Für Augusta
Das Leben ist nicht das, was man gelebt hat, sondern das, woran man sich erinnert und wie man sich daran erinnert – um davon zu erzählen.
Gabriel García Márquez
Zuerst sind da nur diese zwei kurzen schwarzen Zöpfe. Sie wippen an Lucretias Kopf lustig her und hin. Ich bin auf meinem Dreirad unterwegs, setze den Zöpfen nach. Feste Zöpfe. Glänzende Strippen an ihrem runden Kopf, wie bei hoppelnden Häschen. Sie läuft mir voraus mit ihrem Lachen. Die Zöpfe rufen mir zu: Fange uns ein! Wie hundert Münder nicht rufen. Wie die stärksten Hände mich nicht packen und lenken können, halten sie mich gefangen. Du kriegst mich nie!, ruft Lucretia. Läuft auf den großen, dicken Baum im Gespensterwald zu. Die Zunge ausgestreckt, auf nichts anderes fixiert, fahre ich den Zöpfen hinterher, fest entschlossen, atemlos. Bin dann beim dicken, hohen Baum, hinter dem Lucretia mit ihren beiden Zöpfen verschwunden ist. Eins, zwei, drei, vier Eckstein, alles muss versteckt sein. Hinter mir und vor mir gilt es nicht, an den Seiten auch nicht. Dreimal, viermal herum um den Baum ist da nichts mehr von den zwei Zöpfen zu sehen. Nicht vor, nicht hinter mir, zu den beiden Seiten auch nicht. Wie verhext nirgendwo. Vom Dickbaum geschluckt. Einfach nicht zu finden, nicht einmal nur für kurz zu sehen. Ich wechsle mit dem Dreirad die Fahrtrichtung. Pure Vergeblichkeit all meine Anstrengungen. Und dann wird energisch und laut mein Name gerufen. Die Erzieherin inmitten der Kindergruppe. Sie winkt mich heran mit heftigen Armbewegungen, die mir bedeuten, schleunigst zur Gruppe zurückzukehren. Und wer steht neben ihr? Lucretia. Ihr Händchen liegt fein in der großen Hand der Erzieherin. Ihren Kopf hat sie unschuldig zur Seite gelegt. Steht da, schwingt unmerklich ihren Körper. Das Kinn triumphierend erhoben, schaut sie mich an, sieht über mich hinweg, blickt mitten durch mich hindurch. Als wäre ich Luft für sie.
Es ist hier noch nicht Liebe, eher eine kleine Verschossenheit oder Ehrgeiz. Ich bin da nur überrascht, verblüfft, gelackmeiert und besiegt. Ich bin da eben nur nicht gut genug und auch nicht clever gewesen. Mehr ist dazu im Grunde nicht zu sagen. Und doch ist dies der Anfang vom Anfang. Lucretia hebt an, sich Richtung Planet zu bewegen, der ich bin, sie rückt auf mich zu. Sie wird auf mir landen und dann in meinem Leben sein, wie die Sommersprossen im Gesicht zu mir gehören.
Es bleibt mein Leben lang so. Zöpfe wippen mir voraus. Zum Greifen nahe enteilen sie mir immer und immer wieder. Vom Erdboden verschluckt ist Lucretia weg, taucht urplötzlich und unerwartet an anderen Orten und Plätzen wieder auf. Wie die Katze die Maus, die Schlange ihr armes Opfer fixiert, geht das mit Lucretia und mir los. Ich sehe nur ihre schwarzen strammen Zöpfe, und schon bin ich ihr hörig. Sie legt ihren Kopf nur leicht zur Seite und sieht mich unschuldig an, schon ist alles gesagt. Von Kindesbeinen an lockt, verführt und linkt sie mich. Taucht auf und wieder ab. Winkt mit ihren Zöpfen. Folge ich ihr, löst sie sich vor meinen Augen in Nichts auf. Ruft und lacht von weit her. Singt inmitten der Nacht: Petkowitsch, Feinstliebster du. Schon erwache ich, richte mich in meinem Bettchen auf und schlafwandle ihr hinterher, die Arme ausgestreckt über den Scheitel des Daches, wenn es so sein soll. Ohne Angst davor, abzustürzen und zu fallen. Ich erliege ihr, was auch geschieht. Sie trägt bald keine Zöpfe mehr, ihr Aussehen verändert sich, sie ist dann nicht mehr so pummelig und bunt gekleidet. Und sie versetzt und verletzt mich immer und immer wieder. Kleine Kratzer am Anfang, die zu tiefen Wunden werden. Ich soll ihr nur weiter folgen, ruft sie mir von irgendwoher entgegen. Wir sollen Blutsgeschwister bleiben. Ich soll nur immer schön auf sie warten. Alles wird gut. Und schickt mich in einen unheilvollen Tunnel, lässt mich dann in dieser Düsternis auf verlorenem Posten zurück. Ihr Lachen verstummt. Ihre Rufe, die mir eben noch galten, Mut zugesprochen haben, ersterben. Ich bibbere. Ich irre. Ich finde in mein Bett zurück, weine ins Kissen. Und dann ist Lucretia plötzlich hinter mir, hält mir von hinten die nassen Augen zu und fragt so süß: Rate, wer ich bin?
Und ich will ihren Namen freudig ausposaunen. Sie drückt mir den Mund zu, beschwört mich, ihn nicht auszusprechen. Im Kopf nur sollst du ihn dir denken, Petkowitsch. Sie nennt mich Petkowitsch. Niemand darf meinen Namen wissen, hörst du. Wir wollen ihn beide fleißig verschweigen. Ich will ohne meinen Namen sein. Es gibt tausend Arten von Lärm, aber nur eine wirkliche Stille. Diese. Wenn du den Namen weißt und ihn nicht aussprichst.
Ich bleibe der ewige kleine Junge auf dem Kinderdreirad.
So richtig zusammen bringt uns mein Kreisel. Wenn er sich dreht und dreht, rennen wir beide hinter ihm her, suchen ihn in Bewegung zu halten – tollkühn über Gehsteine, Ritzen, Asphalt, Erdspalten, Grasnarben, Sandhügel, Glassplitter, Dreck hinweg. Ein geschundenes Holzstück ist mein Kreisel, mein großer Zeitvertreib in jenen Tagen. Die Farben meines Kreisels sind nicht mehr zu erkennen, so abgedroschen, wie er ist.
