Das Duell

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Es ist der Sommer des Jahres 2003. Sie kennen sich schon lange, beinahe fünfzig Jahre lang. Als sie sich das erste Mal trafen, 1958 im Grandhotel Bristol in Warschau, hatten sie schon ein ganzes Leben hinter sich. Aber ihre gemeinsame Geschichte, ihr Ruhm, die Romane, die Verrisse, die Liebeserklärungen, die Tränen und die Wut, ihr Leben als untrennbares Paar der deutschen Literatur – das lag alles noch vor ihnen. Der SS-Mann und der Jude. Der Dichter und sein Kritiker. Die beiden Deutschen aus Polen. Verstrickt in eine lebenslange Liebesgeschichte mit der Literatur.

So ist es. Sie wissen es beide. Jetzt stehen sie sich hier in Lübeck gegenüber. Der Schriftsteller Günter Grass und der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. »So hängen wir aneinander und tragen uns unsere Zerwürfnisse nach«, wird Grass später über dieses Treffen schreiben. Und bedauernd hinzufügen: »Ich hätte ihn umarmen sollen.« Als Marcel Reich-Ranicki das später liest, wird er ausrufen: »Wissen Sie was? Grass hat recht. Wir hätten einander wirklich umarmen sollen.«

Doch es ist zu spät. Es wird ihr letztes Treffen bleiben.

Marcel Reich. 1920–1929

Ein kleiner Junge lehnt im weißen, kurzen Hosenanzug mit Frotteegürtel, in weißer Strumpfhose und schwarzen Schnallenschühchen an der Rückenlehne eines Jugendstil-Sofas. Die linke Hand auf die goldenen Holzblümchen neben sich gestützt. Etwas pausbäckig, leicht schiefer Pony. Er schaut fragend. Nicht streng, eher ein wenig verwundert. Es ist das Jahr 1922 oder 1923, wir sind in einem Fotoatelier in Włocławek an der Weichsel.

Der andere ist noch viel kleiner. Er liegt auf einem Schafsfell nackt auf dem Bauch, vor sich ein weißes Kätzchen drapiert, das ihn aber nicht zu interessieren scheint. Er wirkt ein wenig beleidigt. Als wenn er gleich weinen möchte. Auf jeden Fall will er wohl nicht auf diesem Fell liegen. Im Hintergrund verschwommene Blumen auf einer Fototapete, sie sehen aus wie Palmen am Strand. Das Bild ist in Danzig-Langfuhr aufgenommen worden, gut 220 Kilometer nördlich von Włocławek und gut vier Jahre nach der Aufnahme des staunenden Jungen mit dem Frotteegürtel.

Włocławek gehörte bis 1918 zu Russland. Inzwischen liegt das Städtchen im Herzen der Zweiten Polnischen Republik. Doch 1920, im Sommer von Marcels Geburt, droht es mit dieser schon wieder zu Ende zu gehen. Sowjetische Armeen sind nach Polen eingedrungen, stehen wenige Kilometer vor Warschau und auch hier, in Włocławek. Marcel Reich ist wenige Monate alt, als er mit seiner Familie zum ersten Mal flieht. Sie fahren mit dem Dampfer die Weichsel hinauf, bis nach Płock, der Geburtsstadt von Marcels Vater.

Hier warten sie ab. Hier hören sie vom »Wunder an der Weichsel«: Die polnische Armee hat die Russen zurückgeschlagen. Im Spätsommer 1920 kehren sie zurück in ihre Stadt an der Weichsel. Die eindrucksvolle Brücke von Włocławek war von der polnischen Armee gesprengt worden und lag nun wie ein riesiges Eisenkrokodil im Wasser.

Eine umkämpfte Stadt. Seit Napoleons Zeiten hatte sie zum russischen Zarenreich gehört, im November 1914 geriet sie nach der Schlacht von Włocławek unter deutsche

