Sebastian Herrmann

Starrköpfe überzeugen

Psychotricks für den Umgang mit Verschwörungstheoretikern, Fundamentalisten, Partnern und Ihrem Chef

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Sebastian Herrmann

Sebastian Herrmann, Jahrgang 1974, ist Wissenschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung. Er hat Politikwissenschaft, Geschichte und Psychologie in München, Edinburgh und Kuala Lumpur studiert. Bei der SZ berichtet er regelmäßig über Sozialpsychologie und irrationale Glaubenssysteme.

Über dieses Buch

Die meisten Menschen klammern sich an irgendwelche Mythen, Irrtümer und liebgewonnene Ansichten. Ganz egal, wie viele Fakten auch dagegen sprechen. Richtig frustrierend werden Diskussionen mit Esoterikern, Anhängern von Verschwörungstheorien oder Leugnern des Klimawandels. Was also tun? Sebastian Herrmann erklärt, warum sich festgefügte Meinungen nicht allein mit Logik und Sachinformationen knacken lassen. Wer an den Starrköpfen in Alltag, Beruf und Partnerschaft nicht verzweifeln möchte, muss auf Psychologie setzen – und die richtigen Kniffe kennen.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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ISBN Printausgabe 978-3-499-62025-6 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978-3-644-49041-3

www.rowohlt.de

 

Anmerkung: Die Seitenzahlen im Register beziehen sich auf die Seitenzahlen der Printausgabe.

ISBN 978-3-644-49041-3

Eine tragische Geschichte

Manche Irrtümer enden tödlich. Die Geschichte von Christine Maggiore ist so ein tragischer Fall. Die Amerikanerin wuchs im Süden Kaliforniens auf; nach Highschool und Ausbildung arbeitete sie in der Werbebranche. Sie bereiste die Welt und lebte eine Weile in Florenz, wo sie ein erfolgreiches Unternehmen gründete. Dann stellte ein Besuch beim Arzt ihr ganzes Leben auf den Kopf. Bei einer Routineuntersuchung zu Beginn der 1990er Jahre wurde auch ein HIV-Test gemacht. Das Ergebnis fiel positiv aus, Christine Maggiore war mit dem Aids-Erreger infiziert. Auch ein ehemaliger Partner von ihr wurde positiv auf das Virus getestet. Eine niederschmetternde Diagnose, von der sich die damals Mitte Dreißigjährige anscheinend nicht aus der Bahn werfen ließ. Sie schien stark zu sein und engagierte sich ehrenamtlich in mehreren Initiativen, die sich unter anderem für die Belange HIV-infizierter Frauen und Mütter einsetzten.

1994 lernte sie den prominenten Virologen Peter Duesberg kennen. Der deutschstämmige Wissenschaftler von der University of California in Berkeley war einer der Stars in seinem Fach. Doch in der Zeit um die Entdeckung des HI-Virus 1984 geriet er auf eine seltsame Bahn und vertrat fortan bizarre Standpunkte. Er distanzierte sich unter anderem von seinen eigenen Forschungsergebnissen, wonach manche Viren eine Rolle bei der Entstehung von Krebs spielen können. Für diese Arbeiten, die bis heute von der Wissenschaft anerkannt sind und stetig weiterentwickelt werden, war Duesberg einst gefeiert worden. Eine seltsame Situation ergab sich: Die Wissenschaft verteidigte Peter Duesbergs frühere Arbeit, während er selbst dagegenargumentierte und sich eine alte, höchst fragwürdige Theorie zu eigen machte. Das seltsame Schauspiel gipfelte darin, dass Duesberg auch noch den Standpunkt einnahm, das HI-Virus könne nicht der Auslöser von Aids sein. Stattdessen machte er den Lebensstil junger HIV-Infizierter und andere seltsame Faktoren für die Krankheit verantwortlich, an der ja unbestreitbar Menschen starben.

Seine tatsächlichen Verdienste für die Wissenschaften sicherten dem Virologen auf Irrwegen immense Aufmerksamkeit und verliehen seinem Standpunkt zum HI-Virus bei zahlreichen Menschen Glaubwürdigkeit. Duesberg avancierte zum exponiertesten Vertreter der sogenannten Aids-Leugner. Noch immer ist er eine der Gallionsfiguren dieser weltweiten Bewegung und vertritt seinen Standpunkt von der großen Viren-Lüge – unbeeindruckt von allen Fakten und Beweisen.