Ihn zu beherrschen hat mir Lucretia beigebracht. So geht das, sieh her!, Petkowitsch. Wickle die Peitschenschnur um den Kreisel, stelle das Bündel auf den Boden, reiße an der Peitsche, schon spult der Faden ab, setzt den Kreisel in Bewegung. Sieh nur, sieh, wie er auf seiner Kreiselspitze schwirrt und sich dreht. Versuch es, nur zu. Du schaffst es. Und so halte ich eines Tages den Kreisel mit meiner Peitsche aufrecht in Bewegung. Straßendreck wirbelt auf. Steinchen fliegen durch die Luft. Laut die Peitschenschnur knallt und wischt. Frisch, tummle dich, tummle dich, Kreisel, immerzu. Du hast vor meiner Peitsche nicht Rast noch Ruh. Dreh dich im Kreise vom Schlagen meiner Peitsche. Ei, tummle dich hurtiglich, sollst schnurren und surren, hau ich dich immer und immer wieder. Schau, wie die Peitsche um dich schwirrt. Ich bin es von uns beiden, der nimmer müde wird, bis du es hältst nicht länger aus. Dann wollen wir beide gehen nach Haus.
Ich trage meinen Kreisel überallhin. Er wohnt in meiner Hosentasche. Der Peitschenfaden ist um den Kreisel gewickelt. Er endet an einem kleinen Stöckchen, nicht größer als meine Hand.
Der Kreisel macht, dass Lucretia mein Mittelpunkt wird, die Sonne, die ich umkreise. Bin ihr ach so zugetan und hörig, ihr untertan. Bin ihr ergeben, mein, nein, ihr Leben lang. Sehe bei allem, was sie mir ist im Leben, immer und immer das süße, kleine Mädchen von einst, mit diesen zwei geflochtenen schwarzen Zöpfen, wie sie vor meinen Augen wippen. Werde ich von ihr erfreut, angeschoben, zu Boden gerissen, bin ich stinksauer und ihr viel zu schnell stets wieder gut, stets meine ich, mit dem kleinen Mädchen von damals zu tun zu haben, dieser pummeligen Kleinen in hellbrauner, über den Knien gestopfter dicker Strumpfhose und darüber dieser ach so rote Rock an Lederträgern. Das wilde Mädchen mit der klobigen Brille, ein Brillenglas von innen her mit Heftpflaster zugeklebt.
Jene Lucretia sehe ich, meine erste richtig gute Freundin. Das Mädchen, das mit mir um die Wette läuft, robbt, springt, singt. Sie bringt mich zum Lachen. Sie bringt mich in Rage, sagt sie zu mir Petkowitsch. Und dann gewöhne ich mich daran, mag sogar von ihr so genannt werden. Ich verbringe die ganze Zeit nur mit ihr. Laufe mit ihr durch die ersten Monate, Jahre unserer Kindertage. Fühle mich geborgen an ihrer Seite, hoffnungslos verloren allein, so richtig zu zweit eins mit ihr, nie allein. Bin stark mit ihr in einer Gruppe und zweisam. Und einsamer nie, bin ich von ihr verlassen. Die da mein Leben ist, mein Herzblut, lebenslang, mit der mich ein gemeinsames Aufwachsen verbindet. Die mit mir das Schicksal teilt, das uns beide lenkt.
Das Kinderheim ist nicht groß, nicht klein. Es kommt nur uns so riesig vor. Wir leben da in einem Bienenstock. Ein Maschinenhaus ist so ein Heim, gibt dir jeden Tag den Takt vor. Takt, Tag, Tagestakt. Reih und Glied sind Waschraum, Wasserhähne, Kloschüsseln. Die Duschen noch nicht nach Geschlecht getrennt, trinken wir aus einem Becher, essen von einem Tellerchen. Und gehen zusammen den schmalen Weg hinunter zum Gespensterwald. An Sommerblumen, Herbstlaub, Schnee- oder Maiglöckchen vorbei, Waldmeister, Sumpfdotter.
Manchmal plätschert der kleine Waldbach frohgemut. Manchmal begleitet uns nur ein Rinnsal. Und ist der Winter vorbei, stürmt uns zur Schneeschmelze ein wilder Bach voran, eilt uns voraus zur Steilküste, sich über den Strand zu ergießen, sein breites Bett in den Sand zu fräsen – dem Meer zu, um in ihm aufzugehen. Stocktrocken ist jenes Bett im Heißsommer. Der Schlickgrund in einzelne Erdlappen aufgeteilt, deren Ecken sich nach oben krümmen. Dann gleicht es dem langen Hals einer Giraffe.
Wir sind in diesem Kinderheim gefangen, in einem Schließfach verwahrt. Wir Elternlosen behalten uns im Blick. Im Guten, im Bösen halten wir Kontakt zueinander, sehen die elterlich gebundenen Kinder um uns herum nicht. Das Heimleben trennt uns, eint uns, reißt uns auseinander, fügt uns auf sonderliche Weise wieder zusammen. Brüderchen, komm, tanz mit mir, beide Hände reich ich dir. Für kurz und länger sind wir getrennt. Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. In Zeiten noch, da wir bereits älter sind, nichts mehr miteinander zu schaffen haben, benehmen wir uns wie Heimkinder, die sich aus den Augen, nicht aus dem Sinn verlieren. Verlorene sind wir von Beginn an. Mit den Füßen tapp, tapp, tapp. Mit den Händen klapp, klapp, klapp. Mit dem Köpfchen nick, nick, nick. Mit den Fingern tick, tick, tick. Dieser und jener, weg ist er, plötzlich. Das Bett verlassen, kalt. Dann wird das Bett neu bezogen. Ein anderes Kind ist plötzlich da und schläft in ihm. Das Kind, dem das Bett davor gehörte, ist aus den Federn fortgeblasen worden und rutscht nun in die Ritzen unserer Gehirne, verschwindet dort, als wäre es umgekommen.
