so jung, dass Erwachsene sie nicht als Menschen betrachteten. Dabei war alles schon vorhanden. Die Gefühle, die Gedanken, die Einsamkeit. Es gab nur noch keine vertrauten Fächer, um die Gefühle ordentlich zu sortieren.

Don empfand die ersten Jahre ihres Lebens nicht als schrecklich. Vielleicht ein wenig bleiern, ohne dass sie

Hatte Musik.

Scheinbar nur für sie war Grime erfunden worden. Don wusste nicht, von wem, auch nicht, aus welchen Bestandteilen – das war Diskussionsstoff für junge Männer, die sich mit Fachbegriffen eine Aura von Unbesiegbarkeit verleihen konnten –,

Don wusste nur, dass die Musik so klang, wie sie sich gerne fühlen würde. Wütend und gefährlich. Die Stars hatten die besten Turnschuhe, Ketten und Autos. Sie hatten es geschafft. Sie waren Helden.

Grime lief im Viertel den ganzen Tag. Als Musik zum Lebensgefühl. Wobei Kinder nicht von einem Lebensgefühl reden würden – es war ihr Leben. Wenn man erwachsen war, betäubte man aufkommende Gefühle mit Drogen, wenn man jung war, hörte man Musik. Und betäubte sich im Anschluss mit Drogen. Grime war wütende Drecksmusik für Kinder in einem Drecksleben. Don hörte Grime im Bett, im Bad oder draußen. Dem tollen Draußen.

Also –

Vor dem Fenster eine Laterne, Regen oder etwas Ähnliches, vermutlich waren nur die Fenster schmutzig. Die Wohnung befand sich im Erdgeschoss und im ersten Stock. Man konnte das Ganze, wenn man bescheuert war, als Townhouse bezeichnen.

Als sehr, sehr kleines, schäbiges Townhouse. Das Ding bestand aus zwei kleinen Zimmern mit Blick auf den

Hinter dem Zaun, draußen, befand sich ein Weg, über den sich die anderen Bewohner des Blocks, einen Meter von ihrem Fenster entfernt, immer mit einem imaginären Rollator bewegten. Es war relativ dunkel und in befremdlicher Art feucht, aber das merkte Don damals nicht. Dass es immer zog, schien ihr normal. Ihre Mutter war noch einigermaßen in Schuss, sie tat ihr Bestes, um Familie zu spielen, aber es wirkte unbeholfen, als wollte sie ein Puppenhaus aus Schlamm bauen.

Dass alles schlimmer werden könnte, war damals noch keine Option. Keine Option für ein Kind, denn die Angst vor der Zukunft ist ein Hobby der Alten, die ohnehin keine Zukunft mehr haben. Damals war Dons Welt in Ordnung, bis auf den Umstand, dass sie keinen Zaun um ihr Bett besaß, oder noch besser: einen Kellerraum, in den sie ihren Bruder hätte sperren können. Der Bruder wimmerte. Vermutlich pinkelte er wieder ins Bett. Fast meinte Don,

Den Urin aus ihm laufen zu hören und

Aufgebracht.

Viele schafften das nicht mehr. So eine gute Wut zu erzeugen. Die meisten Älteren, die in Dons Stadt abhingen, waren betäubt und müde und hockten in den Ecken und hatten kaum mehr die Energie, den Kopf zu heben. Ab und zu wurden sie gefüttert, aber. Das vertrug ihr Magen nicht mehr, diese feste Nahrung in einem aufgelösten Dasein, dann übergaben die Menschen sich, die zu unentschlossen waren, um ihren Kopf aus dem Erbrochenen zu heben im Anschluss. Die meisten, denen Don begegnete, waren alt. Was jetzt kein Kunststück war, mit sieben – oder fast sieben. Oder fast acht, aber natürlich älter aussehend. Oder sich fühlend, als ob man älter aussähe. Dons Haare wuchsen senkrecht nach oben. Ihre Augen waren schräg und dunkel, und Don war klein, selbst für eine fast Sieben- oder Achtjährige. Sie war klein und wütend. Dons Wut war so präsent in ihrem Tagesablauf, dass sie nicht sagen würde: »Mann, was bin ich wütend heute.« Sie kannte keinen anderen Zustand. Sie war wütend seit ihrer Geburt. Oder von dem Tag an, an den sie sich erinnern konnte. Sie hasste die Welt, in der sie leben musste. Die ein paar Quadratmeter groß war.

