Für Birgit
Von Pjöngjang nach Herne (über Key West)
Als die Beerdigung meines Vaters vorüber war, fuhr ich ins Stadion. Ich nahm dazu seinen Wagen, einen in die Jahre gekommenen BMW, und fragte mich, ob wir damit eigentlich noch einmal zusammen zum Fußball gefahren waren. Wahrscheinlich nicht, denn schon länger hatte er meine Angebote ausgeschlagen, gemeinsam mit mir ein Spiel anzuschauen. Oder vielleicht hatte er gemerkt, dass meine Einladungen nicht mehr so richtig entschlossen waren. Denn insgeheim hatte ich das Gefühl, dass für ihn mit über 80 Jahren die Freuden eines Stadionbesuchs und die dazu nötigen Anstrengungen in keinem guten Verhältnis mehr standen.
Ich nahm durch Herne genau den Weg, den wir früher zusammen genommen hatten. Vorbei am ehemaligen Mädchengymnasium, an der Hauptschule, der Tankstelle, die es nicht mehr gibt, und dem Autohaus, das leer steht. Hinter der Bahnunterführung ging es nach links, am Bahnhof vorbei und am Bunker, wo früher Punkkonzerte stattgefunden hatten. Ich fuhr unter der Autobahn durch, ließ den Tennisplatz links liegen und parkte dann direkt vor den Kassenhäuschen.
An einem verregneten Wintertag vor fast vier Jahrzehnten hatten wir sein Auto, damals noch einen Opel Commodore (ich kann mich sogar noch an das Nummernschild erinnern, HER-P 236), auf dem unbefestigten Parkplatz gegenüber vom Stadion am Schloss Strünkede abgestellt, um uns ein Spiel von Westfalia anzuschauen. Als wir nach Hause wollten, drehten die Räder durch und der Wagen blieb im Matsch stecken. Mein Vater gab ungeduldig Gas, und die Reifen gruben sich noch tiefer ein, bis wir schließlich eine Fußmatte unterlegten und ihn so freibekamen. Oder hatte uns jemand mit einem Abschleppseil herausziehen müssen?
Komisch, dass mir das jetzt einfiel, denn das Wetter war heute schön. Der Himmel lag an diesem Wintertag so blau über dem Stadion und die Luft war so knackend frisch, dass man eher hätte glauben können, in den Alpen zu sein als im Ruhrgebiet. Die Stadiontore standen offen, niemand war zu sehen, und ich ging an den alten Umkleidekabinen vorbei. Die heutigen Kabinen sind in einem Flachbau gegenüber untergebracht, der nach Westfalias ehemaligem Nationaltorwart Hans Tilkowski benannt ist. Ich schaute in das Stadion, das so groß ist, dass man hier Bundesligaspiele austragen könnte. Dass ich wieder berührt von dem Ort war, hatte nicht nur mit meinem persönlichen Sentiment zu tun, ich mag die Offenheit des Stadions und dass man überall Bäume sieht.
Ich musste an Joachim Król denken. Schon auf der Fahrt hatte ich an ihn gedacht. Viele Jahre zuvor hatte er mir erzählt, wie auch er nach der Beerdigung seines Vaters hierhin gefahren war. Joachim Król, heute ein beliebter und erfolgreicher Schauspieler, kommt auch aus Herne und ist zur selben Schule gegangen wie ich. Auch er besuchte zusammen mit seinem Vater Spiele von Westfalia Herne. Und er hatte mir erzählt, wie auch er an dem Ort, wo die beiden sich am nächsten gewesen waren, von ihm Abschied genommen hatte. Es ging in seiner Geschichte um die schwierige Liebe zwischen Vätern und Söhnen, um die generellen Schwierigkeiten von Männern, über das zu sprechen, was sie bewegt. Es ging aber auch um den Niedergang des Ruhrgebiets und wie das alles im Fußball zusammenkommt.
Inzwischen war ich bei meinem Gang durch das Stadion auf der Haupttribüne angekommen, die im Frühjahr 1960 eilig fertiggestellt worden war, damit Westfalia die Endrundenspiele um die deutsche Meisterschaft nicht wieder in fremden Stadien austragen musste, wie im Jahr zuvor. Ich setzte mich dorthin, wo ich elf Jahre nach diesen größten Momenten der Vereinsgeschichte an der Seite meines Vaters zum ersten Mal in meinem Leben ein Fußballspiel im Stadion gesehen hatte. Nur dass es kein heroisches Spiel um die deutsche Meisterschaft mehr gewesen, sondern Westfalia schon damals tief gefallen war und wir einen tristen Kick in der Regionalliga West sahen, der zweithöchsten Spielklasse des Jahres 1971.
