Nee, was ist es schön, wieder mal in die Opernwelt einzutauchen! Mit meinem allerneuesten Opernführer möchte ich Ihnen etwas an die Hand geben, falls Sie mal wieder in die Oper gehen wollen und gerade ein Wagner, ein Rossini, ein Puccini oder ein Strauss auf dem Programm stehen.
Oper ist nichts Heiliges, Oper soll Freude machen und gute Laune. Umso mehr, wenn auch ein paar Tränchen fließen, weil der süße Schmerz das Vergnügen erst rundmacht. Oper erzählt von Herz zu Herz und wie sie das tut, will ich Ihnen hier erzählen. Weil man aber seinen Kopf nicht an der Garderobe abgibt, kommen einem auch abstruse Gedanken in den Kopf und davon erzähle ich Ihnen auch. Und weil Sie ja auch wissen wollen, wie viel Sterne sie denn verdient, die Oper, gebe ich Ihnen obendrein Tipps zum Angeben, Tipps zum Einordnen, und verteile die Plätze auf dem Siegertreppchen. Seien Sie versichert: Was ich zu Handlung und Musik zu sagen habe, hat Hand und Fuß, Sie können sich darauf verlassen. Lachen aber, das müssen Sie schon selbst. Und sollte es Sie im zweiten Akt plötzlich vor Lachen schütteln, halten Sie dieses Buch hoch, dann weiß Ihre Umgebung Bescheid und lacht mit, so einfach ist das!
Also dann: Der Dirigent kommt, das Licht geht aus und los geht’s!
Es ist mir wie immer schwergefallen, die biografischen Notizen knapp zu halten, zumal ich denke, dass die Librettisten in der Fachliteratur wirklich zu kurz kommen (außer die drei ›Großen‹: Da Ponte, Boito, Hofmannsthal), aber auf sie zu verzichten kam wirklich nicht infrage.
Hier ist zusammengetragen, was man wissen sollte, wenn man sich intensiver für eine Oper interessiert.
Natürlich die handelnden Personen mit ihren Rollen-Namen!
Natürlich die Instrumente ohne die Namen der sie bedienenden Musiker!
Ob Ballett oder nicht, deutsch oder tschechisch etc. pp., erfahren Sie in dieser Rubrik.
Die Zeitangaben sind allenfalls Näherungswerte. Informieren Sie sich vielleicht lieber bei »Ihrem« Opernhaus, die können Ihnen sicherlich die genaue Dauer in Ortszeit nennen.
Ich habe mich bemüht, die Handlung seriös wiederzugeben. Ist aber nicht immer gelungen …
Hier die schon in den Konzertführern (»Andante spumante« und »Scherzo furioso«) sowie in den beiden ersten Opernführern (»Palazzo Bajazzo« und »Bohème suprême«) bewährten Hinweise auf die wesentlichen Momente. Wichtig!
Dasselbe mit Daumen nach unten! Außerdem will man ja wissen: Wann kann ich SMS gucken, ohne dass ich was versäume?
Dasselbe in Bezug auf Stolpersteine, gefährliche Kurven etc.
Wenn Sie das, was hier steht, auswendig lernen und in der Pause loslassen, wird Sie jeder für einen Opernexperten allerersten Ranges halten. Egal, ob Sie eine Bassklarinette nicht von einem Schuhlöffel unterscheiden können oder Alt für ein Verfallsdatum halten.
Hier werden die Werke unter verschiedenen Gesichtspunkten klassifiziert (jeweils von 1–5, wobei 5 natürlich die höchste Benotung ist).
Wie stark entführt uns die Oper in ihre Welt, wie mächtig verzaubert sie uns?
Damit ist nicht nur Sex gemeint!
Tja, da gibt’s Taschentücher dafür, ob und wie stark wir von der Oper zu Tränen gerührt werden (zugegeben: das ist mehr was für die italienische Abteilung!).
Da gibt’s 1–5 Paar Handschellen für die menschlichen Abgründe, die sich in der Opernwelt immer wieder gerne auftun.
Hier gibt’s 1–5 »Gähn’s« für den Faktor Langeweile. Schwer zu vergeben, weil das ja sehr unterschiedlich empfunden wird. Ich hab’s trotzdem versucht.
Hier gibt’s Bischofsmützen für die Antwort auf die Fragen: Wie jugendfrei ist die Oper? Wird sie unseren Moralvorstellungen z.B. bei der Bestrafung der Bösewichte gerecht oder nicht?
Wie zeitbeständig ist die Oper? Hat sie ein Haltbarkeitsdatum oder nicht?
Damit meine ich: Ist die Oper für die wahren Feinschmecker ein Leckerbissen oder Kantinenkost? Geht mehr die Kenner an!
Wie wertvoll ist die Oper als Gesamtwerk? Das muss man wissen, um entscheiden zu können, ob man überhaupt hingehen soll oder nicht.
Jedem Opernfreund weltweit ist die Scala in Mailand ein Begriff und nicht nur das: Sie ist der Inbegriff der Oper überhaupt. Auch wer nie in der Oper war, kennt die Scala und hält sie für den Olymp der Opernwelt. Ich frage mich, woher dieser Mythos kommt und wie er entstanden ist, denn die Scala ist ein Mythos, zweifellos.
Denn: Es gibt schönere Opernhäuser in der Welt als das renovierte Teatro alla Scala (das so heißt, weil es seit 1776 auf dem Platz steht, wo bis dahin die Kirche von Santa Maria alla Scala stand), ich sage nur La Monnaie in Brüssel, die Opèra Garnier, eines der zwei staatlichen Pariser Opernhäuser, das La Fenice in Venedig, die Staatsoper Wien, von mir aus Bayreuth wegen seiner Harmonie mit der Landschaft (wenn man in die richtige Richtung schaut!), die Oper Budapest, von Juwelen wie dem Theater in Schwetzingen, in der einst Mozart auftrat, ganz zu schweigen. Es gibt musikalisch interessantere Opernhäuser als die Scala mit ihrem eher klassischen Repertoire, Häuser, die mehr wagen, mehr experimentieren, die näher am Puls des musikalischen Lebens sind (Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich Ihnen jetzt ein paar Häuser nennen werde, um in den anderen nicht mehr auftauchen zu dürfen?). Es gibt Häuser mit besseren Orchestern als es das der Scala ist (ob sie allerdings auch so gefühlvoll sein können, lasse ich mal dahingestellt), ich brauche nur Wien zu sagen, Amsterdam, London, New York oder Paris. Es gibt Opernhäuser, in denen das Publikum ihre Lieblinge noch enthusiastischer feiern kann als es die Mailänder tun, so da wären Parma, Neapel oder Buenos Aires. Allerdings sind Letztere auch die Opernhäuser, in denen die Diven und Stars gnadenlos an die Wand gebuht werden, wenn sie enttäuschen, oder in denen vierzig Hobbytenöre plötzlich aufstehen und dem Tenor da oben das hohe C entgegenschmettern, sollte es ihm ausgegangen sein (Placido Domingo soll in Parma extra danebengehauen haben, weil er das mal erleben wollte!). Da sind die Mailänder doch etwas zurückhaltender.
