Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg
Copyright für diese Ausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-16777-5
ISBN E-Book 978-3-688-11107-7
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-11107-7
Eine Ausnahme in bezug auf diese Angaben stellt das komplizierte Phänomen der Aphasie (Sprachverlust) dar, auf das wir hier nicht einzugehen brauchen.
Mit «hohem Alter» meine ich fünfundachtzig und darüber. Ein «natürliches Nachlassen» der Sexualkraft im mittleren Alter gibt es nicht, wenn auch ein «unnatürliches» Nachlassen. Auch ein Löwe, der über vierzig Jahre im Käfig eingesperrt ist, wird allmählich mutlos.
Es ist bemerkenswert, daß außer dem Menschen auch andere Säugetiere die Fähigkeit zu besitzen scheinen, vermittels eines ähnlichen Introjektionsprozesses ein Über-Ich zu entwickeln. Solche Tiere sind gute Hausgenossen, weil man sich auf sie verlassen kann. Andere Tiere sind fähig, Kunststücke zu vollbringen, eignen sich aber nicht so gut als Hausgenossen, da man sie zwar dressieren, sich aber nicht auf sie verlassen kann.
Die von den Nazis durchgeführten Massaker und Massenvernichtungen und andere Massenmorde zeigen deutlich, daß selbst die brutalsten Morde den Todestrieb nur vorübergehend befriedigen. Schon nach kurzer Zeit ist das verbrecherische Individuum bereit, mit weiteren Morden den Prozeß zu wiederholen. In Situationen kompletter Barbarei, wie im Vernichtungslager Treblinka, genügt unter Umständen schon eine einzige Nacht, um die Todestriebspannung zu erneuern, während es unter «normalen» Bedingungen etwa ein oder zwei Monate dauert, bis der Drang zu töten wieder in der alten Stärke auftritt.
Nach den Erfahrungen des Autors kommen folgende Dinge der Unwirklichkeit des Traums am nächsten: im Bereich der dynamischen Realität ein Zeitlupenfilm und im Bereich der statischen Realität die Gemälde von Salvador Dalí.
Dr. phil. Claude Steiner, Fachbeauftragter für Gruppentherapie am Center for Special Studies in San Francisco, hat mir bei der Bearbeitung dieses Kapitels geholfen und die Abschnitte über Transsexualismus und Transvestismus verfaßt, wofür ich ihm zu Dank verbunden bin.
Die in Klammern stehenden Zahlen beziehen sich auf die Erörterung der beschriebenen Trinkgewohnheiten am Schluß dieses Abschnitts.
Zwar gilt Caligula als ein bemerkenswertes Beispiel für «gewissenloses Verhalten», das dem Verhalten eines Soziopathen sehr ähnlich ist, doch glaubt man heute, daß er an Schizophrenie litt. Es ist oft nicht leicht, zwischen Soziopathie und Schizophrenie zu unterscheiden.
Eric Berne: «Spiele der Erwachsenen. Psychologie der menschlichen Beziehungen». Reinbek bei Hamburg, 1967.
Für meine Mutter
Sara Gordon Berne
von A.A. Brill
Dieses Buch ist in mehr als einer Hinsicht einzigartig. Sein Autor, ein erfahrener Psychoanalytiker und Psychiater, ist ein eingeschworener Freudianer – und doch habe ich erst mehrere Kapitel lesen müssen, bis ich davon wirklich überzeugt war. Denn im Gegensatz zu anderen Wissenschaftlern, die eifrig für bestimmte Theorien eintreten und sie von vornherein verfechten, verhält sich Dr. Berne so objektiv und unvoreingenommen, daß man zunächst den Eindruck gewinnt, er sei eher ein gründlicher Kritiker als ein leidenschaftlicher Anhänger Sigmund Freuds. Sein Buch beginnt mit einer Art biologischer Übersicht über die allgemeinen Aspekte der geistigen Entwicklung. In dieser gedanklich klaren, von vernebelnden Fachausdrücken freien Einführung werden die normalen Funktionen des Gehirns im Gefühls- und im Handlungsbereich erklärt, ferner die stärksten Triebe und ihre Steuerung in der Kindheit und im Leben des Erwachsenen sowie die Reaktion des gesamten Organismus auf die Umwelt. Dr. Berne hat die Gabe, auch schwerverständliche Prozesse so einfach und fesselnd darzustellen, daß er sogar das Interesse eines von Fachliteratur übersättigten, mit der Psychoanalyse vertrauten Lesers wachzuhalten vermag. Nach der Lektüre einiger Kapitel wird einem schließlich bewußt, wie sehr Dr. Berne daran gelegen ist, in allem, was mit den Funktionen des Geistes zusammenhängt, Freud hervortreten zu lassen.