Ich fragte mich, ob wir schon an jenem Tag mit vertauschten Rollen ins Stadion gegangen waren. Dass nämlich nicht er mich zum Fußball mitnahm, sondern ich ihn. Dass nicht er mir den Zauber und die Tiefe des Spiels vermittelte, sondern unsere gemeinsamen Besuche ihn an etwas erinnerten, was er im Laufe der Jahre vor lauter Arbeit vergessen hatte. Mein Vater war in den Fünfzigerjahren mit Freunden oft zu Spielen der alten Oberliga West gegangen. Von Recklinghausen aus waren sie vor allem nach Erkenschwick und Marl-Hüls gefahren, zu Westfalia Herne oder zum SV Sodingen, den nächsten Vereinen also, aber auch nach Schalke, Dortmund oder Essen. Seine Freunde und er waren keine Fans eines Vereins, und mein Vater wurde das auch später nicht, als erst ich allein und bald auch mein drei Jahre jüngerer Bruder Claus ihn immer häufiger baten, mit uns ins Stadion zu gehen. Wir fragten ihn aus pragmatischen Gründen, weil er uns zu Auswärtsspielen fahren konnte und den Eintritt bezahlte. Er war durchaus zu begeistern, aber schnell verärgert, wenn das Spiel schlecht war. Sein Interesse war nicht besonders ernsthaft. Ich glaube, dass ihm am Fußball vor allem die Unvorhersehbarkeit gefiel und die verblüffenden Wendungen. Er wollte nicht unbedingt eine bestimmte Mannschaft siegen sehen, sondern rufen können: »Das gibt’s doch nicht!« Er war kein Fußballfan, er war, um es mit einem altmodischen Begriff zu sagen, ein Fußballfreund. Mein Bruder und ich hingegen wurden Fans, und vermutlich fuhr er vor allem deshalb mit uns in der Gegend herum, weil er Zeit mit uns verbringen wollte. Und weil Fußball das war, was uns am meisten verband.
Ich schaute entlang der Tribüne über die Holzbänke, die sich bedrohlich wellten, weil irgendwo hunderte Meter unter dem Stadion einer der vielen Tausend Stollen, der Wurmgänge des Goldenen Zeitalters der Kohle in meiner Heimatstadt, nicht richtig verfüllt worden und daher abgesackt war. Bergschaden. Das Vereinsemblem an der Rückwand der Tribüne blätterte ab, auch sonst war vieles nur ausgeflickt und der Rasen sichtbar holprig. Hier waren die guten Zeiten vorbei, aber für mich war dieser Ort dennoch nicht trostlos. Im Gegenteil.
Als Joachim Król mir damals seine Vater-Sohn-Westfalia-Geschichte erzählte, hatte er sich versprochen. Statt »Heimspiel« hatte er »Heimatspiel« gesagt, dann hatte er gelacht und gemeint, das sei ein guter Versprecher.
Das stimmt.
Eigentlich war ich hier, weil der Tod meines Vaters bei mir ein Gefühl der Heimatlosigkeit geweckt hatte. Er war in all den Jahren, in denen ich mich von meiner Heimatstadt räumlich und vielleicht auch innerlich immer weiter entfernt hatte, in Herne geblieben. Ich war zunächst ein paar Kilometer die Straße hoch nach Bochum gezogen, bis ich dort an einem Freitagabend wieder einen Möbelwagen mit meinen Sachen bepackte, diesmal, um nach Köln zu ziehen, während die Flutlichter des Ruhrstadions hinüberstrahlten. Wie fast alle, die zu Westfalia Herne gingen, hatte ich einen Zweitverein, der schon längst zu meinem Erstverein geworden war. An jenem Tag war ich zum ersten Mal nach 15 Jahren nicht bei einem Heimspiel des VfL Bochum gewesen, weil Freunde als Umzugshelfer sogar aus Hamburg gekommen waren. Es hätte sich nicht gehört, aber ich fand es trotzdem schlimm. Es war der 20. März 1992, und der VfL Bochum spielte 1:1 gegen Wattenscheid 09.
Ich bin kein großer Freund von Ortswechseln, und so blieb ich fast zwei Jahrzehnte in Köln, bis ich nach Berlin zog. Ich fühlte mich in Köln wohl und tue es in Berlin, doch als ich nach dem Tod meines Vaters im Scherz sagte, dass ich nun Waise sei, erschien es mir, als könnte ich nur in meiner alten Heimat Trost finden.
Ich war nach meinem Wegzug in den folgenden Jahrzehnten lediglich aus zwei Gründen ins Ruhrgebiet zurückgekehrt: um meine Familie und meine Freunde zu besuchen oder um zum Fußball zu gehen. Das aber häufig und oft aus beruflichen Gründen. So war ich dabei, als Borussia Dortmund 1992 zum ersten Mal in der Bundesliga die deutsche Meisterschaft gewann und als Schalke sich an einem Tag im Mai 2001 für viereinhalb Minuten als Meister fühlen durfte. Ich war dabei, als es der VfL Bochum unter Klaus Toppmöller in den UEFA-Cup schaffte und als Peter Neururer nach Europa tanzte. Ich war dabei, als Michael Tönnies für den MSV Duisburg drei Tore innerhalb von fünf Minuten gegen Oliver Kahn im Tor des Karlsruher SC schoss. Ich sah Samy Sané für Wattenscheid in der Bundesliga treffen und ließ mich im Niederrheinstadion in Oberhausen nass regnen.
Doch im Laufe der Jahre begann sich meine Perspektive zu verschieben. Der Fußball im Ruhrgebiet blieb mir zwar selbstverständlich, weil ich mitunter mehrmals in der Woche zu Interviews mit Spielern, Trainern oder Managern und den Spielen selbst anreiste. Aber das Ruhrgebiet änderte sich, und langsam verstand ich diese Veränderungen nicht mehr mit der gleichen Sicherheit, als würde ich dort noch leben. Die Vertrautheit des Nach-Hause-Kommens wurde immer mehr zur Illusion.
In meiner Trauer war ich an einen besonders vertrauten Ort gegangen, der mich tatsächlich tröstete, einfach weil er mich auf besondere Weise an den Mann erinnerte, dessen Verlust ich beklagte. Aber zugleich wunderte ich mich über mich und dass ich nun hier im Stadion Abschied nahm. Obwohl Fußball schon seit fast 30 Jahren mein Beruf war und ich wusste, welch starke Gefühle das Spiel begleiten, hatte ich die Kraftströme des Fußballs in diesem Moment doch unterschätzt. Seltsam.
