Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2010

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«Blue Lightning» Copyright © 2010 by Ann Cleeves

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Covergestaltung Simon Schmidt

Coverabbildung © Dave Wheeler; © Simon Schmidt

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ISBN 978-3-644-20491-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-20491-1

Kapitel 1

Warum tut der Pilot denn nichts? Und warum sitzt Jimmy einfach nur da und wartet seelenruhig darauf, dass wir alle sterben?

Sie stellte sich vor, wie das Flugzeug gegen die Felsen prallte: berstendes Metall, zerschellende Körper. Das würden sie niemals überleben. Ich hätte ein Testament machen sollen. Wer wird sich um Cassie kümmern? Plötzlich wurde ihr klar, dass sie gerade zum allerersten Mal ernsthaft um ihr Leben fürchtete, und blinde Panik ergriff Besitz von ihr, vernebelte ihr den Verstand und schaltete jeden klaren Gedanken aus.

Das Flugzeug schrammte um Haaresbreite am Rand der

Neil, der Pilot, blieb einen Moment regungslos sitzen, beide Hände am Steuerknüppel. Fran kam der Gedanke, dass er vielleicht ebenso große Angst ausgestanden hatte wie sie.

«Gut gemacht», sagte Perez.

«Na ja.» Neil deutete ein Grinsen an. «Wir müssen ja immer wieder für die Krankentransporte üben. Aber zwischendurch dachte ich schon, wir müssten umkehren.» Dann setzte er etwas nachdrücklicher hinzu: «Jetzt aber raus mit euch zwei beiden. Ich muss noch eine Ladung Touristen ausfliegen, laut Wettervorhersage wird es nachher noch schlimmer. Und ich habe keine Lust, die ganze Woche hier festzusitzen.»

Neben dem Rollfeld wartete ein Grüppchen Menschen, die sich mit aller Kraft gegen den Wind stemmten, um nicht den Halt zu verlieren. Das Gepäck der beiden Ankömmlinge war bereits ausgeladen, und Neil winkte den wartenden Passagieren zu, an Bord zu kommen. Fran merkte, dass sie am ganzen Körper zitterte. Nach dem Flug in der stickigen Kabine kam es ihr draußen natürlich besonders kalt vor, doch ihr war klar, dass das Zittern auch ein Echo ihrer Angst war. Und der Anspannung, Perez’ Eltern, seinen Freunden zu begegnen, die auf der Insel auf sie warteten. Fair Isle war Teil seines Wesens. Hier war er aufgewachsen, hier lebte seine

Sie hatte es sich in etwa so vorgestellt wie ein richtig schlimmes Bewerbungsgespräch; doch anstatt ruhig und gefasst mit einem Lächeln auf den Lippen hier anzukommen – an Charme mangelte es ihr sonst schließlich auch nicht –, steckte ihr der Flug noch in den Knochen und verwandelte sie in ein zitterndes, stammelndes Wrack.

Immerhin musste sie nicht sofort zu Höchstform auflaufen, denn Neil hatte seine Passagiere bereits ins Flugzeug geladen und rollte nun ans andere Ende der Start- und Landebahn, um sich für den Rückflug nach Tingwall auf der Hauptinsel von Shetland bereitzumachen. Der Lärm der Flugzeugmotoren war viel zu nah und viel zu laut und verhinderte jeden Smalltalk. Einen Augenblick lang wurde alles still, dann heulten die Triebwerke wieder auf, das Flugzeug ratterte an ihnen vorbei und erhob sich in die Luft. Von den kräftigen Böen hin und her geworfen, wirkte es schon jetzt so klein und zerbrechlich wie ein Kinderspielzeug. Es drehte hoch über ihren Köpfen und verschwand dann etwas weniger wacklig nach Norden. Fran spürte Erleichterung ringsum. Anscheinend war ihre Reaktion gar nicht so überängstlich ausgefallen. Sie war nicht bloß eine hysterische Frau aus dem Süden. Das Leben auf dieser Insel schien nicht leicht zu sein.

Kapitel 2

Jane goss Dickmilch in den Teig. Obwohl sie tagtäglich Scones buk und die Abläufe im Grunde im Schlaf beherrschte, hatte sie Mehl und Milch sorgfältig abgewogen. So war sie eben: vorsichtig und akkurat. Im Kühlschrank lag noch ein Stück uneingepackter Käse, der dringend aufgebraucht werden musste, den rieb sie jetzt und rührte ihn ebenfalls unter den Teig. Falls das Postschiff am nächsten Tag nicht auslaufen konnte, würde sie wohl Brot backen müssen. Die Tiefkühltruhe war fast leer. Jane drückte den Teig für die Scones flach, stach Kreise daraus aus und legte sie dicht nebeneinander auf das Backblech, damit sie auch gut aufgingen. Der Backofen war bereits vorgeheizt, und sie schob das Blech hinein. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie jemanden in einer grünen Windjacke am Fenster vorbeigehen. Die Mauern des alten Leuchtturms waren fast einen Meter dick, und die Gischt hatte Salzschlieren an den Scheiben hinterlassen, sodass man nicht viel erkennen konnte, doch Jane war sich sicher, dass es Angela sein musste, die von der Inspektion der Vogelfallen zurückkam.