Sie hasste diese Welt und war nicht mit ihr befreundet. Sie hatte nicht einmal eine Beziehung zu ihr oder dem Platz, der ihr per Geburt zustand, mit dem für sie vorgesehenen Lebenslauf, der zuerst eine schlechte Schulbildung bereithielt. Falls sie die überlebte und nicht aus Versehen in eine Messerstecherei geriet, würde der Versuch, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, folgen.

In Dons Welt verliebte sich keiner. Die Menschen in ihrer Stadt hassten sich oder klammerten sich aneinander, wegen der Panik, die alle spürten, und keiner wusste zu sagen, woher sie kam, diese Aufgebrachtheit. Sie hatten doch Wohnungen. Meistens. Sie hatten doch Essen. Eine Art von Essen.

Don las viel, verstand wenig, und doch so viel mehr, als Erwachsene einem sogenannten Kind zutrauten.

Don fühlte:

Wut.

Das ist euer Ernst? Dieser Haufen Dreck, den ihr hier lieblos hingeschmissen habt? »Pass auf! Das ist übrig. Nicht toll, aber es ist deins. Das ist die Erde, die wir leer gefressen haben, das ist dein Viertel, deine Stadt, die diente dazu, Arbeiter unterzubringen, damit sie schnell

Wenn der Mensch weiß, wer schuld ist, geht es ihm besser, dann ist eine göttliche Gerechtigkeit wiederhergestellt. Und es gibt ein Ziel für Dons Hass. In ihrer Stadt hasste man den Fremden. Punkt. Dons Stadt, die sie nie verlassen würde, in der sie ihr Leben herumbringen konnte. Es zu Ende bringen, eigentlich war es schon vorbei, ehe es angefangen hatte, denn sie war am falschen Ort geboren. Von falschen Eltern, und außerdem war das Wetter mies. Hatte sie einer gefragt? Hatte sie irgendeiner gebeten, an dieser Veranstaltung teilzunehmen, nach Regeln, die nicht ihre waren? Welche Menschenpflicht erfüllten sie mit ihrem Aufenthalt und ihren Ausscheidungen zwischen acht Milliarden – oder wenn der Gedanke fertig war, waren es vielleicht schon neun –, die hier herumkrochen und schauten, ob sie noch irgendeinen Vorteil aus irgendetwas ziehen konnten. Die alle etwas – wollten.

Das Leben war ein Geschenk.

Eingestickt auf pinkfarbenen Wandteppichen hing dieser unglaublich dumme Spruch in den feuchten Küchen der Slumbewohner. Was war, wenn man es ablehnte? Wenn man dieses Geschenk in der Form, die für einen vorgesehen war, einfach nicht besonders interessant fand? Aus seinem Umfeld entkam keiner mehr durch Arbeit. Die es nicht mehr gab.

In andere Lebensbedingungen gelangte man nicht mehr,

»Warum habt ihr das gemacht?« Will man die Alten fragen. »Warum erzeugt ihr Kinder, die ihr dann hasst, weil sie laut sind, weil sie Verlierer sind – vom ersten Moment, und weil ihr euch seht, eure miese Kindheit seht, in ihnen, weil ihr wisst, dass ihr es versauen werdet, wie eure Eltern und deren Eltern durch eure Weitergabe von Chancenlosigkeit.

Wozu? Lasst ihr die Kinder in ihrem Urin vor dem Bett hocken, in dem ihr besoffen liegt oder mit irgendjemandem fickt? Ihr geilt euch an den kleinen Knochen auf, die so leicht brechen, und an dem Gefühl, endlich einmal Macht zu haben über jemanden, der Angst vor euch hat, und dann seht ihr die Kinder an, glasig, und hasst sie in ihrer Bedürftigkeit, die eurer so ähnlich ist. Euch wird ja auch nicht geholfen, von keinem.

Da ist eine Genugtuung in euren matten Hirnen, wenn ihr eure Kinder quält, oder? Jetzt zeigt ihr’s denen richtig. Denen da oben. Die euch ausgelagert haben, weg von den Zentren, durch die sie in eleganten Elektromobilen fahren und von einer blühenden Zukunft reden.

