Ursula Hegi
Emma Blau
Roman
Aus dem Amerikanischen von Susanne Goga-Klinkenberg
Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
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Ursula Hegi kam mit 18 Jahren aus Deutschland in die USA, wo sie heute noch lebt. Sie hat zahlreiche Romane und Erzählungen veröffentlicht und literarische Preise erhalten.
Die große amerikanische Erzählerin Ursula Hegi entwirft in ihrem facettenreichen Roman die wechselvolle Geschichte einer deutschen Einwandererfamilie in Amerika. Über ein Jahrhundert hinweg schildert Ursula Hegi das Leben von Stefan Blau und seinen Kindern, vor allem aber das seiner Enkelin Emma, in der sich endlich die Träume des Patriarchen erfüllen.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei KiWi Bibliothek
© 2017 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN (eBook) 978-3-462-41076-1
Die Übersetzung wurde mit einem Arbeitsstipendium des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert.
Für meine Großmutter Gertrud Maas
Es sah nicht aus wie ein Haus, auf dem ein Fluch lasten könnte. Die Wasserburg, von einem deutschen Einwanderer aus Backstein und dunklem Holz gebaut, war sechs Stockwerke hoch und hatte auf jeder Etage sechs Wohnungen. In dem kleinen Ort in New Hampshire, der am Ufer des gleichnamigen Sees lag, nahm das U-förmige Gebäude einen ganzen Straßenblock ein und ragte hoch über Holzhäuser und Küstenlinie empor. Es war ein Bauwerk, wie man es in New York erwarten würde – mit Marmorbädern und hohen Fenstern mit Einsätzen aus buntem Glas – und nach Meinung der Einwohner zu bombastisch und auffällig für diesen Teil Neuenglands, wo sich früh die Dämmerung auf den weiten See senkte, der mit Hunderten von Inseln gefleckt war und dem die Indianer den Namen Winnipesaukee – Lächeln des Großen Geistes – gegeben hatten.
In Emma Blaus Kindheit war die Wasserburg ihres Großvaters noch ein prächtiges Haus. Die Flure waren mit Läufern ausgelegt, deren Muster und Farben an Pfauenfedern erinnerten. Oft stellte Emma sich vor, sie schreite auf den Schwanzfedern eines riesigen Pfaus, der sich mit ihr in die Luft erhebt. Sie schwebt über das Dach mit dem sandfarbenen Holzwerk am Rand und den blau lasierten Kacheln in der Fassade; über den Innenhof mit seinen Backsteinwegen und dem Springbrunnen; über den hoch gelegenen Garten mit der Schaukel und den Blumenbeeten, in denen ihre deutsche Großmutter Helene Löwenmäulchen und Geranien pflanzt, Kamille und Stiefmütterchen. Stiefmütterchen – ein Name, der auch zu Helene passte, da sie bei den Kindern der toten Frauen ihres Ehemannes die Mutterstelle übernommen hatte.
Seit Emmas Großvater sie an den versteckten Ort geführt hatte, an dem das Haus atmete, war Emma immer wieder allein dorthin zurückgekehrt, obwohl es ein verbotener Ort war, wo Kinder fallen und von den grünen Maschinen und Drähten, die im Zwielicht Staubkörner aufwirbelten, zerfetzt werden konnten. Sie stibitzte den Schlüssel der Tür zum Dach, der hinter den Zinnbechern im Porzellanschrank ihrer Großeltern lag, fuhr mit dem Aufzug ins oberste Stockwerk und schlüpfte in das Ziegelgebäude, das wie ein riesengroßer Schornstein auf dem Flachdach stand. Wenn sie die hölzerne Leiter zu der Plattform über dem Aufzug emporstieg, pustete der Atem des Hauses die feinen Haare auf ihren Armen mit einem Sssst in die Höhe, und sie lachte vor Freude. Ein Rad, das sich nach links drehte, atmete regelmäßig warmen Dampf aus. Um dieses Rad war eine Kette gewickelt – ähnlich wie bei Emmas Fahrrad –, die nach oben in einer ovalen Schlaufe verlief und mit beweglichen Stangen verbunden war, die in einem wechselhaften Lied klapperten und summten. Hielt der Aufzug an, spürte Emma, wie ein Beben aus dem Schacht emporstieg, als erwache das Gebäude zum Leben.
Emma kannte das Haus von innen und von oben: Sie war in seine Eingeweide gekrochen, hatte im Kellergewölbe hinter dem Boiler der Heizung gespielt, war im ersten Stock aus dem Fenster auf den halbrunden Balkon über dem Eingang geklettert und hoch über der Stadt am Rand des Daches entlangbalanciert. Mitunter war ihr, als sei sie das Zentrum des Hauses, als atme sie sein Atemlied. Dann wieder spürte sie das Haus tief in sich wie einen Pulsschlag, der sie wärmte, während sie ihn sicher in ihrem Körper bewahrte.
Ihr Großvater Stefan Blau war erst dreizehn, als er in einer regnerischen Novembernacht des Jahres 1894 aus seiner Heimatstadt in Deutschland weglief. Überzeugt, dass er in der faszinierendsten aller Zeiten lebte – einem Zeitalter des Wandels und der Entdeckung –, fühlte er sich in Burgdorf rastlos. Zu viele Traditionen. Zu viele Einschränkungen. Amerika, so glaubte er, war das Land, in dem die Menschen die Veränderung herbeiführten, statt ihr zu widerstehen. Doch seine Eltern wollten nichts davon wissen, wenn er ihnen von Einwanderern vorlas, die ein Vermögen verdient hatten, von Erfindungen, vom Gold in den Bergen; sie wussten nicht, dass Amerika ihn so tief berührt hatte, dass er Nacht um Nacht davon träumte, von einer seltsamen, großartigen Landschaft, die mit dem aus zahlreichen Büchern zusammengetragenen Wissen verschmolz, einer Landschaft mit Büffeln und Bauwerken, die so hoch waren, dass sie die Wolken durchstachen.
Als Stefan sich ein englisches Wörterbuch kaufte und jeden Tag vierzig neue Wörter lernte, schüttelten seine Eltern den Kopf und erklärten, sie würden Deutschland nicht verlassen. Als er vorschlug, die Überfahrt allein zu wagen und sie und seine Schwester nachkommen zu lassen, sobald er ein Vermögen verdient hatte, lächelten sie. »Er ist noch ein solches Kind«, sagten sie zueinander.
Sie schliefen, als er fortging.