Aber das Geschäftsglück des Mannes war nur von kurzer Dauer. Nach dem Krieg gründete er eine Baufirma. Leider baute beinahe niemand, und das Geschäft lief schlecht. David Reich, randlose Brille, schmaler Schnurrbart, Rundglatze, war ein musikalischer Mann ohne Geschäftssinn und ohne Durchsetzungskraft. Sein Vater war ein erfolgreicher Kaufmann gewesen, er besaß ein großes Mietshaus und ein kleines Vermögen. Der Sohn durfte in der Schweiz studieren, um auch Kaufmann zu werden, doch er brach sein Studium ab und kehrte zurück nach Hause. 1906 heiratete er Helene Auerbach, Tochter eines armen Rabbiners, die im Grenzgebiet zwischen Schlesien und der Provinz Posen in Deutschland aufgewachsen war und die nichts so sehr liebte wie die deutsche Kultur und Literatur. Hier in Polen, in Włocławek, wohin ihr Mann sie geführt hatte, fühlte sie sich wie in der Verbannung. Sie sprach schlecht Polnisch, stattdessen ein schönes, melodisches Deutsch. Sie war verträumt und entschlossen zugleich. Und sie verachtete ihren Mann. Wenn er Särge produzieren würde, würden die Menschen aufhören zu sterben, klagte sie.

Ihr Geburtstag war der 28. August. Und wann immer in seinem späteren Leben ihr Sohn Marcel ihr gratulierte, fragte sie ihn, wer heute noch Geburtstag habe. Es war ein festes Ritual zwischen den beiden. Für sie war dieses Datum Symbol

 

Włocławek war eine freundliche, etwas verschlafene Stadt. Knapp 40000 Einwohner, die meisten polnische Katholiken, 9000 Juden und 800 Deutsche. Die Reichs lebten in einer Wohnung in der Piekarska-Straße 4.

Einmal wollte auch der Vater in die Erziehung des kleinen Sohnes eingreifen. Er hatte einen Mann mit langen Schläfenlocken und Kaftan ins Haus geholt, einen orthodoxen Juden, der Marcel Hebräisch beibringen sollte. Die Mutter warf ihn raus. Der Junge sei noch zu klein dafür, behauptete sie. Es blieb David Reichs einziger Versuch, die Erziehung des Sohnes in eine von ihm gewünschte Richtung zu lenken.

Dabei stammte ja eigentlich die Mutter aus einem religiösen Elternhaus. Nicht nur ihr Vater, auch ihr Großvater und die Väter vieler Generationen zuvor waren Rabbiner gewesen. Aber Helene Reich wollte hinaus aus dieser Welt. Sie wollte von Religion grundsätzlich nichts wissen. Es war ihr Protest gegen das rückständige, provinzielle Elternhaus.

Also raus mit dem Rabbiner! Hinein mit dem Jungen in die deutschsprachige evangelische Grundschule. Zu Hause wurde meist polnisch gesprochen. Nur wenn die Eltern wollten, dass die Kinder sie nicht verstehen, sprachen sie deutsch miteinander. Marcels Muttersprache war also Polnisch. Aber er lernte auch das Deutsche schnell. Ein Kinderfräulein brachte ihm das Lesen bei, das Lesen deutscher Bücher. Und als die Mutter mit dem Sohn zur Einschulung ging, durfte sie sich aussuchen, ob sie den Sohn gleich in die zweite Klasse schicken wollte. Das wollte die ehrgeizige Mutter unbedingt.

Marcel Reich war zu Hause umgeben von Kultur, umgeben vor allem von Musik. Er liebte das Grammofon, liebte die Platten seines Vaters, er hörte Edvard Griegs »Peer Gynt«, Rimksij-Korsakows »Scheherazade«, Opern wie »Aida«, »Tosca«, »Madame Butterfly« von Verdi und Puccini und »Lohengrin« von Richard Wagner. Er lebte in diesen Jahren vor allem in der Musik. Das war die Vater-Welt. David Reich liebte Musik, liebte die Opern, träumte sich fort aus der Geschäftswelt.

Die Mutter lebte in Büchern. Sie bekam regelmäßig deutsche Neuerscheinungen aus Berlin zugeschickt, las sie sofort und stellte sie anschließend in ihren Bücherschrank. Marcel las »Oliver Twist« und »Robinson Crusoe« und versenkte sich mit Leidenschaft in ein mehrbändiges deutsches Konversationslexikon. Regelmäßig kam seine Deutschlehrerin zu Besuch, eine junge Frau aus Deutschland, Laura, die sich die neuesten deutschen Bücher lieh, wenn die Mutter sie ausgelesen hatte. Marcel fiel an der Besucherin vor allem ihr großer Busen auf – und dass sie um die Zeit des Jahreswechsels 1928/29 besonders häufig zu ihnen nach Hause kam, weil sie auf einen neuen Roman mit besonders großer Ungeduld wartete, der in Deutschland Furore machte und umkämpft war wie kaum ein Buch zuvor: Erich Maria Remarques »Im Westen nichts Neues«.