Ihr könntet streiken, aber wozu, wenn ihr nichts leistet. Interessiert keinen. Ihr könntet einen bewaffneten Widerstand beginnen, aber – ihr habt keine Kraft mehr. Und keine Waffen. Und keine Idee, auf wen ihr sie richten sollt. Also bleibt ihr liegen. Mit dem Gesicht in eurem Erbrochenen.

Warum laufen diese Männer da draußen immer noch frei

Don hielt das nicht aus.

Und

Weigerte sich, ihren vorgesehenen Platz als Abschaum einzunehmen.

Und

Wartete nicht mehr auf Liebe,

Wartete nicht darauf, dass da so etwas wie eine Zukunft vor der Haustür wuchs. Da würde nichts mehr wachsen, da war Wüste, von den Alten hinterlassen, mit diesen sogenannten Lebensbedingungen. Und ja verdammt, Don war passiv-aggressiv, sie war weiblich, die konnten das nicht besser. Sollte sie sich fucking Testosteron spritzen, um nur noch wütender zu sein, sollte sie sich Hormone reinjagen, um zu glauben, sie sei klüger, als sie war, und dass sie die Welt beherrschte?

Leute wie sie wurden früher in Zoos ausgestellt. Fiel ihr unzusammenhängend ein.

Wenn Menschen die Gelegenheit bekommen, andere zu quälen, werden sie es tun. Wenn sie die Gelegenheit bekommen, dem anderen etwas wegzunehmen, werden sie es tun, dieser Mechanismus, oder nenn es: diese Instinkte.

Don hasste die Dummheit, die Brutalität, die Verschlagenheit und Falschheit, den Geruch, die unbehaarten, schwitzenden Körper und die feuchten Finger, die alles auf Verwertbarkeit abtasten.

»Ihr wollt Krieg, ihr bekommt Krieg.«

Sagte Don. Zu sich.

 

Das ist die Geschichte von

Hannah

Ethnie: asiatisch?

Sexualität: heterosexuell

Interesse: egozentriert

Intelligenz: vorhanden

Herausragende Eigenschaften: keine

Familienzusammenhänge: Einzelkind, liebevolle Eltern

Bevor sie Karen, Don und Peter traf.

Als sie noch nicht wusste, was Rochdale meint oder Traurigkeit. Ein kleiner Rückblick

Also. Hannah

Wohnte in Liverpool mit zwei freundlichen Eltern, die typisch für die untergehende Mittelschicht waren. Sie hatten ein Haus mit einem verranzten Hof dahinter gemietet, besaßen zwei Fahrräder und konnten ihre

Hannahs Elternhaus befand sich in einer Problemgegend der Stadt, die vornehmlich aus Problemgegenden bestand. Aber ihre Problemgegend war eindeutig die problematischste. Oft hörte man draußen Schießereien, selten hörte man Sirenen, die Polizei hatte das Viertel schon lange aufgegeben. Aber das war Hannah egal. Alles, was draußen war, konnte ihr nichts anhaben, wenn sie in ihrem Bett lag und die Eltern leise miteinander redeten.

Das Gefühl, absolut behütet und geliebt zu werden, würde sie später vor vielem retten.

Davor, sich umzubringen, zum Beispiel –

Das schien

Don

So unbegreiflich. Das Totsein, Wegsein, nicht mehr

Don hatte von dem Ereignis nicht viel in Erinnerung behalten. Außer Schüssen, die klangen wie Silvesterraketen, schreienden Kindern, die klangen wie unter Wasser, und verlangsamten Bildern von Menschen, die in diverse Richtungen rannten oder krochen. Don hatte, am Boden liegend, darüber nachgedacht, in welcher Form der Killer sein Vorhaben wohl im Netz angekündigt hatte. Hatte er sich selbst gefilmt? Mit Hoody? Saß der Killer oder stand er mit dem Gewehr, und hatte er etwas gesagt, das »System, Verachtung, Frauen, nie wahrgenommen, und jetzt zeige ich euch wie …« beinhaltete? Welche Musik hatte er unter das Video gelegt? Slipknot? Etwas noch Dumpferes? Pitbull? Vermutlich war er, wie die meisten hier, nicht das hellste Licht am Kranz.

