Robert Provine
Ein seltsames Wesen
Warum wir gähnen, rülpsen, niesen und andere komische Dinge tun
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
Rowohlt E-Book
Robert R. Provine ist Professor für Psychologie und Neurowissenschaften an der University of Maryland, Baltimore County. Er ist weltweit der einzige Wissenschaftler, der sich ganz auf die Erforschung merkwürdiger menschlicher Verhaltensweisen spezialisiert hat.
Niesen, kitzeln, lachen, kratzen, gähnen, erbrechen, weinen, furzen, rülpsen – Menschen tun erstaunliche Dinge. In Gegenwart anderer kann uns das mitunter ganz schön in Verlegenheit bringen. Aber warum machen wir so etwas überhaupt? Robert Provine widmet sich ganz der Erforschung dieser merkwürdigen Verhaltensweisen. Denn sie unterscheiden uns vom Tier wie der aufrechte Gang und unsere Fähigkeit zur Sprache. Und sie verraten viel über unsere Instinkte, die Funktionsweise unseres Körpers und unseres Gehirns, unsere Empathiefähigkeit und Unterschiede zwischen den Geschlechtern. «Ein seltsames Wesen» vermittelt wissenschaftliche Erkenntnisse spannend, anschaulich und humorvoll. Es lädt den Leser zu Selbstexperimenten ein und gibt wertvolle Tipps, etwa zum Umgang mit Schluckauf. Näher am Menschen kann Forschung kaum sein.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2014
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Die Originalausgabe erschien 2012 bei The Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts USA unter dem Titel «Curious Behavior: Yawning, Laughing, Hiccupping, and Beyond» © 2012 by Robert R. Provine
All rights reserved
Redaktion Tobias Schumacher-Hernández
Umschlaggestaltung ANZINGER WÜSCHNER RASP, München
Foto Aaron Mason/First Light/Corbis
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Printausgabe 978-3-498-05212-6 (1. Auflage 2014)
ISBN E-Book 978-3-644-03561-4
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-03561-4
Wir Menschen sind redselige, gesellige, aufrecht gehende Säugetiere, die Werkzeuge benutzen. Shakespeare beschrieb uns als edel durch Vernunft und unbegrenzt an Fähigkeiten. Die Bibel sagt uns, wir seien nach Gottes Ebenbild geschaffen. Wir sind auf dem Mond spazieren gegangen, haben den Computer erfunden und unsere eigene Evolution erforscht. Aber Menschen sind auch Herdentiere, die furzen, rülpsen, gähnen, Schluckauf haben, husten, lachen, weinen, niesen, sich erbrechen, Juckreiz haben, sich kratzen und sich gegenseitig kitzeln. Solche tierischen, instinktiven Handlungen machen uns als Spezies ebenfalls aus, aber von Wissenschaftlern, die keinen Blick für das Gewöhnliche haben, werden sie nicht zur Kenntnis genommen. Biologen konzentrieren sich in der Regel auf allgemeine physiologische oder genetische Vorgänge, nicht aber auf einzelne, spontane Handlungen. Sozialwissenschaftler interessieren sich für die Einflüsse der Umwelt auf das Verhalten und ignorieren die Instinkte, die das Fundament unseres Daseins bilden. Ärzte behandeln zwar Symptome wie das Niesen oder Husten, erforschen sie aber nur selten. Manche prüden Wörterbücher enthalten uns den Furz sogar in gedruckter Form vor.
Dieses Buch hilft dem historischen Versäumnis ab: Es stellt ausgewählte Instinkte in den Mittelpunkt seiner Analyse und würdigt unterbewertete, aufschlussreiche und manchmal anrüchige Verhaltensweisen des Menschen. Es setzt neue Themen auf die wissenschaftliche Tagesordnung, betrachtet das Vertraute auf neue Weise und zeigt, wie solche seltsamen Handlungen uns helfen können, weiter gefasste, tiefer gehende Fragen zu untersuchen, von der Entstehung unserer Bewegungsfähigkeit bis zu neuen Zugängen zum Unbewussten. Wenn wir uns aber für das Neue oder Übersehene einsetzen, sollten wir unsere Begeisterung zügeln und den klugen Hinweis von Carl Sagan beherzigen: «Man lachte über Kolumbus, Fulton und die Gebrüder Wright. Aber man lachte auch über Bozo, den Clown.» (Aufbruch in den Kosmos, S. 84) Manche Verhaltensweisen, von denen hier die Rede sein wird, sind zwar unverständlich, pikant oder bizarr, aber alle haben es verdient, dass man sie wissenschaftlich untersucht. Allein die Tatsache, dass eine Handlung von Menschen beiderlei Geschlechts und aller Rassen und Kulturkreise vollzogen wird, ist Grund genug, sie zu erforschen – sie ist ein Teil unseres biologischen Erbes und hat nur einen geringen Bozo-Faktor. Aber es geht nicht nur darum, die unerzählten Geschichten unserer Spezies zur Sprache zu bringen.
Wissenschaftlicher Fortschritt erwächst häufig aus der Analyse des Einfachen, sei es nun ein Molekül, ein Bakterium oder eine Taufliege. Dahinter steht die Erwartung, dass deren Erforschung auch Licht in komplexere Systeme bringt, die weniger leicht zu handhaben sind. Dieser Ansatz der einfacheren Systeme wird auch hier verfolgt, aber die Reduktion setzt ein paar Stufen höher an: Statt um Moleküle geht es um grundlegende Verhaltensweisen des Menschen. Wir werden beispielsweise erfahren, dass eine vibrierende Membran der Erzeugung von Tönen dient, ob es sich dabei nun um eine Arie oder einen Furz handelt, und es wird davon die Rede sein, warum nicht der Verdauungstrakt, sondern der Stimmapparat von der Evolution als flexibleres Instrument für akustische Signale selektiert wurde. Dass wir nicht mit dem Hinterteil sprechen, hat gute Gründe.