Es war Janes zweite Saison in der Vogelwarte von Fair Isle. Im letzten Frühjahr war sie zum ersten Mal hierhergekommen. Sie hatte die Anzeige in einer Zeitschrift für ländliche Lebensart entdeckt und sich beworben, ohne lange nachzudenken. Ein Impuls, vielleicht die erste impulsive Handlung ihres Lebens. Darauf folgte eine Art Bewerbungsgespräch am Telefon.

«Und warum möchten Sie einen ganzen Sommer auf Fair Isle verbringen?»

Mit dieser Frage hatte Jane natürlich gerechnet, schließlich hatte sie selbst lange genug in der Personalverwaltung

Meine Lebensgefährtin hat beschlossen, dass sie unbedingt Kinder will. Das macht mir Angst. Wieso bin ich ihr denn nicht genug? Ich dachte, wir sind glücklich mit unserem beschaulichen Leben, und jetzt sagt sie mir, dass ich sie langweile.

Die Entscheidung, nach Fair Isle zu gehen, war im Grunde nicht besser, wie sich als Kind unter der Bettdecke zu verstecken. Eine Flucht vor der Demütigung, vor der aufkeimenden Erkenntnis, dass Dee eine andere gefunden hatte, die ihren Kinderwunsch teilte, während Jane allein und fast ohne Freunde zurückblieb. Sobald sie die Zusage von der Vogelwarte hatte, kündigte Jane ihre Stelle im öffentlichen Dienst, und da sie noch einige Urlaubstage übrig hatte, konnte sie das Büro noch am Ende derselben Woche verlassen. Es hatte eine kleine Abschiedsfeier gegeben, Sekt, einen Kuchen. Einen Büchergutschein. Die Kollegen zeigten sich vor allem erstaunt. Sie schätzten Jane für ihre Vernunft und Zuverlässigkeit, ihren klaren Verstand. Ihre Karriere samt der unschätzbar wertvollen einkommensabhängigen Altersvorsorge einfach aufzugeben und alles hinzuwerfen, um auf einer Insel zu leben, die man eigentlich nur wegen ihrer Strickwaren kannte – das passte gar nicht zu ihr.

«Kannst du denn überhaupt kochen?», hatte sich eine

In beiden Fällen hatte sie wahrheitsgemäß geantwortet: «Aber ja.» Dee, ihre Lebensgefährtin, hatte gern Gäste gehabt. Sie leitete eine unabhängige Filmproduktionsfirma, und am Wochenende wimmelte es bei ihnen im Haus von Menschen: Schauspieler, Produzenten, Drehbuchautoren. Bei all diesen Zusammenkünften war Jane für die Verpflegung zuständig gewesen, von den Kanapees für die legendären Mittsommerpartys bis hin zu mehrgängigen Abendessen für zwölf Personen. Die Überlegung, wer diese Aufgabe wohl in Zukunft übernehmen würde, war ihr ein winziger Trost gewesen, als sie mit ihrem riesigen Rollkoffer das Haus in Richmond verließ. Dees Neue, Flora, mit ihrem spitzen Gesicht und ihrem glänzenden Haar, konnte Jane sich beim besten Willen nicht mit einer Küchenschürze vorstellen.

Jane war nach Fair Isle gekommen, ohne zu wissen, was sie dort erwartete. Dass sie sich vorher kaum über die Insel informiert hatte, war ein Zeichen dafür, wie sehr sie neben sich stand. Unter normalen Umständen hätte sie im Internet recherchiert, wäre in die Bibliothek gegangen, hätte sich einen ganzen Ordner mit wichtigen Informationen zusammengestellt. Doch nun hatten sich ihre Vorbereitungen darauf beschränkt, zwei neue Kochbücher zu kaufen. Sie würde schließlich mit wenig Geld nahrhafte Mahlzeiten zubereiten müssen, und so weit ging die Persönlichkeitsveränderung dann doch nicht, dass sie vorsätzlich einen schlechten Start in ihrer neuen Stelle riskiert hätte.

Sie war mit dem Postschiff gekommen, mit der Good

«Was soll es denn zum Abendessen geben?», hatte sie sich erkundigt, dabei die Ärmel ihrer Baumwollbluse hochgerollt und sich ihre lange blaue Lieblingsschürze umgebunden. Als

Maurice meinte später, ihnen sei es vorgekommen, als wäre Mary Poppins persönlich aufgetaucht und hätte das Regiment übernommen. Sie hätten gleich gewusst, dass es gutgehen würde. Diese Bemerkung bedeutete Jane viel.

