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Kurt Eisner hatte aufgegeben. Noch bis tief in die Nacht hatte er mit seinem Erzfeind Erhard Auer, dem Führer der Sozialdemokraten, verhandelt. Ach, was heißt verhandelt. Es gab ja nichts, was er ihm noch hätte entgegenhalten können. Den Posten des Botschafters in Prag hatte Auer ihm angeboten, er hätte auch Konsulatssekretär in Australien sagen können. Es war vorbei. Er hatte seine Weltsekunden gehabt und er hatte getan, was er konnte, um das Königreich Bayern in eine Volksrepublik umzuwandeln, in ein Land der Solidarität und Menschenfreundlichkeit.

Ein Traum, wie er da plötzlich in der Nacht vom 7. auf den 8. November auf dem Stuhl des Ministerpräsidenten gesessen hatte. Manchmal musste man einfach schlau sein und den Moment erkennen, wenn er da war. Und am 7. November 1918 war er da.

Es war ein sonniger Nachmittag, Zehntausende Solda

Nichts hatte er im Griff. Es war ein gigantisches Durcheinander an diesem Nachmittag, es kamen immer mehr Zuhörer, immer mehr Soldaten aus den Kasernen, die meisten hatten ihre Rangabzeichen abgerissen. Die Männer – und einige wenige Frauen – standen in einzelnen Gruppen herum, versammelten sich mal um den einen, mal um den anderen Redner. Auer hatte sich den besten Platz gesichert, direkt auf der großen Freitreppe vor der Bavaria. Aber als die Massen merkten, dass er sie nur beschwichtigen wollte, sie auf eine ferne Zukunft vertrösten wollte, zogen sie weiter zu den anderen Rednern weiter unten am Hang.

Ganz unten stand Kurt Eisner. Er schrie beinahe, warf die Arme in die Luft. Immer mehr Menschen sammelten sich um den Mann mit den langen grauen Haaren, dem Zwicker, dem wilden Bart und dem großen Hut. Er hatte unter denen, die auf die Revolution hofften, einen guten Ruf, hatte im Januar den Streik der Munitionsarbeiter organisiert, war dafür ein halbes Jahr ins Gefängnis gekommen.

Er redete nicht besonders mitreißend, seine Stimme war kratzig, hell. Es kostete ihn einige Mühe, die anderen Redner zu übertönen. Aber die Zuhörer spürten: Der ist heute

 

Ein junger, radikaler Kriegsgegner im schwarzen Mantel und mit derben Gesichtszügen, ein Bäckerssohn aus Berg am Starnberger See, Arbeiter in einer Münchner Keksfabrik, seit einigen Wochen erfolgreicher Schwarzhändler, der Gedichte schrieb und Literaturkritiken für die »Münchner Neuesten Nachrichten«, steht jetzt auch gebannt vor Eisner und hört ihm zu. Es ist Oskar Maria Graf. Er ist mit seinem Freund da, dem Maler Georg Schrimpf, der das Titelbild zu Grafs erstem Gedichtband »Die Revolutionäre« gemacht hat. »Spruch« heißt ein kurzer Text darin:

»Manchmal kommt es, daß wir Mörder sein müssen,

denn Demut hat uns alle nur geschändet

und Zeit zerfloß uns, von zu vieler Müdigkeit umwölbt.

Qualhart und fronüberbürdet

Knirscht der Söldling des Geschicks

Und wirft sich blind in die strömende Flut

läuternden Triebs

um als wachwunder Büßer wieder aufzustehn,

wissend um seine endliche Sendung …«

Die beiden waren fast zwei Jahre lang bei den vorrevolutionären Montagstreffen im Gasthaus »Zum goldenen Anker« in der Ludwigvorstadt gewesen, wo Kurt Eisner regel

In diesem Moment schreien die Leute ringsumher »Frieden!«. Und »Hoch die Weltrevolution!«. Und »Hoch Eisner!«. Dann ist es für eine Minute still und von weiter oben, von der Bavaria, wo der beschwichtigende Auer spricht, dringt Beifall herüber. Eisners Vertrauter Felix Fechenbach, ein fünfundzwanzigjähriger Dichter mit weichem Gesicht und zartem Bart, ruft in die Menge: »Genossen! Unser Führer Kurt Eisner hat gesprochen. Es hat keinen Zweck mehr, viele Worte zu verlieren! Wer für die Revolution ist, uns nach! Mir nach! Marsch!«

Mit einem Schlag drängt die Masse voran, den Hang hinauf Richtung Westend. Weiter geht es, an Geschäften mit heruntergezogenen Läden vorbei, in Richtung Kasernen. Graf und sein Freund Georg, den alle Schorsch nennen, marschieren beinahe an der Spitze des Zuges, nur fünf Schritte von Eisner entfernt. Graf wird ihren plötzlichen Anführer später so beschreiben: »Er war blaß und schaute todernst drein; nichts redete er. Fast sah es aus, als hätte ihn das jähe Ereignis selbst überfallen. Ab und zu starrte er gerade vor sich hin, halb ängstlich und halb verstört. Arm in Arm mit dem breitschultrigen, wuchtig ausschreitenden blinden Bauernführer Gandorfer ging er. Diese Gestalt bewegte sich viel freier, derb auftretend, fest, und so eben, wie ein bayrischer Bauer dahingeht. Um die beiden herum war der Stoßtrupp der Getreuesten.«

Wohin marschieren sie? Es scheint, der bleiche, entschlossene Führer folgt einem Plan. Zielstrebig geht es weiter stadtauswärts. Irgendwann steckt die Menge in einem dunklen Gang. Halt!, schreit es von vorn. Wo sind sie hier? Eine Schule?