Bei meinen Bemühungen, den Modus operandi des Autors zu erläutern, wurde mir klar, daß Dr. Berne, was die Psychoanalyse angeht, etwa 40 Jahre jünger ist als ich. Mit anderen Worten, er gehört der Nachkriegsgeneration der Psychoanalytiker an und kann daher Freuds Beitrag zu diesem Gebiet als wesentlichen Bestandteil der gesamten progressiven Entwicklung der Psychiatrie würdigen. Dr. Berne ist sozusagen ein junger Freudianer, der wie die neue Generation der Ägypter «Joseph nicht gekannt hat». Daher konnte er einen neuen Weg beschreiten und die neue Psychologie weniger affektgeladen darlegen, als das bei den älteren Freudianern der Fall gewesen ist. Die psychoanalytischen Theorien waren bereits wohl etabliert, als Dr. Berne sie zu meistern begann; er konnte daher ohne Schwierigkeiten das gesamte Gebiet der Psychoanalyse betrachten – sowohl ihre Ursprünge und Anfänge als auch alle Abweichungen von ihr – und dann ohne Mühe die Spreu vom Weizen sondern. Da ich selbst alles gelesen habe, was inzwischen über Freud und Psychoanalyse geschrieben worden ist, fühle ich mich berechtigt zu sagen, daß es Dr. Berne gelungen ist, seinen Stoff so darzustellen, daß sein Buch nicht nur für den intelligenten Laien, sondern auch für den Psychoanalytiker und für den Arzt interessant und instruktiv ist.
(1967)
Erfreulicherweise kann ich feststellen, daß nach dem vorliegenden Buch in den letzten zwanzig Jahren eine ständige Nachfrage bestanden hat. Ich schrieb es, als ich während des Zweiten Weltkriegs bei der Army Sanitätsoffizier war. Ich hatte damals Abend für Abend die Wahl, mich entweder mit dem Rattern meiner Schreibmaschine zu amüsieren oder aber mit dem Rasseln der Spielautomaten im Offizierskasino – und in den meisten Fällen entschied ich mich für die Schreibmaschine. Ursprünglich erschien dieses Buch unter dem Titel «The Mind in Action». Es erhielt gute, ja sogar enthusiastische Kritiken in den Literaturblättern sowie in den psychiatrischen und psychoanalytischen Fachzeitschriften und wurde in der Folge auch in England veröffentlicht und ins Schwedische, Italienische und Spanische übersetzt. 1957 erschien bei Simon and Schuster die zweite Auflage unter dem Titel «A Layman’s Guide to Psychiatry and Psychoanalysis». Einige Jahre später kam bei der Grove Press eine preiswerte Taschenbuchausgabe unter demselben Titel heraus, so daß zwei konkurrierende Ausgaben gleichzeitig auf dem Büchermarkt waren. In diesen verschiedenen Ausgaben erreichte das Buch eine Gesamtauflage von weit über 250000 Exemplaren.
Während der letzten zehn Jahre haben rapide Fortschritte im Bereich der medikamentösen Therapie und der Gruppentherapie zu radikalen Veränderungen bei der ambulanten und der stationären psychiatrischen Behandlung geführt. Außerdem wurden die Transaktionsanalyse und andere neue psychotherapeutische Methoden nach und nach in Wirkungsbereiche einbezogen, in denen sich die Psychoanalyse als unzureichend erwiesen hat. Da das Interesse an meinem Buch unvermindert anzuhalten scheint, habe ich deshalb im Hinblick auf den Leser die vorliegende, weitgehend überarbeitete Neuauflage vorbereitet.