Der Duft sagte ihr, dass die Scones bald fertig waren. Sie nahm das Blech aus dem Ofen, stellte es auf den Tisch, zog die Scones auseinander, damit sie auch von innen gar wurden, und schob sie zurück in den Ofen. Dann stellte sie die Eieruhr auf drei Minuten, obwohl das eigentlich gar nicht nötig war. In dieser Küche brannte nichts an. Nicht, solange Jane zuständig war.

Die Tür ging auf, und Maurice kam herein. Er trug ein Flanellhemd und eine graue Strickjacke, dazu Lederpantoffeln und eine an den Knien ausgebeulte Cordhose – der Inbegriff des leicht verstaubten Akademikers, der er gewesen war, bevor er seiner frisch angetrauten und sehr viel jüngeren Ehefrau Angela auf die Insel gefolgt war. Jane schaltete reflexartig den Wasserkocher ein. Das Ehepaar hatte zwar eine eigene Wohnung in der Vogelwarte, doch Maurice kam morgens meist auf einen Kaffee in die große Küche hinunter. Jane besaß eine Pressfilterkanne und ließ sich echten Bohnenkaffee

«Das Flugzeug ist gut weggekommen», sagte er.

«Ja, ich hab’s gehört.» Sie schwieg einen Moment, um das Kaffeepulver in die Kanne zu geben, und nahm die Scones im selben Moment aus dem Ofen, als die Eieruhr klingelte. «Wie viele Gäste sind denn jetzt noch da?»

Maurice hatte die Abreisenden samt Gepäck in seinem Landrover zum Flugplatz gebracht. «Nur noch vier», sagte er. «Ron und Sue Johns sind auch gleich mitgeflogen. Sie haben die Wettervorhersage gehört und wollten nicht riskieren, hier festzusitzen.»

Jane schob die fertigen Scones zum Auskühlen auf ein Gitterblech. Gedankenverloren nahm Maurice sich einen, brach ihn entzwei und strich Butter darauf.

«Heute ist Jimmy Perez angekommen, mit seiner neuen Freundin», berichtete er mit vollem Mund. «James und Mary waren am Flugplatz, um sie abzuholen. Armes Ding! Sie war kreidebleich, als sie aus dem Flugzeug stieg. Kann man ihr nicht verdenken. So ein Flug hätte mir auch ganz schön zugesetzt.»

Maurice war der Hausverwalter der Vogelwarte, einer wissenschaftlichen Einrichtung mit angeschlossenem Gästehaus für Gastforscher, aber auch für Touristen, die die entlegenste bewohnte Insel Großbritanniens kennenlernen wollten. Den ganzen September durch hatten sich die Vogelkundler hier die Klinke in die Hand gegeben. Die Vogelzüge erreichten in diesem Monat ihren Höhepunkt, und der starke Ostwind, der fast eine Woche lang anhielt, hatte zwei neue Arten hergeführt, die in Großbritannien noch nie gesichtet worden waren, und dazu noch eine Handvoll weniger bedeutsamer Seltenheiten. Jetzt, Mitte Oktober, warnten die Meteorologen

Dafür wusste sie umso besser, dass ein großer Reiz des Insellebens für ihn im Klatsch und Tratsch lag. Vermutlich unterschied sich das kaum von den leicht gehässigen Lästereien im Dozentenzimmer eines kleineren akademischen Instituts. Maurice schien völlig mühelos über sämtliche Vorgänge auf der Insel auf dem Laufenden zu sein. Jane hingegen hielt sich von den Inselbewohnern eher fern. Sie kannte und mochte Mary Perez und ließ sich an ihrem freien Tag sogar hin und wieder zum Mittagessen nach Springfield einladen, aber enge Freundinnen waren sie trotzdem nicht.

«Jimmy Perez ist doch bei der Polizei, nicht?» Eigentlich interessierte das Thema sie ja nicht weiter. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde bis zum Mittagessen. Sie zündete das Gas unter einem großen Topf Suppe an, rührte einmal um und verschloss ihn dann wieder mit dem Deckel.

«Stimmt. Als vor zwei Jahren ein Hof hier frei wurde, hatte Mary ja gehofft, er würde wieder nach Hause kommen, aber er ist dann doch in Lerwick geblieben. Wenn er keinen Sohn bekommt, ist er bald der letzte Perez auf den Shetland-Inseln. Es gab immer einen Perez auf Fair Isle, seit der erste im Krieg mit der Spanischen Armada an Land gespült wurde.»

«Eine Tochter kann den Namen doch auch behalten und weitergeben», wandte Jane scharf ein. In ihren Augen sollte gerade Maurice eigentlich etwas mehr Sensibilität für Geschlechterklischees an den Tag legen. Neue Gäste gingen erst

Maurice lächelte. «Sicher, aber für James und Mary wäre es trotzdem nicht dasselbe. Vor allem nicht für James. Er findet es schlimm genug, dass Jimmy nicht hier ist, um die Good Shepherd zu übernehmen, und wünscht sich nichts sehnlicher als einen Enkel.»