Einige Kinder jedenfalls, am Boden liegend, machten Fotos von sich am Boden liegend, während des sogenannten Massakers. Einige besaßen iPhones. Die armen Schlucker irgendwelchen chinesischen Mist. Rund acht Stunden täglicher Beschäftigung mit den Endgeräten sollten auch

Mann, Mann, Mann, dachte Don, wer klebt sich eigentlich Plastikteile auf seine Fingernägel. Don lag neben einem älteren Mädchen am Boden und starrte auf deren Nägel. Sie hatte noch nie etwas Unangenehmeres gesehen. Durch die Rückseite der Fingernägel betrachtet, sah man das gelbe Horn. Das Mädchen war zehn oder dreizehn und sah aus wie eine Babynutte. Die negative Seite der Grime-Videos. Die nicht wirklich als positives Lehrmaterial im Gender-Queer-Diskurs taugten. Die Frauen in den Videos hatten viel Brust und Hintern und ansonsten Goldschmuck und künstliche Fingernägel. Sie wälzten sich vornehmlich stumm auf dem Beifahrersitz irgendeiner Angeberkarre, die ihr Gangster-Rapper geklaut oder von seinem irren Reichtum gekauft hatte. Geld macht nicht glücklich, dachte Don unzusammenhängend und bekam einen Lachanfall in dem Moment, da die Einsatzgruppen eintrafen. Dann wurde noch mehr geschossen. Das stumpfe Klacken des halbautomatischen Gewehres des Amok-Horsts ging nun in einem satten Soundbrei, den die Einsatzgruppen mit ihren ordentlichen Maschinengewehren erzeugten, unter. Am Ende war Ruhe und der Amokläufer tot. Ein paar Mädchen dito. Don hatte endlich ein paar Tote gesehen. Es war weniger grandios als in Dons Fantasie. Da lagen einfach Leute und waren nicht mehr vorhanden.

 

Das ist die Geschichte von

Sexualität: heterosexuell

Intelligenz: hochbegabt

Krankheitsbild: Neigung zu Zwängen (Lichtschalter ablecken)

Konsumverhalten: mangelhaft

Ethnie: Gendefekt

Familiärer Zusammenhang: zwei Brüder, alleinerziehende Mutter

Ich lebe, dachte Karen. Sie wusste nicht, ob sie darüber in ausgelassene Freude ausbrechen sollte. Karen war nicht so der emotionale Typ.

Sie war verletzt und hatte ein Trauma. Sagte ein Sanitäter. »Wie heißt du«, fragte der Sanitäter, während er Karens Kopfwunde behandelte. »Karen«, sagte Karen. Und der Sanitäter, dessen Blick über ihren Kopf hinweg nach einem interessanteren Opfer suchte, jemandem mit einem Einschussloch, in das es galt, Gedärme zurückzudrücken, oder einem Bein, das man an Ort und Stelle absägen konnte. Ohne Narkose, wie in Filmen. Hier, beißen Sie auf diese Türklinke, es wird jetzt kurz weh tun. Und im Anschluss hätte er ein Leben gerettet und stünde blutüberlaufen mit dem abgetrennten Bein im Gegenlicht. Also der Sanitäter sagte: »Du hast vermutlich ein Trauma.« »Normal«, sagte Karen. »Kann ich gehen?« Der Sanitäter nickte. Karen entfernte sich, nicht einmal die Augen verdrehend. Alle Kinder hatten ein Trauma. Als Dauerzustand. Karen war das egal. Trauma war ihr zweiter Vorname. Karen wohnte mit ihrer Mutter, die immer kurz vor

»Um Himmels willen.«

Schrie die Mutter von

Don

Im Nebenzimmer. Sie hatte aus den Nachrichten von dem Ereignis erfahren.

Es gab noch Nachrichten im sogenannten Staatsfernsehen und stämmige blonde Reporterinnen, denen es

»Um Himmels willen«, schrie also Dons Mutter. »Du hättest sterben können.«

Und drückte Dons Bruder euphorisch an sich. Dabei bebten ihre Arme beängstigend. Schon wieder Arme. Es schien, als bestünden englische Frauen vornehmlich daraus. Don starrte auf den Körper der Mutter und war sich sicher, dass nie solche Fleischmassen aus ihr würden wachsen können.

»Los, bring ihm was zu essen«, befahl Dons Mutter – den Sohn an ihre große Brust pressend.

So viel zur Familienstruktur.