Auch Christine Maggiore schenkte dem Mann Glauben, der da verkündete, ihre Infektion sei harmlos und führe keinesfalls zu einer Aids-Erkrankung. Sie wandelte sich zur Aids-Leugnerin. Ihr positives Testresultat schob sie wahlweise auf eine Grippeimpfung, auf ihre spätere Schwangerschaft, oder sie versuchte, die Infektion mit HIV als eine andere, dafür aber harmlose Viruserkrankung zu bagatellisieren. Niemand konnte sie von ihrem Standpunkt abbringen.

Wie viele Aids-Leugner lehnte Christine Maggiore insbesondere antiretrovirale Medikamente ab. Diese Arzneien verlängern das Leben HIV-infizierter Menschen um Jahrzehnte. Sie bieten außerdem einen guten Schutz davor, dass das Virus während der Schwangerschaft einer betroffenen Frau auf ihr ungeborenes Kind übergeht. Die meisten Aids-Leugner propagieren hingegen, dass Aids nicht durch eine Infektion mit dem HI-Virus ausgelöst werde, sondern durch die antiretroviralen Medikamente selbst – die Behandlung der Krankheit soll also deren Auslöser sein. Der Pharmaindustrie sei lediglich daran gelegen, ihre Produkte zu verkaufen, und das funktioniere nur, wenn HIV als Auslöser von Aids angesehen werde. Wer diesen Zusammenhang ins Wanken bringe, der stelle das Geschäftsmodell dieser milliardenschweren Industrie in Frage – was die Pharmabranche mit allen Mitteln zu verhindern suche, lautet eine gängige Verschwörungstheorie der Aids-Leugner.

Christine Maggiore machte es sich zur Aufgabe, andere Menschen von ihrem Irrglauben zu überzeugen. Dazu gründete sie die Alive & Well Aids Alternatives Organisation. Sie trat bei Rockkonzerten vor großem Publikum auf, veröffentlichte ein Buch, betrieb Webseiten und organisierte ein Netzwerk von Mitstreitern. Mit Erfolg. Christine Maggiore wurde zu einer der prominentesten Figuren der Szene und scharte Anhänger um sich, die sie beinahe kultisch verehrten. Schlimmer noch: Sie überzeugte wohl zahlreiche HIV-Infizierte, auf ihre Medikamente zu verzichten.

Selbst als die Kalifornierin schwanger wurde, schien nichts ihren Glauben an die große Aids-Verschwörung der Pharmaindustrie zu erschüttern. Sie verzichtete auf die Einnahme jener Medikamente, die ihre Kinder vor einer HIV-Infektion hätten schützen können. 1997 gebar sie ihren Sohn Charlie und demonstrierte ihrem Publikum, dass sie selbst das lebte, was sie predigte: Bei Auftritten in der Öffentlichkeit mit ihrem Partner Robin Scovill, einem Filmemacher, stillte sie Charlie. Auch über die Muttermilch kann das HI-Virus übertragen werden.

Mit ihren Auftritten provozierte Christine Maggiore einen Aufschrei, doch das schien sie nicht zu kümmern. Als sie das zweite Mal schwanger war, zeigte das Magazin Mothering sie, ihren Mann und ihren Sohn auf dem Titelbild einer Ausgabe – eine glückliche Familie aus Kalifornien. Auf Maggiores schwangerem Bauch prangte die durchgestrichene Bezeichnung eines gängigen antiretroviralen Wirkstoffes. Mothering wirbt damit, sich für einen natürlichen Lebensstil sowie naturnahe Schwangerschaften und Erziehungsstile einzusetzen – unter anderem bringt das Magazin regelmäßig Beiträge, in denen die Vorzüge von Naturheilmitteln und zum Beispiel Yoga gepriesen werden. Es gab Christine Maggiore ein Forum, um andere schwangere Frauen mit einer HIV-Infektion davon abzubringen, ihre ungeborenen Babys mit Medikamenten vor einer lebensgefährlichen Krankheit zu schützen.