Nebenbei werden wir auch erfahren, dass die einfache Handlung, einen anderen zu kitzeln, den neurologischen Mechanismus für die Berechnung des Selbst und des anderen zur Verfügung stellt. Sie ist das zentrale, verkannte Ereignis in der Entstehung von Persönlichkeit und Sozialverhalten, aber auch Ausgangspunkt, wenn man Robotern eine Persönlichkeit einprogrammieren will. Wer würde vermuten, dass das Kitzeln eine Brücke schlägt zwischen den häufig voneinander entfremdeten Sozial-, Neuro- und Computerwissenschaften? Oder dass das System von Jucken und Kratzen wie das Kitzeln eine eigene soziale Dimension hat? Das Kitzeln liefert auch den neurologischen Mechanismus für das körperliche Spiel, dessen Programm uns in Form des Gebens und Nehmens, beim spielerischen Kämpfen wie auch in der Sexualität aneinander bindet.
Wir sind Teil einer Herde aus Menschen, in deren Verhalten sich oft unwillkürlich ein uraltes neurologisches Drehbuch verwirklicht – ein Drehbuch, das uns vollkommen vertraut ist und deshalb unbemerkt bleibt. Überlegen wir einmal, was sich im Einzelnen abspielt, wenn unser Körper durch das Gähnen eines anderen angesteckt wird oder wenn wir spontan in allgemeines Gelächter einstimmen. Wir entschließen uns nicht dazu, uns durch das Gähnen oder Lachen anstecken zu lassen – es geschieht einfach. Wir stellen fest, dass ein einfacher neurologischer Mechanismus, der beobachtete Verhaltensweisen automatisch kopiert, die Grundlage für das ansteckende Gähnen, Lachen, Weinen, Kratzen und Husten darstellt, ja vielleicht auch für Geselligkeit und Mitgefühl. Die berühmte Fähigkeit des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, «euren Schmerz zu empfinden», dürfte damit zu tun haben, dass er sich seinen Freunden auch beim Gähnen oder Lachen anschloss. Eine Fehlfunktion dieses Mechanismus der ansteckenden Verhaltensweisen dürfte eine Ursache für die sozialen Defizite bei Autismus und Schizophrenie sein.
Wie sich außerdem zeigt, begleitet der Klang des Lachens das körperliche Spiel: Das angestrengte Hechel-Hechel unserer herumtollenden Primatenvorfahren wurde in der Evolution zum Ha-ha der Menschen und ist damit das beste Beispiel für die Entstehung von Lautäußerungen. Das Lachen zeigt uns auch, warum wir sprechen können, Schimpansen aber nicht, und warum die Beherrschung der Atmung, die erst mit dem aufrechten Gang möglich wird, für diesen Übergang unentbehrlich ist.
Emotional bedingte Tränen waren in der sozialen Evolution der Menschen ein Durchbruch, denn sie erweiterten die Ausdrucksmöglichkeiten und Ausdrucksnuancen des Gesichts als Instrument zur Mitteilung von Gefühlen. Erkennen Menschen unsere Traurigkeit auch ohne Tränen? Ein weiteres umwälzendes soziales Ereignis war die Evolution des Weißen im Auge (der Sklera oder Lederhaut). Wir werden erfahren, warum die ausschließlich beim Menschen vorkommende weiße Lederhaut notwendig ist, damit wir mit roten Augen unsere Traurigkeit und einen schlechten Gesundheitszustand signalisieren können, und warum Augentropfen, die das Rote vermindern, die Schönheit tatsächlich unterstützen.
Das Seltsamste von allem: Zu Beginn unseres Lebens ist jeder von uns ein Embryo, ein Parasit der Mutter, dessen besitzergreifendes Verhalten sich psychologischen Konventionen entzieht und uns dazu zwingt, neu über Ursachen und Funktionen des vorgeburtlichen Verhaltens nachzudenken. Kein Lehrbuch der Kinderpsychologie bietet eine nützliche Darstellung des pränatalen Verhaltens, beschreibt seine Entstehung durch spontane Entladungen im Rückenmark (nicht im Gehirn), oder erfasst systematisch seine spannende Rolle für die Steuerung der Neuronenzahl, die Ausformung der Gelenke, die angemessene Ausdehnung von Haut und Plazenta und die Feinabstimmung der Nervenschaltkreise.
Jedes Lebewesen ist eine Ansammlung biologischer Klischees. Deshalb können wir einen Organismus anhand eines anderen verstehen – das ist der Grundgedanke der vergleichenden Analyse. Ob ein Prozess die Embryonalentwicklung, Genetik oder Physiologie betrifft, immer gibt es nur eine begrenzte Anzahl von Wegen, um von A nach B zu gelangen. Diese erfolgreichen Prozesse sind in der Evolution nach und nach durch die erbarmungslose Triebkraft der natürlichen Selektion entstanden: Individuen, die am besten an ihre Umgebung angepasst sind, erfreuen sich eines zunehmenden Fortpflanzungserfolges und geben ihre Eigenschaften – angepasste, nicht angepasste und neutrale – an Nachkommen weiter, die dann allmählich einen immer größeren Anteil der Population stellen. Wenn solche erfolgreichen Lösungen einmal entstanden sind, werden sie immer und immer wieder genutzt. Erkenntnisse über eine Spezies können zum Verständnis anderer beitragen, weil alle ähnliche biologische Eigenschaften und ein ähnliches biologisches Erbe haben. Besäße jede Spezies ihre eigene, einzigartige Genetik, Embryonalentwicklung und Physiologie, ihre Erforschung wäre äußerst schwierig. In einer solchen hypothetischen Welt der biologischen Einzigartigkeit gäbe es nur wenige Lebewesen, von denen keines komplex ist, und wir wären gar nicht da, um solche Zusammenhänge mühsam herauszufinden.
Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit einer Variante des vergleichenden Ansatzes, die nicht Organismen, sondern Verhaltensweisen einander gegenüberstellt. Dieses Vorgehen führte zu einigen überraschenden Erkenntnissen. Das Gähnen ähnelt einem langsamen Niesen (oder das Niesen einem schnellen Gähnen). Das Gähnen beginnt mit einem langen Einatmen und einem kürzeren Ausatmen, beim Niesen geht die Einatmung schneller, und die Ausatmung erfolgt explosiv und lautstark. Es kommt aber noch besser. Der Gesichtsausdruck entsteht zu Beginn des Gähnens und Niesens, um sich beim Ausatmen, das den Höhepunkt bildet, zu entspannen. Wem das Gesicht eines Gähnenden oder Niesenden entfernt bekannt vorkommt: Es stellt sich auch beim Orgasmus ein. Bezeichnend ist das Grundprinzip: Mehrere Verhaltensweisen entspringen aus einem ähnlichen neuromuskulären Nährboden, und wenn man die eine versteht, weiß man auch etwas über die anderen.
Die heutigen Menschen werden hier als Mischung aus Altem und Neuem betrachtet: Als Jäger und Sammler mit einem launenhaften Gehirn, das seiner Aufgabe möglicherweise nicht ganz gewachsen ist, bemühen sie sich darum, in ihrem Handeln und ihrer heiklen Rolle im Kosmos einen Sinn zu sehen. Wir werden daran erinnert, dass Evolution nicht wie ein neurologisches Stadterneuerungsprojekt voranschreitet, bei dem Neues aus den Trümmern des Alten erwächst. Das Neue entsteht vielmehr, indem der Kleinkram in unserem neurologischen Keller optimiert, verfeinert und zusammengebastelt wird, und es wird auf den alten Fundamenten errichtet, die an ihrem Platz bleiben. Die uralten neurologischen Schaltkreise bestehen weiter und sind manchmal nützlich, bei anderen Gelegenheiten aber nutzlos, untätig, widerspenstig oder unkontrollierbar.
Das heutige Spektrum seltsamer Verhaltensweisen ist eine ergiebige Fundgrube für neurologische und verhaltensmäßige Fossilien, ob sie nun unversehrt oder als Überreste überlebt haben oder Bausteine moderner Verhaltensweisen sind. Die Jagd nach solchen Fossilien verleiht dem Alltäglichen ein Flair von Exotik und Abenteuer, und sie erfordert keine Exkursion zu abgelegenen, trostlosen archäologischen Grabungsstätten.
Die Evolutionsereignisse, die uns geformt haben, gehören nicht in eine weit entfernte, undurchschaubare Vergangenheit, sondern wir tragen sie als Spuren unseres biologischen Erbes in uns. Wenn wir die Generationen durchlaufen, legen wir unsere biologische Ausstattung nicht ab. Alles, was wir jemals waren, sind wir in gewisser Weise auch heute noch, und Überbleibsel der Vergangenheit hinterlassen subtile, aber unübersehbare Spuren. Oder, wie William Faulkner uns in Requiem für eine Nonne mahnt: «Die Vergangenheit ist niemals tot. Eigentlich ist sie noch nicht einmal vergangen.»
Am stärksten beeinflusst wurde dieser Forschungsansatz durch die Ethologie, das heißt durch die evolutionsbasierte, biologische Erforschung von Verhaltensweisen. Die Ethologie erwuchs aus der europäischen Tradition von Freilandstudien und naturhistorischer Forschung, in der Konrad Lorenz, Nikolaas Tinbergen, Karl von Frisch und ihr Vorgänger im 19. Jahrhundert, Charles Darwin, Pionierarbeit leisteten. Die Verhaltensforschung ist naturalistisch ausgerichtet: In der Regel beobachtet man Verhaltensweisen in ihrem natürlichen Umfeld und untersucht vor allem ihre Bedeutung für die Anpassung; in der amerikanischen Psychologie dagegen konzentriert man sich für gewöhnlich stärker auf Lernen, Umwelteinflüsse und sorgfältig kontrollierte Laborexperimente.
Verhaltensforscher studieren Instinkte, beispielsweise bestimmte artspezifische Lautäußerungen oder das Paarungsverhalten, aber auch moderne, nicht traditionelle Verhaltensweisen wie Niesen, Gähnen, Husten und Ähnliches. Wer den leichthin erzählten Geschichten einer phantasievollen Evolutionspsychologie misstrauisch gegenübersteht, dem sei versichert, dass die Themen in diesem Buch auf konkrete, sichtbare Abläufe im Hier und Jetzt gegründet sind. Noch vor nicht allzu langer Zeit war «Instinkt» das verbotene I-Wort, das man in einem gepflegten wissenschaftlichen Umfeld und insbesondere unter Sozialwissenschaftlern nicht in den Mund nehmen durfte. Wie Steven Pinker in Das unbeschriebene Blatt: Die moderne Leugnung der menschlichen Natur feststellt, leugnen viele Behavioristen und andere Sozialwissenschaftler bis heute, dass es Instinkte und andere biologische Grundlagen für das Wesen des Menschen gibt. Aus verschiedenen philosophischen, politischen und wissenschaftlichen Gründen galt die Anerkennung von Instinkten als Schritt auf eine schiefe Bahn, die zu biologischem Determinismus, Sozialdarwinismus, Sexismus, Rassismus und anderen namenlosen, entsetzlichen Ismen führt, an die man nicht einmal denken mag. Ironischerweise kann aber gerade die Analyse instinktiver Verhaltensweisen verbindend wirken, denn sie konzentriert sich nicht auf die Unterschiede zwischen Individuen und Kulturen, sondern auf allgemeingültige Eigenschaften des Menschen.
Das ungleiche Trio Sigmund Freud, Carl Gustav Jung und B. F. Skinner beeinflusst bis heute auf subtile Weise die Forschung, aber nicht unbedingt so, wie sie es im Sinn hatten. Freuds Einfluss lauert in einem besonderen Interesse an unbewussten (unwillkürlichen) Prozessen im menschlichen Verhalten, diese aber werden derzeit zweifellos nicht aus psychoanalytischer Sicht beschrieben. Jungs Einfluss findet sich in der Suche nach uralten, instinktiven Verhaltensweisen wieder, aber meine menschlichen «Archetypen» sind sicher nicht die seinen. Skinners behavioristischer Ansatz konzentriert sich auf das, was die Menschen tun, und nicht auf ihre Behauptungen über die Motive. Damit erweist er sich als nützlich zur Untersuchung unbewusst gesteuerter Verhaltensweisen, die auch ein Freud’sches Thema sind. Einen gewissen Einfluss hat auch Marx – aber nicht Karl, sondern Groucho.