In den folgenden Wochen und Monaten der Trauer musste ich häufiger an diese Fahrt ins Stadion denken und dass ich aufgeräumter und ruhiger von dort weggefahren war. Und ich stellte mir die Frage, was die Kraft des Fußballs ausmacht. Oder anders gefragt: Wovon träumen wir heute noch, wenn wir vom Fußball träumen?
Einerseits ist das einfach zu beantworten, weil die Kinderträume bleiben, von aufregenden Spielen mit großen Spielern, die große Siege feiern. Und wir mit ihnen. Doch aus diesen einfachen Träumen sind andere, kompliziertere und schwerer zu verstehende erwachsen. Fußball ist in den letzten Jahrzehnten ein bedeutenderes öffentliches Ereignis geworden, als es je war, und das muss man wörtlich verstehen. Heute bedeutet es etwas, was auf dem Platz passiert und auf den Rängen und wie darüber gesprochen wird. Zugleich verschafft der Fußball auch Themen allergrößte Aufmerksamkeit, die sie sonst nicht hätten. Wenn sich etwa mit Thomas Hitzlsperger ein ehemaliger Nationalspieler als schwul outet oder Uli Hoeneß als Steuerbetrüger ins Gefängnis muss und damit zu einem veränderten Blick auf Steuerhinterziehung beiträgt.
Fußball ist ein Spiegel gesellschaftlicher Verhältnisse geworden und wird nun als solcher begriffen. Wir können etwas über ein Land erfahren oder eine Region oder eine Stadt, wenn wir schauen, welche Rolle der Fußball dort spielt. Wenn wir den Fußball irgendwo wirklich verstehen wollen, müssen wir sein soziales, politisches und wirtschaftliches Umfeld anschauen.
Im Jahr 2013 sah ich Fußballspiele nicht nur in Deutschland, sondern auch in Spanien, Italien, England und an einem grauen, aber noch warmen Herbstvormittag im Arbeiterstadion von Pjöngjang. In der ersten Liga Nordkoreas spielte die Mannschaft der Leichtindustrie gegen die des Jugendverbandes. Und schließlich lernte ich James kennen.
James ist Mitte 40 und lebt in Key West, dem südlichsten Ort der USA, am Ende einer langen Kette von kleinen Inseln, die sich über Brücken verbunden weit in den Golf von Mexiko hinein erstrecken. Er besitzt ein kleines Bauunternehmen, das vor allem denkmalgeschützte Gebäude renoviert, hat eine schwedische Frau und drei Töchter. Zwei Jahre zuvor war er in Colorado im Skiurlaub gewesen, auf der Piste gestürzt und hatte sich den Daumen gebrochen. Wieder daheim, riet sein Arzt zu einer Operation, und anschließend erholte sich James eine Woche lang davon. Von Schmerzmitteln sediert, zappte er durchs Fernsehprogramm, stieß zufällig auf ein Fußballspiel und schaute es sich zum ersten Mal an. Inzwischen zeigen in den USA viele Kabelsender Fußballspiele, und am Ende der Woche hatte James alle Spiele angeschaut, die er finden konnte. Nach seiner Genesung schaute er weiter und suchte sich eine Mannschaft, um zum ersten Mal selbst Fußball zu spielen. Daheim las er am Computer Wikipedia-Einträge über die Geschichte des Fußballs, warum die Abseitsregel 1926 geändert wurde und welchen Einfluss Johan Cruyff auf die taktische Entwicklung des Spiels hatte. Er war auf eine für ihn neue Welt gestoßen und erschloss sie sich, wie andere eine neue Sprache mit einem Lehrbuch zu lernen versuchen.
Was ihn elektrisierte, war das, was die universelle Kraft des Spiels ausmacht: seine Unwägbarkeit und seine unkalkulierbare Dramaturgie, die spektakulären Momente großer Spieler, aber auch die unfassbaren Fehler, unglückliches Scheitern und der an sich verrückte Umstand, dass Menschen den Ball mit dem Fuß spielen, wo es doch mit der Hand viel einfacher wäre. Also all das, was uns als Kinder in den Bann zieht und was meinen Vater ein Leben lang zu einem Fußballfreund gemacht hatte.
Es war rührend, sich mit James zu unterhalten, weil dieser gestandene Mann, Familienvater und Unternehmer mit fast kindlicher Aufregung alles von mir wissen wollte. Er war ein Fußballfreund geworden, wie mein Vater es gewesen war. Doch da er mal Geschichte studiert hatte, interessierten ihn auch gleich die historischen und sozialen Zusammenhänge: Die Rolle des Fußballs im ehemaligen Ostblock, was die Rivalität zwischen Real Madrid und dem FC Barcelona mit der Francozeit zu tun hatte, oder was den FC Bayern von Borussia Dortmund unterschied.
Auch in Pjöngjang, wo sich niemand an den Computer setzen und durchs Internet surfen darf, bekam ich Fragen nach der Bedeutung des Fußballs gestellt. Ich war dorthin durch eine NGO aus Berlin geraten, der es gelungen war, einen Workshop mit nordkoreanischen Sportjournalisten zu organisieren. Diese mussten Fußballspiele kommentieren, mitunter ohne die Namen der Spieler zu kennen. Ein Angehöriger der deutschen Botschaft erzählte, dass deshalb oft zu hören war: »Guter Pass der Nummer sieben auf die Nummer neun.« Das passte zu diesem rätselhaften und unendlich traurigen Land.