Obgleich klein für sein Alter, war er doch kräftig und verschaffte sich durch seine Beredsamkeit Arbeit auf einem Kohlenschlepper, der auf dem Rhein nach Norden fuhr, vorbei an Duisburg und Xanten bis nach Holland, wo sich der Fluss in zwei Mündungsarme gabelte, die in die Nordsee strömten. Die Sprache der Holländer, noch gutturaler als sein Deutsch, klang hart in Stefans Ohren. Als er nach Rotterdam kam und seine Arbeitskraft nicht gegen die Überfahrt nach Amerika eintauschen konnte, brach er auf nach Amsterdam, durchwanderte kalte Nächte und Tage, rastete nur, wenn er zu verfroren und erschöpft zum Gehen war, in Scheunen oder Kirchen. Doch er verlor nie seine Begeisterung, denn jeder Schritt – so ermahnte er sich – brachte ihn näher an Amerika heran. Außerdem halfen ihm die Leute unterwegs, als wollten sie dafür sorgen, dass er auch wirklich dorthin gelangte: Ein kahler Priester schenkte ihm wollene Ohrenschützer, die ein anderer Junge im Beichtstuhl vergessen hatte, und eine Bauersfrau gab ihm Schwarzbrot mit Blutwurst und packte ihm noch eine zweite Mahlzeit ein, die er in seine hölzerne Werkzeugkiste zu den Kleidern und Büchern steckte.
An dem Nachmittag, als er Amsterdam erreichte, fielen Graupelschauer, doch er hatte Glück, denn noch vor Einbruch der Nacht heuerte er als Küchenjunge auf einem Passagierschiff an, das nach New York fuhr. Was machte es schon, dass er noch keine sechzehn war, wie er behauptet hatte? Dass er nicht zwei Jahre lang auf Flussschiffen gearbeitet hatte? Behauptungen wurden erst dann zu Lügen, wenn man sie nicht durchhalten konnte. Irgendwann würde er sechzehn sein, und solange er die Arbeit, für die man ihn eingestellt hatte, verrichten – gut verrichten – konnte, lag die Entscheidung, was er anderen über sich erzählte, allein bei ihm. Außerdem ging er für sechzehn durch. Er hatte mehr Haare am Körper als die meisten Sechzehnjährigen. Vor allem auf dem Rücken. Schwarz und weich und lockig wie das Haar auf dem Rücken seines Vaters. Wenn auch nicht so dicht. Noch nicht. »Du kannst einen Blau am Rücken erkennen«, sagte sein Vater gern. »Ein richtiger Pelz. Unter hundert Männern, die du mit dem Rücken zu mir aufstellst, kann ich einen Blau jederzeit herausfinden.« Das Haar seines Vaters bedeckte Rücken und Schultern und zog sich wie Ärmel, die zu lang waren, über die Arme bis hinunter zu den Handknöcheln. »Alle Männer der Blaus müssen sich rasieren, bevor sie vierzehn sind«, hatte er zu Stefan gesagt, als dieser gerade drei war, und von da an freute der sich auf den Tag, an dem auch er sein Gesicht einseifen und den Schaum mit einem Rasiermesser abschaben könnte.
In einer Morgendämmerung auf See wachte Stefan auf und konnte nicht mehr einschlafen, weil er an die gute Jacke denken musste, die ihm sein Vater in seiner Schneiderwerkstatt genäht hatte. Wie musste es seinen Eltern wehgetan haben, dass er sie nicht mitgenommen hatte. Die Jacke bereitete ihm mehr Sorgen als die Nachricht, die er seinen Eltern hinterlassen hatte, dass er nach Amerika gehe. Erst als er selbst Vater war und sein eigener Sohn Tobias zornerfüllt vor ihm davonlief, sollte er allmählich verstehen, wie sehr sein Verschwinden seine Eltern bekümmert haben musste.
Sobald er an die Jacke dachte, fielen ihm noch weitere Dinge ein, die er zurückgelassen hatte, vor allem das Teleskop, ein Geschenk seiner Mutter zu seinem siebten Geburtstag. Sie hatte es für ihn am Küchenfenster aufgestellt, gleich neben dem größeren Teleskop ihres Großvaters, der ebenfalls Stefan geheißen hatte. Seine Mutter wusste alles über die Sterne und Planeten, da ihr Großvater ihr als Kind gezeigt hatte, Sternkarten zu zeichnen. »Neigungen kann man erben wie Geld«, hatte sie Stefan und seiner Schwester Margret erklärt, und sie hatte ihnen vieles über Sterne beigebracht, lange bevor sie das Alphabet lernten. Stefan begriff rasch, dass jeder Stern jede Nacht vier Minuten früher auf- und unterging. In einem Monat ergab das eine Differenz von zwei Stunden, in einem Jahr waren es vierundzwanzig Stunden. Wenn seine Mutter im Gras hinter seinem Elternhaus lag, lehnte sie den Kopf an die breite Flanke ihres Hundes Spitz und deutete zum Himmel empor, wobei ihr weißer Arm Erde und Sterne in einem leuchtenden Bogen verband. Manchmal musste er angestrengt hinschauen, da er nur die hellsten Sterne sah und Minuten brauchte, bis er auch die anderen erkannte, obwohl sie – wie seine Mutter ihm versicherte – die ganze Zeit über da gewesen waren.
Wann immer sie von den Sternen sprach, wurde sie so aufgeregt, dass sie ihm eher wie eine Schwester als wie die Mutter vorkam, die sich das Gesicht puderte und die knusprigsten Reibekuchen von Burgdorf briet. Mit erwartungsvoll glänzenden Augen entrollte sie ihre Sternkarten aus Leinwand oder zeichnete rasch ein Muster aus Kreidesternen auf Margrets Tafel und forderte beide Kinder auf zu raten, welche Sternbilder dargestellt waren. Anfangs machten sie Fehler, verbanden die falschen Sterne miteinander oder ließen Linien aus. Margret langweilte sich bald, doch Stefan war entschlossen, es richtig zu lernen, und mit neun Jahren wusste er genau, welche Sterne in einer jeden Nacht des Jahres am Himmel standen. »Gut gemacht«, sagte seine Mutter dann zu ihm. Stefan war froh, dass er keine alte Mutter hatte: Sie war jünger als die anderen Mütter in der Stadt – erst fünfzehn, als seine Schwester geboren wurde, kaum siebzehn bei seiner eigenen Geburt. Das bedeutete, sie würde lange leben. Daran erinnerte er sich stets, wenn er Angst hatte, sie könne vor ihm sterben, ihn verlassen.
Und jetzt weiß sie nicht einmal, wo ich bin.