Das alles also kann es nicht sein, warum die Scala als das Opernhaus weltweit gilt. Dass in Mailand so vieles zusammenpasst, kann aber auch nicht der Grund für diese alles überragende Weltgeltung sein: High Society und Glamour wie in Mailand gibt es auch anderswo, vielleicht noch mehr, wenn man an Paris oder New York denkt. Selbst das etwas trampelige Bayreuth hat da einiges zu bieten und was die bizarre Seite angeht, ist das Opernfestival von Glyndebourne in der Nähe von London ja nach wie vor ungeschlagen. Sind doch die Mailänder obendrein so etwas wie die Düsseldorfer Italiens: modebewusst, aber nicht prahlerisch, laufstegsicher, aber nicht wirklich mediengeil, schrill, aber nicht neureich. Geld haben die Leute anderswo auch, sicherlich mehr als die Mailänder und ihre Oper (die ja finanziell eher »al verde« ist, also immer mal wieder das Grüne am Boden des Portemonnaies sieht), und Italianità haben die Venezianer, die Neapolitaner, die Römer oder die Sizilianer auch. Woher also kommt dieser Mythos »La Scala«? Es kam einiges zusammen, was zu ihm führte.
Sie wurde 1776 im richtigen Moment gebaut, nämlich während einer Zeitspanne, in der die Oper als Kunstgattung anfing, sich von den Adelsresidenzen und ihren »Inner-Circle-Aufführungen« zu emanzipieren. Man spielte am Anfang zwar brav seinen Paisiello und Cimarosa, also die Opera buffa napoletana, schwenkte dann aber sehr schnell auf Paër und Mayr um und damit auf die hochernste, quasi amtliche neoklassizistische, eher französische Linie. Diese bereitete den Boden für Rossini und ab der Aufführung der Zauberflöte (1816) war man aus den Kinderkrankheiten heraus (eine davon war zum Beispiel, dass die Scala auch an Zirkusleute vermietet worden war oder sogar an ein Stierkampfunternehmen, das die Bühne zur Arena verwandelt hatte – für manches Opernhaus unserer Eventgesellschaft wäre das doch eine Überlegung wert, oder?!). Jetzt wurde man die Avanguardia, die Vorhut der großen Oper. Rossini, Donizetti, Bellini: eine Uraufführung nach der anderen fand in Mailand statt. Und dann schließlich der internationale Durchbruch mit den Uraufführungen der frühen Verdi-Opern bis zum Nabucco. In derselben Zeit war die Politik des Hauses, die allerersten Sängerinnen und Sänger nach Mailand zu holen. Und sie kamen alle: von der Colbran bis zur Patti, von Pacini bis Tamagno (dem Othello der Uraufführung), selbst Fanny Elsler gab sich die Ehre und tanzte die Mailänder um den Verstand.
Es kam aber etwas ganz Wichtiges hinzu, was die Scala zum nationalen Heiligtum machte: die Einigungsbewegung in Italien, il risorgimento. Das von den Österreichern besetzte Mailand wurde immer mehr zum Zentrum des Risorgimento und als dann Verdi seinen Gefangenenchor »Va pensiero – Flieg Gedanke« schrieb (ohnehin die eigentliche italienische Nationalhymne) und dieser in Mailand erklang, wurde die lombardische Stadt der Motor, der zur Einigung führte. Diese Chöre (und Verdi kannte genau ihre politische Wirkung) haben das Gefühl, EIN Italien sein zu müssen, in alle Herzen getragen und haben darin das Feuer der Einigung entfacht. Damit wurde die Oper selbst für alle Italiener eine nationale Kunstform. Diese Koppelung der Gefühle ist heute noch spürbar (hören Sie sich mal »Nabucco« in der Aufnahme von 1949 mit der Callas an und das Inferno, das nach dem Chor losbricht, weil die Neapolitaner damals die Amerikaner loswerden wollten und einer in den Schlussakkord rief: »Viva Italia!«) – und sie ist wunderbar.
Der zweite Strang in der Geschichte, der den Mythos Scala endgültig zementierte, war die Qualität der damaligen Arbeit. Arturo Toscanini und sein unerschütterlicher Qualitätsanspruch haben aus einem Haufen Musiker ein Orchester geformt, er brachte dem Scala-Publikum Wagner und Tschaikowski nahe (von Puccini und der legendären Uraufführung der Turandot ganz zu schweigen), er holte alle großen Sänger seiner Zeit nach Mailand (die waren in der Zeit lieber in den USA und verdienten sich dort ihre goldenen Nasen) und sie kamen auch: Gigli, Lauri-Volpi, Gilda Dalla Rizza, der wunderbare Tita Ruffo, Mafalda Favero und sogar Caruso und Schaljapin. Sie standen für höchste Sangeskunst, Toscanini für unerbittliche Werktreue allerhöchsten Anspruchs und das zusammen führte zu einer Referenzaufführung nach der anderen. So entstand eine Renaissance der italienischen Oper, die Anfang des 20. Jahrhunderts weltweit ihren Siegeszug antrat. (Wir erinnern uns: Speziell beim deutschen Publikum waren Opern wie Aida, Nabucco oder Lucia di Lammermoor, von Donizettis Köstlichkeiten ganz zu schweigen, als seichte Unterhaltung verschrien!) Wollte die Met, das Teatro Colon oder London oder oder … einen vernünftigen Verdi aufführen, holte man sich die Sängerinnen und Sänger, die in Mailand reüssiert hatten. So wuchs sehr schnell der Ruf der Scala als der Oper, an der man sich zu orientieren hatte, will man italienische Opern aufführen. Vollends zementierte sich dann dieser Ruf, als sich mit Furtwängler, de Sabata, Walter und Karajan die Creme der Dirigenten den Stab in die Hand gab und als Größen wie del Monaco, Tebaldi, di Stefano und schließlich die Callas in der Scala quasi zu Hause waren. Als dann auch noch Karajan, als er in den 1950er-Jahren künstlerischer Leiter der Wiener Staatsoper war, einen Vertrag mit der Scala machte, um sie zu Gastspielen an die Staatsoper zu holen, war klar: Es gibt nur eine Nummer 1 und das ist die Scala (der Name selbst ist schon Programm und klingen tuts ja auch richtig musikalisch). Fragen wir einfach nicht weiter nach (auch weil das eine sehr, sehr deutsche Eigenschaft ist), sondern genießen wir einfach, dass es so was Schönes wie die Scala gibt, machen wir unsere Reverenz vor dieser wundervollen italienischen Diva und werfen ihr Rosen zu. Sie hat es verdient.