Jane verzog sich ins Esszimmer, um die Tische zu decken.

 

Angela stieß erst dazu, als alle anderen schon beim Essen saßen. Jane hatte sie schon häufiger verdächtigt, mit Absicht zu spät zu kommen, um sich in Szene zu setzen. Heute allerdings waren kaum genug Leute da, um ihren Auftritt zu würdigen: nur vier Gäste, Maurice’ Tochter Poppy sowie die übrige Belegschaft der Warte, die wahrlich an Angelas theatralische Anwandlungen gewöhnt war. Und natürlich Maurice, der sie ohnehin anbetete und kein bisschen mit seiner Rolle an ihrer Seite zu hadern schien, solange er sie nur glücklich sah.

Angela hatte sich einen Teller von der Suppe aufgefüllt, die immer noch auf dem Herd köchelte; jetzt stand sie da und musterte die anderen. Sie war zwanzig Jahre jünger als Maurice, groß und durchtrainiert. Sie hatte langes schwarzes

Eigentlich hatte sie erwartet, dass Angela sich an den Tisch setzen und das Gespräch ebenso rasch wie gekonnt auf irgendein Thema lenken würde, das sie interessierte. So lief das normalerweise. Doch Angela blieb einfach stehen, und erst da merkte Jane, dass die Vogelwartin wütend war, so zornig, dass die Suppenschüssel in ihren Händen zitterte. Sie stellte die Schüssel vorsichtig ab, und die Gespräche im Raum verstummten nach und nach. Draußen war es immer stürmischer geworden. Selbst durch die Doppelverglasung der Fenster konnte man die Wellen hören, die sich an den Felsen brachen. Die Gischt spritzte wie der Speichel eines Riesen bis über den Rand der Klippe.

«Wer war im Vogelzimmer?» Angelas Stimme klang gepresst, war im Grunde nicht mehr als ein Flüstern, doch ihr Zorn war nicht zu überhören. Nur Maurice schien nichts zu merken. Er wischte seine Schüssel mit einem Stück Brot aus und hob dann den Kopf.

«Wieso? Gibt’s Probleme?»

«Jemand hat an meiner Arbeit herumgepfuscht.»

«Das war aber kein Computerdokument. Es war die Rohfassung eines Artikels. Handgeschrieben.» Angela sprach so laut, dass alle im Raum sie hören konnten. Jane fand die Vorstellung seltsam, dass Angela etwas von Hand schrieb. Das tat sie sonst nur, wenn sie unterwegs war und gar keine andere Möglichkeit hatte, sich Notizen zu machen. Die Vogelwartin war der modernen Technik komplett verfallen. Selbst die täglichen Sichtungsberichte gab sie abends direkt in den Laptop ein. «Der Artikel ist weg», fuhr Angela fort. «Jemand muss ihn gestohlen haben.» Ihr Blick schweifte durch den Raum, erfasste auch die vier Gäste, die am Nebentisch saßen, und ihre Stimme wurde noch etwas lauter. «Jemand muss ihn mir gestohlen haben.»

Kapitel 3

«Wahrscheinlich wird meine Mutter ihre Bilder abhängen», hatte er gemeint. «Es ist ihr sicher unangenehm, wenn eine echte Künstlerin sie sieht.»

Und das war Fran inzwischen wohl: eine echte Künstlerin. Die Leute gaben Bilder bei ihr in Auftrag, ihre Werke wurden in Galerien gezeigt. Jetzt war sie froh zu sehen, dass Mary ihre Aquarelle an den Wänden gelassen hatte. Es waren kleine, zarte Bilder, die ganz und gar nicht Frans eigenem Stil entsprachen und sie dennoch faszinierten, weil sie die kleinen Details des Inselalltags festhielten, die man

Das Haus kam den Vorstellungen, die Fran sich davon gemacht hatte, sehr nahe, entsprach ihnen aber nicht ganz: Irgendwie wirkte es kleiner und enger, und so hatte sie das merkwürdige Gefühl, in einem Paralleluniversum gelandet zu sein. Sie saß am Tisch, hörte sich an, was Mary und James erzählten, und kam sich dabei vor wie eine Statistin an einem Filmset, die nicht dazugehört und nichts zur eigentlichen Handlung beiträgt.

Ob ich mich hier immer so fühlen werde? Als würde ich nicht dazugehören?