Nach sorgfältiger Überlegung habe ich mich entschlossen, als Hinweis auf die Bedeutung des Körperlichen den Abschnitt über die physische Typenbildung beizubehalten; dieser Aspekt wird häufig gerade von nicht medizinisch vorgebildeten Therapeuten übersehen, besonders von solchen, die aus dem Bereich der Gesellschaftswissenschaften kommen. Teil I und im wesentlichen auch Teil II behandeln das menschliche Wesen als eine Art «Energiesystem», und dafür ist die Freudsche Theorie der beste Ansatz. Ich bin hier der «exakten» Version von Freud gefolgt, bei der Sexualtrieb und Todestrieb streng voneinander getrennt werden, und habe Eros und Thanatos das gleiche Gewicht beigemessen. Mit Hilfe dieses Verfahrens läßt sich alles wesentlich leichter erklären, und es entspricht mit Sicherheit besser den historischen Vorgängen der letzten dreißig Jahre, die ja auf Grund der Libido-Theorie allein nur schwer verständlich sind, jedoch entschieden deutlicher werden, wenn man Paul Federns Konzeption vom «Todestrieb» hinzuzieht.
Mein Kollege Dr. Claude Steiner, Spezialist für die Behandlung von Alkoholismus, Drogensucht und anderen von ihm als «tragisch» bezeichneten Verhaltensformen, hat bei der Neufassung von Kapitel 7 mitgewirkt, das sich mit diesem Themenkreis befaßt, und ich möchte ihm an dieser Stelle dafür danken.
Carmel, Kalifornien
E.B.
Dieses Buch verfolgt das Ziel, das dynamische Wirken des menschlichen Geistes für alle diejenigen verständlich zu machen, die mehr daran interessiert sind, das Wesen des Menschen zu begreifen, als daran, große Worte zu machen oder genormte Definitionen auswendig zu lernen. Ich habe versucht, grundsätzliche Gedanken an Hand praktischer Beispiele zu erläutern; auf diese Weise sollen auch komplizierte Vorgänge so klar und einfach wie möglich dargestellt werden. Ich habe nicht die Absicht, aus dem Leser einen Stammtischpsychiater zu machen, sondern möchte ihm zu besserem Verständnis seiner selbst und anderer Menschen verhelfen.
Jeder Psychiater hat seine eigene, aus der klinischen Praxis abgeleitete Methode, Menschen zu betrachten. Die hier dargelegten Gedanken basieren auf dem, was ich bei meinen Lehrern gelernt habe, besonders bei Dr. Eugen Kahn, dem früheren Professor für Psychiatrie an der Yale School of Medicine, und bei dem verstorbenen Dr. Paul Federn vom New York Psychoanalytic Institute; sie wurden in mehrfacher Hinsicht modifiziert auf Grund eigener Gedanken und Beobachtungen und auf Grund meiner Interpretation der psychiatrischen und psychoanalytischen Literatur. Meine Lehrer haben ihr Bestes für mich getan, aber für meine Ausführungen übernehme ich allein die Verantwortung. Selbstverständlich basiert ein Großteil der hier vorgetragenen Ideen, wie das für die Ideen jedes dynamischen Psychiaters gilt, auf den Arbeiten Sigmund Freuds, aber für die Akzentsetzung und für die Formulierung bin ich allein verantwortlich, und ich betrachte mich in keiner Weise als Sprecher irgendeiner Gruppe oder Schule von Psychiatern oder Psychoanalytikern.