Die Mutter hatte währenddessen andere Sorgen. Die Firma ihres Mannes war bankrott. Da ließ sich nichts mehr beschönigen, nichts mit Musik übertönen, mit Literatur wegfantasieren. An viele Tränen wird sich der Sohn später erinnern – und

Helene Reich allerdings auch nicht. Sie war nicht geschäftstüchtiger als ihr Mann. Aber sie hatte Brüder mit Geld und übernahm die Initiative. Es war demütigend, peinlich und unangenehm, aber es musste sein. Vier ihrer fünf Brüder waren Anwälte in Berlin, der Älteste war, wie die Vorväter, Rabbiner geworden. Den Reichsten von allen, Bruder Jacob, bat sie telegrafisch um Geld. Er schickte die gewünschte Summe sofort.

Aber Geld allein würde die Familie Reich in Włocławek an der Weichsel auf Dauer nicht retten. Und Helene erkannte ihre Chance, das Familienunglück in eine Art Glück zu verwandeln. In Polen war für sie alles verloren. Es war Zeit für ihr Traumland, für ihre Traumstadt. Zeit für Deutschland, Zeit für Berlin. Der neunjährige Sohn wurde vorausgeschickt, ganz allein im Zug in das fremde Land. Ein kleiner Peer Gynt, dessen Vater alles verloren hatte und dessen Mutter in Fantasievorstellungen einer besseren Welt lebte. Die Fantasien der Mutter waren auch die Fantasien des Sohnes. Laura mit dem großen Busen und der Liebe zu den deutschen Büchern sagte ihm zum Abschied: »Du fährst, mein Sohn, in das Land der Kultur.«

Marcel wusste, dass sie recht hatte. Und Marcel fuhr.

Günter Grass. 1927–1939

Inzwischen hatte man dem nackten Bürschchen auf dem Schafsfell in Danzig-Langfuhr längst etwas angezogen. Am 16. Oktober 1927 war Günter Grass in Danzig auf die Welt gekommen. Im Frühjahr 1929, als der neunjährige Marcel Reich im Zug nach Deutschland sitzt, ist er also anderthalb.

Auch seine Mutter heißt Helene, liebt Bücher und nennt ihren Sohn »meinen kleinen Peer Gynt«. Ihre Familie sind Kaschuben, ein »Dazwischenvolk«, nie polnisch genug, nie deutsch genug, ursprünglich aus dem Umland von Danzig, der Kaschubei. Sie sprechen Kaschubisch, ein breites, warmes, baltisch gefärbtes Plattdeutsch. Aber schon die Vorfahren von Helene Grass waren Stadtkaschuben, angepasst an die deutsche Bevölkerung von Danzig. Vater Willy Grass ist Deutscher, Danziger, seit Generationen.

Seit 1920 ist Danzig eine Freie Stadt. Nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde die alte Hafenstadt mit den vielen Giebelhäusern, die seit 1815 zu Preußen

 

Die Familie Grass betreibt einen kleinen Kolonialwarenladen in Langfuhr, einem Vorort von Danzig mit kleinen Gassen und spitzgiebeligen Häusern. Willys Vater Friedrich hat eine Tischlerei ein paar Straßen weiter, die Wohnung der Familie Grass, die wie das Geschäft im Erdgeschoss liegt, ist winzig: zwei Zimmer, Außenklo, Außenbad. Günter Grass wird sich zeitlebens vor allem an den »Mief« erinnern, den »Mief« der Kleinbürger, den »Mief« der Enge. Als Helene mit ihm schwanger war, hat ihr ein Freund der Familie, den er Onkel Max nennt, stets von Berlin vorgeschwärmt, den Tiller-Girls, dem Wintergarten, dem Admiralspalast, der großen Welt: »Unbedingt müsst ihr mal in Berlin vorbeischauen. Da ist immer was los!«

Mal vorbeischauen – Berlin ist mehr als 500 Kilometer entfernt. Die Ausflüge der Familie gingen natürlich an die Ostsee, nach Zoppot oder ins Strandbad Brösen gegenüber der Westerplatte. Da sitzt der kleine Günter im Frühjahr 1928 mit

Familie Grass an der Ostsee: jovial die Männer, neugierig die Frauen, die kleinen Leute mit sich selbst und dem Sand beschäftigt.

Wie klingt die Welt? Wie macht die Ostsee?

Günter Grass wird später in seinem Gedicht »Kleckerburg« schreiben:

Wer fragt noch wo? Mein Zungenschlag

Ist baltisch tückisch stubenwarm.