Um seinem Unbehagen und der abgestandenen Luft im Quartier der Seeleute zu entfliehen, stieg Stefan die Treppe zum Promenadendeck hinauf, wappnete sich gegen den eisigen Nebel. Der ganze Himmel war so grau wie die See und verwischte den Horizont. In den vergangenen Tagen hatte Stefan Wale und Fliegende Fische gesehen, Wellen so hoch wie sein Elternhaus, doch nun ließ das Grau alles flach erscheinen, obwohl er spürte, wie sich das Schiff mit den Wellen hob und senkte. Nicht ein einziger Stern stand am Himmel. Kein Mond – nicht einmal ein orangefarbener Mondspan –, und doch erschien er ihm, ein orangefarbener Mond an einem so klaren Himmel, dass man auch die blassesten Sterne ausmachen kann. Die Luft ist noch warm – noch durchdrungen vom Duft der letzten Fliederblüten. Hoch über Stefan steht die Wega, bläulich weiß; sie gehört zum Sternbild der Leier. Es ist leichter, die imaginären Linien dieses Sternbildes nachzuzeichnen als die des Herkules’, dessen Sterne nicht so hell scheinen und weiter verstreut sind. Seine Mutter greift zum Himmel empor, packt ihn mit dem von Geburt an gekrümmten rechten Zeigefinger und zieht den Himmel herunter, bis auch Stefan ihn berühren kann. Samt und Nacht. Weich, ganz für ihn allein. »Kannst du Pegasus sehen?«, fragt seine Mutter. Als er »ja« sagt, erzählt sie ihm und Margret die Geschichte des geflügelten Pferdes, das Perseus und Andromeda in die Sicherheit trug. Aus dem hohen Gras am Bach ertönt das Quaken von Fröschen –
Keine Frösche. Nein. Ein anderer Ton. Dünn und lang. Dann wieder Stille. Stefan schaute sich um. Dort, neben den aufgestapelten Liegestühlen, lag eine Möwe. Sie sah tot aus, ein Auge war getrübt; doch als er sie an einem Bein aufhob, um sie über Bord zu werfen, flatterte sie mit den Flügeln, und er konnte sehen, dass ein großes Stück ihres Rückens herausgerissen war. Wie betäubt von der plötzlichen Erkenntnis, dass die Möwe allein starb – wie auch ich eines Tages allein sterben muss –, hielt Stefan sie in beiden Händen, damit sie es bequemer hatte. Die Möwe stieß ein gebrochenes Krächzen aus. Dann noch eins. Er legte sie auf die Planken. Wich zurück im Wissen, dass es am besten sei, sie zu töten. Rasch zu töten. Jetzt. Sie von ihrem Leiden zu erlösen. Wenn er sie ins Meer würfe, müsste er sie nicht anschauen, nicht über sie nachdenken. Doch er konnte es nicht. Wusste, dass er es nicht konnte. Er schrak zurück bei dem Gedanken, ihren Kopf mit dem Fuß zu zermalmen. Dennoch wäre es grausamer, sie am Leben zu lassen. Ein Stück Holz. Leg es auf den Vogel. Tritt darauf. Tritt fest darauf. Er rannte los, um etwas zu holen. In der Lounge der Passagiere lagen fünf Schachbretter in einem Regal. Er nahm eins. Wandte sich zur Tür. Setzte sich dann aber hin und rieb mit den Handflächen über das glatte, gemaserte Holz.
Wer gewinnt? Er erwog, nicht zurückzugehen. Jemand anderen die Möwe finden zu lassen. Denn nicht ich bin es, der ihr das zugefügt hat, den Schmerz. Also muss ich auch nicht entscheiden, was mit ihr geschieht, und damit leben. Damit. Doch schon war er wieder draußen im Nebel, bereit, das Schachbrett auf die Möwe zu legen und darauf zu treten.
Doch sie war gestorben.
War ohne ihn gestorben, und er fühlte sich schwach vor Erleichterung. Vor Kummer.
In Lower Manhattan fand er Arbeit in einem französischen Restaurant, wo er mit dem gleichen Eifer, mit dem er Jahre später sein eigenes Restaurant betreiben würde, Gemüse putzte und Teller abwusch. Nur der Besitzer war Franzose; die Angestellten waren Ausländer aus anderen Teilen Europas. In der gut ausgestatteten Küche gestikulierten sie über die drei langen Herde hinweg und verständigten sich in italienischen, jiddischen, ungarischen, deutschen Wortfetzen. Nicht alle waren so gern und freiwillig nach Amerika gekommen wie Stefan: Einige waren aus religiösen Gründen geflohen; andere vor ihrer Familie oder einem Krieg; doch was alle dableiben ließ, war die Hoffnung.
Nie wieder würde Stefan sich so sehr als Teil seines neuen Landes fühlen wie gleich nach seiner Ankunft, als er in jeder Hinsicht so amerikanisch wie möglich sein wollte. Wie er den Mangel an Konventionen liebte, die augenblickliche Vertrautheit. Hier hatte Respekt nichts mit dem Alter zu tun, sondern wurde durch Erfolg verdient. Klassenunterschiede – die komplizierte Rangfolge menschlicher Werte, mit der er aufgewachsen war – gab es, wie er glaubte, in Amerika nicht, und es würde Jahre dauern, bis er die zahlreichen subtilen Nuancen der Vorurteile erfasste.
Eines Tages, als er gerade auf der West Street zur Arbeit ging, vorbei an Verkaufswagen und Leuten auf Fahrrädern und Pferden, die Lastkarren zogen, und er sich in seinem amerikanischen Mantel und dem Bowler vor dem scharfen Wind geschützt fühlte, wurde ihm plötzlich klar, dass niemand ihn als Ausländer erkannte. Solange er nicht sprach und sein Akzent ihn verriet, fügte er sich wie alle anderen ein. Diese Gewissheit der Zugehörigkeit atmete er ein, bewahrte sie mit tief empfundener Freude in seinem Inneren.
Vom Chefkoch Tibor Szilagi, einem Ungarn mit einem leichten Hinken und einem ansteckenden Lachen, lernte Stefan die Leidenschaft für Speisen und deren Zubereitung. Er genoss die Arbeit, die Anstrengungen, die Ergebnisse. Liebte den Duft von gegrilltem Fleisch und sautiertem Gemüse. Schon bald trug ihm sein Eifer die Stelle des Beikochs ein und auch eine Einladung zu den Pokerpartien, die der Ungar in den frühen Morgenstunden in seiner Wohnung in der Gansevoort Street abhielt. Hinter geschlossenen Vorhängen versammelte sich eine Gruppe müder Männer – Polizisten, die gerade vom Dienst kamen, und Kollegen aus der Restaurantbranche – um den Tisch mit den bestickten Leinendecken, die der Ungar von seinen unverheirateten Tanten stets zum Geburtstag geschenkt bekam. Um seine Gäste aufzumuntern, servierte Tibor starken Kaffee mit Whisky in Porzellantassen. Wenn er Stefan die Gewinne zuschob, warf er ihm vor, zu viel Glück zu haben.
»Das kommt, weil du das Spielfieber noch nicht in deiner Seele hast«, sagte er eines Morgens und zwinkerte ihm zu.
»Heute nicht und künftig nicht.«
»Es ist eine schöne Geliebte.«
»Nicht für mich.«
»Immer feurig und kriegt nie genug von dir.« Tibor Szilagi zerdrückte eine halbe Zimtstange, mischte die winzigen Splitter unter eine Hand voll Tabak und begann, seine Spezialzigaretten zu drehen. »Es wird dich schon noch packen.«
Stefan lächelte und schüttelte den Kopf.