Zum besseren Verständnis folgen hier einige Wortdeutungshinweise. Mit dem Wort «er» bezeichne ich ganz allgemein Menschen beiderlei Geschlechts. Verwende ich das Wort «sie», dann heißt das in der Regel, daß ein bestimmtes Phänomen bei Frauen häufiger anzutreffen ist als bei Männern. «Wir» in einem entsprechenden Kontext bedeutet soviel wie «die Mehrzahl derjenigen Psychiater, vor denen ich die größte Achtung habe». «Ist» in einem Satz mit fachwissenschaftlicher Aussage bedeutet «scheint zu sein – nach Meinung der meisten versierten Psychiater und auf Grund meiner eigenen Erfahrungen mit dem Problem». Der Begriff «Scheint zu sein» bedeutet, «es erscheint mir so – auf Grund zahlreicher Beobachtungen, aber ich bin mir nicht ganz sicher, obwohl meine Meinung von einem oder mehreren der von mir geschätzten Psychiater geteilt wird». Nach gründlicher Überlegung habe ich mich entschlossen, den Begriff «Geisteskrankheit» beizubehalten. Zwar ist er bei einer mündlichen Diskussion entbehrlich, aber beim Schreiben läßt er sich nur schwer durch einen anderen Ausdruck ersetzen. Ebenso habe ich nach einigem Zögern die Begriffe «neurotisch» und «Neurotiker» beibehalten, da es auch in diesem Fall kaum einen Ersatzbegriff gibt, der sich in das Freudsche Schema einfügen ließe.
In den Krankengeschichten spiegeln sich nicht individuelle, sondern typische Fälle wider. Jede Ähnlichkeit mit irgendwelchen lebenden Personen ist zufällig und unbeabsichtigt.
Während viele der Krankengeschichten häufig vorkommende Fälle veranschaulichen, dienen einige als Beispiele für klar umrissene Grundformen von Geisteskrankheiten und psychischen Anomalien, d.h. in ihnen werden pathologische Persönlichkeitstypen beschrieben. In solchen Fällen werden die geschilderten Situationen und Reaktionen dem Leser gelegentlich recht ungewöhnlich vorkommen. Er möge jedoch bedenken, daß zwar die Intensität der Reaktionen bei diesen Personen manchmal in der Tat verblüffend ist, daß aber die verschiedenen Arten ihrer Reaktion keinesfalls ungewöhnlich sind. Die Krankengeschichten dienen dazu, durch Übertreibung Dinge hervorzuheben, denen jeder bis zu einem gewissen Grade auch bei sich selbst und bei seinen Mitmenschen begegnen kann. Ist das nicht auf Anhieb ersichtlich, so stellt es sich doch im Lauf der Zeit immer deutlicher heraus. Das bedeutet, die «Geisteskranken» haben nicht eine andere Triebstruktur als wir, sie drücken nur die Triebe, die allen Menschen gemeinsam sind, anders aus.
Meinen aus Soldaten und Zivilisten bestehenden Zuhörern in Kalifornien, Utah und Washington möchte ich hiermit danken. Mit ihren Fragen, Anmerkungen und Einwänden haben sie mir geholfen, meine Gedanken klar zu formulieren. Besonderen Dank schulde ich den folgenden Personen, die mir Hilfe gewährt haben.
Die Mitarbeiter des Verlages und vor allem Henry Simon haben mich bei der Ausarbeitung des Manuskripts entscheidend unterstützt und mir konstruktive Vorschläge gemacht. Dr. Paul Federn hat mich eingehend beraten, es jedoch ganz mir überlassen, seine Ratschläge zu akzeptieren oder unberücksichtigt zu lassen. Die Verantwortung für den Inhalt des Buches liegt also ausschließlich bei mir. Robert Peel aus Denton, Texas, und Frances Ordway aus Carmel, Kalifornien, haben mir dank ihrer Mitwirkung beim Tippen des Manuskripts viel zeitraubende Arbeit erspart. Viel Verständnis und Unterstützung während der Zeit, als ich unter erschwerten Bedingungen bei der Army an meinem Manuskript arbeiten mußte, fand ich bei den damaligen Majoren Dr. Samuel Cohen aus Philadelphia und Dr. Paul Kramer aus Chicago. Ferner halfen mir während dieser Zeit der damalige Colonel Stuart und Kippy Stuart, Doris Drake, Louise Masters sowie der damalige Captain Dr. George Ambrose. All denen, die das Manuskript gelesen haben oder die mir zugehört haben, als ich es im Haus der Familie Short vorlas, um Anregungen zu erhalten, proste ich mit einem Glas Carmel-Wein zu und danke ihnen für ihre Hilfe und für viele schöne Abende. Ich denke hier an Marie Short, Jake Kenny, John Geisen und seine Frau, Muriel Rukeyser, an Dr. Russell Williams und Frank Lloyd und ihre Frauen, an Sam Colburn, Gretchen Gray, Katie Martin und noch eine ganze Reihe weiterer «Carmeliter».