Am 3. Dezember 2001 gebar sie ihre Tochter Eliza Jane Scovill. Ein properes, starkes Mädchen, wie Christine Maggiore berichtete. So wie ihr Bruder Charlie wurde auch Eliza Jane niemals auf den HI-Virus getestet. Und so wie bei Charlie hatte die Mutter während der Schwangerschaft auf antiretrovirale Medikamente verzichtet und bestand später darauf, ihr Kind bei öffentlichen Auftritten zu stillen. Ihre Muttermilch sei keine Gefahr, sondern enthalte vielmehr wertvolle Stoffe, ohne die sich das Immunsystem ihrer Tochter nicht würde entwickeln können, behauptete sie. Mutter und Vater verzichteten auch auf die empfohlenen Impfungen für ihre Kinder und vertrauten vor allem auf Angebote aus der Alternativmedizin, auf die sie andere Aids-Leugner hinwiesen. Die wissenschaftliche Medizin und alle ihre Therapien lehnte das Paar pauschal ab.

Im Alter von drei Jahren erkältete sich Eliza Jane. Ihre Nase lief, sie musste husten – die normalen Symptome eines Allerweltleidens. Christine Maggiore ging mit ihr zu einem Kinderarzt. Offenbar war sie sehr besorgt, denn innerhalb einer Woche brachte sie das Mädchen zu zwei weiteren Ärzten. Eliza Jane hatte mittlerweile Fieber und eine Ohrenentzündung. Den Kinderärzten verschwieg Christine Maggiore ihre eigene Krankheitsgeschichte und dass ihre Tochter ebenfalls das HI-Virus in sich tragen könnte.

Eliza Jane schien sich nicht zu erholen, und ihre Mutter reagierte offenbar mit Misstrauen gegen die Ärzte, die ihr Kind untersucht hatten. Sie wandte sich an einen Alternativmediziner aus Denver, der ebenfalls den Zusammenhang von HIV und Aids leugnete und Mitglied ihrer Alive & Well Aids Alternatives Organisation war. Dieser Arzt sah keinen Grund zur Sorge, das Mädchen sei nicht ernsthaft krank. Weil sich die Mittelohrentzündung aber nicht besserte, verschrieb er Amoxicillin, ein Antibiotikum, das Kindern häufig gegeben wird. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass Eliza Jane ein normales, verschreibungspflichtiges Medikament bekam.

Drei Wochen nachdem ihre Nase zu laufen begonnen hatte, kollabierte das Mädchen und starb binnen Stunden. Die Autopsie ergab, dass Eliza Jane einer durch Aids begründeten Lungenentzündung zum Opfer gefallen war. Ihr Gehirn zeigte deutliche Spuren einer von HIV verursachten Encephalitis, und ihre Lungen waren von einem Pilz befallen, der bei sehr vielen Aids-Toten zu finden ist. Der Autopsiebericht beschrieb ein Kind, dessen Körper deutliche Spuren chronischer Krankheit offenbarte. Es war untergewichtig und deutlich zu klein für sein Alter. Der verantwortliche Gerichtsmediziner James Ribe vom Los Angeles Coroner’s Office bezeichnete die Ergebnisse als eindeutig und frei von Zweifel: Eliza Jane war an Aids gestorben. Sie war dreieinhalb Jahre alt geworden.

Ließ dieser Schicksalsschlag das Lügengebäude platzen, in dem Christine Maggiore seit Jahren lebte? Nein. Die Untersuchungsergebnisse seien politisch motiviert, behauptete sie; man wolle ihre Arbeit torpedieren und habe nur versucht, Argumente gegen sie zu sammeln. Sie wandte sich an einen Veterinärtoxikologen, der ebenfalls Mitglied in ihrer Alive & Well Aids Alternatives Organisation war, damit er die Obduktion überprüfte. Tatsächlich sollte er Christine Maggiore wohl einen Grund dafür liefern, an ihrem Irrglauben festhalten zu können, dass HIV und Aids nichts miteinander zu tun hätten.