Sie hatten schon länger nicht mehr darüber gesprochen, doch Fran hatte das Gefühl, dass Perez vielleicht eines Tages hierher zurückkehren wollte. Der Gedanke hatte ihr gefallen; sie fand es aufregend, an einen der abgelegensten Winkel des Landes zu ziehen und an eine Familientradition anzuknüpfen, die bis ins sechzehnte Jahrhundert zurückreichte. Inzwischen

Mary hatte das Gespräch auf die Hochzeitsvorbereitungen gebracht. Ihr Sohn wollte seine Engländerin im kommenden Mai heiraten, und Mary ging anscheinend davon aus, dass Fran schon ganz aufgeregt war und die Pläne für den großen Tag nur zu gern mit ihr besprechen wollte. Doch Fran war bereits einmal verheiratet gewesen. Sie hatte eine Tochter, Cassie, die diese Woche bei ihrem Vater auf dessen großem Anwesen in Brae verbrachte. Und sosehr Fran Jimmy Perez auch heiraten wollte, so wenig Begeisterung brachte sie für die Einzelheiten der Zeremonie auf. Sie hatte auch gar nicht damit gerechnet, dass eine Frau wie Mary über Blumen, Einladungen und den Kopfschmuck der Braut in Wallung geraten würde. Mary war als Inselkrankenschwester nach Fair Isle gekommen und packte seit ihrer Heirat überall auf dem Hof an, wo Arbeit anfiel. Sie war eine robuste, pragmatische Frau. Aber Jimmy war ihr einziger Sohn, und vielleicht wollte sie Fran eine Freude machen, indem sie sich so für ihren großen Tag engagierte. Anscheinend war ihr viel daran gelegen, sich mit der neuen Schwiegertochter anzufreunden.

«Wir wollten eigentlich in Lerwick heiraten», sagte Fran. «Eine standesamtliche Trauung in aller Stille. Schließlich ist es für uns beide schon das zweite Mal. Und anschließend ein Fest mit Freunden und Verwandten.»

James mischte sich ein. «Aber hier müsst ihr auch feiern, für die Leute, die nicht nach Mainland kommen können. Und deine Familie wird unsere Insel ja auch sehen wollen. Ein traditionelles hame-farin’. Schließlich ist das hier Jimmys Heimat.»

«Natürlich», erwiderte Fran, obwohl es ihr nie in den

«Wir dachten, wir könnten vielleicht schon diese Woche ein kleines Fest ausrichten, um eure Verlobung zu feiern», sagte Mary.

«Das wäre schön. Aber ich möchte wirklich nicht, dass ihr euch so viele Umstände macht.» Fran sah hilfesuchend zu Perez hinüber, der zu alldem noch kein einziges Wort gesagt hatte. Auch jetzt zuckte er nur leicht mit den Schultern, und Fran begriff, dass es vermutlich längst beschlossene Sache war. Kein Einwand ihrerseits würde noch etwas daran ändern.

«Natürlich nicht hier.» Mary lächelte sie an. «Wir haben ja viel zu wenig Platz. Zu einem richtigen Fair-Isle-Fest gehören Tanz und Musik, das geht hier alles nicht. Aber wir könnten vielleicht die Vogelwarte mieten. Im Speisesaal ist Platz genug zum Tanzen, und Jane kann für uns kochen.»

«Jane?» Fran erschien es am gefahrlosesten, sich auf die nebensächlicheren Aspekte zu konzentrieren.

«Sie ist in der Warte die Küchenchefin. Eine phantastische Köchin.»

«Fein», sagte Fran. Was blieb ihr auch anderes übrig? Ach, Jimmy, dachte sie bei sich. Ich weiß wirklich nicht, ob ich hier leben könnte, nicht einmal mit dir. Laut sagte sie, an seine Mutter gewandt: «Und wann soll dieses Fest stattfinden?»

«Fein», wiederholte Fran und biss innerlich die Zähne zusammen.

 

Nach dem Mittagessen hatte sie das Gefühl, sie würde auf der Stelle durchdrehen, wenn sie noch länger drinnen hockte. Sie hatte Mary beim Abwasch geholfen, und anschließend hatten sie sich mit einem Kaffee ins Wohnzimmer gesetzt, wo große Fenster nach Süden hin über ebene Felder aufs Wasser gingen. Jimmys Vater war Laienprediger in der örtlichen Presbyterianergemeinde und zog sich bald in das kleine Gästezimmer zurück, das ihm als Arbeitszimmer diente, um seine Sonntagspredigt vorzubereiten. So saßen sie zu dritt eine Zeitlang schweigend da, wie gebannt von den gewaltigen Wellen, die vom Südhafen herandonnerten und an den Felsen brachen. Es hatte aufgehört zu regnen, doch Fran schien es, als hätte der Wind deutlich zugenommen. Sogar durch die dicken Mauern des Hauses drang sein Lärmen, ein unerbittliches Heulen, das an ihren Nerven zerrte und ihre Anspannung noch vergrößerte. Dicht vor dem Fenster kämpfte eine Silbermöwe verbissen gegen den Wind an. Fran musste wieder an das Flugzeug denken; ihr wurde ein bisschen schwummerig. Rasch griff sie nach ihrer Tasse, trank den letzten Rest Kaffee und fragte sich: Was ist eigentlich los mit Jimmy? Seit wir hier sind, hat er kaum ein Wort gesagt. Bereut er etwa, dass er nicht hierher zurückgekommen ist, als er die Möglichkeit dazu hatte? Da hatten wir uns gerade kennengelernt. Ob er mir die Schuld daran gibt? Ob er wieder zurück nach Hause will?