Noch einmal das schöne Spiel, weil es uns so gut gefiel. Einmal hin, einmal her, rundherum, das ist nicht schwer. Furcht ist der erste Ausdruck von Zuneigung für Lucretia. Ich befürchte Schlimmes, fürchte mich vor dem Unbekannten und erhasche von ihm nur vage Umrisse. Da ist noch nicht der Gedanke, der mich quält. Da denke ich noch nicht, Lucretia könnte plötzlich weg sein. Huschende Schatten, die ich nicht fassen kann, Schattenboxen ist es, noch nicht die große Sorge, noch nicht Verzweiflung. Noch boxen die Schatten an der Wand als Schattenbild in die Luft und nicht auf mich ein.
Brüderchen spricht zum Schwesterlein: Seit Vatermutter tot sind, haben wir keine gute Stunde mehr; die Stiefmutter stößt uns mit ihren Füßen. Harte Brotkrusten sind unsere Speise. Dem Hund des Hausmeisters geht es besser, ihm wirft man manch guten Bissen zu. Besser, wir gehen miteinander in die weite Welt. Es regnet, Brüderlein, sagt das Schwesterchen. Unsere Herzen müssen aufhören zu weinen. Noch ist der Wald zu dunkel und groß. Wir werden vor Jammer und Hunger sterben auf dem langen Weg.
Lass uns beisammenbleiben, Petkowitsch.
Das machen wir, Lucretia.
Und augenblicklich bin ich von Herzen froh. Es singt ein Chor in mir: Seht ein Nestchen, seht ein Ei, Vögelchen ist nicht dabei, flog von seinem Nestchen fort, sucht’s im tiefen Walde dort. Seht ein Nestchen, seht ein Ei, Vögelchen ist nicht dabei.
Wir springen und stampfen mit unseren Füßen. Wir klatschen dabei in die hingestreckten Hände der anderen Kinder, hopsen im Kreis umher. Auf unsrer Wiese gehet was, watet durch die Sümpfe, trägt keine Strümpfe, hat sein schwarz-weiß Röckchen an, fängt Frösche, schnapp, klappert klappe di klapp. Wer kann es erraten? Sind wir an der Treppe, die zum Strand hinunterführt, trällern wir: Das ist der Klapperstorch. Ich nehme die Stufen zum Strand hinunter lange Zeit rückwärts. Lucretia balanciert freihändig auf dem Geländer. Unten angekommen werden wir wieder zur Gruppe, ziehen von der Seebrücke aus zum Badesammelplatz. Es gibt Tee aus dem mitgeführten Riesenkessel. Mit der großen Kelle wird er in bunte Henkeltassen geschüttet. Das sind die schöneren Tage im Kinderparadies. Ich bin so voller Lieder und Naturanstaunen. Ich bin so voller Lust und Mut. Ich liebe die Blätter im Winde, wenn sie an Zweigen im gleichen Rhythmus winken. Ich schaue den Ameisen zu auf ihren schmalen gewundenen Wegen, nicht breiter, als sie selber sind, wie Gänse marschieren sie hintereinander aneinander vorbei, wie wir von der Essensklappe mit heißen Teebechern in unseren Händen aneinander vorbeikommen. Tanz, Kindlein, tanz, deine Schühlein sind noch ganz, lass dir sie nit gereue, der Schuster schustert dir neue. Es ist Kinderfesttag. Der zweite Sohn aber geht beim Müller in die Lehre und bekommt zum Lohn einen Esel. Sagt er zu ihm: Bricklebrit, fallen hinten und vorn Goldtaler zu Boden. Und sie leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Wir halten uns bei den Händen, staunen die hohen Bäume an. Schöne Bäume stehen im Gespensterwald, der bis zur Steilküste reicht. Bis zum Himmel hoch stehen sie in glatte graue Elefantenhaut gehüllt. Wir stehen vor ihnen, schauen an ihnen hoch, bis es uns schwindelt. Und sehen wir aufs Meer, sind wir gleichermaßen von seiner Weite ergriffen. Hand in Hand blicken wir übers Wasser hinweg zum Horizont, halten nach Schiffen Ausschau. Ferne weiße Punkte, von denen es heißt, sie seien große Fähren mit, ach, so vielen Menschen an Bord. Das Wort Fähre kennen wir von diesen Augenblicken an. Was eine Fähre ist, wissen wir nicht. Und Trelleborg klingt wie Trillerpfeife.
Und als sie aufwachen, steht die Sonne hoch am Himmel, brennt heiß in den Baum hinein. Da spricht das Brüderchen: Schwesterherz, mich dürstet, wenn ich ein Brünnlein wüsste, ich ginge und tränke. Mir ist, ich höre eines rauschen. Und Brüderchen steht auf, das Brünnlein zu suchen. Ich werde dir nie richtig böse sein, sage ich zu Lucretia. Ich bin dir treu immer und immer neu. Viel zu jung und naiv, nicht fähig, anders zu denken, handle ich nach dem Gebote der Blutsgeschwister. Ohne Furcht. Ohne zu wissen, dass die Hingabe mir zum Verhängnis wird. Ist da eine Hexe. Ist den Kindern nachgeschlichen, heimlich, wie Hexen halt schleichen. Hat alle Brunnen im Walde verwünscht. Als sie nun ein Brünnlein finden, das so glitzern über die Steine springt, will das Brüderchen daraus trinken. Das Schwesterchen hört im Rauschen: Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger. Ich bitte dich, Brüderchen, trink nicht, sonst wirst du mich wie ein wildes Tier zerreißen. Brüderchen trinkt nicht, obgleich der Durst groß ist. Am zweiten Brünnlein hört die Schwester ihn sagen: Wer aus mir trinkt, wird ein Wolf. Und fleht das Brüderchen an, nicht zu trinken, kein Wolf zu werden, der sie frisst. Brüderchen trinkt nicht, will bis zur nächsten Quelle warten. Dann aber, ob du magst oder nicht, trinke ich, der Durst ist gar zu groß. Der dritte Brunnen warnt: Wer aus mir trinkt, wird ein Reh. Trink nicht, sonst läufst du mir davon. Brüderchen aber trinkt beim Brünnlein. Und wie die ersten Tropfen auf seine Lippen gekommen, liegt es als Rehkälbchen da.
Lucretia tröstet mich, sagt: Wir werden überleben, wir beide, du und ich, Petkowitsch, hörst du.