Es ist die Guldeinschule, die in den letzten Jahren als Kriegskaserne genutzt wurde. Ein erster Schuss fällt, es droht Panik, einige stürmen in die Schule hinein, die meisten drängen wieder heraus. Einige Zeit später wird ein Fenster oben im Schulgebäude aufgerissen, einer schwenkt eine rote Fahne und schreit: »Die Mannschaft hat sich für die Revolution erklärt! Alles ist übergegangen! Weitergehen, marsch, marsch! Weiter!«

Das ist der Moment. Von jetzt geht alles wie von selbst. Immer mehr Soldaten schließen sich an, die Epauletten haben sie sich von den Schultern gerissen, rote Tücher umgebunden, eine neue Gemeinschaft formiert sich. Kinder begleiten johlend die Gruppe. Einmal kommt ihnen ein Soldat entgegen, der sein Rangabzeichen noch auf den Schultern trägt, ein Zahlmeister. Sie reißen ihm die Epauletten ab, schubsen ihn hin und her, ein Hüne will ihn sich greifen. Der Mann fängt an zu heulen und der bullige Oskar Maria Graf greift ein: »Laß ihn laufen! Der kann auch nichts dafür!« Der Hüne lässt sich mühsam beruhigen, gibt Graf murmelnd recht, aber sagt dann auch: »Aba, woaßt ös, gor a so menschli derf ma net sei!«

Nach einer Weile teilt sich die Gruppe. Es heißt, die Maximilian-II.-Kaserne an der Dachauer Straße werde Schwierigkeiten machen. Dort werde geschossen. Das treibt die Truppe um Oskar Maria Graf richtig an, sie eilen weiter. Als der Posten am Eingang die Männer erblickt, wirft er sein Gewehr weg und läuft davon. Die Revolutionäre gehen hinein, auf dem Kasernenhof hat ein Offizier eine kleine Truppe vor sich Aufstellung nehmen lassen und kommandiert Übungen, er steht mit dem Rücken zum Eingangstor. Er kommt nicht mal dazu, sich umzudrehen, einer schlägt ihm mit aller Gewalt auf den Kopf und treibt ihm den Helm bis tief unter die Ohren. Im selben Moment lassen die Soldaten ihre Waffen fallen und laufen zu den Revolutionären über. »Aus ist’s! Revolution! Marsch!«, rufen sie.

 

Es war turbulent, schnell, in all der Erschöpfung der Menschen eine plötzliche Energie. Mehr als vier Jahre hatte der verdammte Krieg gedauert. Er durfte nicht einfach nur vorbeigehen und die Menschen in dieser Dämmerung zurücklassen. Es musste, es musste aus dieser Dunkelheit etwas Helles, Neues entstehen.

Ein Älpler juchzte wie beim Schuhplatteln, ein Soldat am Rande der Menge rief in einer spontanen Rede zur Bildung von Soldatenräten auf. Die Menge eilte weiter, zum Militärgefängnis, Soldaten schlugen mit Beilen und Geweh

Zelle auf Zelle wird geöffnet. Die Gefangenen strömen heraus, schließen sich an, jetzt geht es endlich Richtung Innenstadt. Am Isartorplatz stürmt Graf in einen Friseursalon, wo Nanndl, seine Schwester, arbeitet, er ruft ihr zu: »Revolution! Revolution! Wir sind Sieger!« Sie strahlt, lässt die Brennschere fallen, da ist Graf schon wieder weg.

Die Gruppen teilen sich, am Rande des Weges werden immer wieder Reden gehalten, die Straßen der Münchner Altstadt werden zu eng. Wohin weiter? Wo wird die Republik ausgerufen?

Graf und Schorsch haben den Anschluss verloren. Sie gehen über die Isar, zum Franziskaner in der Au. Es heißt, Eisner werde hier später sprechen. Sie bestellen Wurst und Bier, bereit für Eisners revolutionäre Rede. Aber hier herrscht nur Gemütlichkeit. »Wally, an Schweinshaxn!«, ruft einer. Von Politik, von Räten, vom König, vom Krieg redet hier keiner. Nur Bier und Wurst und Tabak. Lässt sich hier niemand aus der Ruhe bringen? Was sind die Bayern doch für ein gemütliches Volk!

Als die zwei Revolutionäre satt und froh den Franziskaner verlassen und zurück Richtung Altstadt gehen, herrscht reges Treiben auf den Straßen. Jeder weiß ein Gerücht. Vor der Residenz spazieren Spaziergänger umher. Ist der König noch da? Werden sie ihn ein letztes Mal sehen? Werden sie

Währenddessen ist der große Trupp ins Mathäserbräu zwischen Hauptbahnhof und Stachus weitergezogen. Neun Uhr abends, auch hier Wurst und Bier und Schweinshaxn, aber keine Gemütlichkeit, sondern laute Emsigkeit, freudige Konzentration, Unglaube und Entschlossenheit. Ein Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat wird gewählt, Organe der Selbstverwaltung nach Vorbild der russischen »Sowjets«.