Wie wir sehen werden, berichten Menschen ungenau über ihre eigenen Handlungen, insbesondere über die spontane, unwillkürliche Sorte, um die es in diesem Buch geht. Mit meiner Entschuldigung an Freud, Jung und ihresgleichen überliste ich den semantischen Morast einer Definition von «willkürlich» oder «bewusster Steuerung», indem ich sie unter dem Gesichtspunkt von Reaktionszeiten betrachte. Wir gehen davon aus, dass jemand eine stärkere willkürliche Kontrolle über seine Verhaltensweisen hat, wenn er sie auf ein verbales Kommando hin innerhalb kürzestmöglicher Reaktionszeit ausführt. Die Darstellung der Verhaltensklaviatur im Anhang fasst diesen Ansatz zusammen und nennt Reaktionszeiten für zehn verbreitete Verhaltensweisen, die in den einzelnen Kapiteln betrachtet werden. Die Taste ganz recht entspricht dabei dem schnellen Augenzwinkern, die ganz links dem verspäteten Weinen. Die weiter links angesiedelten Tasten für Weinen, Schluckauf, Niesen und Gähnen reagieren, wenn man überhaupt auf ihnen spielen kann, äußerst träge. Beethoven konnte nicht «blinzel, blinzel, blinzel, nies» spielen.
Die volle Besetzung derer, die zu dieser Untersuchung beitragen, reicht weit über Freud, Jung und Skinner hinaus. Sie erstreckt sich von der Antike bis in die Gegenwart und wächst von Kapitel zu Kapitel. Die universellen Eigenschaften der Menschen waren schon seit Platon und Aristoteles der Gegenstand von Untersuchungen und Spekulationen, aber die nicht belegte Forschung auf diesen Gebieten ist sicher schon viel älter und reicht bis zu den Anfängen der Selbstreflexion zurück. Das eigene Verhalten und das anderer zu verstehen, ist nicht zuletzt eine Frage von Leben und Tod.
Die «große Wissenschaft» lässt sich beispielsweise am Großen Hadronen-Beschleuniger in Genf veranschaulichen, einem riesigen Teilchenbeschleuniger. Er ist so groß, dass er zu den beeindruckendsten Artefakten der Menschheit überhaupt gehört, so teuer, dass er von vielen Staaten finanziert werden muss, und so komplex, dass zu seinem Betrieb ein riesiges Institut mit Tausenden von Mitarbeitern erforderlich ist. Wer an der vordersten Front der Teilchenphysik stehen will und nicht an diesem Projekt beteiligt ist, dessen Karriere kommt wahrscheinlich nur langsam voran. Solche eindrucksvollen Instrumente sehen teuer und wichtig aus. Das sind sie auch. In diesem Buch jedoch geht es um eine völlig andere Art der Wissenschaft.
Die kleine Wissenschaft ist nicht deshalb «klein», weil sie trivial wäre, sondern weil sie weder eine schicke Ausrüstung noch einen großen Etat braucht. Teilweise kann man sie mit Papier und Bleistift betreiben, und sie besteht aus nichts anderem, als dass man sich bei geselligen Veranstaltungen oder im nächstgelegenen Einkaufszentrum Notizen macht. Man braucht keine Heerscharen von Forschungsassistenten, und nützliche Beobachtungen kann man sogar an sich selbst anstellen. Wer unbedingt noch mehr Ausrüstung haben möchte, kann sich eine Stoppuhr kaufen. Solche Forschungsarbeiten kann man selbst finanzieren, was einem die Notwendigkeit erspart, Anträge zu schreiben und sich in den entmutigenden, jahrelangen Wettstreit um ständig schrumpfende Finanzmittel zu stürzen. Das ist eine tolle Sache! Dieser Form der Wissenschaft fehlt der Prunk, und sie wird bei Institutionen und Politikern eher nicht die Lust wecken, Mittel zur Verfügung zu stellen.
Die Methoden der kleinen Wissenschaft sind oftmals einfach, und damit wird eine weitere Schranke für die Mitwirkung beseitigt: Man braucht nicht Monate oder Jahre, bis man neue Verfahren beherrscht. Wenn möglich, sollte man alles, was sich zu tun lohnt, schnell tun. Kurze Vorlaufzeiten und die Aussicht auf den schnellen Abschluss eines Projekts steigern das Vergnügen. Selbst Mönche, die in einem Versuchsweinberg schuften, profitieren gelegentlich von einem Adrenalinschub und einer schnellen Belohnung. Bei mir ist es jedenfalls so.
Die niedrige Eintrittsbarriere hält die Vertreter der kleinen Wissenschaft auf Trab. Es ist keine Quantenelektrodynamik, sondern eine höchst demokratische Form von Wissenschaft. Jeder ist von Anfang an in einem gewissen Sinn bereits Experte, denn wir alle haben zeitlebens Erfahrungen mit Gähnen, Niesen und Ähnlichem gemacht, und wir stellen mit kenntnisreichem, kritischem Blick Beobachtungen an. Wer seine Ergebnisse präsentiert, sollte alles richtig machen, denn man hat immer ein ganzes Rudel von Enthusiasten dicht auf den Fersen, und alle sind darauf erpicht, voranzukommen, etwas zu bestätigen oder es in Frage zu stellen.
Selbst die wissenschaftliche Literatur ist relativ leicht verständlich. Im Gegensatz zu abgelegenen Themen in Mathematik oder theoretischer Physik kann man hier Erkenntnisse, Verwirrung, Marktschreierei und Unsinn leicht erkennen. Wie die meisten Leser, so weiß auch ich es zu schätzen, wenn über alltägliche Dinge einfach und ohne Fachchinesisch gesprochen wird, und ich verabscheue eine blumige «Neurologisierung» oder «Biologisierung», durch die Berichte über Verhaltensweisen mit den Insignien von Neurologie und Biologie aufgepeppt werden, weil man damit die Illusion von Tiefe und Substanz erzeugen will. Große Worte und komplizierte Konzepte müssen sich ihre Rechtfertigung erst verdienen. Einfache Sprache führt dazu, dass Menschen sich schlau und kompetent fühlen, und entsprechend verhalten sie sich: Sie werden in dem ganzen Unternehmen zu Partnern. Unnötige Kompliziertheit hat die gegenteilige Wirkung.