»Hier war alles ein schöner, tiefbegeisterter Wille«
Diesen Satz schrieb Richard Wagner in seiner vorsichtigen Bilanz der ersten Bayreuther Festspiele 1876. Im Grunde ist das auch die Erklärung für den Mythos, der Bayreuth wurde – und der es von Anfang an war: der »schöne, tiefbegeisterte Wille«. Das fing 1810 an, als der wunderbare Dichter Jean Paul (1825 in Bayreuth gestorben) schrieb, »dass wir bis jetzt auf den Mann harren, der eine ächte Oper zugleich dichtet und setzt«. Dieser Mann wurde immer wieder als Wagner identifiziert, der seinerseits den Mythos Bayreuth in einer begeisterten Notiz weitertrieb, wenn er als alter Herr seiner Cosima in die Feder diktierte, wie er mit 22 Jahren »in das vom Abendsonnenschein lieblich beleuchtete Bayreuth« gekommen und quasi seitdem diesem Ort magisch verbunden sei. Alle haben am Mythos Bayreuth mitgewebt, am meisten aber der Meister selber, und es hat geklappt wie bei keinem anderen Mythos. Das ist umso erstaunlicher, als die Gründe für Bayreuth als Festspielort eher trivial und absolut egozentrisch waren, was es natürlich zu verschleiern galt. Die Ideen nämlich, die zu Bayreuth führten, kamen aus unterschiedlichen und eher praktischen Ecken: In den 1840er-Jahren, als Wagner auf Stoffsuche war und die abseitigsten Ideen hatte (Barbarossa finden wir in der Stoffsammlung, Wieland den Schmied, was ja immerhin germanischer Sagenkreis ist, dann Achilles, na ja, und, ganz weit vorn: Jesus von Nazareth, den er als Sozialreformer sah, sozusagen auf den Barrikaden von 1848 gekreuzigt), las er Aischylos und hatte von da an vor Augen, dass es im antiken Griechenland so etwas wie den attischen Tragödientag gegeben haben muss, den Tag, an dem in olympischer Abgeschiedenheit die Tragödie ein tagesumgreifendes Spiel für Frau, Mann und Kind war – vielleicht dachte er da schon an die Bayreuther Zelte, in denen man »für nach dem Zweiten Aufzug« die Weißwürste vorbestellen kann! Als dann sein Fürst und Gönner, der Ludwigl, gegen seinen Willen Rheingold in München uraufführen ließ (am 22.9.1869), war der Groschen gefallen: Dem genialen sächsischen Giftzwerg und Bilanzenfriseur wurde klar, was er wirklich wollte. Er wollte, dass seine Opern fernab vom Getriebe der Großstadt gespielt werden, wo man in der Oper gestern Verdi sang, heute Wagner spielte und morgen vielleicht gar Meyerbeer auffahren würde, wo die Primadonnen von intriganten Ministern von der Couch aus besetzt wurden und wo ein gehetztes Publikum nicht die Muße hatte, sich einem Werk wirklich widmen zu können, weil es von seinen Schreibtischen und Haushalten in die Oper lief. Er wollte in »seiner« Oper Wagner und nichts als Wagner – war er sich seines Erfolges so unsicher oder war das Gigantomanie?
Als bekannt wurde, dass Ludwig auch die Walküre in der Hofoper in München aufführen lassen wollte, war es aus. In einer weiteren Mythologisierung erzählt Cosima, dass sie und ihr Richard nach Bekanntwerden dieser Nachricht im März 1870 im Conversationslexikon das Stichwort »Baireuth« aufschlugen: »Diesen Ort hatte R. genannt als den, den er wählen wollte«, und damit waren die Dinge perfekt. Der Stadtrat von Bayreuth witterte Morgenluft – ich meine: stellen Sie sich doch bitte mal ein Leben in Bayreuth anno 1870 vor, oder? Da nimmt man doch alles, was kommt, oder glauben Sie, Selb, Weiden oder Bad Orb hätten sich einem Stockhausen verweigert, wenn der seine Ideen exklusiv dort hätte verwirklichen wollen?
Ein Grundstück war bald gefunden und ein Haus nach den Vorstellungen Wagners – natürlich! – alsbald gebaut. Wie jeder weiß, ging es ab da erst richtig los, Geld musste beschafft werden, gebaut werden musste, und zwar nicht nur das Festspielhaus, sondern auch gleich die Villa Wahnfried mit dazu (und der cholerische Barett-Träger war ein gefürchteter Bauherr, solange er fremdes Geld ausgeben konnte!), die abenteuerlichsten Finanzierungsideen wurden verworfen oder verwirklicht, Wagner schrieb Bettelbriefe über Bettelbriefe, dirigierte, reiste, beschaffte immer wieder Geld – und komponierte ›nebenbei‹ die Götterdämmerung weiter, und das, obwohl es einen bequemen Ausweg gegeben hätte: Bad Reichenhall lud ihn nicht nur ein, dort das Festspielhaus zu bauen, sondern bot ihm dazu sogar ihre 25-köpfige Kurkapelle an, was Wagner – wer weiß, warum? – allerdings ablehnte. Wär ja auch was gewesen: Tristan und der Isolden-Jodler!
Und nicht zu vergessen: In der Tropfsteinhöhle von Ludwig II. hätten nun wirklich nicht so viele Leute Platz gehabt wie im Festspielhaus, oder?! Sie sehen: Mythenbildungen en masse, Waldweben vom Feinsten, was Wunder also, dass für viele die Eröffnung der Bayreuther Festspiele am 13.8.1876 ein Wunder war.
Seitdem läuft der Hase, nur fragt man sich jedes Jahr aufs Neue: warum eigentlich?
Diese Frage ist nur zu beantworten, wenn man von den Mythen absieht, vom Gewabere und Gewebe ablässt und einfach mal aufs Augenscheinliche schaut.