Der blinde Bauernführer Ludwig Gandorfer ist immer an Kurt Eisners Seite. Eisner will die Bauern unbedingt an der neuen Regierung beteiligen. Die Versorgungslage in München ist schon lange schwierig. Wenn die Bauern nicht auf der Seite der Revolution sind und die Menschen hungern, dann ist die Revolution schon nach wenigen Tagen am Ende.

Draußen vor dem Mathäserbräu fahren Laster mit Gewehren und Munition an und ab. Soldaten und Arbeiter kommen hinzu, werden bewaffnet und vom Revolutionsrat in kleinen Gruppen zu den öffentlichen Gebäuden der Stadt geschickt, um sie zu besetzen.

Ministerien, Hauptbahnhof, Generalkommando, ein Ort nach dem anderen fällt in die Hand der Revolutionäre. Männer mit roten Binden eilen durch die Stadt. München soll rot werden, rot und neu und friedlich und frei.

 

Im Palais der Wittelsbacher, dem Wohnsitz von Ludwig III. und seiner Familie, herrscht Chaos, Auflösung, Entsetzen,

Es geht jetzt rasend schnell. Die Königin ist krank, Fieber, eben noch war der Leibarzt bei ihr. Hilft ja alles nichts. Wohin sollen sie fliehen? Die Wahl fällt auf Schloss Wildenwart in der Nähe des Chiemsees. Aber wie dahin gelangen? Der erste Chauffeur ist zu den Revolutionären übergelaufen. Der zweite ist bei seiner kranken Frau. Er wird herbeigerufen. Die kranke Königin erfährt am Toilettentisch von der bevorstehenden Flucht. Der König lässt sich von einem alten Garderobier in seinen grauen, mit Opossumfell gefütterten Jägermantel helfen, nimmt eine Schachtel Zigarren unter den Arm und ist reisefertig. Dazu kommen die Prinzessinnen Helmtrud, Hildegard, Gundelinde und Wiltrud, die Königin, zwei Hofchargen, eine Baronin und die Kammerfrau. Im Schutz der Dunkelheit verlässt die kleine königliche Gruppe heimlich die Stadt.

 

Kurt Eisner und seine Getreuen haben das Mathäserbräu inzwischen verlassen und machen sich auf den Weg in Richtung Landtag in der Prannerstraße. Der Nachtportier des verwinkelten Gebäudes stellt sich ihnen mit einem großen Schlüsselbund in der Hand in den Weg. Nein, er lasse hier jetzt niemanden rein, mitten in der Nacht, und die Schlüssel behalte er selbst. Da tritt ein Arbeiter vor

Der Schlüsselwächter bleibt konsterniert zurück, die kleine revolutionäre Truppe macht sich auf in Richtung Sitzungssaal, der Arbeiter probiert ein paar Schlüssel, findet endlich den richtigen und sie gehen hinein, Eisner direkt und zielstrebig und mit völliger Selbstverständlichkeit auf die Präsidententribüne hinauf. Neben ihm Felix Fechenbach und der Dramatiker und Journalist Wilhelm Herzog, Ehemann der gefeierten Filmdiva Erna Morena und vor wenigen Momenten von Eisner als Pressereferent der neuen Regierung eingesetzt.

Eisner lässt sich auf den Präsidentenstuhl fallen, Fechenbach und Herzog direkt neben ihn auf die Stühle der Schriftführer. Arbeiter und Arbeiterinnen strömen in den Saal, einige Frauen mit roten Schirmen. »Es war ein pittoreskes Bild«, wird sich Herzog später erinnern. Der Lärm, die Aufregung, das Tuscheln, das Rufen, die Erwartung, der Unglaube, die Freude, das bayerische Parlament mitten in der Nacht.

 

Kurt Eisner blickt hinab auf all die Menschen. Er streicht sich die langen Haare zurück. Er ist aufgestanden, gleich wird er reden, wird sich zum provisorischen Ministerpräsidenten ausrufen und Bayern zum Freistaat erklären.

Aber einen Moment lang schaut er nur. Denkt er zurück? An seine Anfänge als Schriftsteller, sein erstes Buch

Er hatte beim Depeschenbüro Herold als Journalist gearbeitet, dann bei der »Frankfurter Zeitung« als Hilfskorrektor, damals aber schon vom Ehrgeiz nach Höherem getrieben. Er wollte Bücher rezensieren, Leitartikel schreiben, er bat um ein Gespräch bei Leopold Sonnemann, dem Gründer des renommierten Blattes. Ohne Erfolg.