»Mach wenigstens etwas mit deinem Geld. Eine Reise. Es gibt einen See, der dir gefallen würde, das schwöre ich dir. Ich habe ihn nur einmal gesehen, aber er hat mich an Deutschland erinnert. Bäume und Berge und so viel Wasser, dass du niemals den ganzen See auf einmal sehen kannst.«
»Wo ist der See?«
»In New Hampshire. Ich bin in meinem zweiten Sommer in Amerika mit dem Zug dorthin gefahren. In eine Stadt, die genauso heißt wie der See. Winnipesaukee.«
Doch Stefan hatte keine Zeit zum Reisen. Er interessierte sich weitaus mehr dafür, französische Rezepte zu studieren und die Zeitung nach weiteren Erfolgsgeschichten von Einwanderern zu durchsuchen. Seine neue Sprache umfing ihn immer enger, und es gefiel ihm, wenn er einige Sätze lesen konnte, ohne ein einziges Wort nachzuschlagen.
»Du solltest deine Geschichte einem Reporter erzählen«, sagte er eines Abends in der Küche zu Tibor. »Sie ist besser als die meisten, die ich in der Zeitung gelesen habe.«
»Und wer würde sich für mich interessieren, bitte schön?«
»Viele Leute.« Stefan liebte die Geschichte, wie der Ungar nach Amerika gekommen war. Tibor hinkte, seit er acht war, weil er Kinderlähmung gehabt hatte, und konnte nicht auf dem Bauernhof seiner Familie helfen. Seine Eltern biligten es, wenn er bei verheirateten Frauen in der Küche arbeitete, doch als er Koch in einem Bordell wurde, verschworen sich seine Mutter und ihre drei unverheirateten Schwestern, um seine Seele zu retten. Sie schleppten ihn zum Priester, auf dass dieser ihm die Absolution erteile, und bestachen Tibor dann mit einer Fahrkarte nach Amerika. Nachdem Tibor sich von seinem Vater verabschiedet hatte, begleiteten ihn seine Mutter und die Tanten im Zug nach Rijeka, wo sie eine Kutsche mieteten und ihn zu dem Schiff brachten, das ihn nach Süden um die Ferse des italienischen Stiefels bringen sollte, erst nach Westen durch die Straße von Gibraltar, wo Affen in den Spalten hoher Felsen lebten, und schließlich noch weiter Richtung Westen nach Amerika.
»Viele Leute würden sich für deine wundersame Genesung interessieren«, sagte Stefan. »Dass du über die Gangway gehumpelt bist. Und dass du bei deiner Ankunft nur noch mit dem Schattens eines Hinkens von Bord gegangen bist. Und dass es seither so geblieben ist.«
»Und dass dies und dass jenes …« Tibor Szilagis steckte zwei Kellner mit seinem Lachen an.
»Aber es stimmt«, beharrte Stefan.
Der Ungar zupfte sich einen Zimtkrümel von den Schneidezähnen, betrachtete ihn prüfend und schnippte ihn vom Daumen. »Das Hinken wäre vielleicht auch so besser geworden.«
»Nein. Es liegt daran, dass du nach Amerika gegangen bist.«
»Manche Leute müssen aus allem eine Bedeutung herauslesen.«
»Weil eine da ist.«
»Ach, Stefan …«
Von dem Ungarn lernte Stefan die Launen ihres Arbeitgebers wie auch dessen Lieblingsaussprüche zu entschlüsseln. Der Franzose betrachtete Englisch als eine grobe Sprache, die er so selten wie möglich verwendete, und verärgerte die Lieferanten, indem er sich noch unwissender gab als er in Wirklichkeit war. »C’est comme pisser dans un violon« – »Es ist, als ob man in eine Violine pisst« – sollte heißen, was man auch tat, es machte ohnehin keinen Unterschied. Obgleich von Natur aus extravagant, suchte der Franzose gelegentlich nach Spuren von Verschwendung, schlich durch die Küche mit ihren Kupfertöpfen und bemalten Servierplatten, durch den Speiseraum mit den Marmorkaminen und den bunten Glasfenstern; doch am selben Abend konnte er ebenso gut jemanden mit einer halben Flasche Wein oder einer Opernkarte nach Hause schicken. Oder er drängte seine Angestellten, Aktien amerikanischer Eisenbahn-, Bergbau- und Telefongesellschaften zu kaufen, und warnte gleichzeitig davor, große Pläne auf der Grundlage eines wackligen Optimismus zu schmieden: »Ne batissez pas de châteaux en Suède« – »Bau keine Schlösser in Schweden.«
Er erinnerte Stefan gern daran, dass er sich eine bessere Wohnung leisten könne, doch Stefan war zufrieden mit seinem Zimmer in der Cornelia Street. Es war klein und befand sich im obersten Stock derselben Pension, in der er während seiner ersten Zeit in der Stadt fünfundfünfzig Cent pro Woche bezahlt hatte, um mit drei Italienern auf den Stühlen und Sofas im Wohnzimmer zu schlafen. Wenigstens hatte er dieses Zimmer für sich allein, wenn auch die Fenster mit Farbe verklebt waren und er sich das Wasserklosett am Ende des Flurs mit der österreichischen Familie teilen musste, die im Zimmer nebenan wohnte. Das Gebäude wurde besser in Stand gehalten als die meisten anderen in diesem Block, von deren Türen die Farbe abblätterte und in deren Kellern Wasser stand.
Die Miete war niedrig, so dass er den größten Teil seines Lohns und der Pokergewinne investieren konnte, und den Rest gab er für Geschenke aus, die er seiner Familie schickte. Er schrieb auch Briefe an Helene Montag, die beste Freundin seiner Schwester, die im Haus neben seiner Familie wohnte und begonnen hatte, ihm zu schreiben. Gelegentlich kreuzten sich ihre Briefe, eine Flut von Wörtern – mehr als sie je miteinander gesprochen hatten. Während ihm seine Familie von den Ereignissen in Burgdorf – Hochzeiten, Geburten und Begräbnissen – schrieb, hielten Helenes Briefe den Hintergrund seiner Heimatstadt lebendig: die Hochwassermarken des Rheins an der inneren Böschung des Deiches; früher Frost, der den Hügel bei der Kapelle silbergrau färbte; Trauerweiden, die sich unter dem Gewicht der ersten Blätter bogen.
Stefan, der neben den Chefköchen an den hölzernen Tischen arbeitete, meldete sich auch für Aufgaben, die größere Verantwortung mit sich brachten. Er fing an zu rauchen. Trug nun einen Schnurrbart, der mit den dichten Koteletten zusammenwuchs und ihn männlicher aussehen ließ. Er besaß eine ungeheure Energie. Wurde kräftig durch harte Arbeit.
Bei Anbruch des neuen Jahrhunderts war er neunzehn und trug eine gestärkte weiße Jacke, das Kennzeichen der Chefköche. Das hatte er gewollt, und er war ebenso stolz auf das Wollen wie auf das Erreichte. Denn er wusste, dieses Wollen hatte ihn über den Ozean geführt. In diese Stadt. Hatte ihn zum Chefkoch gemacht. Seine Spezialität waren Torten: köstliche Kompositionen, in denen sich Teigschichten mit Sahne, Früchten und Schokoladenraspeln abwechselten. Obgleich sein Englisch für immer von einem deutschen Akzent gefärbt sein würde, lernte er, französische Begriffe, die mit Essen zu tun hatten, fehlerfrei auszusprechen.