Bayreuth ist Mythos, weil:
der Komponist und Dichter es selbst eingerichtet hat, was bis heute den Geruch des Authentischen gibt;
es deshalb stilvoller ist, in Bayreuth Wagner zu singen als in Bielefeld, Mailand oder Chongqing;
es eine Reihe interessanter bis genialer Familienmitglieder gegeben hat (ich sage nur: Wieland Wagner), die für so etwas wie genetische Kontinuität gesorgt haben (bis hin zur typisch Wagner’schen Streitkultur);
Bayreuth in einer Gegend liegt, in der es ohne Anstrengung möglich ist, sich völlig unabgelenkt auf das abendliche Bühnenereignis einstimmen zu können, wobei diese Gegend obendrein schön ist, hohen Freizeitwert hat und – was den Franken besonders wichtig ist – nicht den Bayern gehört;
wer Wagner liebt, nur dort unter Gleichgesinnten ist, weshalb Bayreuth eben nicht vertikal elitär ist im Sinne von »Merkel kommt morgen, Gottschalk war gestern hier«, sondern horizontal elitär im Sinne von: Wer hier ist, mag Wagner, sonst wäre er nicht hier und das verbindet auf eine familiäre Art, das gibt den Gleichklang der »Bayreuther« denen es wurscht ist, ob einer in der Pause Austern schlürft oder das Mitgebrachte isst;
Parsifal für alle gleich lang ist;
Bayreuth letztlich so etwas wie ein Wave-Gothic-Treffen ist: in der Harmonie einer abgeschiedenen schönen Landschaft treffen sich schön gekleidete Menschen, die am Werk Wagners Freude haben, und ziehen sich ungestört von U-Bahnen, Demos oder Flughäfen den Herrn der Ringe rein, setzen mit Tristan ans andere Ufer und suchen verzweifelt nachts nach dem Venusberg: so was gibt es nämlich in Bayreuth nicht und das ist ja auch schön, oder?;
es dort den wundervollen Deckel über dem Orchestergraben gibt, weil schon Wagner den Blick ins Orchester nicht mochte (und jeder, der bei den Salzburger Festspielen die Herren Philharmoniker während der Opernaufführungen aus und ein gehen sieht, teilt diese Abneigung). Und weil Wagner selbst diesen Deckel, den er im Konservatorium von Paris gesehen und für total modern gehalten hatte, auf den Orchestergraben setzte, gilt auch der Klang von Bayreuth als der einzig legitime Wagner-Klang. Nur so könne man die Sänger hören und das Orchester könne so laut spielen, wie es der Klang erfordert: is ja der Deckel drauf! (Gepfiffen! – kann ich da nur sagen! Ich habe unter der Leitung von Herbert von Karajan in Wien am 23. Juni 1963 »Tristan und Isolde« gesehen: Die Wiener Philharmoniker spielten ungedeckelt und man hörte dennoch jeden Ton von Birgit Nilsson, Hans Beirer, Otto Wiener und Hans Hotter, dass es eine Freude war. Das also kann nicht der Grund sein, warum man nach Bayreuth fährt.)
Kurz und gut:
Bayreuth ist Mythos, weil Wagner einfach tolle Musik geschrieben hat, die zum anderen auch noch »mehrheitsfähig« ist, d.h. die vielen Menschen aus unterschiedlichsten Gründen gefällt, ohne deshalb massenkompatibel zu sein. Es ist Kino vom Allerfeinsten aus einer Zeit, in der man dafür noch Zeit hatte. Ist das nicht wunderbar? Wen stört es da noch, dass man auf eine Karte zehn Jahre warten muss – falls man nicht gerade bei der FDP ist.
Das alles heißt: Den Gral braucht man nicht mehr zu suchen (weder im Da Vinci Code noch sonst wo): Bayreuth selbst ist es und Wagner hat ihn im Grundstein zum Festspielhaus eingelassen, ganz bestimmt mit »schönem, tiefbegeistertem Willen«! Nämlich den Spruch:
»Hier schließ ich ein Geheimnis ein,
so lange es verwahrt der Stein,
da ruh’ es viele hundert Jahr’;
macht es der Welt sich offenbar.«
Na, das sagt doch alles!
Und heute? Was macht die Chill-Generation, von der es heißt, sie würde sich nicht für Oper und so ’n Silberlocken-Gedöns interessieren? Pustekuchen: Sie haben Bayreuth als Event entdeckt: sitzen draußen (wie in Salzburg auch immer wieder), vor Flat-Screens, Kaltgetränke in der Hand und genießen Wagner wie den Herrn der Ringe. Und jetzt mal Hand aufs Herz: Ist ja sooo schlecht auch wieder nicht, oder? Prosten wir ihnen zu und registrieren wir: Jede Generation definiert auf ihre eigene Weise Kunst, Musik, kurz: die Wirklichkeit. Seien wir also nicht kulturpessimistisch, das sind bittersüße sentimentale Zähren, die niemanden weiterbringen, uns auch nicht.
Ich kenne allerdings auch Leute, die nicht wegen Richard Wagner nach Bayreuth fahren. Sie fahren wegen Jean Paul da hin, der wohl nie mehrheitsfähig wird – was für Feinschmecker!
1792–1868
Gioachino Rossini: geboren am 29. Februar 1792 in Pesaro, gestorben am 13. November 1868 in Paris-Passy.
Heute wie damals scheiden sich die Geister an ihm. Geschmäcklerisch wurde und wird er von denen genossen, die nach der Oper einen Drei-Sterne-Tisch bestellen, naserümpfend wurde und wird er weggeschnäuzt von denen, die Askese für Kunst, Kinderkriegen für Schicksal und Liebe für ein Beichtgeheimnis halten. Den einen ist er die seidene Leiter der Koloratur in den siebten Sopranhimmel, den anderen Kirmesgejammer im Katzenduett (das übrigens nicht mal von ihm ist) mit eingebautem Brechreiz.
Rossini lag immer quer und das tut er heute noch. Seinen Zeitgenossen war er Revolutionär und Reaktionär zugleich und uns fällt es immer noch schwer, jemanden wertzuschätzen, der sich augenzwinkernd und freiwillig zwischen U- und E-Musik setzte.
Wie kann man auch einen Komponisten ernst nehmen, der lieber kochte als Partituren schrieb, der für ein schönes Bonmot eine Arie zu opfern bereit war, der sogar dem himmlischen Sendungsbewusstsein, das wir heute noch bereitwilligst jedem Komponisten unterstellen, irdisches Vergnügen entgegenhielt, ja, der sogar behauptete, seine göttlichen Einfälle habe er nur seiner Faulheit zu verdanken?
Da liegt er im Bett, möchte eigentlich schlafen, muss aber für diese Hyäne Barbaja – der Impresario seiner Zeit – muss also für diesen Barbaja eine Oper fertigschreiben, da fällt ihm – ausgerechnet vor dem Einschlafen – ein Duett ein. Schnell schreibt er es hin, da entgleitet das Notenblatt der müden Hand und segelt unters Bettgestell. Verzweiflung? Haareraufen? Kabelbrand im Herzschrittmacher? Jetzt nicht den göttlichen Funken verlieren? Nein, nicht bei Rossini. Eine geschlagene Viertelstunde lang überlegt er: Soll ich raus aus den warmen Federn oder nicht? Wer von uns Sinnlichen könnte das nicht nachfühlen? Zumal: Zentralheizung und Wärmethermostate gab es damals noch nicht. Was macht Rossini? »Vergiss es! Ich schreib’s noch mal, kann nur besser werden!«, tuts und schläft ein. Am nächsten Morgen besucht ein Freund den noch Schlafenden. Rossini bittet ihn, das Blatt unterm Bett hervorzuangeln, er guckt es sich an, prüft, stellt fest, dass die beiden Kompositionen überhaupt nichts miteinander gemein haben, und macht aus beiden – ein neues Terzett!
Doch ich greife vor.