Die Zeit ist eine andere, an die ich mich erinnere. Die Zeit ist aus rohen Brettern getischlert ein Gestell dem Kinderparadies gegenüber. Vom Wetter arg verwittert ist die Zeit eine Ablage für Milchkannen, vom Zeitenmilchkutscher leer abgeholt und voll herangeschafft. Am Fenster stehen wir, sehen dem Milchmann bei seiner Maloche zu. Wie er die Kannen packt, sie auf seinen Wagen hievt, für die abgeholten Kannen neue Kannen hinstellt. Die Kannen klappern. Silbrig sind sie, groß, glänzend, manchmal arg verbeult. Stumm und still sehen wir ihn ankommen, aufladen, abstellen, einladen, wegfahren. In einer Blase aus Gestank fährt da auch der Specktonnenmann vor, sammelt unsere Küchenabfälle ein. Was wir nicht essen, wird in die Tonne geworfen und macht die Schweine dick, heißt es. Solche Zeiten sind es. Der Gestank bleibt einen halben Tag lang vor dem Kinderparadies stehen. Wir lassen ihn nicht herein. Bis der Wind ihn dann wegscheucht, wie ein Polizist Leute weiterbittet, wenn sie dumm herumstehen und gaffen.
Mariechen saß weinend im Garten, im Grase lag schlummernd ihr Kind, in ihren blonden Locken spielt leise der Abendwind. Sie saß so still und träumend, so einsam und so bleich. Dunkle Wolken zogen vorüber, und Wellen schlug der Teich. Der Geier steigt über die Berge, die Möwe zieht erhaben einher. Es weht ein Wind von Ferne.
Die schönsten Momente mit Lucretia sind die im Wald, am Boden gekauert, um uns dunkelbraunes trockenes Herbstlaub und wir zur Tarnung über und über mit Laub bedeckt. Lucretia hält eine Maus in ihrem Beutel gefangen. Der Maus geht es gut, sie frisst und scheißt und rennt ihr über Hand und Bein, Bauch und Kopf, hangelt an ihren Haaren entlang und ist dann eines Tages entdeckt. Alle sind sie hinter der Maus her. Am selben Tag noch ist die Maus gefangen, mausetot. Lucretia sagt: Ist doch nur eine Maus, ist weiter nichts als eine Maus. Leert den Beutel, wäscht ihn von der Maus rein, hängt ihn sich um, als wäre nie eine Maus darin zu Gast gewesen.
Schon fallen die Tropfen schwer von Mariechens Lidern. Eine heiße Träne rinnt. Und schluchzend in den Armen hält sie ihr schlummerndes Kind. Hier liegst du so ruhig von Sinnen, du armer verlassener Wurm, du träumst noch nicht von Sorgen, dich schreckt noch nicht der Sturm, dein Vater hat dich verlassen, dich und die Mutter dein, drum sind wir armen Waisen in dieser Welt allein. Der Vater lebt herrlich in Freuden, ja, lass es ihm wohl ergehn. Er denkt an mich nicht, will mich und dich nicht sehn. Drum wollen wir uns beide stürzen in den See. Dort sind wir geborgen vor Kummer, Ach und Weh. Da öffnet das Kindlein die Äuglein, blickt freundlich sie an und lacht. Da weint das Mädchen vor Freuden und drückt’s an ihre Brust mit Macht.
Kann ich hier schon von Liebe reden? Vielleicht ist es eher eine Liebe, wie ich sie dem Teddybären namens Kalle entgegenbringe. Er ist so groß wie ich. Seine Knopfaugen sind dunkel und glänzend wie die von Lucretia. Sein Mund ein roter Faden, halbrund und plüschig platt sind seine Lauscher, eins eingerissen. Ein Teddybär ist er, der Teddy für alle im Paradies. Sein Körper ist so hart, dass ich mir oft genug die Nase stoße, stürze ich mich auf ihn. Sein Fell ist kurz geschoren und mit Lücken versehen. Gelb sieht er nur in bestimmtem Sonnenlicht aus, fast wie eine Sonnenblume. Ich werfe mich auf ihn, drücke, beiße ihn, ziehe ihn an Arm und Bein mit mir herum. Und werde ihn los, muss ihn mit anderen Kindern teilen. Vielleicht ist das schon der Anfang von In-tiefer-Sorge-um-ein-anderes-Wesen-sein? Dem Teddy fehlt das linke Bein, er kommt ins Puppenkrankenhaus, wird geheilt, geht reihum, brummt nun nicht mehr. Der Hausmeister schlitzt Teddys Rücken auf, nimmt den Brummmechanismus heraus, legt ihn in meine Hände. Ehrfurchtsvoll erstarrt halte ich sein totes Herz. Der Hausmeister nimmt ein anderes Herz, und siehe da: Teddy, Teddy, hört nur, nun brummt er wieder, trägt eine frische Naht auf seinem Buckel. Das Kindlein schläft nämlich nicht ein ohne sein Brummbrumm. Wird es am Morgen hell, streichelt es schnell Teddys Fell. Ach, lieber guter Teddy, du. Und die Eule sieht ihm zu, uhu uhu.
Man kann, ohne geliebt zu werden, auf Erden leben. Es braucht eine Zeit lang Liebe und Verständnis nicht, wo die Welt für alle ungefähr die gleiche Temperatur hat. Man kann mit seinen Gefühlen haushalten, sie frei lassen – wie die Katze oft lange wegbleibt, ehe sie zurückkommt, zu uns findet.
Nach dem Kindergartenheim ziehen wir ins Schulkinderheim um. Zärtlich muss geschieden sein Brüderlein fein. Denk manchmal an mich zurück, schimpf nicht, Brüderlein fein, schlag zum Abschied ein. Alles fremd, unheimlich, alles anders und neu. Lucretia wechselt in die Mädchengruppe über. Lucretia sagt: Ich komme mit allem bestens zurecht!, als wären wir nicht umgezogen. Es ist hier alles um so vieles größer, schwärmt sie. Rennt überallhin und immer um mich herum. Führt mich bald in geheime Winkel, lässt mich in Schubladen greifen, die voller Süßigkeiten sind. Ich soll nicht zögern oder überlegen, ob es Diebstahl ist. Und wie es Diebstahl ist, Petkowitsch, sagt sie. Solange man uns nicht erwischt, wir nicht auffliegen, kann uns niemand. Schau, Mandarinen. So isst man die. Mit mir wirst du überleben, Petkowitsch. Stößt mich in die Seite. Lacht so wundervoll hell, mit diesem so gründlich weit aufgerissenen Mund.