An einem Abend im Juli goss der Ungar gerade Kognak über Kalbsmedaillons, als eine schmale Flamme über sein Handgelenk leckte. »Az istenit«, fluchte er und ließ die Flasche auf den Herd fallen, wo sie zerbrach. Der Kognak entzündete sich, die Flamme züngelte über die heiße Oberfläche in eine Pfanne voll brutzelnder Beignets und sprang von dort aus über auf einen Korb mit gebrauchten Schürzen und Handtüchern. Nachdem das Feuer in den Abzugschacht emporgelodert war, teilte es sich und drang in den Speisesaal und ein benachbartes Geschäft vor; dabei wurden fünf Frauen und vier Männer getötet, darunter Tibor Szilagi, der in Stefans Armen starb, als dieser ihn auf die Straße trug. Stefan spürte den Moment des Todes, denn der Körper seines Freundes wurde plötzlich schlaff und schwerer. Es war, als habe Tibors Fleisch ohne Atem – den Atem, der meist nach Zimt und Tabak roch – keine Kraft mehr. Der Geruch von verbranntem Haar und Fleisch sog alles andere auf, sog den Zimt auf, den Tabak, sog den Stärkeduft der Tischdecken auf, den Geruch von Blumen, Kognak und frisch gemahlenem Pfeffer; schlimmer noch, dieser Geruch nach Feuer und Fleisch war entsetzlich vertraut, er erinnerte an den Geruch von Grillhähnchen – oder eher Schwein? denk nicht daran denk nicht daran –, wenn die Hitze groß genug ist, um das Aroma freizusetzen.
Der Lärm der Feuerwehrsirenen durchdrang den Geruch, die Schreie, die Nacht, die heller und heißer als der Mittag war. Von Pferden gezogene Löschwagen fuhren vor, Bremsen kreischten. Als Stefan das Gewicht des Ungarn verlagerte, ihn in seinen Armen höher schob und wiegte, spürte er Tibors trockenes, heißes Gesicht an seinem Hals, fühlte, wie es herunterrutschte, und wagte diesen einen kurzen Moment zu hoffen, sein Freund sei noch am Leben, obwohl er wusste, dass es Tibors sich ablösende Haut war, die er an seinem Hals spürte.
Nachdem das Feuer gelöscht und die Leichen weggebracht worden waren, schälte Stefan sich aus den Resten seiner weißen Jacke und taumelte nach Hause. Seine Hände waren von Blasen bedeckt und die Haare auf seinen Armen abgesengt. Obgleich es in seinem Zimmer warm und stickig war, zitterte er und kroch in seiner verkohlten Kleidung unter die Decke. Er schlief, erwachte schluchzend aus Träumen, in denen er vom Feuer und dem vertrauten Gestank brennenden Fleisches umhüllt war, Träumen, in die sich die Erinnerung mischte, wie er als kleines Kind den Küchenboden mit Kuhdung verschmutzt hatte, der unter seinen Schuhen klebte, und sein Vater – »Wie oft muss ich dir noch sagen, du sollst dir die Schuhe abputzen?« – ihn zum Regenfass hinter dem Haus getragen hatte und wie er dann im Fass steckte – kopfüber und in der Kälte und ohne zu atmen, wie sollte er auch? –, und danach das Fieber, Hände wie Kerzendochte und das Verlangen, sie im Fass zu kühlen, das nicht mehr da ist.
Als Stefan schließlich aufstand, sickerte eine klebrige, gelbe Flüssigkeit über seine Arme und Hände. Es tat weh, sich zu waschen, ein Stück Roggenbrot zu kauen, an den Ungarn zu denken, auf dessen Sofa er nach mancher Pokerpartie gedöst hatte. Er hätte gern das Fenster geöffnet. Als er die aschgraue Wand aus Schlackensteinen jenseits der Gasse anstarrte, wirkte sogar das Licht, das in die Gasse drang, aschgrau. Asche. Vom Feuer verzehrt. Auf einmal überkam ihn eine so heftige Sehnsucht, dass sich sein Hals wund anfühlte, eine Sehnsucht nach Luft und klarem Licht, nach seinen Eltern und dem Gelächter des Ungarn und seiner Heimatstadt und dem Familienhund Spitz und dem französischen Restaurant – doch am meisten hatte er Sehnsucht nach dem Jungen, der er gewesen war. Und dabei fiel Stefan ein, wie Tibor Szilagi ihm von dem See erzählt hatte, der ihn an Deutschland erinnerte.
Die glatte Haut an Stefans Armen fühlte sich gespannt an, als er in einem hölzernen Boot auf den Lake Winnipesaukee hinausruderte, und während die Ruder im Wasser rührten und eine Spur von Wirbeln hinterließen, dachte er an die Strudel im Rhein, der an den Wiesen von Burgdorf vorüberfloss. Vom Boot aus sahen die steinernen Giebel der Kirche aus wie St. Martin, wo er als Junge jeden Sonntag zur Messe gegangen war, doch hinter den Umrissen dieser Stadt erhoben sich Berge, fremd und herb. Tibor hatte Recht gehabt: Dieser See war zu groß, um ihn auf einmal zu überblicken. Wohin Stefan auch sah, überall nur Land: Halbinseln und Inseln und die geschwungene Küstenlinie – hinter jeder Biegung das Versprechen von Wasser.
Er schaute zurück zum Pier, wo er sein Boot gemietet hatte, und dem leer stehenden Holzhaus daneben. Auf der anderen Seite des Piers lag ein Maisfeld, und plötzlich sah er im Schimmer der Sommerluft die Sternburg, den Bauernhof, auf dem er als Junge gespielt hatte – jahrhundertelang eine Burg, bis sie in einen Bauernhof umgewandelt wurde. Mit seinen Freunden Michel Abramowitz und Kurt Heidenreich hatte er an den Ketten unter der Zugbrücke geschaukelt, im steinernen Turm Verstecken gespielt. In jenem Moment, als das Wasser zwischen ihm und dem Ufer zum Burggraben seiner Kindheit wurde, sah er das Haus, das er in dem Maisfeld bauen würde, ein großes Etagenhaus mit Säulen und einem Flachdach … ein stattliches und zugleich elegantes Gebäude mit einem Innenhof … Zimmer mit hohen Decken … Fenster, die im Licht funkelten … Er konnte sogar das Spiegelbild seines Hauses sehen und begriff, dass Wasser die Erinnerung an alles bewahrt, was sich in seiner Oberfläche spiegelt, es nimmt und in seinen Tiefen festhält und dass es mehr festhalten kann, je tiefer es ist, einschließlich der Vision, die man hat, und es zu einem zurückwerfen kann. Wasserburg, so sollte das Haus heißen. Und er würde es wie die Häuser in Deutschland aus Ziegelsteinen bauen, nicht aus Holz wie so viele amerikanische Gebäude. Etwas festigte sich tief in seiner Brust – stark und ruhig –, und er wusste, er würde nicht nach New York zurückkehren.