Ein Psychiater ist ein Arzt, der sich darauf spezialisiert, Menschen zu helfen, zu beraten und zu behandeln, die unter psychischen Störungen, unter gestörten zwischenmenschlichen Beziehungen, unter selbstzerstörerischem Verhalten und in schweren Fällen auch unter anomalen Empfindungen, Überzeugungen und Sinneseindrücken leiden. Er versucht, die dem Denken, Handeln und Empfinden der Menschen zugrunde liegende Motive zu erforschen, und stellt sich daher die Frage: «Warum hat dieser Mensch das Bedürfnis, so zu empfinden, zu denken oder zu handeln, wie er es tut?» Da die körperlichen Vorgänge auf die Emotionen einwirken und die Emotionen ihrerseits durch den Körper zum Ausdruck gebracht werden, muß der Psychiater, ebenso wie jeder andere Arzt, zunächst einmal gute Kenntnisse in der Anatomie und Physiologie besitzen; er muß wissen, wie der Magen, die Blutgefäße, die Drüsen und das Gehirn beschaffen sind und wie sie funktionieren. Er muß außerdem wissen, auf welche Weise bestimmte chemische Stoffe, wie zum Beispiel Alkohol, die Psyche beeinflussen und wie umgekehrt die Psyche auf bestimmte chemische Stoffe des Körpers einwirken kann, vor allem auf diejenigen, die von den Geschlechtsdrüsen, den Nebennierendrüsen, der Schilddrüse und der Hypophyse gebildet werden.
Während er seine Kenntnisse von der Funktionsweise des menschlichen Körpers vertieft, muß der angehende Psychiater ferner ständig beobachten, wie Menschen aus verschiedenen Familien sich in unterschiedlichen Situationen in dem Lande, in dem sie leben, verhalten. Hört er sich die Ungebildeten und die Gebildeten, die Armen und die Reichen an, wenn sie über die Zeugnisse ihrer Kinder sprechen, dann nimmt er die Unterschiede und die Ähnlichkeiten in ihren Einstellungen wahr und stellt sich die Frage, welche Auswirkungen sich daraus für die Schulleistungen ihrer Kinder ergeben.
Hat sich der Psychiater mit den verschiedenen psychischen und physischen Reaktionsweisen gesunder Menschen vertraut gemacht, beginnt er mit der Beobachtung kranker Menschen. Er befaßt sich zum Beispiel mit Menschen, die ein Magengeschwür haben, und versucht herauszufinden, welche Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer Mägen und ihrer Empfindungen bestehen und ob sich irgendein Zusammenhang zwischen ihren Emotionen und dem Ergebnis der Röntgenuntersuchung nachweisen läßt. Er spricht mit Menschen, die unter anomalen Ängsten leiden, und beobachtet sowohl ihre psychischen als auch ihre physischen Reaktionen, um nach Möglichkeit festzustellen, welche Fehlentwicklung in jedem dieser Bereiche stattgefunden hat.
Der Psychiater trägt dazu bei, künftigen Schwierigkeiten vorzubeugen, indem er sich mit jungen Paaren unterhält, die kurz vor der Eheschließung stehen, und mit Müttern, die Probleme bei der Erziehung ihrer Kinder haben; er kümmert sich um Menschen, die ungewöhnlich traurig oder erregt sind oder anomale Empfindungen und Impulse haben; vor allem ist es die Aufgabe des Psychiaters, sich mit gewissen Zuständen zu befassen, bei denen sowohl bestimmte körperliche Organe als auch die Emotionen beteiligt sind, sowie mit den Folgen übermäßiger Einnahme gewisser Drogen. Er muß daher über alle körperlichen Funktionen gut Bescheid wissen. Um schwere Geisteskrankheiten behandeln zu können, muß er auch wissen, welche Auswirkungen die Elektrizität und verschiedene starke Medikamente auf den menschlichen Körper haben können.