Amok und Frauenhass sind Geschwister, las Don später. Und dass es meistens junge Männer sind, die durchdrehen. Irgendwas in ihrem Leben deckte sich nicht mit dem, was sie sich vorgestellt hatten. Dinge mit Macht. Oder mit Penis. Und dass alle vor ihnen auf den Boden fallen, wie sie es von ihren Müttern gewöhnt waren, hatten sie sich vorgestellt. Don war nicht erstaunt. Mit Schwachsinn kannte sie sich aus. Sie hatte einen Bruder.

Und eine Mutter, die alle Lebewesen, an denen kein Penis angebracht war, nicht besonders schätzte. Damit stand sie nicht alleine. Fast alle Frauen in Dons Umgebung himmelten Männer und Jungs an und verachteten Frauen. Vermutlich schämten sie sich, zu den absoluten Verlierern zu gehören, denn unter den Frauen standen nur noch ausländische Frauen. Die einzige Komplizenschaft, die Don mit ihrer Mutter verband, schien ihre

Don konnte sich nicht erinnern.

Dass ihre Mutter sie einmal umarmt hätte. Oder angefasst oder gestreichelt, dass sie Filmmutter-Handlungen an ihr vorgenommen hätte. Aber – irgendwann werden Aktivitäten, die nie stattfinden, selbst in der Vorstellung peinlich. Vielleicht war ihre Mutter ja geradezu wild darauf, Don permanent an sich zu drücken, nur hatte sie leider den Zeitpunkt verpasst, damit anzufangen. Außerdem war sie beschäftigt. Sie musste ständig ihrem Sohn hinterherrennen, ihm irgendwas aus dem Gesicht wischen, ihn in die Backen kneifen und ihm entzückt zuhören, wenn er über seine nicht weniger idiotischen Freunde berichtete. Um die Begeisterung der Mutter zu erregen, genügte es, wenn Dons Bruder atmete. Don hingegen betrachtete sie

»Ich habe an den Aufständen teilgenommen«, sagte

Dons Mutter

Kreditwürdigkeit: keine

Ethnie: schwarz

Intelligenz: durchschnittlich

Hobbys: BBC-Fernsehserien, das Königshaus,

Stöbern in Sozialkaufhäusern

Sexualität: onaniert zu Prince-Charles-Fotos

Familienzusammenhang: 2 Kinder, 1 abwesender Mann

Oft.

Don konnte sich ihre Mutter nie als aufrechte Black-Panther-Kämpferin vorstellen. Vermutlich übertrieb sie ihre Rolle bei den Londoner Straßenkämpfen. Dafür sprach, dass Dons Mutter Bleaching-Creme verwendete, sich die Haare so lange glättete, bis sie wie Käsescheibletten aus ihrem Kopf standen, die unklare Hautfarbe des sogenannten Kindsvaters, und dass sie keine Freunde aus ihren sogenannten Kreisen hatte. Sie verkehrte lieber mit Weißen, sie schwärmte von der Hauptstadt. Und dass ihre Eltern damals nach den Unruhen London verlassen hatten, war ihr die größte Demütigung, denn dieses Rochdale war die Backstein gewordene Manifestation der Tatsache, dass Dons Mutter nie auf einem englischen Blumenmarkt mit weißen Ladys in Twinsets Scones verputzen würde. Dons

Dons Mutter fand nur noch Aushilfsjobs. In Wäschereien, an Kassen, an Tankstellen. Und immer wieder lange gar keine. In diesen Phasen hatte sie Angst. Sie hatte auch Angst, wenn sie einen Job hatte, davor, ihn wieder zu verlieren. Sie konnte nicht schlafen, kaum essen, kaum atmen und verlor den Job ja doch immer. Angst. Immer Angst vor allem. Am meisten fürchtete sie den Winter, denn das war die Zeit, in der die Kinder ständig krank wurden, und wenn die Kinder krank wurden, hieß das, mindestens acht Stunden im Krankenhaus sitzen, und wieder war sie einen Job los. Dann musste sie zum Sozialamt, sich schlecht behandeln lassen, dann musste sie Kurse belegen, zum Beispiel, wie man eine richtig gute Bewerbung schreibt. Was natürlich bei jedem Tankstellenbesitzer im Ort, meistens Analphabeten aus … – na, jetzt mal nicht rassistisch werden –, einen tüchtigen Eindruck macht. Wenn das Geld vom Amt aufgebraucht war und Dons Mutter keinen Job hatte, mussten sie zu den Christen zur Essensausgabe.