Als sich am zweiten Tag unseres Workshops in Pjöngjang die Stimmung etwas entkrampfte, fragte einer der Journalisten, wie wir es in Deutschland denn organisierten, dass in unseren Stadien die Menschen sangen, Fahnen und Schals schwenkten. In Nordkorea, wo jede Lebensregung vom Staat vorgeschrieben und kontrolliert wird, konnte das nach ihrem Verständnis nur auf Beschluss höherer Kreise umgesetzt worden sein. Vielleicht war genau das der Moment, in dem sich ein kleiner Spalt öffnete und wir den Gedanken der Freiheit hinterlassen konnten. Ich erklärte ihnen, dass alles, was sie da bestaunten und wohl auch nachahmenswert fanden, das Ergebnis individueller Begeisterung war und der Anhänglichkeit an Klubs, die im Leben ihrer Anhänger wichtig waren. Man konnte sehen, wie ungeheuerlich dieser Gedanke für sie war.
James und die Nordkoreaner mochten Borussia Dortmund. Sie hatten den Weg der Mannschaft ins Finale der Champions League 2013 in Key West und Pjöngjang verfolgt, und etwas hatte dabei zu ihnen gesprochen. Die Jugend, die Abenteuerlust, das Tempo und die Klasse dieser Mannschaft vermittelten sich über alle kulturellen Grenzen hinweg, ohne dass sie wirklich etwas über den Klub, seine Rolle im deutschen Fußball oder gar im Ruhrgebiet wussten.
Auch ich kann mich noch immer am Spiel einer Mannschaft begeistern, wenn sie eine besondere Ausstrahlung hat. Doch auch wenn das nicht so ist, kann ich etwas über ein Land oder eine Stadt lernen, wenn ich anderswo ins Stadion gehe und mir anschaue, wie gespielt wird, was den Zuschauern gefällt und zu welcher Art von Ereignis sie ein Spiel machen.
Um eine Ahnung davon zu bekommen, mit welcher unglaublichen Anhänglichkeit Neapel seinen SSC liebt, muss man sich nur mal drei Stunden vor Anpfiff die Warteschlangen vor dem Stadion San Paolo anschauen. Wo sonst findet man solche Vorfreude? Und wo eine derart heilige Konzentration beim Anschauen eines Fußballspiel wie an der Anfield Road, im Stadion des FC Liverpool? In Tokio hingegen staunte ich darüber, wie die Fans des FC Tokyo und der Kashima Antlers perfekt den Support argentinischer Barra Bravas bzw. italienischer Ultras kopierten. Japaner sind wunderbare Kopisten, die über das Nachmachen Dinge oft besser machen, und sie sind die besten Fans der Welt. Jede mittelbedeutende Popband der Welt wird ihre hingebungsvollsten Anhänger wahrscheinlich in Japan finden. So fremd das auch war, gefiel es mir, wie sie Fansein spielten, abgeschaut aus irgendwelchen Internetvideos. Dagegen war es in Nordkorea nicht vorgesehen, ein Fan zu sein – außer einer von Kim Jong-il, dem geliebten Führer. Also freuten sich die Zuschauer im Nationalstadion von Pjöngjang über gute Aktionen vor beiden Toren und beklatschten gute Schüsse beider Mannschaften.
Wir können die Welt im Fußball wiederfinden, und im Ruhrgebiet kann man das so gut wie an keinem anderen Ort in Deutschland. Fußball ist überall groß und überall bedeutsam geworden, aber nicht so groß und so bedeutsam wie hier.
Aber warum ist das so?
In den folgenden Wochen und Monaten begleitete mich diese Frage, und immer neue Fragen schlossen sich daran an. Wann hatte es angefangen, dass Fußball mehr als Fußball wurde? Was hat die Identität des Ruhrgebiets mit seinem Fußball zu tun? Warum gibt es hier – und anderswo – die Sehnsucht nach Malochern auf dem Platz? Warum lieben wir die Spieler aus unserer Nachwuchsmannschaft so? Wie kann uns ein Fußballklub zur Heimat werden, selbst wenn wir viele Hundert Kilometer entfernt leben? Warum debattieren wir aufgeregt über den Begriff »Traditionsverein«, und warum ist der Fußball so geschichtsbesessen geworden? Und wie in Gottes Namen konnte Fußball zur Religion werden?
Es wurde Zeit, dass ich mich auf den Weg machte. Nicht in die Welt hinaus, sondern nach Hause.
Mario Götze und das Drama des modernen Fußballs
Ich hatte mich gerade erst in der Wohnung eines Freundes in Duisburg eingerichtet, als ich morgens verschlafen zum Kiosk ging und beim Blick auf die Zeitungsauslage schlagartig wach wurde. Bild vermeldete rechts oben auf der Titelseite exklusiv, dass Mario Götze von Borussia Dortmund zum FC Bayern München wechseln würde. Die Überschrift war etwas kleiner als die Schlagzeile des Tages: »Börsenzockerei – Ist Hoeneß süchtig?«.
Im Grunde war das ein altmodischer Moment, denn eigentlich sind Zeitungen schon längst keine Überbringer von Neuigkeiten mehr. Aber nun stand ich an einem sonnigen Frühjahrsmorgen vor einem Kiosk im Duisburger Wasserviertel und war geschockt. Ich wollte die Neuigkeit nicht glauben und ging davon aus, dass es eine der üblichen Transferspekulationen sei. Aber die Headline kam nicht mit einem schamhaften Fragezeichen daher, die in der Welt der Boulevardmedien das Kann-sein-muss-aber-nicht-sein signalisiert. Als ich den Text las, blieb kein Zweifel: Mario Götze würde Borussia Dortmund am Ende der Saison verlassen. Im Vertrag des Spielers gab es eine Klausel, nach der er für eine festgeschriebene Ablösesumme gehen konnte. Bayern München war bereit gewesen, die 37 Millionen Euro wirklich zu bezahlen.