Da stand Perez auf und hielt ihr die Hand hin, um sie

«Bist du noch bei Trost?», rief Mary. «Bei dem Wetter willst du mit ihr spazieren gehen?»

«Wir gehen zum Leuchtturm und sprechen mit Jane das Essen für morgen Abend durch.» Sein Grinsen zeigte, dass er ganz genau wusste, wie unnötig das war: Seine Mutter hatte das alles sicher längst geklärt. «Außerdem soll es laut Wetterbericht ab heute Abend noch schlimmer werden. Wenn wir jetzt nicht gehen, haben wir vielleicht gar keine Gelegenheit mehr.»

 

Draußen vor der Küchentür streiften sie Stiefel und Regenjacken über. Es war windgeschützt im Eingang, doch Fran schmeckte bereits Salz auf den Lippen, und kaum trat sie einen Schritt vor das Haus, nahm ihr eine Windböe den Atem und wehte sie beinahe um. Perez lachte und legte fest den Arm um sie.

Sie gingen nach Norden, und Perez zeigte ihr die Orte, die ihm besonders wichtig waren: «Hier haben früher Ingirid und Jerry gewohnt. Ich habe manchmal auf ihre drei Töchter aufgepasst, obwohl ich kaum älter war als sie. Die sind mir vielleicht auf der Nase rumgetanzt! Inzwischen versorgen Windräder die Insel mit Strom. Als ich klein war, hatte noch jeder Hof seinen eigenen Generator. Abends, wenn sie alle eingeschaltet wurden, hörte man das Brummen auf der ganzen Insel. Das da drüben an der Böschung ist das Haus von Jimmy Myers. Und da kommt Margo von der Post zurück.»

Sie gingen in den kleinen Laden, um Schokolade und ein paar Postkarten zu kaufen, die Fran ihren Lieben in England schicken wollte – vorausgesetzt, dass die Post bei dem Wetter

Nach Norden zu wurden die Häuser spärlicher. Sie erreichten eine Anhöhe, und Fran sah die Straße, die sich unter ihnen entlangschlängelte, den Berg und den Flugplatz auf der einen, ebenes Weideland auf der anderen Seite. Rechts von ihnen erhob sich steil der Sheep Rock, der weit ins Meer hinausragte und Fair Isle seine unverkennbare Silhouette gab, die sowohl von der Hauptinsel Mainland als auch von der Northlink-Fähre sofort ins Auge fiel.

«Was ist das denn?» Fran war stehengeblieben und drehte sich mit dem Rücken zum Wind. Eigentlich hatte sie geglaubt, ganz gut in Form zu sein, doch diese Wanderung strengte sie sehr an, und sie war froh über den Vorwand, eine Pause einlegen zu können. Sie deutete auf einen Käfig aus Maschendraht, der oben auf der Mauer angebracht war. Er war wie ein Trichter geformt, und am schmaleren Ende war eine Holzkiste befestigt.

«Eine Helgoland-Falle. Die Vogelkundler von der Warte fangen damit Vögel, um sie zu beringen. Hier gibt es seit den fünfziger Jahren naturkundliche Forschungen; anfangs ein paar Holzbaracken am Nordhafen. Die beiden Gründer waren ehemalige Kriegsgefangene, deren großer Traum es war, nach ihrer Rückkehr eine Station zur Erforschung von

«Wie ist denn das Verhältnis zwischen den Leuten aus der Warte und den Inselbewohnern? Kommen sie miteinander klar?»

«In der Regel schon. Wir sind ja alle mit der Vogelwarte groß geworden und waren auch mit dem Umbau des Leuchtturms einverstanden. Er liegt so weit von den übrigen Häusern entfernt, dass da ohnehin kein Mensch wohnen wollte. Und für den Laden, das Schiff und das Postamt ist es ein hübscher Zusatzverdienst. Hin und wieder gibt es Beschwerden, weil Touristen Mauern beschädigt oder Felder zertrampelt haben, wenn sie auf den Grundstücken der Anwohner unterwegs waren, aber ein Sturm wie dieser richtet sehr viel mehr Schaden an als eine Horde Vogelkundler. Maurice und Angela leiten die Warte jetzt seit fünf Jahren, und die Anwohner scheinen sie zu mögen.»

«Hat deine Mutter nicht von einer Jane gesprochen?»

«Jane ist die Köchin. Sie ist so tüchtig, dass einem angst und bange werden kann. Die ganze Insel feiert inzwischen ihre Feste dort, weil Jane so gut kocht.»

Perez setzte sich wieder in Bewegung. Vor ihnen befand sich eine Bucht, die auf der einen Seite von Sandstrand, auf der anderen von Felsen und Kies gesäumt wurde.