Eisner ging zur »Hessischen Landeszeitung« nach Marburg, schrieb dort landesweit beachtete Texte, in denen er leichthändig über die wilhelminische Politik, das Junkertum und das Feudalsystem spottete. Als er Anfang 1897 einmal zu leichthändig gespottet hatte, kam er wegen Majestätsbeleidigung für neun Monate ins Gefängnis Plötzensee. In seinem Text hatte er geschrieben: »Mit einem Volk von freien, strengen und anspruchsvollen Richtern werden wir vielleicht selbst Könige werden.«

Dachte er jetzt an diese Zeilen, als er sich plötzlich auf dem Thron wiederfand? Oder an die Zeit nach seiner Haft? Er war direkt danach vom »Vorwärts« engagiert worden, der mächtigen sozialdemokratischen Parteizeitung. Er verantwortete die Sonntagsbeilage, schrieb Texte, die er selber »Sonntagsplaudereien« nannte. Privates und Politisches, über Familie und Partei.

Aber er hatte viele Feinde in der Parteizeitung, vor allem unter den Mächtigen und Funktionären. Rosa Luxemburg,

Er schrieb dann für die »Fränkische Tagespost« und die »Münchner Post« und zog mit seiner Familie nach München. In den letzten Jahren war er immer öfter als öffentlicher Redner gegen den Krieg aufgetreten. Seine eigene Partei, die SPD, war Kriegspartei, sie hatte die Kriegskredite im Parlament bewilligt und Opposition dagegen galt auch in ihren Reihen als Vaterlandsverrat.

Dann, im April 1917, kam es zum Bruch. In Gotha gründete sich die neue Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, USPD. Hauptziele der neuen Partei: Beendigung des Krieges und Wiedergewinnung des Vertrauens der Internationalen. Kurt Eisner war auf dem Gründungsparteitag dabei gewesen, hatte immer wieder das Wort ergriffen und war eine der führenden Persönlichkeiten der neuen Antikriegspartei geworden.

Und jetzt war der Krieg tatsächlich vorbei! Endlich vorbei! War jetzt alles plötzlich Wirklichkeit geworden? War die Kunst Wirklichkeit geworden? Seine Träume von der Kunst, über die er in all seinen Theaterkritiken geschrieben hatte? Seine Rede damals in Berlin, als er über Beethovens neunte Symphonie sprach und sich erinnerte: »Am 18. März 1905 wurde zum Gedächtnis der Märzrevolution und Friedrich Schillers in einem Berliner Brauereisaal, mitten im Arbeiterviertel, Beethovens neunte Symphonie vor Proletariern aufgeführt. Zum ersten Mal wohl in der

Damals hatte er all seine Träume und Überzeugungen in diesen Text über Beethoven hineingelegt. Alles, wofür er kämpfen wollte. »Die Kunst ist nicht mehr Flucht aus und vor dem Leben, sondern das Leben selbst«, hatte er gerufen. Und am Ende seine Vision: »Wenn die Menschheit, durch den Kampf des proletarischen Sozialismus befreit und gereift, dereinst an dem Welthymnus der Neunten erzogen wird, wenn sie zum Katechismus ihrer Seele wird, dann erst ist Beethovens Kunst zur Heimat zurückgekehrt, aus der sie floh: zum Leben.«

Sein neues Buch, das er in der Zeit der Haft nach dem Streik in den Munitionsfabriken fertiggestellt und zum Druck vorbereitet hat, soll den Titel »Die Träume des Propheten« tragen. Ja, Kurt Eisner ist ein Träumer und ein Prophet. Und er hat auf diesen Moment im bayerischen Landtag ein Leben lang hingeschrieben und gekämpft.

 

Er muss sich sammeln. Er muss jetzt seine Rede halten. Fechenbach neben ihm ist etwas nervös. Eisner ist kein guter Redner. Er denkt zu viel nach und ist zu unstrukturiert, er verhaspelt sich zu oft, überrascht vom eigenen Pathos.

Aber dann fängt Kurt Eisner an zu reden, sicher, klar, deutlich, »mit einem so feurigem Temperament, daß die Wirkung seiner Worte auf allen Gesichtern zu lesen war«. Zwanzig Minuten redet er völlig frei. Auch die beiden

An einige Sätze erinnert sich Herzog später. So fing Eisner an: »Die Bayrische Revolution hat gesiegt. Sie hat den alten Plunder der Wittelsbacher Könige hinweggefegt.« Und dann übergibt er sich selbst die Macht: »Der, der in diesem Augenblick zu Ihnen spricht, setzt Ihr Einverständnis voraus, daß er als provisorischer Ministerpräsident fungiert.« Unten in den Bänken bricht Jubel aus. Eisner nimmt das als Bestätigung, er ist jetzt Ministerpräsident, er redet weiter, fordert alle zu Einigkeit und Friedlichkeit auf.

Als er geendet hat, lässt er sich auf den Präsidentenstuhl fallen. Dann winkt er Herzog heran und flüstert ihm ins Ohr: »Wir haben ja das Wichtigste vergessen. Die Proklamation. Entwerfen Sie bitte den Text. Aber schnell. Wir gehen dann in ein Nebenzimmer und sehen ihn zusammen durch.«

 

Während Wilhelm Herzog die Proklamation entwirft und Eisner versonnen auf sein Volk blickt, fährt weit draußen auf der Truderinger Landstraße die königliche Familie langsam in Richtung Rosenheim. Es ist nebelig, der Fahrer kann kaum die Straße erkennen, als der Wagen plötzlich vom Wege abkommt und in einem Kartoffelacker stecken bleibt. Alle Bemühungen, den Wagen wieder flottzukriegen, scheitern. Der König mit seinen Zigarren, seiner Frau und seinen Töchtern kommt nicht weiter. Der Fahrer macht sich zu Fuß auf den Weg, um Hilfe zu holen. Die

Um vier Uhr am nächsten Morgen trifft die Familie in Wildenwart ein. Als Königsfamilie waren sie losgefahren, als Teil des Volkes kommen sie an.