Wenn kleine Wissenschaft gelingt, muss sie nicht klein bleiben. Wenn wir den Wert des lange Übersehenen deutlich gemacht haben, sollten wir damit rechnen, dass die Meute der großen Wissenschaft in unsere Richtung stürmt und dabei mit großen Forschungsetats, fMRI-Apparaturen und der Gewissheit ausgestattet ist, dass sie von Anfang an dabei war. Wenn das geschieht, können wir uns aus dem Schlachtgetümmel zurückziehen und wehmütig auf das goldene Zeitalter zurückblicken, in dem alles noch einfach war und die Grenzen nahe lagen. Man kann sich aber auch der Herde der großen Wissenschaft anschließen oder wie ein Goldsucher im Wilden Westen weiterziehen und nach der nächsten Goldader suchen. Ich identifiziere mich mit dem alten Schürfer, den die Suche mindestens ebenso stark motiviert wie die Entdeckung, und der das Gelände für jene kartiert, die ihm nachfolgen wollen, ob es nun zum nächsten großen Ding führt oder nicht.
In diesem Buch findet sich eine Menge Bürgersteig-Neurowissenschaft. Damit meine ich einen wissenschaftlichen Ansatz, der an alltägliche Verhaltensweisen einfach mit Beobachtung herangeht und damit demonstriert, dass Leser – auch solche mit mäßiger Schulbildung – die Berichte bestätigen, in Frage stellen oder erweitern können. Auf den nachfolgenden Seiten finden sich sowohl wissenschaftliche Schülerprojekte als auch Themen von Doktorarbeiten. Die klare Beschreibung, die das Kernstück dieses Ansatzes bildet, lässt sich nie von ihrem Ziel abbringen und hat einen hohen Spatz-in-der-Hand-Faktor, das heißt, schon das kleinste angestrebte Ergebnis wird als recht gut beurteilt. Manche Untersuchungen sind Safaris, die aber nicht in den tropischen Regenwald führen, sondern in die Einkaufszentren der Vorstädte, auf die Bürgersteige der Städte oder auf Abendempfänge, wo man weder hohe Kosten noch stechende Insekten fürchten muss. Die in diesem Buch beschriebenen Verhaltensweisen stellen keine umfassende Liste dar, sondern sie sind Einzelaspekte aus laufenden Arbeiten. Das Alltagsleben ist voll von Wichtigem und Unerwartetem – man muss nur wissen, wo man suchen und wie man sehen muss.
Ich habe eine Menge eher traditionelle Laborwissenschaft betrieben, von der Gewebekultur bis zur Neurophysiologie. Zwar schätze ich die Apparaturen und Methoden meines elektrophysiologischen Labors, aber sowohl die Zeiten als auch die Menschen ändern sich. Heute macht es mir Spaß, mein fensterloses Labor zu verlassen und mich mit meinen Mitmenschen zu beschäftigen. Dazu nutze ich Methoden, die auch meine Studenten schnell beherrschen, und ich folge meinem Geschmack für Unkonventionelles. Dieser sparsame Lowtech-Ansatz ist nicht jedermanns Sache. Ich kann mich noch gut an die höfliche Skepsis einiger meiner ersten Forschungsstudenten erinnern, die sich beim ungewöhnlichen Thema des Gähnens fragten: «Wenn das Gähnen so eine große Sache ist, warum arbeiten dann nicht mehr Wissenschaftler daran?» Oder: «Wenn das Projekt so wichtig ist, warum gehöre ich dann zu dem Forscherteam?» Ich forderte sie auf, sich nicht nach der Maxime von Groucho Marx zu richten – «Ich würde nie einem Club beitreten, der jemanden wie mich als Mitglied hat.» Wenn es Spaß macht und vielversprechend ist, sollte man es weiterverfolgen. Das Urteil, was es letztlich wert ist, können wir der Nachwelt überlassen.
Auf den folgenden Seiten beschreibe ich hart erarbeitete Erkenntnisse, falsche Spuren, unangebrachte Begeisterung, Enttäuschungen, zeitaufwendige Umwege und gelegentliche glückliche Entdeckungen. Jeder scheinbare Fehlschlag kann ein getarnter Erfolg sein, der in eine bessere Richtung führt. Stück für Stück sammeln wir die Teile eines wissenschaftlichen Puzzles. Wenn es eines Tages zusammengesetzt ist, wird es dazu beitragen, dass wir das Alltägliche auf neue Weise sehen, und es wird uns einen Blick auf Wesenszüge des Menschen eröffnen, die immer vor unseren Augen lagen und dennoch verborgen waren.
Wir steuern unseren Körper durch die Engpässe und Untiefen des Lebens. Wir gehen, arbeiten, sprechen, lassen es schneller oder langsamer angehen, vermeiden Hindernisse. Jeder von uns ist der Kapitän seines eigenen Schiffes – aufmerksam, zuversichtlich und rational. Das jedenfalls ist die Illusion. Wie aber steht es, wenn wir durch das leise Flüstern unseres Gehirns getäuscht werden, wenn es wie im Traum versucht, aus irrationalen Ereignissen eine zusammenhängende, manchmal aber fehlerhafte Erzählung zu spinnen? Sind wir in Wirklichkeit denkunfähige Herdentiere, die von unbewussten Instinkten getrieben werden und das uralte biologische Drehbuch unserer Spezies auf die Bühne bringen? Wenn man solchen Fragen nachgehen will, muss man das Wesen des Menschen neu überdenken und die Geschichte auf den Kopf stellen. Aber das wären unbescheidene Ziele für ein Kapitel über das Gähnen. Deshalb werden wir uns damit zufriedengeben, kleine Risse in dem neurologisch erzeugten, virtuellen Gebäude unseres Alltagslebens offenzulegen. Die Geschichte auf den Kopf zu stellen, ist ein Thema für eine andere Gelegenheit.