Zunächst kam er unter einem nicht besonders freundlichen Stern zur Welt: 29. Februar! Das heißt schon mal per se: Geburtstag? Ja! Aber nur alle vier Jahre! Ich kenne keinen Komponisten von Rang, der dieses Schicksal mit ihm zu teilen hätte. Und was da noch alles drumherum war!
Mal war sein Geburtsort, die umbrische Hafenstadt Pesaro, päpstlich, mal napoleonisch, mal eigenständig. Keiner wusste Bescheid, jeder richtete sich nur nach der Tageszeit, und der Papa von Rossini hing jedes Mal, wenn die Franzosen wieder kamen, einen Zettel an die Tür: »Wohnung des Bürgers Vivazza, eines wahren Republikaners« (Vivazza war der Spitzname des Papas), und holte die Büste von Papst Urban VIII. vom Sockel. Wenn die Franzosen wieder weg waren, stellte er sie wieder drauf. Normal.
Mittendrin in dem Bohei unser kleiner Gioachino. Papa war Trompeter und Hornist, hupte mal bei der Stadt, dann in einem Polizeiblasorchester, dann wieder im Operngraben. Mama, eine wunderschöne Frau, sang im Umkreis von 150 Kilometern auf diversen Opernbühnen kleine Rollen (ohne Notenkenntnis, rein ›all’orecchio‹, nach Gehör, sie muss also wohl die wirklich Musikalische in der Familie gewesen sein). Wenn das nicht reichte, ließ sie sich von Honoratioren zu gut honorierten Körperkoloraturen überreden, was ihre Schwester – möglicherweise nicht minder künstlerisch – zum Beruf ausgestaltete. Jedenfalls: Der kleine Gioachino war mehr bei seiner Oma, als ihm – psychologisch gesehen – guttat. Ein Biograf drückte es so aus: Non ebbe infanzia artistica e fu subito lui – frei übersetzt: Er hatte keine Künstlerjugend, also war er sofort er selbst.
Ja, was willst du machen, wenn keiner da ist …!
Dem Pubertierenden und Mann hat das sicher gutgetan: In dieser – zumindest erotisch – eher freizügigen Jugend brauchte er durch keine dunklen Gässchen zu schleichen, um dem Rätsel Frau auf die Spur zu kommen. Er hatte ab etwa zwölf Jahren seine regelmäßigen Alliancen, eine Gewohnheit, die er durchhielt, bis er mit 54 Jahren Olympe Pélissier heiratete – was aber mehr mit der zunehmenden Unfähigkeit zu solcherlei Alliancen zu tun hatte (zum Beispiel wegen der damit verbundenen Heimlichtuereien, die schwierig werden, wenn das Kurzzeitgedächtnis nachlässt …) als mit irdischer Liebe, aber davon später mehr.
Der kleine Gioachino schnappte hier was auf und dort, lernte hier ein bisschen und da und schnappte doch immer wieder das Richtige auf. Die Lehrer, soweit er welche hatte, beschreiben ihn als faul, zu Streichen aufgelegt und ungehorsam. Er heimste sich diverse Strafen für seine Streiche ein, zum Beispiel musste er beim Schmied in Pesaro den Blasebalg treten, und als das nichts half, wurde er einem Schweineschlächter in Bologna zur Pflege übergeben. Man stelle sich vor, was herausgekommen wäre, wenn Rossini später das Libretto des Zigeunerbarons vertont hätte! Ein Freund, Francesco Genari, schrieb dem 73-jährigen Rossini in einem Brief:
»Im Nacken habe ich noch die verheilte Narbe, die durch einen von Ihrer Erlauchten Exzellenz nach mir geworfenen Steine verursacht wurde. Dies geschah zu der Zeit, als es Dir Spaß machte, in die Sakristeien einzubrechen, um die Messkännchen zu leeren, und als Du eher ein Problem als ein Vergnügen für die ganze Welt warst.«
Dann gewannen die Päpstlichen, was für die Familie bedeutete, dass sie auf Tour mussten. Dummerweise legte sich der Papa auch gleich noch mit den Österreichern an – und das Haus Habsburg hat noch nie Spaß verstanden, wenn es um Aufruf zur Revolution ging – und ging für fast ein Jahr ins Gefängnis. Als dann Napoleon die Habsburger besiegte, kam er wieder raus.
Das war übrigens in der berühmten Schlacht von Marengo, am 14. Juni 18oo, in der Napoleons Koch das »Huhn Marengo« kreierte. Ob vielleicht hier die Wiege für Rossinis Gaumenlust zu suchen ist? Man weiß es nicht.
Jedenfalls zogen die Rossinis nun durch die Gegend, der kleine Gioachino spielte und sang und trug so auch zum Lebensunterhalt aller bei, schrieb seine ersten Kompositionen – dazu kommen wir gleich – und landete schließlich als 14-Jähriger in Bologna am Liceo musicale, wo er neben Gaetano Donizetti an beziffertem Bass und Kontrapunkt verzweifelte. Weil er aber so schön singen konnte, wurde er in die Accademia Filarmonica di Bologna aufgenommen, was ungefähr so viel bedeutete, wie in den Festausschuss Kölner Karneval berufen zu werden. Mindestens. Plötzlich war er in Bologna prominent – als Sänger. Und weil er die deutsche Musik so liebte, wurde er »il tedeschino«, der kleine Deutsche, genannt. (Von Rossini stammt übrigens der wunderschöne Satz über Mozart: »Er ist die Bewunderung meiner Jugend, die Verzweiflung meiner Reifejahre und der Trost meiner alten Tage.«)
So langsam also lernte er den Geschmack des Erfolgs kennen.
Er sang auf Opernbühnen, er spielte Cembalo im Orchestergraben und überhaupt: er war in der Oper jetzt zu Hause.
Mit 16 bekam er seinen ersten Opernauftrag in Venedig und so viel Geld, wie er bis dahin auf einem Haufen noch nie gesehen hatte.
Und ab da bahnt sich das Genie seinen Weg.
Gut – er hatte beste Voraussetzungen, wenn nicht musiktheoretisch, so doch musikantisch. Weil er sozusagen in der Kulisse aufwuchs, konnten ihm keine Sängerin und kein Sänger etwas vormachen, er wusste alles. Und weil er auf vielen Instrumenten dilettierte, kannte er wie kaum ein anderer die Möglichkeiten, aus ihnen Effekte zu zaubern. Weil er aber vor allen Dingen aus der Aufführungspraxis kam – lange bevor er Musikunterricht hatte –, wusste er, wie man ein Publikum bezaubern kann.