 

»Die Dynastie Wittelsbach ist abgesetzt«, heißt es am Ende der Proklamation, die Wilhelm Herzog in einem Nebenzimmer des Sitzungssaals aufgesetzt hatte. Er war damit kurz vor Mitternacht zu Kurt Eisner geeilt, der hatte sie gelesen und, zur Überraschung Herzogs, weitgehend gut gefunden. Nur zwei, drei Sätze hatte er ändern wollen. Nun hieß es: hinaus damit, an die Telegrafenämter, in die Zeitungsredaktionen. Handschriftlich fügte Eisner noch hinzu: »Auf der 1. Seite (Titelseite) zu veröffentlichen.«

»Volksgenossen!«, so stand es in Riesenbuchstaben oben auf der Seite. »Um nach jahrelanger Vernichtung aufzubauen, hat das Volk die Macht der Zivil- und Militärbehörden gestürzt und die Regierung selbst in die Hand genommen. Die Bayerische Republik wird hierdurch proklamiert.«

Ob Eisner beim Blick auf das Grüppchen, das noch im Sitzungssaal ausharrte, selbst kurz Zweifel kamen,

Da stürmt zum Beispiel der verantwortliche Hauptschriftleiter der »Münchner Neuesten Nachrichten«, der großen Münchner Tageszeitung, in den Landtag. Er wird nicht vorgelassen, ein Arbeiter bringt Eisner die Visitenkarte des aufgebrachten Mannes. »Reden Sie mit ihm«, sagt Eisner zu Wilhelm Herzog. »Und übrigens, wir haben ja noch gar keinen Mann für die Pressezensur. Das machen Sie natürlich auch ab sofort.« Und er schreibt auf ein Zettelchen den neuen Posten, den er sich für Herzog ausgedacht hat. Spontaner Dienstausweis für den Oberzensor der neuen Volksrepublik.

Gut, ja, Herzog ist einverstanden, er eilt zu dem tobenden Chefredakteur hinaus, der sprudelt hervor, der ganze Verlag und die Druckerei seien besetzt, es sei eine Katastrophe, wenn das so bliebe, könne das Blatt am nächsten Tag nicht oder nicht pünktlich erscheinen und das wäre das erste Mal seit der Gründung im Jahr 1848.

»Na ja«, sagt Herzog, »es hat seitdem ja auch keine Revolution gegeben in Bayern.« Außerdem sei das jetzt wirklich nicht so eine schreckliche Katastrophe, wenn die Leser einmal in ihrem Leben die Zeitung erst um neun oder zehn statt um sechs Uhr im Kasten hätten: »Dann merken die Leute immerhin, daß sich was geändert hat.«

Der Oberzensor bekommt Kopien der Proklamation ausgehändigt. Er reicht ein Exemplar an Hauptschriftleiter Müller weiter, trägt ihm auf, dies zu drucken, und sagt, sein Blatt könne wie gewohnt erscheinen.

Doch wohin jetzt noch mit der Proklamation? Der diensthabende Redakteur an den Maschinen hat eine Idee. Auf der zweiten Seite ist doch bisher eine ganzseitige Anzeige. Er stoppt die Maschinen, setzt die bisherige Seite eins auf Seite zwei und auf Seite eins kommt, wie von der neuen Regierung befohlen, die Nachricht des Tages: »An die Bevölkerung Münchens!«, so fängt es an, schildert kurz die Ereignisse der Nacht aus der Sicht der Revolutionäre, dann steht da: »Bayern ist fortan ein Freistaat. Eine Volksregierung, die von dem Vertrauen der Massen getragen wird, soll unverzüglich eingesetzt werden.« Und weiter: »Eine neue Zeit hebt an! Bayern will Deutschland für den Völkerbund rüsten. Die demokratische und soziale Republik Bayern hat die moralische Kraft, für Deutschland einen Frieden zu erwirken, der es vor dem Schlimmsten bewahrt.«

Auch beschwichtigend und beruhigend soll dieser Text an die Bevölkerung wirken, man versichert, dass »strengste Ordnung« durch den Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat gesichert werde. »Die Sicherheit der Personen und des Eigentums wird verbürgt.« Es ist ein Aufruf an alle, an alle Menschen von München: »Arbeiter, Bürger Münchens! Vertraut dem Großen und Gewaltigen, das in diesen schicksalsschweren Tagen sich vorbereitet! Helft alle mit, daß sich die unvermeidliche Umwandlung rasch, leicht und friedlich vollzieht … Jedes Menschenleben soll heilig

 

Kurz zuvor, gegen Mitternacht, war der Führer der Sozialdemokraten Auer in Begleitung des Gewerkschaftssekretärs Schiefer bei Innenminister Brettreich erschienen. Der Minister hatte Auer zu sich gebeten. Hatte er von diesem nicht sein Wort bekommen, dass an diesem Tag keine revolutionäre Erhebung zu befürchten sei? Dass alles ruhig bleiben würde? Eine Kundgebung, eine Musik, und dann gehen alle schön und friedlich nach Hause? Hatte er ihn hintergangen? Hatte er seine Leute nicht im Griff?