Der Experte für Vergiftungen bei Tieren deutete auf das Antibiotikum und behauptete, Eliza Jane sei an einer allergischen Reaktion auf Amoxicillin gestorben. Dieser Vorwurf passte in das Weltbild von Christine Maggiore, für die Medikamente nichts als gefährliches Gift einer raffgierigen Industrie waren: Nur ein einziges Mal habe sie ihre Tochter mit einem Mittel der Mainstreammedizin behandelt, sagte sie Abc Primetime, und das habe Eliza Jane das Leben genommen.

Am 27. Dezember 2008 starb Christine Maggiore im Alter von 52 Jahren, dreieinhalb Jahre nach ihrer Tochter. Die Sterbeurkunde verzeichnete eine generalisierte Infektion mit einem Herpesvirus, eine beidseitige Lungenentzündung und eine Pilzinfektion der Mundhöhle. Höchstwahrscheinlich handelte es sich dabei um sogenannte opportunistische Infektionen, die bei einer Aids-Erkrankung durch den Zusammenbruch des Immunsystems des Patienten auftreten und letztlich zum Tode führen. Christine Maggiore war an Aids gestorben, 16 Jahre nachdem eine HIV-Infektion bei ihr diagnostiziert worden war. Antiretrovirale Medikamente hätten ihren Tod lange hinauszögern und die Infektion ihrer Tochter mit großer Sicherheit verhindern können. Sie war Opfer ihres Irrglaubens geworden und hatte ihre Tochter mit ins Grab genommen.

Diesmal waren es die Anhänger Christine Maggiores, die sich nicht in ihrem Glauben erschüttern ließen. Sie machten sich auf die Suche nach Argumenten, um das Offensichtliche nicht wahrhaben zu müssen. Statt der wissenschaftlichen Medizin beschuldigten sie nun die Alternativmedizin: Maggiore sei an den Folgen einer toxischen ganzheitlichen Therapie gestorben, der sie sich kurz vor ihrem Tod unterzogen hatte. Dann hieß es, Stress, eine Erkältung oder die Grippe hätte ihren Tod verursacht. Alles durfte als Begründung herhalten, nur nicht HIV und Aids.

Christine Maggiore und ihre Anhänger demonstrierten, wie sehr man sich in eine Idee verrennen kann. Wie leicht es Menschen fällt, Begründungen für Mythen, Irrtümer und völlig wahnsinnige Vorstellungen zu finden. Und wie immun Menschen gegen alle Versuche sein können, sie mit den Fakten vertraut zu machen und sie zu der Einsicht zu bringen, dass sie einem Fehler aufgesessen sind.

Dieses Buch trägt den Titel «Starrköpfe überzeugen» – ist das Beispiel von Christine Maggiore hier also nicht fehl am Platz? Schließlich konnte nichts und niemand diese Frau von ihrem Glauben an die Thesen des Aids-Leugners Peter Duesberg abbringen – nicht einmal der Tod der eigenen Tochter. Was könnten also Diskussionen und Argumente da ausrichten? Richtig, ziemlich sicher nichts. An diesen besonders betonharten Starrköpfen müssen wir uns nicht abarbeiten, das wäre vergebens. Dennoch taugt der Fall Christine Maggiore als Beispiel: So wie sich die Aktivistin aus Kalifornien gegen alle Argumente und Fakten sperrte, so verteidigen viele Menschen Irrtümer in ihrem Alltag. Es handelt sich keinesfalls um ein Problem, das nur sehr wenige, vermutlich verschrobene Menschen betrifft.

In den vermeintlich aufgeklärten westlichen Demokratien sind Mythen und Irrtümer allgegenwärtig. In den USA glaubte zeitweise die Mehrheit der Teilnehmer an den Vorwahlen der Republikanischen Partei, dass der amtierende Präsident Barack Obama nicht in den USA geboren worden sei. Stimmte das, dann wäre Obama unrechtmäßig in das höchste Amt der USA gewählt worden. Denn um Präsident werden zu können, muss man auf amerikanischem Boden geboren worden sein. Obama gab irgendwann dem Druck der sogenannten Birthers nach und veröffentlichte seine Geburtsurkunde. Sie bewies, dass er am 4. August 1961 in der Klinik in der Bingham Street 1611 in Honolulu, Hawaii, USA, geboren wurde. Die Birthers zeigten sich unbeeindruckt und propagierten weiterhin die Lüge von der unrechtmäßigen Präsidentschaft.