Wo wir gerade bei Sängerinnen und Sängern sind! Rossini hörte sich – bevor er eine Arie schrieb – die jeweiligen Stimmen sehr genau an, klopfte sie nach Stärken und Schwächen ab und komponierte dann quasi mundgerecht. Und alle dankten es ihm, besonders die schlechten. So hatte er zum Beispiel in einer Aufführung des »Ciro di Babilonia« eine schauderhafte Seconda Donna vor sich. Rossini schreibt: »Sie war nicht allein über die Erlaubnis hässlich, auch ihre Stimme war unter aller Würde. Nach der sorgfältigsten Prüfung fand ich, dass sie einen einzigen Ton besaß, das B der eingestrichenen Oktave, welcher nicht übel klang. Ich schrieb ihr daher eine Arie, in welcher sie keinen anderen als diesen Ton zu singen hatte, legte alles ins Orchester und da das Stück gefiel und applaudiert wurde, so war meine eintönige Sängerin überglücklich über ihren Triumph.« Was für ein rücksichtsvoller Komponist, was für ein galanter Mann!
Dass er das alles wusste und anwandte, hat ihm – bis heute – den Vorwurf der Effekthascherei eingetragen, der schnellen Verführung. Dabei war er – finde ich – nur einer von jenen Komponisten, die sozusagen auf direktem Wege komponierten: aus der Hand in die Gurgel, hätte Mozart gesagt. Keine theoretischen Überfrachtungen, kein titanisches Ringen mit den Göttern, kein überhöhtes Sendungsbewusstsein. Erst mal war für Rossini eine Oper ein Ereignis des jeweiligen Abends, danach erst kam der Gedanke an die Ewigkeit.
Unterliefen ihm zum Beispiel in seinen Partituren manchmal Verstöße gegen die klassischen Tonsatzregeln – und er wusste natürlich, dass die Kritiker auf so etwas warteten –, dann änderte er nicht etwa die Noten, sondern schrieb nur an den Rand: »per soddisfazione dei pedanti – zur Befriedigung der Korinthenkacker!«
Und was die geistigen Höhenflüge betrifft, sei Folgendes erzählt:
Louis Engel fragte Rossini, ob das großartige »Gebet des Moses« (die preghiera aus der Oper »Mosè in Egitto«) entstanden sei, als er verliebt, hungrig oder elend war, denn Hunger und Liebe hätten die Macht, Menschen inspiriert arbeiten zu lassen. Rossini antwortete ihm: »Ich werde Ihnen etwas erzählen. Ich hatte etwas Pech, ich kannte eine Prinzessin B., eine der leidenschaftlichsten Frauen, die es gibt, begabt mit einer großartigen Stimme; mit Duetten, Gesprächen etc. hielt sie mich eine ganze Nacht lang wach. Kurz nach dieser kräfteraubenden Vorstellung musste ich einen Kräutertrunk zu mir nehmen, der vor mir stand, als ich das ›Gebet‹ schrieb. Wie ich nun den G-Moll-Chor schrieb, tauchte ich plötzlich meine Feder aus Versehen in die Arzneiflasche statt in das Tintenfaß; es gab einen Klecks, und während ich ihn mit Sand trocknete (damals gab es noch kein Löschpapier), gewann er immer mehr die Form eines Auflösungszeichens. Daraufhin überlegte ich mir sogleich, welche Wirkung es wohl habe, wenn ich von G-Moll nach G-Dur überginge – und wenn dies nun eine positive Wirkung hat, dann verdankt die Stelle sie jenem Klecks.«
Schon seine erste Oper »La cambiale del matrimonio« war ein Erfolg und ab 1812 (da war er zwanzig) ging es Schlag auf Schlag. Zwei, drei, manchmal vier Opern pro Jahr schrieb er in rasender Kreativität, die Wichtigsten seiner Zeit buhlten um ihn, Barbaja zum Beispiel, ohne den im damaligen Opernleben Italiens nichts und mit dem alles lief. Zehn Jahre lang raste Rossini quasi von Erfolg zu Erfolg. Neapel, Bologna, Mailand, Rom, Venedig. Natürlich war da auch mal ein Misserfolg dazwischen, er reagierte aber souverän auf solche Ereignisse.
1812 zum Beispiel fiel in Bologna sein biblisches Oratorium »Ciro di Babilonia« krachend durch. Was machte Rossini? Er bestellte beim Konditor eine Marzipantorte in Form eines Schiffes, das den Namen Ciro trug: zerbrochener Mastbaum, Löcher in den Segeln und massive Seitenlage, so lag das Schiff in einem Meer aus Sahne. Und die Premierengesellschaft, Rossini allen voran, verzehrte lachend das gescheiterte Fahrzeug!
39 Opern in 19 Jahren. Da musste einer schon sehr schnell schreiben können! »La Cenerentola« schrieb er in drei Wochen, den »Barbiere di Siviglia« gar in zwei Wochen. Oft genug legte er noch am Premierenabend den Musikern die noch von Tinte feuchten Notenblätter für die Ouvertüre auf die Pulte, oft genug sperrten ihn die Impresari ein, um sicherzustellen, dass er die Oper noch rechtzeitig hinkriegte.
Kurz vor Rossinis Tod bat ihn ein junger Komponist um Rat, wann man denn am besten das Vorspiel zu einer Oper schreiben solle. Rossini antwortete 1868 wie folgt: »Wartet bis zum Abend vor dem Tag der Aufführung. Nichts regt die Eingebung mehr an, als die Notwendigkeit, die Gegenwart eines Kopisten, der auf Eure Arbeit wartet, und das Drängen eines geängstigten Impresarios, der sich in Büscheln die Haare ausrauft. Zu meiner Zeit hatten in Italien alle Impresari mit dreißig Jahren eine Glatze.
Das Vorspiel zum ›Othello‹ habe ich in einem kleinen Zimmer des Palastes Barbaja komponiert, wo der kahlköpfigste und wildeste aller Direktoren mich nur mit einer Schüssel Maccaroni und unter der Drohung, mich nicht eher aus dem Zimmer herauszulassen, bis ich die letzte Note geschrieben hätte, gewaltsam eingeschlossen hatte.
Das Vorspiel zur ›Diebischen Elster‹ habe ich am Tage der Uraufführung unter dem Dach der Scala geschrieben, wo mich der Direktor gefangen gesetzt hatte. Ich wurde von vier Maschinisten bewacht, die die Anweisung hatten, meinen Originaltext Blatt für Blatt den Kopisten aus dem Fenster zuzuwerfen, die ihn unten zur Abschrift erwarteten. Falls das Notenpapier ausbleiben sollte, hatten sie die Anweisung, mich selbst aus dem Fenster zu werfen.
Beim ›Barbier‹ machte ich es mir einfacher: ich komponierte gar kein Vorspiel, sondern nahm das für die halbernste Oper ›Elisabeth‹ bestimmte. Das Publikum war höchst zufrieden.
Das Vorspiel zum ›Graf Ory‹ habe ich beim Fischfang mit den Füßen im Wasser in Gesellschaft des Herrn Aguado geschrieben, während dieser mir einen Vortrag über die spanischen Finanzverhältnisse hielt …«
Und das alles, weil er so faul war. Rossini ist der Klassiker des alten Paradoxons: Nur der Faule ist wirklich fleißig.