Wie macht die Ostsee? – Blubb, pifff, pschsch …

Auf deutsch, auf polnisch: Blubb, pifff, pschsch …

Immer wieder ist er als Kind an der Ostsee, Kleckerburgen bauen, Bernstein suchen, aufs Meer schauen:

hier, wo ich meine ersten Schuhe

zerlief, und als ich sprechen konnte,

das Stottern lernte: Sand, klatschnaß,

zum Kleckern, bis mein Kinder-Gral

sich gotisch türmte und zerfiel.

Er ist verliebt in seine Mutter. Sie ist zärtlich, warmherzig, leicht zu Tränen gerührt, sie träumt, raucht, spielt Klavier, liest und liest. Sie ist Mitglied in einer Buchgemeinschaft. Ständig kommen neue Bücher ins Haus, die sie in ihren Bücherschrank stellt. Sie sieht ein wenig bäuerisch aus auf den Fotos, die es von ihr gibt: derb, offen, selbstbewusst. Sie hatte einst drei Brüder, alle hatten Künstler-Träume. Zwei blieben im Krieg, der Jüngste, Alfons, starb 1918 an der Spanischen Grippe, bevor er einrücken konnte. Er wollte Koch werden, hatte seine Ausbildung schon hinter sich, träumte, so schrieb er in seinen Briefen, von einer Koch-Karriere in den Grandhotels der Welt. Der Mittlere, Paul, wollte Maler werden, hatte schon Bühnenbilder entworfen für den »Freischütz«, für »Lohengrin« und den »Fliegenden Holländer«. Der Älteste schließlich, Arthur, Helenes Lieblingsbruder, wollte Dichter werden, Schriftsteller, hatte während seiner Lehrzeit in einer Filiale der Reichsbank schon Gedichte geschrieben, von denen die Danziger Lokalzeitung einige gedruckt hatte. Dann ein Bauchschuss im Krieg und auch seine Träume wurden nicht wahr.

Auf dem Dachboden wird der junge Günter Grass später einen Koffer mit Briefen, Zeichnungen und Gedichten finden. Geschriebene und gemalte Hoffnungen der drei früh gestorbenen Onkel. Für seine Mutter waren die drei nicht wirklich tot. Ihre Träume lebten in ihr fort, und sie hat sie in ihren kleinen Peer Gynt jeden Tag hineingeträufelt.

Abends rauchte sie Orient-Zigaretten mit Gold-Mundstück, trank Cointreau und spielte Klavier. In den Zigarettenpackungen steckten Gutscheine, die man einschicken und gegen Reproduktionen von Kunstwerken aller Epochen eintauschen konnte. Günter war ein besessener Sammler. Alle Verwandten sammelten Gutscheine für ihn. Die Kunst-Alben, in die man die Werke einkleben konnte, besaß er alle drei. Blau für die Malerei der Gotik und Frührenaissance, rot für die Renaissance, goldgelb für Barock. »Ich lebte in Bildern«, erinnert er sich. Und in den Vorstellungen seines kommenden Ruhms. Er will selbst Künstler werden – und berühmt. Für seine Mutter und für sich.

Der Laden läuft schlecht. Er ist klein, es gibt viel und große Konkurrenz, das neu eröffnete Kaisers-Kaffeegeschäft am anderen Ende der Straße, dazu die hohen Zollgebühren, die man für Einfuhren in die Freie Stadt entrichten muss. Die Sorgen sind groß, die Mutter trägt sie fast allein. Den meisten Danzigern geht es nicht besser. So schreiben viele Kunden ihre Schulden beim Kolonialwarenladen Grass an. Und zahlen sie nicht oder spät zurück. Irgendwann kommt Helene Grass die Idee, das wäre doch eine Aufgabe für ihren

Und Günter quasselt den Leuten das Geld aus der Tasche. Lässt sich nicht abwimmeln, kommt vorzugsweise freitags, wenn die Leute ihren Lohn bekommen haben, stellt den Fuß in die Tür, wenn sie ihm diese vor der Nase zuschlagen wollen, lässt keine Ausreden gelten. Das läuft so gut, dass die Mutter schon bald Günters Gewinnanteil von fünf auf drei Prozent herabsetzt.

Dennoch hat der Junge mit zehn oder elf mehr Geld in der Tasche als seine Klassenkameraden, die in großen, repräsentativen Wohnungen oder Häusern leben. Er kauft sich Zeichenblöcke, Farbstifte, Bücher, »Brehms Tierleben« zum Beispiel, und geht ins Kino.