Als er ans Ufer ruderte, konnte er bereits marmorne Kamine sehen, so imposant wie im Restaurant des Franzosen, lebensgroße Facettenspiegel, einen mit Teppich ausgelegten Fahrstuhl mit einem Messinggitter, das wie ein Akkordeon auseinander geht … Als er sein Gesicht in den feuchten Wind hielt, spürte er den Atem des Sees auf seiner Haut, als dieser wie Feuer an ihm vorüberrauschte. Kein Feuer, nicht hier. Feuer würde nicht so nah am Wasser leben. Er schüttelte sich. Sah schmiedeeiserne Wandleuchter in den Fluren seines Hauses, gekachelte Fensterbänke, breit genug für Blumentöpfe. Er dachte gar nicht daran, sich zu fragen, woher das Geld kommen sollte – er spürte nur eine wilde Zuversicht, dass er irgendwann dieses Haus genau so bauen würde, wie er es jetzt sah. Weil er es wollte. Hätte er gewusst, wie die Wasserburg ihn und seine Familie verführen und verderben würde, hätte Stefan Blau an jenem Tag den Zug zurück nach New York genommen, doch die Fäulnis lässt sich anfangs meist nicht erahnen: Sie beginnt unter üppigen Oberflächen, verbreitet ihren süßlich-widerlichen Mud, besudelt Erinnerungen und Überzeugungen. Sie umschlingt. Rechtfertigt. Doch was Stefan an jenem Sommernachmittag sah, war nur die Pracht der Wasserburg an dem Tag, an dem ihr Bau vollendet sein würde.
Und er sah noch mehr – ein kleines, stämmiges Mädchen in einem schwarzen Kleid, das durch den Innenhof wirbelt, als tanze sie oder habe, vielleicht, gerade einen Wutanfall. Ihr Rock breitet sich aus wie ein Fächer, und als sich ihre Arme wie Windmühlenflügel bewegen, fliegt ihr das weißblonde Haar um Gesicht und Schultern. Anmutig und stark kreiselt sie um einen Springbrunnen, ihr Gesicht blitzt nur kurz durchs Haar, als meißele sie in jenem Augenblick die eigenen Züge. Das Boot schaukelte, als Stefan aufstand, eine Hand zum Ufer ausgestreckt, um dieses Kind zu berühren. Er würde in seinen Töchtern nach ihrem Gesicht suchen, doch erst als seine Enkelin Emma geboren wurde, sollte er das Mädchen wieder erkennen, das er vom Boot aus gesehen hatte.
Mit dem Pokergeld mietete er das Holzhaus am See und schloss in der Küche einen gebrauchten Ofen an. In einem der oberen Zimmer stellte er ein Feldbett und einen Waschtisch für sich auf. Er verkaufte seine Wertpapiere und erwarb dafür gutes Porzellan und Tischdecken, sparte aber an Töpfen und anderen Gegenständen, die seine Gäste nicht sehen würden, und erstand sie bei Versteigerungen. Nachdem er gekachelte Arbeitsplatten gebaut hatte, stellte er einen Kellner ein und eröffnete ein kleines Restaurant, natürlich französisch, das die Frankokanadier in Winnipesaukee sehr zu schätzen wussten. Doch die meisten Leute aus dem Ort fragten ihn, weshalb er kein deutsches Restaurant betreibe. Und sie sagten, den Namen – Cadeau du Lac – könne man sich schwer merken, selbst nachdem er ihnen erklärt hatte, es bedeute »Geschenk des Sees«. Warum könne er es nicht einfach so nennen? Außerdem, so klagten sie, sei es zu prunkvoll, zu teuer. Sie wunderten sich, woher er sein Geld haben mochte, da er es, seines wie ihres, so unbekümmert einsetzte. Dennoch erschienen sie in ihren Sonntagskleidern, um das Essen im Cadeau de Lac zu probieren, und sie gingen nach Hause mit Geschichten von Stefans Austernsoufflé, seinem Cassoulet, seinen Crêpes au chocolat.
Gleichwohl glaubten sie, sein Restaurant werde sich nicht lange halten. Schließlich gaben normale Leute ihr Geld nicht fürs Essengehen aus. Und doch kamen sie mit ihren Freunden wieder, mit Verwandten. Es zeigte sich, dass die Touristen seine besten Kunden waren. Ihnen war gleich nach Geld ausgeben zu Mute, wenn sie in ihren Stadtkleidern der Boston and Maine Railroad entstiegen und Angelruten und Sonnenschirme und Sandeimer und Hunde und Krocketspiele in die Pferdedroschken luden, die sie vom Bahnhof in die Hotels, die kleinen Cottages am Seeufer oder zum Jachthafen brachten, von wo aus sie ein Boot auf die Inseln nehmen konnten. Obgleich die meisten Cottages klein waren, gab es auch stattlichere mit Rasenflächen und Veranden und Anlegestellen. Einige besaßen sogar Bootshäuser oder schwimmende Pavillons.
New Hampshire war ganz anders, als Stefan sich Amerika in Deutschland vorgestellt hatte. Keine hohen Häuser wie in New York. Keine Büffel. Es erinnerte ihn mit seinen kleinen Städten viel mehr an Deutschland, nur dass die Wälder hier dichter waren, die Berge höher und der See größer als alle Seen, die er je gesehen hatte. Steinmauern, gefleckt mit Flechten und Moos, begrenzten die Weiden der Rinder und Schafe. Einige Farmer aus dem Ort behaupteten gern, auf ihrem Land wüchsen Steine. Nachdem sie ihre Felder und Wiesen frei geräumt hatten, konnten sie stets damit rechnen, im nächsten Frühjahr wieder Steine zu finden, die der Boden, wenn er taute, an die Oberfläche presste, als gebäre er sie. Frühe Ernte nannten die Farmer diese Steine und stapelten sie auf die niedrigen Steinmauern, die ihren Besitz markierten. Der Bau dieser Mauern ging Jahr für Jahr weiter und war harte Arbeit. Hart war es auch, das Eis vom See zu holen. In seinem ersten Winter in Winnipesaukee lernte Stefan, Blöcke aus dem Eis des Sees zu schneiden, auf einem Schlitten ans Ufer zu ziehen und sie unter Schichten von Sägespänen im Kühlhaus zu lagern, das seitlich neben dem Fundament in die Erde gebaut war.
Im April wuchs das Haar auf seinen Armen endlich nach, jedoch nicht schwarz und lockig, wie es gewesen war, sondern rötlich, als bewahre es die Erinnerung an das Feuer, und es würde immer stoppelig bleiben und sich rau anfühlen. Im Mai bot er der Eigentümerin, einer Witwe von über achtzig, die noch alle Zähne hatte, an, das Gebäude zu kaufen, und als sie ablehnte, kaufte er eine Porzellanstatue des Heiligen Josef, über dreißig Zentimeter hoch, mit einem braunen Porzellanmantel und einem geduldigen Lächeln, das ewiges Warten andeutete. Nachts grub Stefan ein Loch in die harte Erde neben der Vordertreppe seines Restaurants, senkte den Heiligen mit dem Kopf voran in den Boden und schaufelte Erde darüber. So waren die Nonnen zu Hause in den Besitz des Landes gelangt, auf dem sie ihr Kloster bauten.