Don

Hasste die Besuche bei den Christen. Die bedeuteten: ein oder zwei Stunden im Freien warten. Um dann

Was natürlich ungerecht war, denn ohne die Christen, die die Armen fütterten und kraulten, wären die meisten von ihnen vermutlich schon tot. Das Ziel des Staates war es, alle Sozialleistungen auf ein Minimum zu reduzieren, um die starken, arbeitsamen Bevölkerungsschichten zu fördern. Beziehungsweise. Um einfach zu sparen. Beziehungsweise. Um das Land auf seinem neoliberalen Kurs zu halten.

Die Verachtung der Kapitalisten gegenüber den Armen hatte sich institutionalisiert. Obdachlose, Arbeitslose, Arbeitsunfähige, Kranke, Schwache mussten akribische, nicht nachvollziehbare bürokratische Schwachsinnsanforderungen erfüllen, um einen Minimalbetrag zu erhalten, der ihre Lebensfunktionen aufrechterhielt. Der unverwertbare Teil der Gesellschaft konnte durch kleine Formfehler

Don fing damals an, fast alles zu hassen, was sie umgab. Die Polizistinnen, die jedes Kind aus dem Sozialblock täglich filzten.

Aus Routine, aus Spaß oder einfach, weil sie es konnten. Die Kinder mussten in Reihe stehen, die Taschen ausleeren, die Hosen runterziehen, die Hände über den Kopf nehmen. Irgendetwas mit Macht oder Respekt führte dazu, dass vermutlich eine oder zwei Millionen Kinder mit der Sicherheit aufwuchsen, vom Staat nicht beschützt zu werden.

Die Polizei fand so gut wie nie Drogen oder Waffen, denn welches Kind war schon so blöd, um die Kontrollen wissend, verdächtige Dinge mit sich zu führen. Die Waffen wurden in den leeren alten Fabriken gelagert. Das Rauschgift dito.

Don hasste. Die verwaschen wirkenden Leute auf den Ämtern, die ihre Mutter behandelten, als wäre sie einfach zu faul und zu dumm, um ihr Leben geregelt zu bekommen, sie hasste den Hausmeister im Block, der den Kindern alles verbot, also laufen, reden, lachen, atmen. Sie hasste ihren Vater –

Dessen Einfluss auf die Erziehung seiner Kinder überschaubar war. Manchmal schickte er Geld. Also selten. Aber wenn es passierte, hielt die Mutter einen langen Vortrag über die Güte dieses Mannes, sie sagte, dass sie ohne ihn verloren wäre, dann weinte sie. Was Don

Männer nervten

Peter

Diagnose: psychologisch auffällig

Gefährdergrad: nicht einzuschätzen

Sexualität: heterosexuell, eventuell

IQ: unklar

Ethnie: weiß, kaukasisch sagt man, oder?

Familienzusammenhang: keine Geschwister

Das war einfach Pech gewesen mit Peters Geburt an einem Tag, als es nicht einmal geregnet hat. Da war wohl etwas schiefgelaufen. Das passiert öfter, als man denkt.

Arme Leute aus dem Osten, muss man vielleicht einschränkend anfügen. Arme Leute aus dem Osten wussten, wie man durchkam, sie waren hungrig. Sie waren unsentimental. Sie konnten kämpfen und waren nicht verwöhnt. Prost auf die Klischees.

In dem Dorf, aus dem Peter stammte, aus dem seine

Peter wurde von den Männern im Dorf gehasst. Er war anders. Das genügte. Er war in der Nähe seiner Mutter. Das war, wo die Dorftrottel sein wollten. Es gab nur noch wenige Frauen im Dorf. Wer konnte, ging weg. Und bald würden sie auch weg sein, sagte seine Mutter oft zu Peter. Bis es so weit war, wollte sie Spaß. Was auch immer sie damit meinte, es begann damit, dass sie mit einem kurzen Rock über die staubige Straße des polnischen Nestes lief, als wäre sie auf einem Casting. Peter wusste, was Castingshows waren, er wusste alles, denn es gab das Internet, das selbst in die entlegene Weite Polens vorgedrungen war. Peter fand befremdlich, wie seine Mutter sich verhielt. Sie lachte zu laut, wenn irgendeiner der Alkoholiker mit ihr sprach, ihr Rock rutschte bis zum Schritt hoch, und sie vergaß ihren Sohn, also ihn, sobald ein Mann

Es gab zu viele davon.