Und er liest und liest und liest. Er ist ein komplett in Büchern versunkener Junge. Seine Mutter macht sich eines Tages einen Spaß, indem sie das Marmeladenbrot des lesenden Günter gegen ein Stück Palmolive-Seife austauscht. Vor Publikum. Angeblich, so wird er sich später erinnern, fällt es ihm erst nach einer drei viertel Buchseite auf, in was er da gebissen hat.

Er liest »Oliver Twist«. Er findet Karl May langweilig. Er liest »Onkel Toms Hütte«. »Das Bildnis des Dorian Gray«. »David Copperfield«. »Die drei Musketiere«. »August Weltumsegler«. Mereschkowskis »Leonoardo da Vinci«. Der Vater sagt, in einem matten Versuch, den Buch-Abhängigen zu tadeln: »Vom Lesen ist noch keiner satt geworden.« Hilft nichts. Günter liest Storms »Schimmelreiter«, Falladas »Kleiner Mann, was nun?«, er versinkt vollkommen zwischen den Seiten. Er habe immer schon weranders woanders sein wollen, wird er später schreiben.

In der Schule ist er eher mittel. In Deutsch sehr gut, und in Kunst natürlich, aber in Mathe, Chemie, allen technischen Fächern katastrophal. Er kommt zwar aufs Gymnasium, trägt mit Stolz die Gymnasiastenmütze, aber er ist widerborstig, lässt sich nichts gefallen, auch nicht von den Lehrern. Vom Conradinum, seinem ersten Gymnasium in Langfuhr, fliegt er, weil er sich einem prügelnden Turnlehrer gegenüber »aufsässig und unverschämt frech« gezeigt habe, wie die Eltern schriftlich erfahren. In der nächsten Schule, der Petri-Oberschule in der Danziger Altstadt, trifft er auf einen Musiklehrer mit Fistelstimme, dessen gesungenes »Heideröschen« die Schüler mit jazzartigen Rhythmus-Geräuschen begleiten. Was der nicht komisch findet und den Schüler Günter kräftig schüttelt. Doch da hat er den Falschen geschüttelt: Günter packt den Fistelsänger an seiner Papierkrawatte und zieht so lange daran, bis sie abreißt. Klingt nach Glück für den Musiklehrer. Was wäre wohl passiert, wenn die Krawatte aus widerständigerem Material gewesen wäre?

Der Schüler Günter Grass muss jedenfalls die nächste Schule verlassen. Aber Danzig ist groß, es gibt viele Schulen. Er kommt aufs Gymnasium St. Johann, so lange, bis ihn größere, patriotische Aufgaben von allen Schulpflichten entbinden.

 

Nach der »Machtübernahme« der Nationalsozialisten in Deutschland entfielen im Juni 1933 bei den Volkstagswahlen in der Freien Stadt Danzig 50,03 Prozent der abgegebenen Stimmen auf die NSDAP. Am 20. Juni wählte der Volkstag daraufhin einen von der NSDAP geführten Senat ins Amt, dem anfangs noch das bürgerliche »Zentrum« angehörte. In der Debatte vor der Wahl hatte der NS-Abgeordnete Hans-Albert Hohnfeld den Abgeordneten der SPD gedroht: »Sie werden die letzten Erklärungen abgegeben haben, verlassen Sie sich darauf!«

Danzig blieb pro forma »frei«, das heißt unabhängig von Deutschland und von Polen. Aber faktisch gab es nun eine enge politische Kooperation zwischen der neuen Regierung in Berlin und der Danziger Stadtregierung. Der Schrecken, den SA und SS unter dem oppositionellen Teil der Bevölkerung und vor allem unter den Juden verbreitete, war hier und

Günter Grass machte mit bei allem, wo man als kleiner Junge so mitmachen konnte. Im Sommer 1933 war er ja erst fünf Jahre alt. Aber in den Jahren darauf fieberte er mit der »Legion Condor« im Spanischen Bürgerkrieg mit, bejubelte Max Schmeling, den deutschen Medaillensegen bei den Olympischen Spielen in Berlin, später den deutschen Wunderläufer Rudolf Harbig, den Rennfahrer Bernd Rosemeyer. Vater Willy trat 1936 in die NSDAP ein, wohl nicht so sehr aus fanatischer Überzeugung, sondern weil er glaubte, es sei gut fürs Geschäft. Die Mutter wurde stiller, spielte kaum noch Klavier, ihre kaschubischen Verwandten vom Land kamen seltener zu Besuch.