»Nonnen können jedes Stück Land bekommen, das sie wollen«, hatte ihm seine Mutter gesagt, als er ein kleiner Junge war. »Sie begraben den Heiligen Josef einfach mit dem Kopf nach unten.«
»Wieso?« Er hatte auf der Tischkante gesessen und zugesehen, wie sie Teig knetete, die Stirn feucht vom Schweiß, einen Mehlfleck am Kinn. Sie glaubte, in der Erde seien Dinge am sichersten aufgehoben. Sie besaß sogar eine mit Holz ausgekleidete Blechkiste, in der sie ihr Silber vergrub. Bei besonderen Gelegenheiten buddelte sie es aus und vergrub es danach wieder hinter ihrem Haus, als könne es dort Wurzeln schlagen und gedeihen. Sich vermehren. Doch nie hatte er Nonnen gesehen, die etwas vergruben. »Wieso?«, fragte er noch einmal.
»Weil der Heilige Josef für seine Geduld bekannt ist«, sagte seine Mutter.
»Aber wieso mit dem Kopf nach unten?«
»Weil es dem Heiligen dann unbequem ist und er sich hervorarbeiten möchte.« Als sie sich über den Teig beugte, versanken ihre Fäuste in der blassen Kugel, falteten sie, knufften sie nieder. »Haben die Nonnen einmal ihr Land, dann graben sie den Heiligen Josef auf jeden Fall wieder aus. Denn er arbeitet so lange, wie er im Boden steckt. Wenn du vergisst, den Heiligen Josef auszugraben, geht das Land nämlich auf neue Besitzer über.«
Seine Mutter war der abergläubischste Mensch, den Stefan kannte: Kratzer taten nicht mehr weh, wenn man darauf blies und »Heile heile Segen, morgen gibt es Regen …« sang; weiße Flecken auf den Fingernägeln verrieten, wie viele Todsünden man begangen hatte; der kleine Krebs in ihrer Bernsteinkette schützte sie vor Spinnenbissen; und ihr Lieblingssprichwort lautete »Wer sich das Zeug am Leibe flickt, der hat den ganzen Tag nicht Glück«.
Kleine Orte nährten den Aberglauben. Und doch war Stefan ironischerweise, nachdem er einen Ozean überquert hatte, in einem anderen kleinen Ort mit eigenem Aberglauben gelandet: Wenn ein Bräutigam den Ring fallen ließ, brachte das Unglück; wenn man erkältet war, sollte man die Füße mit Butter einreiben; wenn man seinem Baby die Fingernägel abbiss, würde es kein Dieb werden.
Doch es war ein heimeliges Gefühl, in einer Stadt zu leben, wo er bald jeden kannte: Frank Weber, dem die Eisenwarenhandlung gehörte; Vater Albin, der ihm jeden Sonntag die Hostie auf die Zunge legte; Clem Weeks, der seinen Zigarrenstand auf der Main Street hatte; Lucie Magill, die soeben ein Geschäft namens Magill’s Fine Clothing eröffnet hatte; Jules Margaux, den Lampenanzünder, der in der Dämmerung mit seiner Leiter die Main Street entlangkam, um die Gaslaternen einzuschalten. Stefan schrieb Helene, er genieße es, durch den Ort zu gehen und von den Leuten mit Namen begrüßt zu werden, er genieße es, sie in seinem Restaurant zu empfangen, das bereits für das beste Essen am See bekannt war.
Binnen eines Jahres grub er seinen Heiligen Josef aus und spülte ihn mit Seifenwasser ab, denn seine Vermieterin zog nach Boston, um einen Sargmacher zu heiraten, der ihr Enkel hätte sein können, und sie war erpicht darauf, das Gebäude zusammen mit dem Maisfeld zu einem Preis zu verkaufen, den Stefan sich leisten konnte. An manchen Tagen arbeitete er sechzehn Stunden. Er baute die Küche aus. Stellte noch zwei Kellner ein. Einen Beikoch. Eine Küchenhilfe. Er verdoppelte die Zahl der Restaurantplätze, indem er eine geschlossene Veranda über dem Wasser baute, die seinen Gästen den Eindruck vermittelte, sie schwebten über dem See. Es gefiel ihm, Dinge schon im voraus zu entscheiden. Dies sei die amerikanische Art und Weise, erklärte er Helene Montag in einem Brief, man plane über das Offensichtliche hinaus. Er schrieb ihr, dass er amerikanischer Staatsbürger geworden war. Wie sehr es ihn befriedigte, etwas zu erreichen, das man zuerst im Geist sieht und dann verwirklicht, indem man es tut.
Stefan baute zu Ehren des Porzellanheiligen ein Regal in der Eingangshalle, und als er auf den alten Klavierhocker stieg, den er davor geschoben hatte, und die Statue so auf das Regal stellte, dass der Heilige Josef jeden sehen konnte, der das Restaurant betrat, glaubte er, die Stimme des Ungarn zu hören. »Du hast viel zu viel Glück.« Stefan drehte sich rasch zur Tür. Doch er war allein, bis auf einen Hauch Zimt und Tabak in der Luft und das ansteckende Lachen des Ungarn. »… viel zu viel Glück.«
In dem Winter, als er vierundzwanzig war, heiratete er seine erste Frau Elizabeth Flynn, eine Flötistin mit zarten Gelenken, deren fahles Haar in der Nacht ihr ganzes Kopfkissen bedeckte. Obwohl sie vor ihm nie einen Mann geküsst hatte, waren ihre Fingernägel mit Todsünden gefleckt und so dünn, dass sie durchsichtig wirkten.
Stefan liebte ihr kleines, knochiges Gesicht. Liebte ihre extreme Schüchternheit, die sie daran hinderte, mit Leuten zu sprechen. Liebte selbst die Beharrlichkeit, die an die Stelle der Schüchternheit trat, wenn sie erst einmal jemanden gut kannte. Als er einen Notausgang anlegte und die oberen Stockwerke flieste, um das Feuer, das möglicherweise im Restaurant ausbrach, abzuhalten, entschied Elizabeth, sie wolle lernen, die Wände zu tapezieren. Obwohl ihre Eltern dagegen waren, kratzte sie selbst die Schlafzimmerwände ab und beklebte sie mit flaschengrüner Tapete, auf der weiße Rosen verstreut waren – dasselbe Muster hatte sie in ihrem Kinderzimmer gehabt. Da ihre Fingernägel bei der Arbeit ständig abbrachen, schnitt sie sie ganz kurz. Abends hörten die Gäste im Restaurant über sich den geisterhaften Klang ihrer Flöte.
Was Stefan nicht an ihr liebte, war ihre Neigung zu Streichen. Sie versteckte gerne Dinge, wenn er nicht hinsah: seine Zahnbürste oder seine Kaffeetasse oder seine Pantoffeln. Sie lachte dann immer, ließ ihn suchen, auch wenn er ärgerlich wurde. »Das ist kindisch«, sagte er und stolzierte in sein Restaurant. Kaum war er zu Hause, stellte er fest, dass sie die Beine seiner Pyjamahose verknotet hatte.