Dachte

Don.

Überall, wo es interessant war, saßen sie herum. Wenn sie in Gruppen auftraten, war das unerfreulich. Die Gruppe vor Dons Haus – na ja, Haus – hatte gestern einen kleinen streunenden Hund angelockt. Der Kadaver lag dann einige Tage da.

Don wusste nicht, warum Männer so etwas taten. Aber sie wusste, man musste Angst vor ihnen haben. Man

APROPOS – damals entstand die Bewegung

Der

Abgehängten.

Männer.

Junge und mittelalte, die sich überall in der westlichen Welt in homoerotischen Vereinigungen mit unterschiedlichen Namen fanden. Alt Right, Neonazis, National Action, Aryan Brotherhood, White Nationalist Party, League of St. George, Blood & Honour, Stormfront,

Gruppen –

Die ihnen das Gefühl der Stärke zurückgaben, das ihnen

Durch

Frauen

Genommen worden war. Millionen weißer Männer waren entmannt worden. So. Damit komm mal klar.

Verdammte Scheiße. Sie hatten zu viele männliche Hormone oder nicht mehr genug, beides ein schmerzhafter Umstand, und sie fanden sich in einer Welt, die sie nicht mehr benötigte. Nutzlos und wütend. Nicht geliebt und nicht gehört. Verteigt um die Leibes-Mitte,

Frauen,

Also – Personen, die man käuflich erwerben konnte, als sogenannte Polizistinnen, Richterinnen, Ärztinnen. Das war wie Ausländer mit Brille. Das war, als ob der Hund zum Politiker wird. Auf Frauen konnten sie sich alle erst einmal einigen bei ihrer Suche nach Verantwortlichen für dieses Unwohlsein, das doch fast alle verspürten, in einer Welt, die nicht mehr behaglich war. Die nie behaglich war, aber verdammt, früher wusste man das doch nicht. Früher gab es das Netz nicht, das einem sagte, wie unbehaglich es geworden war. Das konnte einen echt sauer machen.

Nun gehörte es sich nicht, durch die Straßen der westlichen Welt zu mäandern und Frauen zusammenzuschlagen. Also mussten erst mal andere dran glauben. Ausländer. Auch Frauen, nur mit den größeren Penissen. Mit denen sie den weißen Männern die Frauen wegnehmen

Die Abgehängten bügelten ihre Hemden, trainierten ihre Muskeln, lugten vorwitzig zum Penis des Nebenmannes, dachten an all die Penisse in ihrer Gang. Wenn man sie aneinanderreihen würde, könnte man die Welt wieder in eine Ordnung ficken. Sie vernetzten sich weltweit zu einem gesunden, bewaffneten, rechtsradikalen, faschistischen Idiotenhaufen, der durchdrehte vor Angst, in die menschengegebene Unwichtigkeit zu verschwinden.

In

Dons

Umgebung gab es keine Nazi-Gruppen oder -Parteien. Die Männer in ihrer Umgebung waren zu träge, um sich zusammenzurotten. Das Gefühl der Unbrauchbarkeit in der dritten Generation hatte sie schlaff werden lassen, die ehemals stolzen Fischer, Bauarbeiter, stolzen – irgendein Scheiß –, was bedeutete, sie hatten mit ehrlichen Händen ehrlichen Mist erledigt, der einen anderen Mann reich gemacht hatte. Dessen Familie heute in der Regierung sitzend über die Sozialhilfe des ehrlichen Arbeiters befand. Dass ein Mensch, ohne – sagen wir – Kabel herzustellen, nichts wert ist, und dann eben böse wird, ist verständlich. Und wurde auch als mildernder Umstand berücksichtigt, falls mal ein Mann aus dem Viertel vor Gericht landete, weil er seine Frau oder sein Kind komplett oder halb totgeschlagen hatte.

Wenn die Frauen die pathologisch nachvollziehbare, sozialisierte Wut überlebten, dann verbanden sie einander die Verletzungen, nachdem die sporadisch

Apropos

Dons Umgebung.