Stellen wir uns einmal das Gesicht eines gähnenden Menschen vor: aufgerissener Mund, zusammengekniffene Augen und ein langes Luftholen, gefolgt von einem kürzeren Ausatmen. Aaahh. Dieser visuelle Reiz übernimmt die Gewalt über unseren Körper und veranlasst uns, das Beobachtete zu kopieren. Wie viele Leser bereits bemerkt haben werden, ist das Gähnen derart ansteckend, dass es schon durch ein Gespräch über das Gähnen ausgelöst werden kann.1 Das ansteckende Gähnen läuft automatisch ab, ohne dass wir den Wunsch hätten, es nachzumachen. Angenommen, wir sehen jemanden gähnen. Denken wir dann: «Ich möchte jetzt das Gleiche tun»? Dass dieses bemerkenswerte Phänomen nicht schon längst größere wissenschaftliche Aufmerksamkeit erregt hat, zeugt davon, wie stark wir das Vertraute unterbewerten. Mittlerweile ändert sich das aber. Aus der Ansteckungskraft von Verhaltensweisen ergeben sich so weitreichende, tiefgreifende Folgerungen, dass sie die Grenzen einzelner Fachgebiete sprengen und fast alle in ihren Bann ziehen, die sich für die Wurzeln des Sozialverhaltens von Menschen interessieren, darunter auch jene, denen das Gähnen gleichgültiger nicht sein könnte.2
Das Weltuntergangs-Gähnen ist die übermächtige Mutter allen Gähnens: Es hat eine so starke Ansteckungskraft, dass es uns mit seinem Zauber völlig hilflos macht, zu Sklaven unwiderstehlicher Gähnanfälle. Mein Motiv, ein Weltuntergangs-Gähnen zu schaffen, war nicht Größenwahn, sondern wissenschaftliches Interesse. Wenn man ein Super-Gähnen gestalten will, muss man im ersten Schritt die Bestandteile des normalen Gähnens verstehen, welche üblicherweise die Ansteckung verursachen, und dann ihren Effekt so weit wie möglich verstärken. Die Idee geht auf einen Monty-Python-Sketch zurück: Darin kommt ein Weltuntergangs-Witz vor, der so wirksam ist, dass er bei den Feinden auf dem Schlachtfeld tödliche Lachanfälle hervorruft – deshalb wird die Pointe des Witzes bis unmittelbar vor dem Einsatz weggelassen, damit nicht die eigenen Streitkräfte seiner verheerenden Wirkung ausgesetzt sind. Ein als Waffe eingesetztes Weltuntergangs-Gähnen ist zwar für die Kriegsführung ein ähnlich fragwürdiges Hilfsmittel, aber der Gedanke eines künstlichen, übermäßig wirksamen (supranormalen) Reizes ist in der Tierverhaltensforschung gut bekannt und diente unserer Arbeit als Leitfaden. Die Möglichkeit, einen wirksamen Gähnreiz zu erzeugen, ist vor allem deshalb so nützlich, weil man dazu das Übertragungsmittel des Reizes kennen muss.
Bevor man ein Manhattan-Projekt zur Entwicklung eines Weltuntergangs-Gähnens in Gang setzen kann, muss die Volksweisheit bestätigt werden, dass Gähnen tatsächlich ansteckend ist. Zu diesem Zweck wurden Versuchspersonen einer fünf Minuten langen Videosequenz ausgesetzt, in der eine Aufnahme von einem gähnenden erwachsenen Mann dreißigmal wiederholt wurde; alle zehn Sekunden wurde eine sechs Sekunden lange Aufnahme des Gähnens präsentiert.1 Das Ergebnis: Gähnen ist eindeutig ansteckend. Die Versuchspersonen, die das Gähnen sahen, gähnten mehr als doppelt so häufig (55 Prozent) als jene, die zur Kontrolle eine vergleichbare Abfolge von aufgezeichnetem Lächeln sahen (21 Prozent). Diese Ergebnisse sind sehr zuverlässig; dass das Gähnen bei mehr als der Hälfte der Beobachter ansteckend wirkt, wurde auch in anderen Labors bestätigt.
Gähnen ist kein einfacher Reflex wie das Zucken des Knies, das nahezu augenblicklich auf den Reiz (ein leichter Schlag auf die Kniesehne) folgt und proportional zur Stärke des Reizes ist. Das künstlich hervorgerufene, ansteckende Gähnen zeigte sich während des Testzeitraumes von fünf Minuten nach einer unterschiedlich langen Latenzphase, und wenn es auftrat, hatte es eine typische Intensität, das heißt, Form und Stärke wiederholten sich regelmäßig.1 Das Gähnen ist in seiner Struktur komplexer als klassische Reflexe wie der Kniesehnenreflex, setzt langsamer und zu variableren Zeitpunkten ein und dauert auch länger. In der Sprache der klassischen Verhaltensforschung ist das Gähnen ein stereotypes Verhalten (Instinktverhalten), das durch den Schlüsselreiz des beobachteten Gähnens ausgelöst wird. (Ich bevorzuge zur Beschreibung solcher motorischer Muster den Begriff «stereotypes Verhalten» gegenüber «Instinktverhalten», weil es eher an eine starke, zentrale Tendenz denken lässt und nicht an die nicht haltbare Vorstellung von Unveränderlichkeit.) Vom Gähnen als motorischem Ablauf wird später noch genauer die Rede sein.
Die Natur tut alles für eine möglichst große Ansteckungskraft. Unsere Abfolge von aufgezeichneten Gähnreizen erwies sich unabhängig davon, ob die Aufnahmen aufrecht, seitlich gekippt oder kopfstehend vorgeführt wurden, als gleichermaßen wirksam – der Gähn-Detektor des Gehirns ist nicht richtungsspezifisch.3 Außerdem ist er weder von Farben noch von Bewegung abhängig: Die Videoaufnahmen wirkten ebenso stark, wenn sie in Farbe oder kontrastreichem Schwarzweiß gezeigt wurden, und das Gleiche galt, wenn der normalerweise bewegte Reiz in Form eines unbewegten, im Gähnen begriffenen Gesichts präsentiert wurde.