Aber sie, die Familie Grass, fuhr immer mal wieder hinaus zu den halb polnischen, halb deutschen Verwandten aufs Land, Richtung Kokoschken, bei Goldkrug über die Freistaatsgrenze zur Großtante Anna.

Ihr ältester Sohn Joseph holte sie an der Grenze ab. Im Winter mit Pferd und Schlitten. Beschimpft wurde er von den deutschen wie den polnischen Grenzbeamten, die er jeweils in ihrer Landessprache begrüßte. Die Kaschuben – das waren die jeweils anderen. Dabei war Joseph eigentlich der perfekte Repräsentant der übernationalen, freien Stadt Danzig. Vor dem Krieg soll er zwei Fahnen, die polnische und die mit dem Hakenkreuz, aus dem Schrank geholt und gerufen haben: »Wenn Krieg jeht los, staig ich auf Baum und guck, wer kommt zuerst. Und denn hiß ich Fahne, die da oder die …«

Aber noch war es nicht so weit. Noch hissten die

Günter schreibt in diesen Jahren seine erste lange Geschichte. Er nennt sie »Die Kaschuben« und lässt sie im 13. Jahrhundert spielen. Von der Geschichte ist nichts geblieben. Der alte Grass wird sich nur erinnern, dass nach dem ersten Kapitel alle Helden tot waren: geköpft, erdrosselt, gepfählt, verkohlt oder gevierteilt. Und niemand mehr da, die toten Helden zu rächen. Er sei ganz froh, dass davon nichts geblieben sei. Wer wisse schon, wie viel von deutscher Blut-und-Boden-Ideologie, wie viel deutscher Rassismus sich in dem Text gefunden hätte.

Mit zehn Jahren wurde er Mitglied beim sogenannten Jungvolk, der Aufbauorganisation der Hitlerjugend. Weihnachten 1937 wünschte er sich die Uniform mit Käppi, Halstuch, Koppel und Schulterriemen. Er war enthusiastisch dabei, selbst wenn ihn die ewige Singerei und das Getrommel anödeten: Zeltlager, Geländespiele in Strandwäldern, Sonnenwend- und Morgenfeiern. Es war ein Hinaus aus der Enge der Wohnung, die er hasste, weg vom Laden und dem Kundengeschwätz, weg vor allem vom Vater und den familiären Zwängen.

Im November 1938 – Günter Grass war gerade elf geworden – schaute er neugierig zu, als auch in Danzig-Langfuhr, in der Michaelistaße, nicht weit vom Labesweg, die Synagoge von einer Bande von SA-Männern geplündert, verwüstet, angezündet wurde. Und er sah der Polizei beim Zuschauen zu.

Mitleid, Ärger, Empörung gar – an nichts davon kann er

 

Und dann endlich: das große Neue. Das Ende der Kindheit. Ende des Friedens.

Der erste Septembertag 1939. Günter ist beinahe zwölf. Er hört in Danzig-Langfuhr die Breitseiten eines Linienschiffes und den Anflug von Sturzkampfflugzeugen über dem Hafenvorort Neufahrwasser, dem der polnische Militärstützpunkt Westerplatte gegenüber liegt. Er steigt auf den Dachboden, zu seinen Büchern, dem Koffer der toten Onkel. Aus der Dachluke schauend, sieht er schwarzen Rauch über dem Freihafen. Zwei Panzerspähwagen fahren zur Polnischen Post, der kleinen Enklave des polnischen Staates am Heveliusplatz. Ein Onkel von Günter – Cousin seiner Mutter, Franz für die Deutschen, Franciszek für die Polen, mit Nachnamen Krause – ist im roten Backsteingebäude und verteidigt die Polnische Post vor den deutschen Angreifern. Hier, in der Freien Stadt Danzig, an der Westerplatte und auf dem Heveliusplatz, beginnt der größte Krieg der Menschengeschichte.

Die Post kann sich nur sehr kurz halten. Die Verteidiger, die noch am Leben sind, werden verhaftet und kurz darauf erschossen. Frantisek Krause ist eines der ersten Opfer des Zweiten Weltkriegs. Eine Gedenktafel an der Backsteinfassade erinnert noch heute an ihn.

Sein Name durfte in der Familie Grass von nun an nicht mehr erwähnt werden.