Im Jahr 2004 glaubten etwa 45 Prozent der US-Amerikaner, dass Gott den Menschen in seiner heutigen Gestalt erschaffen hat – und dass dieser Schöpfungsakt nicht länger als 10000 Jahre her sein kann. Die sogenannten Kreationisten vertreten ihren Standpunkt längst nicht mehr nur in Kirchen und christlichen Schriften. In den USA tobte in den vergangenen Jahren ein regelrechter Kulturkampf: Im Zentrum der Auseinandersetzungen stand der Wunsch kreationistischer Eltern und christlicher Lehrer, dass die biblische Schöpfungsgeschichte im Biologieunterricht gleichberechtigt neben der Evolutionstheorie nach Charles Darwin gelehrt wird.

Die Amis spinnen sowieso, da muss man sich nicht wundern? Auch in Deutschland arbeiten christliche Gruppen daran, verschiedene Spielarten des Kreationismus in Schulen und Universitäten zu verankern, ihrer Lehre einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben und Zweifel an der Evolutionstheorie zu verbreiten. Dennoch: Amerikanische Debatten werden in Europa häufig mit Kopfschütteln verfolgt. Die Fehler anderer erkennen wir mit Leichtigkeit und zerlegen sie mit großer Präzision. Der Blick auf uns selbst ist hingegen versperrt oder wenigstens neblig.

Blicken wir deshalb einmal umgekehrt von den USA aus in Richtung Europa. In Deutschland existiert auf vielen Abschnitten der Autobahn kein Tempolimit, sodass dort zumindest theoretisch mit Geschwindigkeiten weit jenseits der 200 Kilometer pro Stunde gefahren werden kann? Im Land der Waffennarren und Sturmgewehre reagieren viele darauf mit großem Befremden. Und die Auseinandersetzungen in Deutschland zwischen Gegnern und Befürwortern eines generellen Tempolimits auf Autobahnen ähneln der Diskussion über das Waffenrecht in den USA: Alle Argumente sind seit Jahrzehnten ausgetauscht, werden wiederholt, und nichts rührt sich.

Betrachten wir ein weiteres Beispiel, das sich erst aus der Perspektive Amerikas erschließt. Erinnern wir uns: Dass die Menschheit das Klima der Erde verändert, darüber herrscht in der Wissenschaft ein breiter Konsens. Nur die Amis, die zweifeln trotzdem an der Realität der globalen Erwärmung, oder? Nun, es existiert ein weiterer Bereich, in dem sich die Wissenschaft in ähnlichem Maße einig ist. Der Verzehr gentechnisch veränderter Lebensmittel ist für den Menschen unbedenklich. Die Mehrheit der Europäer lehnt diese Aussage jedoch heftig ab. Sie empfinden Mais, in den zur Abwehr von Schädlingen Gene eines Bakteriums eingebaut wurden, als zutiefst unnatürlich und bedrohlich. In vielen Staaten der EU ist der Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen verboten; auf den Packungen zahlreicher Lebensmittel versichern die Hersteller, das Produkt sei garantiert frei von Gentechnik. In den USA wundert man sich mehrheitlich über die als hysterisch empfundenen Ängste der Europäer. Längst nicht alle offenen Fragen rund um gentechnisch veränderte Lebensmittel und Pflanzen sind geklärt, doch die halbe Welt isst diese Nahrung seit vielen Jahren – mit einem Achselzucken und ohne offensichtlichen Schaden.