Als Nächstes wurde untersucht, welche Merkmale ein gähnendes Gesicht haben muss, damit es das Gähnen auslöst.3 Dies war ein entscheidender Schritt für die Gestaltung des Weltuntergangs-Gähnens, und dabei ergaben sich einige große Überraschungen. Die meisten Menschen nehmen fälschlich an, der aufgerissene Mund sei das charakteristische Kennzeichen des Gähnens. Als aber bewegte, gähnende Gesichter so verändert wurden, dass der Mund verdeckt war, lösten sie das Gähnen ebenso wirksam aus wie das vollständige Gesicht (Abbildung 1). Der Befund, dass Gesichter ohne Mund eine solche Wirkung haben können, war anfangs beunruhigend. War in der großen, arbeitsintensiven Studie mit 360 Teilnehmern etwas schiefgegangen? Wie ich aber zu meiner Erleichterung feststellen konnte, zeigten auch ergänzende Daten, dass der Mund nicht notwendig war. Der körperlose, gähnende Mund löst das Gähnen nicht wirksamer aus als das zur Kontrolle dienende Lächeln. Ohne den Zusammenhang des gähnenden Gesichts ist der offene Mund ein zweideutiger Reiz – er könnte ebenso gut schreien oder singen. Das auffälligste Merkmal des gähnenden Gesichts hat also nicht die ansteckende Wirkung. Unser neurologischer Gähn-Detektor spricht vielmehr auf den Gesamteindruck an; dazu gehören die zusammengekniffenen Augen, nicht aber besondere Gesichtszüge. Weitere Hinweise dürften in der Dehnung und Haltungsänderung des Oberkörpers liegen (beispielsweise in der Schrägstellung des Kopfes und dem Heben der Schultern).
Anstandsdamen, aufgepasst: Unser zufälliger Beitrag zur Etiketteforschung legt die Vermutung nahe, dass das Bedecken des Mundes mit der Hand eine höfliche, aber nutzlose Geste ist: Es wird nicht verhindern, dass das eigene Gähnen sich auf die Anwesenden überträgt. Außerdem gibt unsere Beobachtung einen Hinweis darauf, warum es Künstlern so schwerfällt, gähnende Menschen in Gemälden und Karikaturen darzustellen – das Klischee vom aufgerissenen Mund reicht als Merkmal nicht aus. Um die Zweideutigkeit zu vermindern, werden deshalb häufig ergänzende Hinweise aus dem Zusammenhang gegeben, beispielsweise eine Hand, die den Mund abdeckt, oder ausgestreckte Arme. Manche Comic-Zeichner geben auch angesichts der Herausforderung auf und zeichnen ein «GÄHN» in einer Sprechblase über den Kopf der Figur.
Gähnen ist so wirksam, dass schon der Gedanke daran es verursachen kann. Tatsächlich löste ich damit in mehreren Studien das Gähnen aus: 92 Prozent der Versuchspersonen gähnten innerhalb von 30 Minuten, nachdem sie daran gedacht hatten.1, 4
Abb. 1: Welche Merkmale eines Gesichts lösen das ansteckende Gähnen aus? Versuchspersonen, die Videoaufnahmen gähnender Gesichter sahen, gähnten ungefähr doppelt so häufig wie solche, die ein Lächeln zu sehen bekamen. Als mit bearbeiteten Bildern geprüft wurde, welche Teile des Gesichts die stärksten Auslöser sind, erwies sich der geöffnete Mund nicht als besonders wirksamer Reiz. Dagegen lösten gähnende Gesichter mit verdecktem Mund das Gähnen ebenso häufig aus wie unveränderte Bilder. (Aus: Provine 2005.)
Und wie viele Leser mittlerweile bemerkt haben dürften, wird das Gähnen auch ausgelöst, wenn man etwas darüber liest. Im Test berichteten 28 Prozent der Versuchspersonen, die fünf Minuten lang einen Artikel über das Gähnen gelesen hatten, sie hätten während dieser Zeit selbst gegähnt; in einer Kontrollgruppe, die einen Artikel über Schluckauf gelesen hatte, waren es dagegen nur elf Prozent (Abbildung 2). Wurde das Kriterium auf diejenigen erweitert, die eigenen Angaben zufolge entweder gegähnt oder die Versuchung zu gähnen empfunden hatten, wuchs der Abstand zwischen Gähnen und Schluckauf auf 76 gegenüber 24 Prozent, also auf das Dreifache.
Abb. 2: Menschen, die über das Gähnen lesen, gähnen selbst häufiger, als wenn sie etwas über den Schluckauf lesen, einen anderen unbewussten Akt. Schluckauf ist nicht ansteckend. Gähnen und Schluckauf (Kapitel 1 und 8) unterliegen einer sozialen Hemmung; in diesem Punkt unterscheiden sie sich von vielen, aber nicht allen unbewussten Handlungen. (Aus: Provine 2005.)
Durch die Entdeckung, dass es ein so breites Spektrum von Auslösern für das Gähnen gibt, verminderte sich meine Begeisterung für das Projekt des Weltuntergangs-Gähnens erheblich. Man kann eine ganze Berufslaufbahn damit zubringen, die lange Liste der möglichen Reize, die zum Gähnen führen, zu erforschen. Kein einzelner Reiz hat ein so großes Potenzial, dass man ihn zum Auslöser des Super-Gähnens weiterentwickeln könnte, und die maximale Häufigkeit, mit der das Gähnen kurzfristig ausgelöst wird, liegt bei 50 Prozent. Ich konnte also nicht wie geplant das perfekte, unwiderstehliche Gähnen hervorrufen, indem ich einfach einen Mund von der richtigen Form und Größe konstruierte, der sich genau mit der richtigen Geschwindigkeit öffnete und schloss.5 Verringert wurde meine Enttäuschung allerdings durch die Erkenntnis, dass wir bereits über eine recht gute Annäherung an das Weltuntergangs-Gähnen verfügen. Sogar das Geräusch des Gähnens, das einem Seufzer ähnelt, kann sowohl bei Menschen mit normaler Sehfähigkeit6 als auch bei Blinden7 das Gähnen auslösen, und neutrale Reize können durch Verknüpfung die Eigenschaft eines Gähn-Auslösers erlangen. Mein Ruf als Gähn-Experte verschaffte mir eine Art seltsames Charisma – ich bin selbst zu einem Gähn-Reiz geworden.