Brüderchen und Schwesterchen sind wir, in unterschiedliche Räume getrennt, nach Jungen und Mädchen, kommen wir nur am Tag noch zusammen. Das ist neu und befremdlich. Es ist, als würde man uns auseinanderschneiden. Plötzlich sollen wir bestimmte Zeiten getrennt voneinander existieren. Plötzlich duschen Jungen und Mädchen für sich. Plötzlich sitzen wir beim Essen an getrennten Tischen. Komm zu mir und setze dich nieder, singen meine Blicke, schaue ich zu Lucretia herüber, die mich nicht zu sehen scheint, redet und zuhört, plappert und absichtlich wegschaut. Wir kosen Hand in Hand. Leg an mein Herz dein Köpfchen, und fürchte dich nicht zu sehr; vertraust du dich doch sorglos täglich dem wilden Meer.
Heiß ist es, über dreißig Grad, wir haben schulfrei. Es herrscht Windstille. Man muss ins Wasser gehen, sonst hält man die Hitze nicht aus. Lucretia buddelt zwei Flaschen Wasser in den nassen Sand ein, schön gekühlt ist das Trinkwasser ohne Kohlensäure. Wir laufen ins Wasser der Ostsee hinein, spielen Fangmich & Fangmichnicht, bis wir außer Atem sind und zu unseren Flaschen stürmen. Flaschen mit Bügelverschluss, dunkelgrünes Glas. Ich setze die Flasche gierig an, leere sie, ohne abzusetzen, trinke reines Salzwasser, von wem immer in die Flasche gefüllt. Schlecht wird mir, ich speie, muss mich übergeben. Lucretia lacht und sagt: Nun bist du mit Neptuns Pipi getauft. Kriecht nahe an mich heran, der ich mich am feuchten Sandboden krümme, die Bauchbeule halte und sterben will. Das schöne Haupt flach auf die Sanddecke gelegt, schaut sie mir beim Krampfen zu, sagt, sie würde gern an meiner Stelle sein, für mich sterben.
Unter Wasser suchen wir nach Seesternen. Fünf Arme zieren ihn, einst besaß er sechs, sagt sie. Da war das Wasser noch in der ruhigen See, die Berge verrückten sich, die Hitze nahm zu, der See bekam ein Loch und wurde zu einem Fluss, mit ihm trieben die Seesterne heimatlos, unbeholfen fort, suchten sich, wo es ging, mit dem sechsten Arm festzuhalten, zu verankern, und rissen ihn sich aus. Sie bringt mir bei, aus einer Gabel drei feine Spießspitzen zu biegen. Die Zinken werden Widerhaken. Die Gabel bindet sie an einen Besenstiel. Ist so geschickt beim Fischefinden, hinter den Steinen versteckt, dicht an den Boden gedrängt, vom Untergrund nicht zu unterscheiden. Zeigt mir, wie man den Fisch ausnimmt, zerlegt und über einem Feuer brät. Mein Herz gleicht dem Meer, kennt Sturm, Ebbe und Flut, manch schöne Perle in großer Tiefe ruht, summt sie. Die Steine sind so glitschig, dass es mich aushebelt, ich mir meerblaue Flecken, Kratzer, Schürfungen zuziehe, die Knochen breche. Ich schaue mir das Meer lieber von außerhalb an.
Lucretia ist ein regelrechtes Wasserkind, würde am liebsten unter Wasser leben als Meerjungfrau mit grüner Meerperücke, im tiefen Meer wie eine Robbe schlängeln, wie die Flunder über dem Meerfußboden schweben. Setzt sich den Gefahren aus. Fürchtet sich nicht vorm groben Wellentreiben. Taucht mutig unter Wogen hindurch. Ist meine Tauchlehrerin. Die Zähne zusammengebissen, bibbernd mit blau gefrorenen Lippen, sehe ich mich neben ihr, schlottere am Leib. Wer nicht kämpft, kann auch nicht verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren. Wann, wenn nicht jetzt.
Lucretia und ich beim Neptunfest. Die Hatz kann beginnen, es gibt kein Entrinnen. Fänger, bringt mir das schlimmste Luder her, so will ich sie mitnehmen zu mir ins tiefe, tiefe Meer. Dann werden die Namen der Täuflinge ausgerufen. Die Häscher beginnen sie einzufangen, jagen ihre Opfer über den Strand, fangen sie ein, führen sie zum Barbier, der ihnen Rasierschaum ins Gesicht klatscht, mit dem Holzmesser rasiert, dem Täufling einen Ekeltrunk verabreicht, von seinen kräftigen Gehilfen unterstützt. Ein Extrakt aus Fischlake, Salzwasser, Senf, Seife. Der Täufling wird ins Wasser geworfen. Alle zählen sie bis drei, vier. Schon fliegt er durch die Luft. Bekommt eine Urkunde und einen maritimen Namen ins Goldene Buch Neptuns gekritzelt. Ich heiße Bibberbutt, Lucretia wird Zitteraal getauft.
Ich hasse die Neptuntaufe, sie liebt sie. So unterschiedlich sind wir. Die Kinder kreischen und laufen wild davon. Lucretia verstolpert sich absichtlich, bleibt am Boden liegen, gerät den Häschern in die Fänge, wehrt sich zum Scheine, macht es den Häschern leicht, lässt alles über sich ergehen, bietet nicht Stirn, reißt sich nicht los, ergibt sich der Überzahl. Man bindet sie an den Stuhl. Sie bekommt den Tauftrunk mit Gewalt eingeträufelt, erstickt an ihm und lacht kurz vorm Ersticken. Petkowitsch, ich habe den Tod gesehen, jubelt sie.
Das also ist sie, die verschwundene Insel, auf der Lucretia und ich lebten. Hier beginnt die Geschichte, die mich ein Leben lang begeistert, einengt, befördert und immer häufiger verwirrt. Neben unsere kindlichen Gefühle treten bald neue, bisher nicht gekannte wie Herzklopfen, Fieber, Bangnis, Bammel, Schiss davor, wir könnten uns verlieren. Das Schulparadies beschert uns Unrast, Getöse, Kuddelmuddel, Turbulenzen, Tatendrang, Wettstreit. Wir finden noch oft genug zusammen, aber da ist ein Flattergeist in sie gefahren, der zappelt und drängt dauernd von mir fort, wo ich nur liegen will und an nichts denken. So selten bereits die schönen Augenblicke, in denen wir beide uns zusammen an unseren Lieblingsplätzen aufhalten, sie mit mir eine Wolke anstaunt, sich an der Idylle erfreut.