Donizetti antwortete einem Kollegen auf die Frage, ob Rossini seinen Barbier wirklich in nur 14 Tagen komponiert habe: »Das könnte sein – er war immer ein schrecklicher Faulpelz!«
Aber sein Erfolg war ungeheuer. Nachdem er Italien erobert hatte – und dabei auch noch die sieben Jahre ältere Isabella Colbran heiratete, die Callas seiner Zeit quasi, was er allerdings (genauso wie Onassis) ziemlich bereuen musste –, kam Europa dran. Zum Beispiel 1822 Wien, das in einen Rossinitaumel verfiel. Schubert war hin und weg und schrieb eine Ouvertüre im italienischen Stil, Rossini seinerseits besuchte Komponisten, natürlich auch Ludwig van Beethoven.
Und das beschreibt er so: »Ich stieg die Treppe zu der ärmlichen Wohnung des großen Mannes Beethoven hinauf … Dort fand ich mich auf einer Art Dachboden wieder, der völlig in Unordnung und überaus dreckig war. Besonders erinnere ich mich an die Zimmerdecke. Sie befand sich unmittelbar unter dem Dach und ließ Risse erkennen, durch die sich bei schlechtem Wetter wohl Regen in Strömen hernieder ergoss …«
Dann Paris, dann London, dann wieder Paris und da blieb er erst mal bis 1829, dem Jahr, in dem er seinen »Wilhelm Tell« schrieb, der unter ungeheurem Triumph aufgeführt wurde. Er wurde als größter lebender Komponist gefeiert und was tat er? Er nahm seinen Hut und zog sich von der öffentlichen Szene zurück!
Was für eine Entscheidung!
Da ist also einer, dem die Musikwelt zu Füßen liegt, der alles erreicht hat, was ein Komponist erreichen kann, quasi Andrew-Lloyd-Webber-mäßig, der zwar gestraft ist mit einer Primadonna als Ehefrau (die er zum Glück nur selten sah) und der mit seiner Gesundheit auch nicht zufrieden sein kann (dazu später mehr), der sich aber jetzt mit seinen 37 Jahren in Ruhe auf große kompositorische Aufgaben stürzen könnte, was weiß ich: Vertonung der Bibel oder des Code Napoléon oder so. Und was tut er? Lüpft den Hut, sagt artig: »Das war’s!«, und ab in die Küche!
Frech! So empfanden es die Zeitgenossen.
Er hörte also auf. Hat er wirklich aufgehört? Quatsch. Er hat das getan, was so mancher tun sollte: Er hat sich auf dem Höhepunkt aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen, um von da an heiter-souverän beobachtend zu kommentieren, was passiert, und eher mit dem Pfeil eines Bonmots einzugreifen als mit dem Donnerschlag neuer Opern. Er hat sich Zeit dafür genommen, sein eigenes Leben zu leben.
Und natürlich hat er weiter komponiert. Nicht nur große Werke wie das »Stabat mater« oder die »Petite messe solennelle«, sondern darüber hinaus jede Menge Piècen für Klavier mit den amüsantesten Titeln wie »Rizinusöl – ein kleiner Walzer«, der natürlich besondere Geläufigkeit erfordert, oder »asthmatische Etude« oder »4 Horsd’œuvres: Radieschen – Anchovis – Cornichons – Butter« oder »Fehlgeburt einer Mazurka«. Stücke, die nicht nur Vorläufer von Erik Satie sind, sondern in ihrer oft ironischen Art eine fast neue Musikgattung darstellen. Vielleicht nicht unbedingt geeignet für den großen Konzertsaal, aber deshalb beileibe nicht von minderer Qualität.
Er komponierte also weiter und das Centro Rossiniano in Pesaro wird noch Jahre damit zu tun haben, alle Schätze aus dem Nachlass zu heben.
Rossini antwortete dem Sohn von Karl Maria von Weber, als der ihn fragte, warum er nichts mehr für die Bühne schreibe:
»Seien Sie still – sprechen Sie zu mir nicht davon! Außerdem komponiere ich dauernd. Sehen Sie diesen Schrank voll Noten? All das habe ich seit Guillaume Tell geschrieben. Aber ich veröffentliche nichts, und ich komponiere, weil ich nicht anders kann.«
Außerdem suchte er ein anderes Publikum, wie ein Besucher erzählte: Er habe Rossini sich mit einer Komposition abmühend angetroffen und auf die Frage, was das denn werde, zur Antwort bekommen: »Heute hat mein Hund Geburtstag und ich schreibe jedes Jahr ein Stück für ihn.«
Kurz und gut: Es mag wohl vieles eine Rolle gespielt haben bei diesem Rückzug aus dem öffentlichen Leben. Sicher aber nicht Resignation oder Ähnliches. Vielleicht nur eine Verlagerung seiner Kreativität.
Was er nämlich tatsächlich tat, war: Hof halten in seiner Pariser Wohnung und in seiner Villa in Passy bei Paris, wo er legendäre Soireen veranstaltete (samedi soir chez Rossini!), sich um junge Komponisten kümmern, die er für talentiert hielt, und sie fördern und – kochen.
Alle drei Bereiche verlangen, will man es richtig gestalten, hohe Kreativität und Fingerspitzengefühl. Zu viel Salz im Rezept, zu viel Honig in Empfehlungsschreiben oder zu viel Selbstinszenierung bei Soireen lassen alles ins Gegenteil kippen.
Also schreibt er an seine erste Frau: »Was Sie wohl am meisten interessieren wird, viel mehr als meine Oper, ist die Erfindung eines Salates, die ich kürzlich machte, und ich beeile mich, Ihnen das Rezept zu senden. Nehmen Sie Provence-Öl, englischen Senf, französischen Essig, Salz und Pfeffer und mischen Sie alles zusammen. Werfen Sie einige Trüffeln dazu, die Sie zuvor ganz fein geschnitten haben. Die Trüffeln mit der Salatsauce ergeben ein Aroma, das den Feinschmecker zur Ekstase reizt … Die Trüffel ist fürwahr der Mozart der Pilze.«
An einen Grafen schreibt er: »Herr Graf, ich bat Euch um geräucherte Fleischwaren, nicht um Orden. Diese kann ich überall haben; die Fleischwaren dagegen sind Eure Spezialität. Ich sende Euch Patent und Insignien zurück.«
Er erfand die Cannelloni und viele Salatsaucen. Die Tournedos à la Rossini hingegen hat er nicht erfunden. Die Idee, Trüffel und Gänseleber mit Rinderfilet zu kombinieren, mag ihm gekommen sein, ausgeführt hat sie ein Profi. Soweit wir wissen: Carême, der Große.