Von einem Teil ihrer Mitgift gaben sie bei einem süddeutschen Tischler in Wolfeboro einen Kleiderschrank, ein Bett und zwei Nachttische aus Birkenholz in Auftrag. An den meisten Nachmittagen schlüpfte Stefan für eine Weile aus der Küche, und sie stürzten dann auf die Matratze und sanken in das Federbett und lachten, während er sie aus Unterrock und Korsett schälte. Doch selbst hier war ihm bewusst, was als Nächstes im Restaurant zu tun war – Möhren würfeln, Kalbfleisch marinieren, Champignons sautieren, Zucker und Oliven bestellen –, während in der Küche unter ihnen sein Beikoch und die Küchenhilfe zur Decke emporschauten und Wetten darauf abschlossen, wie lange das Bett quietschen würde.
»Ich bin so froh, dass wir uns hier in Amerika begegnet sind«, sagte er eines Abends zu ihr.
Im Schein der Öllampe fuhr sie mit dem Daumen über den Rand seiner Ohren und an den senkrechten Falten zwischen seinen dicken Augenbrauen entlang. »Sag mir wieso.«
»Weil ein Bankdirektor in Deutschland nie erlauben würde, dass seine Tochter den Sohn eines Schneiders heiratet.«
»Dann scheiß auf ihn.«
»Das sollst du nicht sagen.«
Doch sie schockierte ihn gern mit schmutzigen Ausdrücken und es überraschte ihn, dass sie im College so geworden war. »Frauen allein, in einer Schule eingesperrt … du würdest dich wundern, worüber wir reden.«
Diese obszöne Seite an ihr gab ihm in der Öffentlichkeit stets das Gefühl, er hüte ein Geheimnis, und er wünschte sich ihre Schüchternheit zurück. Dennoch, es war aufregend zu wissen, was sie vielleicht sagen würde. Verstörend. Ihre Eltern kannten diese Seite an ihr gewiss nicht. Sie waren höflich. Förmlich. Wenn Stefan gegenüber von Elizabeth am Kirschholz-Esstisch ihrer Eltern saß, lobte er stets, wie ihre Mutter den Deckenventilator mit Seidenblumen oder Weinreben geschmückt hatte, und fürchtete, seine Frau könne etwas Vulgäres sagen, das ihre Eltern dann auf seinen Einfluss zurückführen würden.
Er wusste, es bedeutete ihm viel zu viel, von einer reichen Familie wie der ihren akzeptiert zu werden, und es war ihm peinlich, weil es so … deutsch war. Er war jetzt in Amerika. Wo alle gleich waren. Auch war ihm peinlich, dass er unwillkürlich Stolz empfand, wenn seine Schwiegereltern sonntags nach der Messe mit ihm und Elizabeth um den See spazierten, die Schultern seiner Frau auf gleicher Höhe mit den seinen, ihre behandschuhte Hand federleicht in seiner Armbeuge. Sie trug einen Persianermantel mit Sealkragen, der sie vor der Kälte schützte. Und falls er gelegentlich ärgerlich war, weil Elizabeth seine Aussprache korrigierte, sogar im Bett, sagte er sich, es könne nur nützlich sein, wenn er seinen Akzent ablegte und sich wie ein gebildeter Mann anhörte.
Sobald Elizabeth entdeckte, dass sie schwanger war, drängte sie Stefan, von der Bank ihres Vater Geld zu leihen, um sein Etagenhaus im Maisfeld zu bauen.
Doch Stefan zögerte. »Ich dachte, ich warte, bis ich durch das Restaurant genug gespart habe.«
»Das könnte zehn Jahre dauern«, protestierte sie.
Jeden Abend sprach sie davon.
Jeden Morgen.
»Dafür sind Banken doch da«, erinnerte sie ihn.
Ihr Vater bestellte dann Stefan schließlich in die Bank und führte ihn in sein Büro, eine Suite von drei Räumen, unterteilt durch Samtvorhänge, die von Seidenquasten zusammengehalten wurden. »Setz dich«, sagte Hardy Flynn, »setz dich«, die Stimme hoch und ungeduldig, während er Stefan zu einem prall gepolsterten Ledersessel komplimentierte. Der Sessel war glatt und goldbraun.
Die Farbe des Reichtums. Stefan setzte sich. Eines Tages würde auch er sich einen Ledersessel in dieser Farbe kaufen.
Hardy Flynn blieb stehen. Sein grauer Bart wirkte fehl am Platz in seinem rosigen, faltenlosen Gesicht. »Bedien dich.« Er hielt ihm eine silberne Zigarrendose hin, zündete eine für sich an, dann Stefans. »Ein persönliches Darlehen. So will ich es machen. Zinslos natürlich.«
»Das wäre nicht richtig.«
»Was ist nicht richtig daran, wenn ich meiner Tochter helfe, weiterzukommen?« Der Bankier strich sich über die gegabelten Enden seines Bartes. »Was ist nicht richtig daran, wenn du dasselbe für sie willst?«
»Ich –«
»Elizabeth sollte nicht die Lampen nachfüllen müssen. Sie sollte nicht in Zimmern voller Küchengerüche aus deinem Restaurant leben müssen.«
»Ich wusste nicht, dass es sie stört.«
Der Bankier verschränkte die Arme vor der breiten Brust. »Elizabeth ist an gewisse … Annehmlichkeiten des Lebens gewöhnt.«
»Die ich ihr bieten werde.« In dem Augenblick, als Stefan das sagte, sah er im Geist die abgebrochenen Fingernägel seiner Frau und verspürte Scham. Verspürte einen plötzlichen Zorn auf den Bankier, weil der über die abgebrochenen Fingernägel und seine Scham Bescheid wusste.
»Ich will dir etwas erklären. Geld, das ich der Kirche gebe, hat nichts mit der Kirche zu tun.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Es hat nur damit zu tun, was meine Frau braucht. Lelia besucht gern den Priester – ihre Seele erforschen, nennt Vater Albin es –, und er verfügt über viel Zeit, wenn es um die reichen Ehefrauen seiner Gemeinde geht.«
Stefan fühlte ein Kribbeln im Nacken; der gestärkte Kragen war zu eng. Von allem gab es zu viel im Büro des Bankiers, im Haus des Bankiers. Das alles betonte nur noch die Kluft zwischen Elizabeth und ihm.
»Mit meinem Darlehen kannst du meiner Tochter viel schneller bieten, was sie braucht, als wenn du es allein versuchst. Ich möchte, dass du über mein Angebot nachdenkst. Euer beider Namen auf den Besitzurkunden – für das Haus und das Restaurant. Mit Eigentumsanrecht des Überlebenden.«
Um wegzukommen, versprach Stefan: »Ich werde darüber nachdenken. Ein sehr großzügiges Angebot«, fügte er auf dem Weg zur Tür noch hinzu.