Wie von einer Drohne aus gesehen, blicke ich auf die Insel hinunter. Unsere kleine Insel. Auf keiner Karte eingetragen. Mit diesem kleinen Flug erkundet. Nun gilt es, sie mit dem Schiff zu erreichen, sie zu besetzen, neu zu entdecken. Unsere schlummernde Insel. Jahrzehnte in Ruhe gelassen. Nun betrete ich ihr Ufer, setze meine Stiefel an Land, erobere Gestade, werde zum Inselentdecker, bewohne die Vergangenheit, richte mir eine Hütte auf dem Eiland her, in der ich lebe. Von der aus ich meine Erkundungen ins Innere der Insel starte. Zu der ich mich zurück durchschlage, komme ich an einem Inselpunkt nicht weiter voran. Denn es gilt nunmehr diese Insel zu umrunden, dorthin zu gelangen, von wo aus ich einst losgezogen bin.
Wir sehen der Erinnerung beim Erblassen zu, wie eine Pfütze verdampft, ein Toast verbrennt, ein schönes Glas unterm Stiefeltritt knirscht. Unser Hirn entfernt sich mit den Jahren von der objektiven Wahrheit. Alles wird Erfindung. Die Dinge, an die wir uns erinnern, wollen wir so erinnern, wie wir sie vor Augen haben. Man kann nicht sagen, dass sie so nie stattgefunden haben. Das nicht. Aber man kann darauf nicht bestehen, sie richtig wiederzugeben. Der Kopf ist eine Maschine und stößt lauter Unwahrheiten aus, die uns wie Wahrheiten erscheinen. Lauter rätselhafte Erscheinungen und Geheimnisse, die sich nicht lüften lassen. Und dann sind da ja noch die tiefen Abgründe in uns. Niemand ist schwarz oder weiß, gut oder böse. Wir sind Mischwesen, von allem haben wir reichliche Anteile in uns.
Krank und matratzenlägrig kümmert sich Lucretia um mich. Eine emsige Krankenschwester ist sie, dass ich nicht gesund werden möchte. Liegen bleiben, Petkowitsch, sagt sie. Den Kopf anheben, Petkowitsch, schlucken. Und ich schlucke, dass sie mich Petkowitsch nennt. Es geschieht in einem anderen Ton, kommt aus einem anderen Mund: Thermometer schön drinnen behalten. Sie singt mich gesund, säuselt so leise, wie der laue Sommerwind nach der langen Flaute hingebungsvoll zu wehen beginnt: Schwarz weiß rot, das liebe Kind ist gestorben, nun wollen wir es begraben in einem Puppenwagen. Wir zaubern uns weg von hier, woandershin, sieh an, sieh das Kind, was Schrecklicheres auf dieser Erdkugel sich nicht find.
Ich stehe in dieser Zeit auf lustige Mundzerbrecher. Ist ein Scheit nicht gescheit, ist’s ein geschliffenes Schleißenscheit aus Spleißen bei Meißen. Esel essen Nesseln nicht Nesseln essen Esel. Zwischen zwei Zwetschgenzweigen saßen zwei zwitschernde Schwalben, und dies ist der hölzerne Mann, dies ist das Wohnhaus des hölzernen Mannes, dies ist die Tür des Wohnhauses des hölzernen Mannes, dies ist das Schloss zur Tür des Wohnhauses des hölzernen Mannes, dies ist der Schlüsselbart zum Schloss der Tür des Wohnhauses des hölzernen Mannes, dies ist der Faden des Bartes des Schlüssels zum Schloss der Tür des Paradieshauses des hölzernen Mannes und so weiter. Auf den sieben Robbenklippen sitzen sieben Robbensippen, die sich in die Rippen stippen, bis sie von den Klippen kippen. Es ist eine Dänin mit drei Töchtern, die heißen Sipp, Sippsiwelipp, Sippsiwelipp-Siwelimini. Und der Schack schnappt die Sipp, Schackschawerack Siwelipp und Schackschawerack-Schackonimini kriegt Sippsiwelipp-Siwelimini.
Ich mag die Nacht nicht sonderlich, sie ist mir zu finster und bringt seltsame Geräusche hervor. Das Tapsen eines Igels wird in der Nacht furchterregend, hört sich wie Menschenschritte an. Da kommt der schwarze Mann, geht um in düsterer Nacht. Paradieskinder weinen nicht, sagt Lucretia zu mir. Paradieskinder halten ihre Augen offen, bis sie von allein feucht werden, sich Tränentropfen bilden, die Tätschele herunterlaufen. Die Augen brennen, Gesichtstautropfen fließen. Wenn ich einmal weg bin, sagt sie, und ich halte mir die Lauscher zu, ich will nicht, dass sie so etwas zu mir sagt, will es nicht einmal denken. Wenn ich einmal richtig weg bin, redet sie unbeirrt weiter, komme ich immer, immer wieder zu dir zurück, Petkowitsch. Nur zu dir. Wo du auch bist. Ich finde dich. Sei dir da sicher. Wenn ich etwas nicht ausstehen kann, sind es solche Reden. Ich kann mich nicht gegen sie aussprechen. Ich will sie mir nicht gefallen lassen und muss sie ohne große Gegenwehr hinnehmen.