Nachdem sie auf der einspurigen Straße um eine Kurve gebogen waren, standen sie schließlich unvermittelt vor dem Leuchtturm: Er ragte hinter einer Reihe weißgetünchter Häuschen auf. Der Komplex wurde von einer niedrigen, ebenfalls weißgetünchten Steinmauer umschlossen; auf einer Seite des asphaltierten Innenhofs waren Wäscheleinen gespannt.

Fran war von dem langen Weg durch den Wind ganz erschöpft. Das Wetter war noch sehr viel trüber geworden, und das Licht in den kleinen Fenstern wirkte umso anheimelnder.

Sie freute sich auf einen Tee, ein Kaminfeuer und ein bisschen Ruhe vor dem erbarmungslosen Heulen des Sturms, hatte aber einige Bedenken, ob sie es zu Fuß zurück ans andere Ende der Insel schaffen würde.

Perez öffnete die Tür zu einer Veranda, die mit Haken für Wanderkleidung und einer Bank voller Stiefel und Schuhe ausgestattet war. Es roch nach nassen Gummistiefeln, gebrauchten Socken und Wachsjacken. Von drinnen waren laute Stimmen zu hören.

«Es tut mir leid, aber das geht wirklich nicht.» Eine entschiedene Frauenstimme; sie schien daran gewöhnt zu sein, dass man auf sie hörte. Eine gebildete Engländerin. «Du hättest heute früh das Flugzeug nehmen können. Wir haben allen erklärt, dass das Boot morgen vermutlich nicht fahren wird. Und die Besatzung setzt ganz bestimmt nicht ihr Leben aufs Spiel, weil du dich plötzlich langweilst.»

Fran dachte sich, dass das wohl Jane sein musste, die Köchin.

«Von dem Flugzeug hat mir keiner was gesagt!» Noch eine weibliche Stimme, jünger und mit dem quengelnden Unterton eines verwöhnten Teenagers.

«Es wurde beim Frühstück verkündet.»

«Du weißt genau, dass ich nie mitfrühstücke. Ihr hättet es mir doch sagen können. Wieso hat mein Vater mir nichts davon gesagt?»

«Es hätte nichts gebracht. Die verfügbaren Plätze waren alle schon vergeben.»

«O Mann!» Ein trotziger Wutschrei, doch Fran glaubte, echte Panik darin zu hören, dieselbe Panik, die sie selbst verspürt hatte, als sie glaubte, das Flugzeug würde abstürzen. «Ich hasse diesen beschissenen Ort! Wenn ich noch einen Tag länger hierbleiben muss, krieg ich echt die Krise!»

Kapitel 4

«Hat sich ganz schön verändert, was, Jimmy? Kein Vergleich zu früher, als du noch hier gewohnt hast.»

Das Zimmer war ihnen zu Ehren neu eingerichtet worden. Ein neues Doppelbett, neue Vorhänge mit großen

Während er so dalag und dem Wind lauschte, der an den Dachziegeln zerrte, fiel Perez plötzlich die erste Frau ein, mit der er geschlafen hatte. Wie aus dem Nichts stand ihm ihr Bild vor Augen, erstaunlich lebendig. Sie war bereits eine Frau gewesen, während er noch ein Junge war. Beate. Eine junge Studentin aus Deutschland, die an einem Projekt des National Trust for Scotland teilgenommen und einen Sommermonat lang mit den übrigen Teilnehmern im Puffin, der alten umgebauten Fischhandlung, kampiert hatte. Perez war damals sechzehn und verbrachte die großen Ferien zu Hause. Sie war einundzwanzig.

Es war das Jahr gewesen, als die Bauarbeiten am Nordhafen stattfanden, das Jahr, in dem Kenneth Williamson als Untermieter bei seinen Eltern in Springfield lebte. Die Studenten halfen auf der Baustelle mit. Eines Abends gab es ein Grillfest im Puffin, zu dem auch Perez eingeladen war. Er erinnerte sich noch an die vielen Flaschen mit deutschem Bier, die reihenweise im Schatten der Hütte standen, an den Geruch von verbranntem Grillfleisch. Er saß im Gras und unterhielt sich mit der jungen Frau, und plötzlich fiel ihm auf, dass sie ihn irgendwie seltsam ansah. Sie hielt die Augen halb geschlossen und wiegte sich ganz leicht hin und her, als hätte sie sich, dachte er jetzt im Rückblick, in einem erotischen Traum verloren.

«Ich will schwimmen gehen», sagte sie dann und riss die Augen wieder weit auf. «Wo kann man denn hier schwimmen?»

Beate hatte nicht gekreischt. Stattdessen streifte sie ganz selbstverständlich all ihre Kleider ab und ließ sich ins Wasser gleiten. Sie hatte kleine Brüste, einen flachen, braungebrannten Bauch und darunter ein helleres Dreieck vom Bikinihöschen. Ihre Schamhaare waren dunkler, als er erwartet hätte. Sie kraulte mit trägen Schwimmzügen von ihm weg.