Obwohl, wie später deutlich wurde, bei diesem Transfer alles mit rechten Dingen zugegangen war, es also keine dunklen Winkelzüge hinter den Kulissen gegeben hatte, blieb die Sache hässlich. Fußball ist ein Geschäft, in dem es oft um viel Geld geht, aber wir möchten nicht daran erinnert werden. Dass der FC Bayern, der gerade zweimal hintereinander Borussia Dortmund als deutschem Meister hatte gratulieren müssen, dem ärgsten Rivalen seinen besten Spieler wegkaufen konnte, war allein schon ein beunruhigender Hinweis darauf, wie sehr der sportliche Wettkampf von der Wirtschaftskraft der Klubs bestimmt ist. Doch Mario Götze war nicht einfach irgendein Spieler, und das gab diesem Vereinswechsel eine symbolische Bedeutung. Er war nicht nur der beste Spieler seiner Mannschaft und trotz seiner erst 20 Jahre wahrscheinlich sogar der beste Fußballer, der jemals beim BVB gespielt hatte. Er war seit seinem neunten Lebensjahr bei der Borussia gewesen und verkörperte den Klub daher wie kein anderer Spieler. Hieß nicht der Slogan des BVB »Echte Liebe« – wie konnte Götze diese Liebe verraten?
Besonders bitter war der Zeitpunkt, an dem die Nachricht durchsickerte, am Tag vor dem Halbfinale in der Champions League. Das Spiel gegen Real Madrid, das größte für den BVB seit mehr als 15 Jahren, war dadurch fast kein Thema mehr, jede Vorfreude schien weggewischt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung überschrieb ihren Vorbericht: »Das Herz geraubt«. Aki Schmidt, der mit Borussia Dortmund den Europacup 1966 gewonnen hat und heute Stadionführungen für Fans macht, sagte noch drastischer: »Die haben uns das Herz rausgerissen.«
Ich konnte das Entsetzen und die Wut in Dortmund gut nachvollziehen. Dieser Transfer erinnerte daran, dass Fußball der Spiegel einer modernen Welt ist, wo das Primat des Ökonomischen gilt, der Große den Kleinen frisst und Loyalitäten flüchtig sind. Nun war es keineswegs so, dass sich im Frühjahr 2013 noch jemand ernsthaft darüber wunderte. Wie oft hatten Fans schon erlebt, dass Spieler, zu denen sie eine besondere Verbindung spürten, aus heiterem Himmel den Verein verließen. Wie oft hatten große Klubs den kleinen ihre besten Spieler weggekauft, und wie sehr war das ganze Spiel bestimmt von wirtschaftlichen Interessen, nicht nur bei den Transfers.
Es gibt keinen Fußballfan, der die Zusammenhänge der Kommerzialisierung nicht kennt, dafür sind sie zu offensichtlich. Deshalb könnte man sich fragen, ob es nicht ein Ausdruck von Naivität war, dass selbst jemand wie ich, der seit über einem Vierteljahrhundert über Fußball schreibt, darauf noch verdattert reagierte.
Dass im Fußball jedoch zugleich noch andere Kräfte wirken als die ökonomischen, konnte ich schon einen Tag später eindrucksvoll erleben. Als ich am Mittwoch in Dortmund zum Spiel gegen Real Madrid ins Stadion kam, war die Stimmung noch bestimmt von der Nachricht des Vortages. Etliche Fans hatten Götzes Namen auf ihren Trikots überklebt oder durchgestrichen, pfiffen ihn aber nicht aus, als er zum Warmmachen auf den Platz kam, weil die Verantwortlichen beim BVB inständig darum gebeten hatten. Wenige Minuten vor Anpfiff wurde auf der Videoleinwand sogar noch einmal das Statement von Jürgen Klopp aus der Pressekonferenz des Vortages gezeigt: eine Beschwörung des Publikums und der eigenen Mannschaft. Mit großem Ernst forderte der Trainer die Zuschauer auf, ihren Frust und Ärger über den Wechsel zu ignorieren und alles für einen Sieg über Real zu geben.
Ich saß jenseits der Pressetribüne, und hier, mitten im Publikum, konnte man spüren, dass die Zuschauer das Spiel zu einem Fanal ihres Protestes gegen die Macht des Geldes verwandeln wollten. Real Madrid, das sich als Klub nicht zuletzt über immer neue Rekordtransfers definiert, war da genau der richtige Gegner. Um mich herum begannen die Zuschauer sich also noch heftiger als sonst in das Spiel hineinzusteigern, und die Mannschaft tat es ihnen nach. Sie spielte sich in einen Rausch, und Real Madrid ging in diesem Strudel unter. Mittelstürmer Robert Lewandowski schoss vier Tore, was es in einem Halbfinalspiel der Champions League noch nie gegeben hatte. Das war insofern eine besondere Pointe, weil der Pole nie einen Zweifel daran gelassen hatte, dass er zu einem anderen Verein wechseln wollte. Dieser Klub sollte, wie ein dreiviertel Jahr später bestätigt wurde, ebenfalls der FC Bayern sein.