Also, wer ist nun irrational, die Amerikaner oder die Europäer? Natürlich beide, nur die umstrittenen Themen und der Inhalt vieler Mythen unterscheiden sich. Die erbitterten Diskussionen gleichen sich hingegen. Seit Jahrzehnten stehen sich zum Beispiel Anhänger der Homöopathie, Akupunktur oder sonstiger Spielarten alternativer Therapien sowie die wissenschaftliche Medizin unerbittlich gegenüber. Unter den Kriegsbannern von «Alternativmedizin» und «Schulmedizin» haben sich die Kombattanten in ihren Schützengräben verschanzt und feuern Argumente aufeinander. Ob eine der Seiten Geländegewinne erzielt, ist für unbeteiligte Beobachter schwer zu sagen. Die Diskussionen über die Homöopathie in Online-Foren oder im Kommentarbereich großer Nachrichtenseiten beispielsweise sind hochgradig frustrierend: Dort werden fast reflexartig immer die gleichen Argumente und Gegenargumente ausgetauscht. Wer diese Auseinandersetzungen verfolgt, der bemerkt, dass es auch meist die gleichen Diskutanten sind, die dort teils über Jahre jeden Anlass nutzen, um sich die gleichen Sätze um die Ohren zu hauen.

Mit Impfgegnern geraten mittlerweile mehr oder wenige alle Eltern in Kontakt, sobald ihr erstes Kind auf die Welt gekommen ist – Diskussionen über Immunisierungen gehören fest zum Curriculum der Elternschaft. Vor allem die These des britischen Arztes Andrew Wakefield, wonach die Masern-Mumps-Röteln-Impfung Autismus auslösen könne, hat eine andauernde Hysterie ausgelöst. Dabei ist Wakefield längst widerlegt, seine ursprüngliche Studie aus dem Jahr 1998 als Fälschung entlarvt worden. Er hatte Geld von einer Interessenvereinigung angenommen, die genau den von ihm behaupteten Zusammenhang belegt haben wollte. Die These ist widerlegt, ihr Autor diskreditiert, und doch erfährt Andrew Wakefield von Impfgegnern auf der ganzen Welt noch immer Unterstützung.

Harmloser ist der Gedanke, den Alex Osborn 1948 von der Leine ließ und der bis heute im Berufsalltag vieler Menschen eine Rolle spielt. Damals veröffentlichte der Werbefachmann ein Buch mit dem Titel «Your Creative Power», in dem er in einem Kapitel das Konzept des Brainstormings entwickelte. Um viele und möglichst gute Ideen zu produzieren, möge man sich in einer Gruppe zusammensetzen und ein Feuerwerk der Kreativität abbrennen und sagen, was einem in den Sinn kommt – nur dürfe niemand die Gedanken der anderen kritisieren, sonst sei alles erlaubt. Das Konzept hört sich plausibel an, und erinnert sich nicht fast jeder an ein Brainstorming, das den entscheidenden Geistesblitz hervorgebracht hat? Doch seit mehr als 50 Jahren ist klar, dass Brainstorming nicht funktioniert – die Gruppenmitglieder blockieren sich gegenseitig. Die psychologische Forschung hat gezeigt, dass Menschen weniger und schlechtere Ideen produzieren, wenn sie auf die Technik von Alex Osborn vertrauen, als wenn sie sich auf andere Art oder gar alleine Gedanken machen.

Ändert diese Erkenntnis aus mittlerweile zig Studien etwas? Nein, in den Büros der Welt werden weiter Brainstormings angesetzt. Auch der prognostische Wert sogenannter Assessment Center ist widerlegt. Mit Hilfe dieser Verfahren hoffen Firmen, die optimalen Kandidaten für offene Stellen zu finden. Die Bewerber werden in teils tagelangen Diskussionsrunden, Rollenspielen und anderen Aufgaben geprüft. Und am Ende setzen sich doch die Schwätzer und Selbstdarsteller durch. Auch das ist in zahlreichen Studien belegt, und auch das kümmert offenbar niemanden – Personalchefs setzen weiterhin auf Assessment Center.

Im Privaten blühen Mythen und Irrtümer ohnehin. Männer können nicht zuhören, Frauen nicht einparken? Mädchen sind schlechter in Mathe, und Jungs sind von der Natur mit einer Leseschwäche gestraft? Männer denken ständig an Sex und schweigen, während Frauen quasseln und selten Lust auf körperliche Liebe spüren? Und das verflixte siebte Jahr, auweia, da sollte jedes Paar besonders auf der Hut sein? Unsinn, alles blanker Unsinn. Trotzdem geistern auch solche Vorstellungen im Alltag durch unsere Köpfe.