Brettreich weiß eigentlich längst Bescheid. Auer hatte sein ruhiges, diszipliniertes Grüppchen ja in der Tat am Nachmittag zurück in die Stadt geführt und die Leute nach Hause geschickt. Kaum jemand an diesem Nachmittag hasste es so sehr, dass die Unabhängigen und die Kommunisten mit Eisner zu den Kasernen gezogen waren und sich dann wie in einer Bierhauskomödie im Mathäserbräu von einigen Kampf- und Trinkgenossen per Gebrüll und erhobenen Bierkrügen zu Regierungsverantwortlichen hatten wählen lassen.

Nun also: Drei hilflose Männer sehen sich an. Auer sagt, die Regierung hätte im Laufe des Tages Ordnung schaffen müssen. Brettreich sagt, er habe keinerlei Macht mehr über seine Leute. Auer sagt, eine Niederschlagung der Erhebung durch die Regierung müsse noch in dieser Nacht erfolgen. Am nächsten Tage werde die Arbeiterschaft selbst für Ordnung sorgen. Die Männer trennen sich. Es gibt nichts für sie zu tun. Die Ereignisse ereignen sich. Ohne sie.

 

Die Polizeidirektion zum Beispiel ist noch gar nicht in den Händen der Aufständischen. Eisner schickt Fechenbach los, der solle das regeln. Fechenbach regelt, er eilt zum Präsidium, es ist voller Polizisten, die in kleinen Gruppen herumstehen und die Ereignisse des letzten Tages und der Nacht besprechen. Seine rote Armbinde öffnet ihm alle Türen. Er geht von Büro zu Büro, bis er schließlich im Zimmer des Polizeipräsidenten Rudolf von Beckh angekommen ist. Der hat leitende Referenten seines Hauses zur Besprechung bei sich versammelt. Fechenbach erklärt, die Räte hätten soeben die provisorische Regierungsgewalt übernommen und würden ihn, den Polizeipräsidenten, beauftragen, bis zur Neuregelung den Sicherheitsdienst weiter zu leiten. Im Laufe der Nacht werde ihm ein Kontrollorgan beigegeben. Und jetzt sofort müsse er ihm, Fechenbach, eine Erklärung unterschreiben, dass er allen Anweisungen der Räte Folge leiste. Der Polizeipräsident bittet sich Bedenkzeit aus, völlige Stille im Raum, die Referenten sehen sich betreten an, dann ist er entschlossen, schreibt eine Verpflichtungserklärung auf einen Zettel und fügt hinzu: »Sofern ich dieser Verpflichtung nicht nachkommen kann, muß ich mir das Recht des Rücktritts vorbehalten. München, 8. November 1918, morgens 1 Uhr. K. Polizeipräsident von Beckh.«

Noch in derselben Nacht wird ihm der frühere Lagerarbeiter und Gewerkschaftssekretär und jetzige Soldatenrat Josef Staimer zur Kontrolle zur Seite gestellt, am nächsten Morgen wird dieser selbst zum Polizeipräsidenten ernannt werden.

 

Wer ist das denn jetzt noch, der sich um zwei Uhr nachts im Landtag meldet und bis zum Ministerpräsidenten vordringt? Ein junger Artillerieoffizier, außer Atem, roter Kopf, bleibt vor Eisner stehen und sagt: »Stehe mit 800 Mann, 20 MG und ein paar Haubitzen in Schleißheim. Alles zu Ihrer Verfügung!« Darauf Eisner: »Flink! Schaffen Sie alles her und postieren Sie Ihre Leute mit den Geschützen vor dem Landtag.«

Auch dieses vergessene Problem also löst sich erst einmal wie von selbst. Die Truppen der Stadt waren ja seit den Mittagsstunden in kompletter Auflösung. Und auch wenn viele der Soldaten aufseiten der Revolutionäre standen oder zumindest keinesfalls aufseiten des alten Königs, so gab es doch keinen funktionierenden Truppenteil, über den die neue Regierung hätte bestimmen können. Die liefen oder saßen einfach alle irgendwo herum. In Bierkellern oder zu Hause. Für die ersten Tage hatte man jetzt also mit den Schleißheimern einen minimalen Schutz.

Und jetzt ist es drei Uhr in der Nacht. Der neue Herrscher von Bayern, der Theaterkritiker mit den wirren Haaren, der seine Weltsekunde so schnell erkannt und entschlossen ergriffen hatte, Kurt Eisner ist müde. Sein Freund Fechenbach hat in einem Fraktionszimmer im Landtag ein Sofa entdeckt. Er und Wilhelm Herzog raten dem Ministerpräsidenten ein wenig zu schlafen.