Rossini konnte sich tagelang über Stracchino-Käse, Gorgonzola, Trüffeln und den besten Metzger unterhalten. Es gibt Briefe über Briefe, in denen er seine italienischen Freunde um Salami, Cacciatori, Parmesan und Ähnliches bittet. Es gibt quasi Diplome, die er besonders verdienten Bäckern und Metzgern schickte. Und es gibt eine Legion von Anekdoten.
Ein neuer Importeur italienischer Delikatessen macht sich in Paris bekannt. Rossini sucht ihn auf. »Haben Sie Maccaroni aus Napoli?«
»Ma si, signore, ecco, maccaroni napolitani, meravigliosi, senta l’odore, mhmm, c’è il golfo, c’è il vesuvio, c’è tutta Napoli.«
»Von wegen Napoli. Diese Maccaroni sind aus Genua.«
»Napoli!«
»Genua!«, sagt Rossini und geht.
»Wer war dieser Signore?«, fragt der Importeur Herrn Michotte, einen Freund Rossinis.
»Das war der berühmte Komponist Rossini, mein Herr«, entgegnet dieser.
»Kenne ich nicht«, sagt der Importeur, »aber wenn er so viel von Musik versteht wie von Maccaroni, dann muss er ein großer Komponist sein!«
Er war nicht besessen vom Kochen und er war auch nicht ein monothematischer Gourmet, der sich ab vierzig nur noch den zehn Zentimetern Gaumen hingegeben hätte. Er war einer, der zu leben verstand und der deshalb auch neidfrei fördern und helfen konnte. Bellini, Donizetti, Auber und den jungen Verdi – um nur einige zu nennen – förderte er selbstlos, half ihnen mit Geld, Empfehlungsschreiben, Tipps und seinem Namen. Er blieb auf dem Laufenden, würde man sagen, weil ihn brennend interessierte, wo neue Talente waren.
Und dann kam der legendäre März 186o mit einem »Treffen der Titanen«. Richard Wagner meets Rossini!
Im Vorfeld schon sind beide übereinander hergezogen, dass es nur so krachte. Wagner hatte vernichtende Aufsätze über Rossinis Opern geschrieben, in denen er ihm Publikumsbuhlerei auf Kosten der Kunst vorwarf und Rossinis Hm-Ta-Hm-Ta-Begleitung im Orchester als »monströse Guitarre« bezeichnete.
Und bei der Arbeit am Lohengrin hatten ihn »zu höchster Pein«, wie er schrieb, Rossini’sche Melodien aus dem Wilhelm Tell geplagt, den er zu dirigieren hatte. Wagner fiel nichts mehr ein. Da kam er auf die Idee, Beethovens Neunte vor sich hin zu trällern, und siehe da: Das half.
Andererseits war Rossini auch nicht auf den Mund gefallen. Über den »Tannhäuser« hatte er zu Auber gesagt: »Diese Musik muss man mehrmals hören. – Ich gehe nicht wieder hin!« Und: »Bei Wagner gibt es schöne Momente – aber fürchterliche Viertelstunden.«
Gute Voraussetzungen also für das Treffen der Giganten, das allerdings recht unterschiedliche Voraussetzungen hatte.
Wagner weilte in Paris, um die Tannhäuser-Aufführung vorzubereiten. Er antichambrierte bei allem, was Rang und Namen hatte, weil er sich Entrees verschaffen wollte, so auch bei Rossini.
Rossini hingegen wollte von Wagner nichts, er war lediglich neugierig auf den jungen, umstrittenen Opernerneuerer, den er insgeheim sehr schätzte. (Das Treffen ist wörtlich protokolliert worden von Herrn Michotte, dem damaligen Privatsekretär Rossinis – und nachlesen können Sie es in in der Taschenbuchausgabe von »Bohème suprême«, dem zweiten Opernführer aus meiner Feder.)
So waren die Positionen klar, die Florette ausgetauscht und es entwickelte sich dann ein – übrigens absolut lesenswertes – Gespräch, in dem Wagner sein Konzept der Oper als Gesamtkunstwerk darlegte, Rossini zunächst skeptisch blieb, dann aber, als Wagner raffiniert Beispiele für seine Thesen aus Rossinis Opern holte, Wagner immer geneigter zuhörte, wurde ihm doch die Rolle eines Wegbereiters zuerkannt. Schließlich beendete Rossini das Gespräch in einer einzigartigen Mischung aus heiterer Altersresignation, Anerkennung des Neuen und gleichzeitiger Skepsis – ich zitiere:
»Mein lieber Herr Wagner, ich kann Ihnen nicht genug danken für Ihren Besuch und besonders für die so klare und interessante Darlegung, die Sie mir von Ihren Ideen gütigst gegeben haben. Ich, der ich nicht mehr ›setze‹ (also: komponiere) und in einem Alter bin, wo man eher sich zersetzt, in Erwartung, dass ich mich noch einmal für alles Gute auseinandersetzen werde – ich bin zu alt, um meine Blicke nach neuen Horizonten zu richten; aber Ihre Gedanken – was auch Ihre Feinde sagen mögen – sind dazu geschaffen, der Jugend zu denken zu geben. Von allen Künsten ist die Musik ihres idealen Wesens wegen am meisten zu Neuerungen bestimmt, und es gibt da keine Grenzen. Nach Mozart – wer hätte Beethoven geahnt! Nach Gluck – wer Weber! Und auch nach diesen ist es gewiss nicht zu Ende. Jeder sollte versuchen, wenn nicht vorwärtszukommen, so doch wenigstens Neues zu suchen … Was mich betrifft, ich gehörte meiner Zeit an. Die Aufgabe anderer, besonders eines Mannes wie Sie, … ist es, Neues zu machen und damit Erfolg zu haben, was ich Ihnen von ganzem Herzen wünsche.«
Was für eine heitere Souveränität.
Wagner war natürlich entsprechend beeindruckt und hat seit diesem Gespräch nie mehr ein böses Wort über Rossini verloren.
Und noch eine kleine Sensation gibt es zu berichten aus dem Leben dieses erfolgreichen heiteren Melancholikers: Er wäre beinahe Sopran geblieben.
Das mag um 18oo nicht ganz verwunderlich sein, denn die Kastraten waren in dieser Zeit noch in guter Erinnerung, ja, es gab sogar noch welche. Georg Christoph Lichtenberg schrieb in seiner »Ausführlichen Erklärung der Hoghartischen Kupferstiche« über Kastraten: »Man kann sich keine Vorstellung machen von dem Reiz der Stimme und der vollendeten Virtuosität, die – mangels eines gewissen Etwas und zum wohltätigen Ausgleich – diese braven Leute besaßen. Sie waren auch unvergleichliche Gesangslehrer. Ihnen war allgemein der Gesangsunterricht in den den Kirchen angegliederten und auf deren Kosten unterhaltenen Schulen anvertraut, von denen einige berühmt waren. Die Schüler strömten ihnen in Menge zu, und eine Anzahl von ihnen verließ den Singchor, um sich der Theaterlaufbahn zu widmen.«
UM EIN HAAR