Am Ende hieß es 4:1, und das erste Finale in der Champions League seit dem Titelgewinn 1997 für Borussia Dortmund war ganz nah. Als die Menschen völlig überdreht jubelnd auf den Sitzen standen, nutzte ein älteres Ehepaar, beide weit in ihren Siebzigern, den Aufruhr und verließ das Stadion. Der Mann, einen schwarz-gelben Schal um den Hals und eine Plastiktüte in der Hand, nickte mir zum Abschied freundlich zu. »Das hätte ich nie gedacht«, sagte er. Vielleicht war stiller Ausdruck von Erstaunen die angemessenste Reaktion auf diesen Irrsinn.
Für James in Key West, die Nordkoreaner in Pjöngjang und Millionen Fußballfans rund um den Globus waren die 90 Minuten in Dortmund einfach nur ein großartiges Fußballspiel mit einem sensationellen Ausgang gewesen. Doch zugleich hatte ein klassisches Drama stattgefunden, in dem mehr verhandelt wurde als Borussia gegen Real, Sieg und Niederlage. Mario Götzes angekündigter Wechsel hatte auf den Rängen viele Gefühle geweckt, denn fast alle in Schwarz-Gelb empfanden ihn als Verrat an ihrem Traum vom Fußball. Sie wollten etwas verteidigen, das man nicht als Illusion missverstehen sollte. Sie verteidigten ihre Kinderträume, ihre Fangeschichten, die meist auch Familiengeschichten sind, ihr Heimatgefühl sowie den Wunsch nach Zusammenhalt und Solidarität. Ihre Enttäuschung über einen, der das durch seinen Vereinswechsel indirekt infrage stellte, verwandelten sie innerhalb der 90 Minuten in etwas Kraftvolles, das auch ihre Mannschaft ergriff und forttrug. Am Ende des Spiels gingen aus diesem Drama alle gereinigt hervor. Das Geld hatte nicht gesiegt, zumindest diesmal nicht.
Ich sollte diese Kraft in den kommenden Wochen an unterschiedlichen Orten im Ruhrgebiet immer wieder spüren. In Duisburg quälte sich der MSV durch einen Abstiegskampf, den er zunächst erfolgreich bestritt, um dann ins Nichts des Lizenzentzugs zu stürzen und gerade in tiefster Not ein lange verlorenes Gefühl des Zusammenhalts zu finden. In Bochum erweckte Peter Neururer eine tote Mannschaft, einen in Agonie liegenden Klub und eine zutiefst depressive Stadt für einige Wochen wieder zum Leben. Bei Rot-Weiss Essen hatten die Anhänger auf dem Weg ins nagelneue Stadion Tränen in den Augen, weil sich nebenan Bagger in die Tribünen des alten Georg-Melches-Stadions fraßen. Die SG Wattenscheid 09 kehrte nach endlosen Jahren des Niedergangs zumindest wieder in die vierte Liga zurück, und Westfalia Herne rettete sich am letzten Spieltag vor dem Absturz in die sechste Liga, als das schon gar nicht mehr zu erwarten war. Nur bei Schalke 04 passierte erst was Herzergreifendes, als die Saison längst vorbei war. Der Spanier Raúl kam zurück, wenn auch nur für einen Tag, um sich für die schöne Zeit in Gelsenkirchen mit einem Abschiedsspiel zu bedanken. Und gemeinsam mit Julian Draxler, dem größten Talent des Klubs, schoss er das schönste Tor des Jahres.
Als ich mich nach dem aufwühlenden Sieg von Borussia Dortmund über Real Madrid schlafen legte, stellte ich fest: Es war schön, wieder zu Hause zu sein.
Die Erfindung des Ruhrgebietsfußballs
Wenn ich Fritz Keller treffe, den Vereinspräsidenten des SC Freiburg, bringt er mit Sicherheit irgendwann die Rede auf den Ruhrgebietsfußball. »Und wie sieht’s aus bei euch im Pott?«, fragt er dann, obwohl er weiß, dass ich dort schon lange nicht mehr lebe. Aber dieser Ruhrpott und sein Fußball machen großen Eindruck auf ihn. Dabei lebt Keller, der Fritz nach seinem Taufpaten Fritz Walter heißt, in einer der schönsten Landschaften Deutschlands, dem Kaiserstuhl. Er ist dort erfolgreicher Winzer und führt ein Restaurant, in dem man unglaublich gut essen kann. Der SC Freiburg ist ein Klub, auf den man als Präsident stolz sein kann, aber für Keller hat der »Pott« einen besonderen Reiz. Eine Passion für Fußball, die es in seiner Welt so nicht gibt, vielleicht. Seine Frage danach hat jedenfalls einen lustvollen Unterton, als würde er sich nach einer besonderen Sünde erkundigen.
Hamburger Fußball ist einfach nur Fußball in Hamburg oder bayerischer Fußball eben Fußball in Bayern, aber beim Begriff Ruhrgebietsfußball kommt etwas hinzu, nicht nur für den Badener Fritz Keller. Um Maloche in der alten Heimat von Kohle und Stahl geht es, um Zusammenhalt in schweren Zeiten, vielleicht um die größte Stehplatztribüne Europas, die »Die gelbe Wand« in Dortmund und die fast religiöse Anhänglichkeit der Schalker Fans. Kurzum: Fußball im Sehnsuchtsmodus.