Das gemeinsame Spielen macht uns alle so froh. Wenn allein wir uns fühlen, sind wir’s lange nicht so, weil nun einer verschwunden, einer fehlet im Kreis, sollst du ihn uns erkunden, ihn erraten, wie er heißt. Sie kann einiges, meine Lucretia, eins aber nicht, verlieren. Die Stuhlreihe ist aufgebaut. Rücken an Rücken stehen so viele Stühle, wie Mitspieler angetreten sind. Ein Stuhl wird dann weggestellt. Das Spiel kann beginnen. Lucretia läuft um die Stühle herum, bevor die Musik beginnt. Ist von allen Mitspielern oft genug die Erste auf einem Sitz, bricht die Musik ab. Lucretia drängelt, rennt, schubst, schiebt sich in die aussichtsreichste Position, setzt sich bis zu den letzten zwei Stühlen durch, als wäre dies Spiel kein Spiel, sondern blutiger Ernst, als ginge es um Leben und Tod. Und dann ertönt die Musik. Die zwei letzten Spieler belauern sich. Die Musik stoppt. Lucretia sitzt zuerst auf dem Stuhl, die andere hat das Nachsehen, muss als Verlierer ausscheiden. Lucretia ist keine gute Verliererin. Sie wird schnell fuchsig, hält sich dann nicht gern an die Regeln. Ist bei allen Spielen hundert Prozent dabei. Kein Spiel, das sie nicht zu gewinnen sucht. Lucretia jubelt und schreit. Lucretia triumphiert wie die Olympiasiegerin im Fernsehen. Und lässt im Vorbeigehen kleine giftige Bemerkungen wie Nadelspitzen fallen. Und also wollen sie bald nicht mehr mit Lucretia spielen. Lucretia sagt Püh. Oder bei der Schnitzeljagd im Wald. Da findet sie nun einmal die Hinweise und Spuren schneller als alle und bewegt sich rascher auf der richtigen Fährte. Holt die Spurenleger ein, bevor die mit dem Spurenlegen fertig sind. Es sind einfach mit der Zeit zu viele Spiele, bei denen sie glänzt. Mit verbundenen Augen läuft sie so sicher, als trüge sie keine Binde, jongliert beim Eierlauf das rohe Ei wie an den Löffel festgeklebt über die holprige Strecke durchs Ziel. Spielen wir: Ich packe für die Reise meinen Koffer, packe die Zahnbürste ein, packe Becher, Schere, Seife, Teddy, Tuch, Buch, Schuh hinzu, wiederholt sie die ellenlangen Sätze, ohne einen Gegenstand zu vertauschen oder zu vergessen.
Es ist ein unbegreiflicher Ehrgeiz, immer die Beste zu sein, alle niederzuringen, alles plattzumachen. Die nötige Ausdauer und Kraft einzusetzen, ihre Ziele zu erreichen, sich durchzusetzen. Die anderen winken ab, verdrehen ihre Augen, haben keinen Gefallen daran, sich mit Lucretia weiter zu messen, die so ohne Spaß ist mit ihrem nervenden Willen, stets die Siegerin zu sein. Und dann auch bald mit sich allein um die Wette läuft, gegen sich kämpft, mit sich ringt, fightet, Armdrücken veranstaltet und nicht mehr vergeblich versucht, die anderen zum Wettstreit zu überreden.
Die zerfallene Ruine der Mühle hat sie für uns erobert. Dort bin ich Burgherr, und sie ist das Burgfräulein. Das Lied, das sie dort singt, den Text weiß ich nicht mehr so genau, nur in etwa, worum es in der ellenlangen Ballade geht. Da steht sie auf hohem Berge, überm tiefen Tal ein Luftschifflein schwebt mit drei Rittern als Passagiere, die geben ihr nacheinander aus einem bunten Glas zu trinken. Schön sei sie ja, singen die Ritter, nur eben nicht gerade reich genug fürwahr, sonst wollt sie jedermann nehmen. Und einer zieht von seinem Finger den goldenen Ring: Nimm ihn hin, du Hübschfeine, er soll dein Gedenkmein sein. Sie aber fragt, was sie mit dem Goldring soll, weil sie ihn eh nie öffentlich tragen kann als armes Mädchen: Solch ein Angeberstück steht mir gar nicht an. Die Zeit über wird sie warten, bis einer Meinesgleichen kommt. Bleibt er aus, geht sie ins Kloster. Gesagt, getan. Klostermädchen geworden ist sie. Der tapfere Ritter findet sie in einem schneeweißen Kleid, ihr schönes Haar hat sie abgeschnitten. Mit einem Becher Trank naht sie dem Ritter, der trinkt begierig und ist daraufhin nach ein, zwei Stunden tot, der Arme. Drum, Mädchen, lasst Euch raten: Schaut nicht nach Schotter und Gut, nur Mut. Nehmt einen braven Burschen, der Euch gefallen tut.
Ich weiß nicht, ob damals schon die ganz große Herzensangelegenheit zu Lucretia existierte oder es mir nur jetzt so vorkommt. Ich weiß nicht, ob es je Liebe war, was uns aneinanderband. Ich weiß nicht einmal zu sagen, ob da Formen von übergroßer Innigkeit zu attestieren sind, wenn die eine Hälfte in einem Bund nicht voll dabei ist. Ich kenne da jedenfalls noch nicht die Befürchtung, er könnte für sie nicht allzu sehr von Wichtigkeit sein, dieser, unser Bund. Die Ruine ist lange unser düsterer Lieblingsort. Mir zu düster. Lucretia geht auf in ihm, kommt mit der düsteren Seite des Ortes besser zurecht als ich. Sitzt gern im Dunkel, wo ich Beklemmung verspüre und nach draußen treten muss. Man kann dich sehen, sagt sie, Petkowitsch, bleib hier. Zum Abend erst tritt sie mit mir hinaus, und wir sitzen dann bei der Mühle. Manchmal flattern Fledermäuse am Himmel. In den blauen Stunden flattern sie waghalsig um uns herum, suchen nach dem Müller, der einst die Ruine bewohnt hat. Wir suchen sie mit Lügenliedern zu besänftigen. Dunkel war’s, der Mond schien helle, schneebedeckt die grüne Flur, als ein Wagen blitzeschnelle langsam um die Ecke fuhr. Drinnen saßen stehend Leute, schweigend ins Gespräch vertieft, als ein totgeschossener Hase auf der Sandbank Schlittschuh lief. Und ein blond gelockter Jüngling mit kohlrabenschwarzem Haar saß am grünen Lenkrad, das rot angestrichen war. Neben ihm die Schrulle zählte kaum dreizehn Jahr, im Greifer ne Butterstulle, die mit Schmalz bestrichen war. Man kann Wagen statt Auto sagen, belehrt sie mich, finster statt dunkel, Knabe statt Junge. Ein Hase pest, prescht, rennt, braust, saust, hetzt, wetzt, rast, flitzt, fegt, stürmt, jagt, joggt, sprintet, huscht, pfeift, stiebt, flutscht, galoppiert über Kies, Eis und Sand.