»Wo?«, fragt Eisner. »Wo früher die Herren Abgeordneten zu schlafen pflegten? Auf ihren Bänken?«

»Nein«, sagt Fechenbach. »Wir haben ein feines Ho

Er geleitet Eisner in das Fraktionszimmer hinüber. Während der Volkskönig sich erschöpft aufs Sofa fallen lässt, sagt er: »Ist es nicht etwas Wunderbares? Wir haben eine Revolution gemacht, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen! So etwas gab es noch nicht in der Geschichte.«

 

Draußen auf den Straßen Münchens war es längst still geworden. Vereinzelte Schüsse in der Nacht. Sternenhimmel. Ein Betrunkener torkelt allein durch die Straßen Schwabings. »Bewegung! Krach! Krach! Krach!«, kräht er im dunklen Mantel in die Nacht. »Be – wee – e-gung!« Hört ihn jemand?

Es ist Oskar Maria Graf, der da die Nacht beschallt. Er hatte am Abend den Anschluss an das Geschehen verloren, zum Mathäserbräu war er zu spät gekommen, dann war er zur Residenz weitergeeilt, ungefähr zu der Zeit, als der König das Schloss durch einen anderen Ausgang verließ.

Graf trifft dort auf den besten Kunden seines Schwarzmarktgeschäfts, Anthony van Hoboken, ein märchenhaft reicher Holländer, dem Graf in den letzten Wochen Rinderzunge, Wein, Butter und andere seltene Herrlichkeiten verkauft hatte, die er selbst von einem dubiosen Großhändler bezog. Hoboken – Graf nennt ihn nur den schafsgesichtigen Holländer – stammt aus einer Rotterdamer Bankiersfamilie, liebt die Literatur und noch mehr die Musik und am meisten liebt er private Feiern mit Künstlerinnen, Malern, trinkfreudigen, lebensfreudigen, originellen Dichtern. Nach erledigten Geschäften hatte er Graf mehrmals schon zum Bleiben und Trinken aufgefordert. Und Graf hatte getrunken. Immer.

Sie ist eine strahlende Person und nennt sich Marietta von Monaco. Eigentlich heißt sie Maria Kirndörfer, 25 Jahre alt, klein, zierlich, war in München bei Pflegeeltern aufgewachsen, hatte eine Klosterschule besucht, war als Vagabundin umhergewandert und 1913 durch Zufall im Schwabinger Kleinkunstlokal Simplicissimus als Vortragskünstlerin entdeckt worden. Im Krieg ging sie in die Schweiz, nach Zürich, gehörte zu den Gründern des Cabaret Voltaire. Damals stellte sie sich mit einem kleinen Text vor. »Wer bin ich?« nannte sie ihn:

»Ich bin ein bunter Spielball.

Feine Knaben lassen mich über seidne Teppiche tanzen.

Kinder bestaunen mich kosend.

Ich gleite durch die eleganten Finger wertvoller Menschen.

Manchmal aber kommen rohe Buben und stoßen Fußball.

Dann gleite ich unter ihren Schuhen in die Kristallschale der

Vornehmsten Königin.«

Seit einiger Zeit ist sie wieder in München, singt, deklamiert in Schwabings Künstlerlokalen, die nun alle Revolutionslokale sind, und gleitet jetzt durch die eleganten Finger dieses wertvollen Holländers. »Muse Schwabylons« nennen die Leute sie. Wer sie sieht, ist verzaubert.

 

Könnte diese Revolution nun diese teuflische Erfindung nicht einfach – abschaffen? Müsste das nicht unweigerlich geschehen? Warum aber war das Schafsgesicht mit seiner Muse Schwabylons so freudig erregt?

Doch Graf war es jetzt egal. Die Welt war ins Rutschen gekommen, endlich, eine neue Welt erschien, und er wollte jetzt einfach feiern. Er ging mit dem Holländer und Marietta nach Hause, sie tranken und tranken die ganze Nacht, in den Morgenstunden torkelte Graf nach Hause, die Straßen Schwabings waren leer und still, immer mal knallte ein Schuss durch die Nacht. Die Revolution schlief.

Als Graf zu Hause ist, schreibt er einen Brief an seine Frau: »Ich mag Dich nicht mehr! Ich hab’ Dich nie mögen!

 

Ein schmaler, zarter Mann mit großen Augen und großen Lippen hatte den Abend ganz anders verbracht. Mit einer jungen Frau, die sich Elya nannte, Elya wie die Königstochter aus dem alten Augsburger Georgsspiel, als die sie vor einigen Wochen auf der Bühne gestanden hatte. Er hatte sie dort gesehen. »Rilke ist da«, hatte ihr Partner ihr noch auf der Bühne zugeflüstert. Und am nächsten Tag: »Rilke ist wieder da.« Und am Tag der letzten Vorstellung: »Rilke will nach der Vorstellung auf die Bühne kommen. Er möchte Sie kennenlernen.«

Er war dann aber doch nicht gekommen und sie hatte ihm einen Brief geschrieben, ihm, dessen Gedichte sie auswendig wusste, die ihr ein Leben gewesen waren. Sie kannte ihn lange schon in seinen Texten, war ihm vertraut, ohne ihm je begegnet zu sein: »Rainer Maria«, schrieb sie, »einmal liebte ich Deine Seele, fast so wie man Gott liebt.