Erfunden wurde der Ruhrgebietsfußball 1978 – in dem Jahr, als Borussia Dortmund mit 0:12 bei Borussia Mönchengladbach verlor. Rolf Lindner war damals ein junger Sozialwissenschaftler an der FU Berlin und ärgerte sich darüber, dass er in der Mensa die Fußballseiten der Zeitung nicht lesen konnte, ohne sich abschätzige Kommentare von Kollegen oder von Studenten anhören zu müssen. Man kann sich heute kaum noch vorstellen, wie wenig gesellschaftlich akzeptiert Fußball in den Siebzigerjahren war. Groß- und Bildungsbürger schauten mit vornehmer Verachtung auf das Vergnügen der Proleten und Kleinbürger hinab. Aber auch die Linken in Lindners Mensa lehnten Fußballfans ab, weil sich diese durch Fußball vom Klassenkampf ablenken ließen. Im klassischen Anti-Fußballbuch jener Jahre, »Fußballsport als Ideologie« des Sozialpsychologen Gerhard Vinnai, hieß es: »Die Tore auf dem Spielfeld sind die Eigentore der Beherrschten.« Dem wollte Lindner etwas entgegensetzen.
Als sein Buch »Sind doch nicht alles Beckenbauers« 1978 erschien, war er 33 Jahre alt, und es leistete etwas, was es in Deutschland zuvor noch nicht gegeben hatte: eine Kulturanalyse des Fußballs. Wenn vorher Bücher über Fußball veröffentlicht worden waren, hielten die Leser zumeist billig zusammengeschrubbte Spielerbiografien, umständliche Schriften zu Vereinsjubiläen oder Erinnerungsbücher zu Weltmeisterschaften in der Hand. Doch Lindner und sein Mitautor Heinrich Th. Breuer schrieben keine Fußballgeschichte der Siege und Niederlagen, keine Heldengeschichten großer Spieler, sondern sie untersuchten, wie sich Fußball und Leben im Alltag der Spieler und Anhänger miteinander verbanden.
Wenn für uns heute der Gedanke selbstverständlich ist, dass wir die Welt durch Fußball wahrnehmen und verstehen können, war das vor dreieinhalb Jahrzehnten ein neuer, unerhörter Gedanke. Es gab die politische, wirtschaftliche und soziale Geschichte, und es gab die Geschichte des Fußballs – miteinander zu tun hatten sie nichts.
»Wir wollten zeigen, dass Fußball kein Verdummungsinstrument ist«, erzählte mir Lindner in seinem Büro an der Humboldt-Universität in Berlin, dem man in seiner Kargheit und Lagerhaftigkeit ansieht, dass er hier nur noch gelegentlich vorbeischaut. Inzwischen ist er emeritiert, auch über seinen Klassiker »Sind doch nicht alles Beckenbauers« hatte er schon länger nicht mehr gesprochen, im Laufe seines Berufslebens wurden andere Themen wichtiger. Lindner erforschte, inspiriert von englischen Wissenschaftlern, jugendliche Subkulturen und schrieb eines der ersten Bücher in Deutschland, die sich mit Fußballfans beschäftigten. Später ging es vor allem um Stadtentwicklung. Warum er sich damals dem Fußball zuwandte, weiß er allerdings auch dreieinhalb Jahrzehnte später noch genau: »Man kann den Fußball nicht isoliert oder als Ablenkung betrachten, sondern er ist im Ruhrgebiet Teil einer Industriegeschichte, einer Lebenswelt, einer Alltagskultur, die eingebettet ist in eine ganz spezifische Landschaft der Montanindustrie.«
Die Autoren mussten damals Grundlagenarbeit leisten. Also gibt es in ihrem Fußballbuch eine »Kurze Geschichte des Ruhrgebiets nebst einem Exkurs über die Verwandlung von Landarbeitern in Bergarbeiter und einer Betrachtung über die Herausbildung einer Arbeitersubkultur in den Zechenkolonien«. Darin rekapitulierten sie die chaotische Industrialisierung des Ruhrgebiets und das Entstehen einer Arbeitersubkultur in den Siedlungen, wo es einen besonders engen Zusammenhalt gab und die generelle Bereitschaft, sich gegenseitig zu helfen. Lindner und Breuer verschwiegen aber auch nicht die Gefahr einer lokalen Borniertheit gegenüber allem, was außerhalb dieser abgeschlossenen Welt existierte.
Lindner und Breuer stammen beide aus Bottrop. Lindner war als Kind in den Fünfzigerjahren zu den Spielen des VfB Bottrop gegangen, der es zwar nie aus der 2. Liga West in die Oberliga geschafft, aber an großen Tagen trotzdem vor über 20000 Zuschauern gespielt hatte. Im Mittelpunkt ihres Buches aber stand der SV Sodingen, dem es in den Fünfzigerjahren innerhalb von fünf Jahren gelungen war, vier Mal aufzusteigen, und das fast ausschließlich mit Spielern, die aus dem besagten Stadtteil von Herne kamen. 1955 wurde der SV Sodingen sogar Zweiter der Oberliga West und qualifizierte sich für die Endrunde um die deutsche Meisterschaft. Im ersten Spiel hatten die Sodinger beim Hamburger SV knapp mit 0:1 verloren, im zweiten mit 5:1 gegen Viktoria 89 Berlin gewonnen. Am 22. Mai 1955 kam der 1. FC Kaiserslautern mit den Weltmeistern Fritz Walter, Horst Eckel, Werner Liebrich und Werner Kohlmeyer zum, wie sich zeigen sollte, größten Spiel der Fünfzigerjahre im Ruhrgebiet.