Des Morgens, wenn ich zu Bette geh, des Abends, wenn ich früh aufsteh, krähen die Hühner, gackert der Hahn, fängt das Korn zu dreschen an, die Magd, die steckt den Ofen ins Feuer, die Köchin schlägt drei Suppen in die Eier, der Knecht, der kehrt mit der Stube den Besen, sitzen die Erbsen, die Kinder zu lesen, mir sind die Stiefel angeschwollen, die nicht in die Beine hineingesteckt sein wollen, drei Pfund Fett schmier ich mir ums untere der Staken, lege die trocknen Stiefel in das Bett, zwäng mich still und fein ins Schuhfach hinein. Barbarossa im alten Schlosse neben seinem toten Rosse, der Stuhl ist elfenbeinern, darauf er sitzt, der Tisch ist marmelsteinern, worauf sein Haupt er stützt. Sein Bart ist nicht von Flachs, nicht von des Feuers Glut, alte Raben fliegen immerdar, wo er schläft, verzaubert für hundert Jahr. Herrliche Zeiten. Wir sammeln Brennmaterialien ein, entfachen im großen Kamin ein kleines Feuer, sitzen an ihm, bibbern trotzdem und suchen die Gegend nach Gegenständen ab, die den Piraten gehört haben könnten. Mich gruselt in der Ruine. Lucretia packt mich, fragt:
Hast du Angst?
Ich habe vor nichts Angst, antworte ich.
Natürlich hast du Angst.
Unsere glücklichste Zeit, als wir zungenverbrecherisch waren, perfekt die Lippen schwangen zu: Am Zehnten Zehnten zehn Uhr zehn zogen zehn zahme Ziegen zehn Zentner Zucker zum Zoo. Herr und Frau Lücke gingen über eine Brücke. Kam eine Mücke, stach Frau Lücke ins Genicke. Da nimmt Herr Lücke seine Krücke und schlägt Frau Lücke ins Genicke. Frau Lücke mit der Mücke und der Krücke im Genicke fällt tot um wi de bum. In Ulm und um Ulm herum gibt’s viel mehr runde Hunde als in jeder anderen Hunderunde. Kleine Kinder können keine Kirschkerne knacken. Vier fünfmal vervierfacht macht mehr als fünf viermal verfünffacht. Ich liebe dieses: Wenn Fliegen hinter Fliegen fliegen, fliegen Fliegen Fliegen nach, sie sagt Blaukraut bleibt Blaukraut, Brautkleid bleibt Brautkleid ohne Tadel auf, ich verheddere mich heute noch. Von Beginn an liegen mir der Whiskymixer mixt den Whisky mit dem Whiskymixer, mit dem Whiskymixer mixt der Whiskymixer den Whisky und der dünne Diener trägt die dicke Dame durch den dicken Dreck, da dankt die dicke Dame dem dünnen Diener, dass der dünne Diener die dicke Dame durch den dicken Dreck getragen hat. Sie verhaspelt sich bei Katzen kratzen im Katzenkasten und Fischers Fritze fischt frische Fische. Das kommt, weil sie lispelt. Gibst du Opi Opium, bringt Opium Opi um finden wir beide gut, wissen aber nicht, was Opium ist.
Quer über die Straße ist unsere Lerne, wie mein Opa die Schule nennt. Schule ist eh ein Reizwort für ihn. Eine Verdummungsanstalt nennt er sie. Besteht aus Räumen, die Schule, in ihnen Schüler, die zuhören, kritzeln, ausharren, vor sich hin träumen und dabei erwischt werden, Zettelchen der Stillen Post auf den Weg zu schicken. Auf dem Weg zur Schule die achteckige kleine Eisbude, passt gerade einmal so die Verkäuferin hinein. Der Andenkenladen, an dessen Scheiben wir uns die Nasen platt drücken, fantastische Dinge sind dort zu sehen. Eine hölzerne Eisenbahn, die Achten fährt. Der kleine Koch, der monoton mit seinem Kopf nickt. Im Einkaufsladen gegenüber holen wir Brausepulver und Bruchschokolade in Tüten ab. Die aufgetakelte Verkäuferin in der Drogerie heißt Ingrid Bergmann und verkauft Pullerüberzüge, heißt es, in Zeitungspapier eingewickelt unterm Ladentisch.
Die beste Zeit in der Schule ist, wenn wir die Baumallee entlang drei Kilometer zum Stall der Schweinezucht wandern, über die Felder stiefeln, Rüben hacken, Kartoffeln in Gitterkiepen sammeln und mit den Mädchen schäkern. Am liebsten bin ich mit den Jungen am Haff, Tonröhren auslegen, Aale fangen, die rückwärts in den Reusen wohnen. Deckel zu, schon sind sie gefangen. Mächtige Brombeerhecken wachsen dort, Schwäne und Blesshühner auf dem Wasser, davor die Windflüchter. So muss man sich das vorstellen. Manchmal sind da Sternschnuppen und Leuchtkäfer zu sehen.
Unsere Haut erneuert sich vollständig. Sie wird wie neu, aber die alten Wunden, die schmerzen ab und zu immer noch, heißt es in M, eine Stadt sucht einen Mörder. Wir sind im neuen Paradies nach Geschlecht getrennt. Sich nachts zu besuchen ist illegal. Und also lockt es sehr, es doch zu tun. Die Wege zueinander sind gefährlich. Über Barrieren, entlang der Wände, dunkle Flure hinauf, vorbei an imaginären Nachtwachen, finden wir zu den Mädchen, hören mit ihnen Radiomusik.
Ich halte mir die Lauscher nicht einmal mehr zu, höre ich, wie viel unbeholfener andere Kinderheimkinder im Leben nicht Fuß fassen können, die Liebe nicht zustande bringen, nicht in die Vorhallen gelangen, an den Schaltern der Liebe schon scheitern, nicht durchgelassen werden und sich wieder trollen sollen. Lucretia und ich sind angeschossene Kinder mit Bleikugeln, die sich in unsere Herzhäute eingewachsen und eingerichtet haben. Wer auf uns angelegt hat, die genauen Hintergründe dieser Verbrechen, das wird niemals aufgeklärt, geblieben allein mein schriftstellerisches Bemühen all die Jahrzehnte lang, in diese Urzustände hineinzugeraten, von denen her all unsere bitteren Belange stammen.