Rilke antwortete sogleich, lud sie in seine Wohnung im vierten Stock in der Ainmillerstraße in Schwabing, las ihr vor, schwieg mit ihr. In ihren Briefen redete sie ihn, seine Gedichte zitierend, mit »Gott, Du bist groß« und »Du Unsterblicher« an. Er wünschte sich: »Wenn ich an Dich denke, seh ich uns, wie in einem Traume nebeneinander knien, und das wird wohl auch unsere Haltung sein zueinander. Wann kommst Du wieder zu mir?«

Rilke kniete gern mit seinen Verehrerinnen, seinen Freundinnen, seinen Geliebten. Voller Bewunderung vor einem Kunstwerk, einem Altar, bis beiden die Tränen kamen.

Der Dichter Rainer Maria Rilke war im Krieg beinahe verstummt. Spätestens nachdem er Anfang 1916 selbst zum Militärdienst nach Wien eingezogen worden war, hatte er fast nicht mehr gedichtet. Obwohl er durch die Intervention einflussreicher Freunde schon nach einem halben Jahr wieder freigestellt worden war, hatte der militärische Drill diesen schmalen, beinahe durchsichtigen Mann tief erschüttert.

Er lebte danach als Gast reicher Freunde auf der Herreninsel im Chiemsee, dann auch einige Monate in Berlin, er war finanziell abhängig von adeligen Damen und Industriellen-Gattinnen. Wenn er in Berlin war, trafen sich auch die Ehemänner dieser Damen mit ihm: Detlev Graf von Moltke, Flügeladjutant des Kaisers, Richard von Kühlmann, Staatssekretär des Äußeren, der kurz darauf, Anfang 1918, mit dem revolutionären Russland den Frieden von

Im Sommer 1917 hatte der verstummte Dichter in Herrenchiemsee eine junge Russin kennengelernt, deren Mann in Berlin aus politischen Gründen in Haft saß, Sophie Liebknecht, die Frau des deutschen Kommunistenführers. Die beiden freundeten sich an, Rilke, den eine tiefe Liebe mit Russland verband, mochte Sophie schon wegen ihrer Herkunft sehr. Er klagte ihr sein Leid über den Krieg, sie sagte ihm, dass sein Leiden leichter zu ertragen sei, »wenn Sie unsere Zeit nicht so von sich weisen würden, wenn Sie mehr sich um sie kümmerten und durch Zeitunglesen und überhaupt nähere Anteilnahme mehr reelle Beziehung zu ihr hätten«. Übrigens könne er dann auch sicher wieder dichten, meinte Sophie Liebknecht noch, »und schließlich ist das doch für Sie das wichtigste«.

Zeitung lesen. Politik bedenken. Wirklichkeit beachten. Irgendwie in der Zeit sein! Nicht wie der Panther im Pariser Jardin des Plantes, über den er Anfang des Jahrhunderts gedichtet hatte:

»Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe

Und hinter tausend Stäben keine Welt.«

Aber Rilke war ja in der Welt. Er war ja viel zu durchlässig für diese täglichen Katastrophen, es war ja zu viel Weltgeschehen, Brutalität, Lärm überall, Krieg.

»Endlich ein Gott. Da wir den friedlichen oft

nicht mehr ergriffen, ergreift uns plötzlich der Schlacht-Gott,

schleudert den Brand: und über dem Herzen voll Heimat

schreit, den er donnernd bewohnt, sein rötlicher Himmel.«

Ja, das hatte einer gedichtet, der auf Betrachter wirkte, als würde schon ein etwas stärkerer Windhauch genügen, um ihn aus den Gamaschen zu pusten. Der Schlacht-Gott riss ihn mit. Aber nicht lange. »Drei Monate später sah ich das Gespenst – und jetzt, seit wie lange schon, ist’s nur die böse Ausdünstung aus dem Menschensumpf«, schrieb er schon ein Jahr später. Und verstummte.

Nein, er war kein aktiver Kriegsgegner, er litt leise. Der Gattin seines Verlegers Anton Kippenberg schrieb er nach der Oktoberrevolution 1917, dass ihn »allein der Gedanke an das herrliche Russland« aufrecht halte. Er liebte Russland seit seinen frühen Reisen in das ersehnte Land im Osten, liebte die russische Dichtung, hatte viele russische Freunde, Freundinnen vor allem, und die Revolution erfüllte ihn mit Hoffnung auf ein Ende des Krieges, auf eine neue Zeit.

Er kannte Kurt Eisner, schätzte ihn auch, hatte sich in einem Brief Anfang des Jahres 1918 an ihn gewandt, auf der Suche nach Rat wegen der Organisation eines Hilfswerks für Arme, das eine reiche Freundin Rilkes errichten wollte. Eisner hatte der Brief damals nicht erreicht, weil er infolge des Munitionsarbeiterstreiks, zu dem er aufgerufen hatte, im Gefängnis saß.

Rilke, der Zeitenferne, der Liebling der Reichen, des alten Adels, abhängig auch von ihnen, war jedenfalls bereit

»Da vieles fiel, fing Zuversicht mich an.

Die Zukunft gebe, daß ich darf.

Ich kann.«