Meine Mutter war damals mit ihrem Bruder dort gewesen, das Spiel war der Grund, weshalb sie niemals mehr zum Fußball ging. Für sie wurde der Besuch nämlich ein traumatisches Erlebnis, und wenn man zeitgenössische Berichte liest, kann man verstehen, warum das so war. Nachdem im Vorverkauf nur gut 20000 Karten abgesetzt worden waren, gab es weder eine Warnung, nicht mehr zur Glückauf-Kampfbahn in Gelsenkirchen zu kommen, noch wurden Vorkontrollen eingerichtet, um Zuschauer ohne Eintrittskarten rechtzeitig zurückzuschicken. So drängten immer noch Zehntausende auf das Stadion zu, als dessen 43000 Plätze schon längst besetzt waren. Als angepfiffen werden sollte, befanden sich 80000 im und um das Stadion, Tausende standen bis zu 20 Meter weit auf dem Platz. »Wellen von Zuschauermengen stürzen die Ränge hinab. Der Lautsprecher fleht immer häufiger: ›Sanitäter‹«, schrieb Fritz Wirth, der für den Sport-Beobachter aus dem Chaos berichtete. Die Kassen waren überrannt worden, Zäune niedergerissen, und viele Zuschauer mit Karten kamen gar nicht mehr hinein, nicht einmal der Vorsitzende des SV Sodingen. Beim Versuch des Reporters, sich in der Halbzeitpause zu einem Telefon durchzukämpfen, geriet Wirth ins Gedränge zwischen denen, die unbedingt raus-, und jenen, die unbedingt hineinwollten. »Ich bin endlich aus dem Stadion und ich lebe noch. Ich lebe«, berichtete er glücklich, obwohl sein Mantel total zerrissen war.
Dass an einem Mittwochnachmittag so viele Zuschauer ins Stadion von Schalke 04 gekommen waren (das Stadion des SV Sodingen entsprach nicht den Bedingungen für Endrundenspiele), hatte mit der Wiederauflage eines Mythos zu tun. Viele fühlten sich durch den SV Sodingen an den Schalker Aufstieg in den Dreißigerjahren erinnert, als der Klub mit Spielern fast ausschließlich aus Gelsenkirchen die beste Mannschaft Deutschlands gewesen war und sechs Meistertitel ins Revier geholt hatte. Sodingen erfüllte damals eine kollektive Sehnsucht des Publikums nach einer Wiederholung dieser Geschichte – allerdings nur einen Sommer lang. Denn anders als Schalke in den Dreißigerjahren war die Sodinger Mannschaft der Fünfzigerjahre nicht stark genug, um ernsthaft um die deutsche Meisterschaft mitzuspielen. Das unter größten Mühen zu Ende gebrachte Spiel gegen Kaiserslautern endete 2:2, letztlich wurden die Sodinger Dritter in einer Gruppe mit vier Mannschaften. Doch selbst zum letzten Endrundenspiel im fernen Köln kamen noch einmal über 50000 Zuschauer. Danach sollte Sodingen keine Endrunde mehr um die Meisterschaft erreichen und stieg vier Jahre später erstmals ab.
Breuer und Lindner betätigten sich bei ihren Recherchen gut 20 Jahre später quasi als Feldforscher. Sie führten ausführliche Interviews mit den Protagonisten des Herner Stadtteilklubs, vor allem mit den ehemaligen Spielern, die immer noch in Sodingen lebten und Mitte der Siebzigerjahre teilweise sogar noch auf der Zeche Mont Cenis arbeiteten. Sie hatten zu ihrer aktiven Zeit als Spieler eine Doppelrolle, denn einerseits waren sie Arbeitskollegen und Nachbarn der Leute, die ihnen sonntags beim Fußballspielen zuschauten, andererseits waren sie Repräsentanten des Stadtteils, Stars aus der eigenen Mitte. Hännes Adamik, Bergmann und populärster Spieler der Mannschaft, erzählte Breuer und Lindner: »Man konnte in Sodingen manchmal kein Bier trinken gehen, ohne auf Fußball angesprochen zu werden. Am schlimmsten war das montags inne Kaue. Dann kamen die manchmal eher, um dich abzufangen. Dann musstest du erzählen, wie das Auswärtsspiel war, die Zuschauer, das Stadion und so. Als wenn es keine Zeitung gab montags.«
Sodingen und der SVS waren ein extremes Beispiel für die Identität von Arbeit, Leben und Fußball. Bei Klubs wie den Sportfreunden Katernberg, dem STV Horst-Emscher, der Spielvereinigung Erkenschwick oder Hamborn 07 war es ähnlich. Breuer und Lindner erklärten ihren Lesern die gemeinsame Herkunft dieser Klubs im Vergleich zu den bürgerlichen Klubs wie etwa dem Duisburger Spielverein oder dem ETB Schwarz-Weiß Essen, die es im Ruhrgebiet auch gab. Diese waren vom städtischen Bürgertum schon um die Wende zum 20. Jahrhundert gegründet worden, denn auch im Ruhrgebiet war Fußball zunächst ein bürgerlicher und kein proletarischer Sport.
Die »wilden« Klubs in den Arbeitersiedlungen dagegen gründeten sich erst später. Schalke 04 etwa war zunächst ein Zusammenschluss von jungen Arbeitern, die auf freien Wiesen kickten. Solche unorganisierten Freizeitkicker hatten anfänglich oft Schwierigkeiten, in den offiziellen Fußballverbänden Aufnahme zu finden. Lindner/Breuer schrieben: »›Wild‹ war so ein Verein, weil er ›unordentlich‹, im Amtsdeutsch ›nicht ordnungsgemäß‹ mit Vorstand, Satzung und Spielordnung versehen, kurz: nicht bürgerlich war.«