Leugner von Aids und Klimawandel, die Debatte um Gentechnik und homöopathische Kügelchen, die Impfdiskussion und seltsame Ansichten über Männer und Frauen in einen Topf zu werfen mag auf den ersten Blick bizarr wirken. Doch alle diese Beispiele zeigen, dass es nicht genügt, ausschließlich die Fakten auf den Tisch zu legen. Wie aber lassen sich Starrköpfe dann überzeugen?

Wir müssen uns mit der Psyche der Starrköpfe (und der aller anderen Menschen) beschäftigen. Die entscheidende Frage lautet nicht: Ist etwas wahr? Sondern sie lautet: Fühlt sich etwas wahr an? Viele unserer Meinungen könnten wir kaum mit Fakten belegen. Wir haben sie einfach, wir sind von ihnen überzeugt. Das Hauptaugenmerk dieses Buches liegt darauf, die Bedingungen zu entschlüsseln, unter denen sich etwas richtig anfühlt. Was fördert diese Wahrheits-Illusionen, und wie lassen sie sich nutzen und einsetzen? Mit welchen Psychotechniken erreichen wir, dass ein Starrkopf wenigstens zuhört, anstatt seine geistigen Zugbrücken reflexartig zu schließen und sich hinter den Bollwerken der eigenen Meinungen und der eigenen Weltsicht zu verschanzen? Dazu werden Techniken und Handreichungen geliefert, wie Diskussionen gestaltet und wie Informationen dargestellt werden sollten, um Überzeugungskraft zu entfalten.

Dass dabei viele Beispiele und zahlreiche Geschichten aus den Untiefen der Verschwörungstheorien, der Esoterik und der sogenannten Alternativmedizin angeführt werden, hat einen simplen Grund: An ihnen lassen sich die grundsätzlichen Mechanismen verdeutlichen. Zahlreiche der geschilderten Techniken eignen sich jedoch auch, um in Diskussionen mit dem Lebenspartner oder dem Chef zu bestehen. Denn bei Auseinandersetzungen mit dem Lebenspartner treffen in der Regel zwei Starrköpfe aufeinander. Und der Chef? Der wehrt sowieso nur alles ab, oder? Ob Sie Ihren Mann, Ihre Frau oder Ihre Vorgesetzten überzeugen werden, liegt an Ihnen (und Ihrem Anliegen). Doch hoffentlich hilft dieses Buch dabei, ein paar Fehler zu vermeiden.

Am Ende steht das große Ziel: die Starrköpfe dieser Welt zu überzeugen. An dieser Stelle müssen wir ehrlich sein. Es wird oft extrem schwer, ja, es ist manchmal fast unmöglich, dieses Ziel zu erreichen. Das bedeutet nicht, dass wir es unversucht lassen sollten. Als erster Mensch den Mount Everest zu besteigen war auch eine extreme Herausforderung – Edmund Hillary und Tensing Norgay haben es trotzdem geschafft. Nicht nur, weil sie daran geglaubt haben, sondern vor allem, weil sie Fehler vermieden haben, gut vorbereitet waren und auf die richtige Ausrüstung gesetzt haben. Und auch, weil sie an weniger mächtigen Bergen zuvor geübt hatten. Was das für Sie bedeutet? Falls Sie sich wirklich an ganz üblen Betonköpfen abarbeiten wollen, dann schärfen Sie Ihre Fähigkeiten zunächst im Umgang mit Diskussionspartnern, deren Überzeugungen weniger unerschütterlich sind.

Das nötige Rüstzeug ziehen Sie aus den folgenden zwei Teilen dieses Buches. Um die Expedition vorzubereiten, werfen wir zunächst einen Blick in den Geist der Starrköpfe: Warum glauben ansonsten vernünftige Menschen an Dinge, die für Unbeteiligte offensichtlicher Schwachsinn sind? Wie ticken Starrköpfe? Im zweiten Teil, «Starrköpfe überzeugen», folgt die praktische Umsetzung der Mission Überzeugung: Psychologen wissen, mit welchen Mitteln dem Starrkopf beizukommen ist und welche Schlüssel in die versperrten Türen von Fundamentalisten, Verschwörungstheoretikern, Partnern und Chefs passen.

Wie Starrköpfe ticken