Die Sonne, die sich auf dem Wasser spiegelte, blendete ihn, er fühlte sich wie benommen. Es war die Zeit des simmer dim, und es herrschte ein eigentümliches Dämmerlicht, als hätte sich die Sonne einen Augenblick lang verfinstert und käme gerade erst wieder hervor.

«Kommst du nicht mit rein?», rief Beate und drehte sich zu ihm um. Es klang ein wenig ungeduldig. Fast wie ein Befehl.

Er hatte kurz gezögert. Was, wenn jemand kam? Außerdem war ihm bereits klar, dass mehr von ihm erwartet wurde als ein gemeinsames nächtliches Bad. Sie hatte ihn den ganzen Abend begehrlich beäugt, seit er im Puffin angekommen war. Er zog sich aus.

Später bereiteten sie sich ein Lager aus Kleidern auf einem großen flachen Stein, der, als die Sonne tiefer stand, im Schatten lag. Ihre Gier nach seinem Körper machte ihm Angst und schmeichelte ihm zugleich. Und sie erregte ihn.

Als er in jener Nacht nach Hause kam, schliefen alle schon. Ein Teil von ihm hatte fast damit gerechnet, dass sein Vater irgendwann in der Zimmertür stehen und ihm eine flammende Predigt über die Sünde halten würde. Jimmy Perez ging davon aus, dass alle Welt merken müsste, was ihm Einschneidendes geschehen war. Doch seine Familie schlief tief und fest, und am nächsten Morgen machte seine Mutter ihm Frühstück wie immer.

Monatelang verzehrte er sich nach Beate. Während die Studenten noch im Puffin wohnten, trieb er sich so oft wie möglich dort herum, doch sie schenkte ihm nicht mehr oder weniger Beachtung als den anderen Jungs von der Insel. Die raubtierhafte Gier in ihren Augen war Belustigung gewichen. «Das war doch nichts, Jimmy», sagte sie zu ihm, als ihr seine Anbetung schließlich auf die Nerven ging. «Ein bisschen Spaß an einem Sommerabend.» Nachdem sie abgereist war, wurden seine Träume um einiges wilder. Doch trotz allem waren sie nie nur körperlich: In all seinen Phantasien waren sie ein Paar, lebten zusammen in einer bohemehaften Einzimmerwohnung in der Stadt oder gingen Hand in Hand einen mondhellen Strand entlang.

Anscheinend hatte der Sturm nun doch einen Ziegel vom Dach gerissen, der krachend unten im Garten zerschellte. Der Lärm ging im Heulen des Windes unter, reichte aber, um Perez abrupt in die Gegenwart zurückzuholen. Schon damals, dachte er, war ich süchtig nach Gefühlen. Ich wollte unbedingt geliebt werden. Neben ihm drehte sich Fran auf die andere Seite.

Er fragte sich, ob es vielleicht doch ein Fehler gewesen war, sie hierherzubringen. Fran war eine unabhängige Frau,

Der Sturm machte alles ungleich schlimmer. Bei so einem Wetter fingen selbst die Inselbewohner an zu zanken wie die Kleinkinder, obwohl sie an solche extremen Witterungsbedingungen gewöhnt waren. Die meisten verließen die Insel oft monatelang nicht, doch bei gutem Wetter hatten sie wenigstens theoretisch die Möglichkeit zu gehen, wann immer sie wollten. Im Sommer verkehrte das Postschiff dreimal pro Woche, und es gab regelmäßige Flüge. Im Notfall konnte man sogar ein Flugzeug chartern. Jetzt aber saßen sie genauso fest wie die Touristen. Die Kinder, die auf die Anderson High School in Lerwick gingen, würden nicht rechtzeitig zum Beginn der Herbstferien nach Hause kommen können und fehlten ihren Eltern. Perez hätte bis zum Frühjahr warten sollen, bevor er Fran mit hierher nahm. Dann hätte auch Cassie mitkommen können, und sie hätten die Insel von ihrer besten Seite kennengelernt.

Die Wanderung an die Nordspitze hatte Fran anscheinend sehr erschöpft; sie schlief wie ein Stein. Er spürte ihr Haar an seiner nackten Schulter.

Maurice hatte sie am späten Nachmittag nach Springfield zurückgefahren. Sie hatten sich zu dritt auf den Vordersitz seines Landrovers gezwängt und waren schon nach dem kurzen Weg vom Leuchtturm bis zum Wagen ganz windzerzaust und außer Atem gewesen. Perez hatte den Verwalter

«Stimmt irgendwas nicht?» Perez bereute die Frage schon, als er sie stellte. Er war im Urlaub. Falls es tatsächlich Probleme in der Vogelwarte gab, ging ihn das wirklich nichts an. Fran grinste, während der Landrover über einen Weiderost holperte. Du kannst es wirklich nicht lassen, was? Sie betrachtete seine Neugier als eine Art chronisches Leiden und war überzeugt, dass er nur Polizist geworden war, um sich mit Fug und Recht in das Leben anderer Leute einmischen zu dürfen.