Außerdem wird der Psychiater häufig zu Rate gezogen, damit er feststellt, welche Rolle psychische Ursachen in bestimmten Krankheitsfälen spielen, so zum Beispiel bei Magengeschwüren, hohem Blutdruck, Schilddrüsenentzündung, Herzkrankheiten, Rückenschmerzen, Lähmungserscheinungen, Asthma, Hautkrankheiten und bei anderen Leiden, die oft mit den üblichen medizinischen Methoden nur schwer zu heilen sind. In solchen Fällen muß der Psychiater sehr genau die Funktionen der betreffenden Organe kennen.
Bevor der Psychiater versucht, einem Patienten zu helfen, möchte er gern über dessen Herkunft etwas wissen – über die körperlichen und geistigen Eigenschaften seiner Vorfahren und über die Einflüsse, die in der Zeit seines Heranwachsens eine Rolle gespielt haben. Hat er das alles herausgefunden, dann kann er besser beurteilen, was sein Patient mit auf den Weg bekommen hat und was er durchgemacht hat, bevor er den gegenwärtigen Zustand erreichte. Der Psychiater versucht ferner festzustellen, welche Stärken und Schwächen sein Patient schon bei der Geburt besaß oder sich in der frühen Kindheit aneignete und wie er dann unter den gegebenen Voraussetzungen sein Leben gestaltet hat.
Viele Charakterzüge eines Menschen basieren bis zu einem gewissen Grade auf Vererbung. Die Erbanlagen bestimmen die obere Grenze seiner Fähigkeiten und die Zeit, in der sie sich normalerweise entfalten oder verkümmern. So bestimmen sie zum Beispiel, ob jemand ein bedeutender Musiker oder Mathematiker werden kann (auch das Schachspielen gehört hierher) und in welchem Alter er zu normalen sexuellen Beziehungen in der Lage sein wird. Die Umwelt ist jedoch richtunggebend für das, was er tatsächlich tut. Mit anderen Worten, die Erbanlagen bestimmen die erreichbaren Möglichkeiten, und die Umwelt bedingt, wie weit man sich diesen Möglichkeiten nähert. Zuviel Zeit auf die Frage zu verwenden, was nun im Leben wichtig ist, wäre allerdings ebenso unangebracht, wie wenn man sich die Frage stellte: «Was ist an Erdbeeren mit Schlagsahne wichtiger, die Erdbeeren oder die Schlagsahne? Schwimmen die Erdbeeren in der Sahne, oder umgibt die Sahne die Erdbeeren?»
Es gibt keinen Beweis dafür, daß die Umwelt nicht manche der sogenannten ererbten geistigen Eigenschaften verändern kann. Nahezu jede menschliche Fähigkeit läßt sich durch entsprechendes Training vervollkommnen, und wenn man von einem Menschen sagt, er habe eine bestimmte Unzulänglichkeit «geerbt», so bedeutet das nicht, daß er deshalb verzweifeln oder aufgeben soll. Das Studium der Drüsenfunktionen wird in Zukunft entscheidend zur Veränderung dessen beitragen, was wir jetzt als «ererbt» ansehen, so wie die Psychiatrie heute in zunehmendem Maße an Bedeutung für die Veränderung derjenigen Eigenschaften gewinnt, die wir als umweltbedingt betrachten. Statt ständig danach zu fragen, was auf Erbanlagen und was auf die Umwelt zurückzuführen ist, sollten wir daher eher die Frage stellen: «Welche Eigenschaften lassen sich nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft verändern und welche nicht?»
In diesem Buch wird der Mensch als ein Energiesystem unter all den anderen Energiesystemen im Universum betrachtet – das ist eine der einfachsten Möglichkeiten, die Menschen zu verstehen. Diese Betrachtungsweise ist von Sigmund Freud entwickelt worden. Natürlich gibt es andere Ansätze, von denen einige später beschrieben werden sollen. Wir wollen zu Beginn untersuchen, womit die verschiedenen Menschen ausgestattet sind und was sie mit dem, was sie besitzen, zu erreichen versuchen. Dann wollen wir beobachten, wie sie heranwachsen und sich entwickeln, welche Fehlentwicklungen eintreten können und was man tun kann, wenn die Entwicklung sich als unheilvoll erweist.