Gähnen pflanzt sich fort: Es wird in einer Kettenreaktion von einem Menschen zum anderen weitergegeben. Diese gedankenlose Verbindung beinhaltet eine höchst urtümliche Form von Sozialverhalten. Dass eine Verhaltensweise sich in einer Gruppe ausbreitet, ist ein erbliches, neurologisch programmiertes Sozialverhalten, das von Sozialwissenschaftlern häufig übersehen wird: Diese erklären das Verhalten unter dem Gesichtspunkt, dass es im Laufe des Lebens vom Einzelnen erlernt wurde. Doch die Ansteckungswirkung ist ein Faktor in der Entwicklung und Evolution des Sozialverhaltens und vielleicht auch der Empathie.8
Das Interesse an soziobiologischen Phänomenen, die mit der Ansteckungswirkung zu tun haben, wuchs in jüngster Zeit durch die Entdeckung von «Spiegelneuronen», die Giacomo Rizzolatti und ein Team von Neurowissenschaftlern an der Universität Parma im primärmotorischen Cortex des Affengehirns nachweisen konnten.9 Diese Neuronen sind aktiv, wenn der Affe beispielsweise nach einer Erdnuss greift, aber auch wenn er sieht, wie andere es tun. Mit nichtinvasiven, bildgebenden Verfahren (fMRI) konnte man eine ähnliche Spiegelaktivität auch in mehreren Regionen des menschlichen Gehirns nachweisen (nämlich im primärmotorischen Cortex, dem ergänzenden motorischen Areal, dem primären somatosensorischen Cortex und dem unteren Scheitellappen).9
Die Neurowissenschaftler schreiben den Spiegelneuronen eine wichtige Funktion für viele Verhaltensweisen zu, so für Imitation, Intuition, Empathie, Sprache und die Theorie des Geistes (unsere Erkenntnis, dass andere Menschen einen ähnlichen Geist haben wie wir selbst); «zerbrochene Spiegel» könnten nach dieser Vorstellung die Ursache der sozialen Defizite von Autisten sein.10 V. S. Ramachandran von der University of California in San Diego hätte begeisterter kaum sein können, als er auf edge.org in einem Essay mit dem Titel «Spiegelneuronen und Lernen durch Nachahmung als Triebkraft hinter dem großen Sprung in der Evolution des Menschen» schrieb: «Ich sage voraus, dass die Spiegelneuronen für die Psychologie das Gleiche leisten werden wie die DNA für die Biologie: Sie werden einen vereinheitlichenden Rahmen zur Verfügung stellen und zur Erklärung zahlreicher geistiger Fähigkeiten beitragen, die bisher rätselhaft und für Experimente unzugänglich geblieben sind.» Das ist nicht gerade wenig!
Als Forschungsgebiet ist das ansteckende Verhalten ähnlich vielversprechend, es hat aber gegenüber den Spiegelneuronen einen wichtigen Vorteil: Die Ergebnisse, beispielsweise das Gähnen, lassen sich leicht messen. Spiegelneuronen sind derzeit körperlose Computer, an die kein Drucker angeschlossen ist – sie stecken voller Potenzial, können aber ihre Funktion nicht unter Beweis stellen. Seltsamerweise haben Wissenschaftler, die sich mit Spiegelneuronen beschäftigen, über den Zusammenhang zwischen der Spiegelfunktion und ansteckendem Verhalten nahezu nichts zu sagen (ist die Frage nicht kognitiv genug?). Deshalb können wir nur spekulieren, ob am ansteckenden Verhalten ein Spiegelprozess oder etwas völlig anderes beteiligt ist. Vorläufige fMRI-Befunde deuten darauf hin, dass auf ein beobachtetes Gähnen die gleichen Assoziationsareale des Gehirns ansprechen, die auch direkt oder indirekt mit der Theorie des Geistes und der Verarbeitung des Selbst zu tun haben; die Einzelheiten sind aber noch nicht geklärt.11
Einen anderen Ansatz zur Erforschung des ansteckenden Gähnens und seiner Mechanismen bieten vergleichende, entwicklungsorientierte und pathologische Analysen. Aus ihnen können wir lernen, wann sich das ansteckende Verhalten entwickelte, wann es in einem Menschen entsteht und wie sich Fehlfunktionen auswirken.
Über ansteckendes Verhalten bei Tieren ist bisher kaum etwas bekannt, aber das ändert sich allmählich. James Anderson und seine Kollegen an der University of Stirling in Schottland berichten über ansteckendes Gähnen bei Schimpansen;12 diese Primaten zeigen auch Ansätze von Empathie und Selbstwahrnehmung, die sich in Selbsterkennungsversuchen mit Spiegeln zeigen.13 Wenn es eine solche Ansteckungswirkung gibt, dürfte sie bei Kleinaffen (Makaken und Pavianen)14 schwächer ausgeprägt sein, ebenso bei anderen Tieren, bei denen solche Aspekte der sozialen Kognition völlig fehlen. In der Frage, ob Hunde – höchst aufmerksame Begleiter des Menschen – sich durch das Gähnen von Menschen oder anderen Hunden anstecken lassen, gibt es widersprüchliche Berichte.15 Offensichtlich ist jedoch, dass die Ansteckung von Tieren zu Menschen funktioniert: Jeder Gähnreiz kann zur Ansteckung führen.
Das ansteckende Gähnen entsteht in der Embryonalentwicklung erst relativ spät. Feten gähnen zwar spontan im Mutterleib, und bei Neugeborenen ist das Gähnen leicht zu erkennen, James Anderson und Pauline Meno konnten aber keine Ansteckungswirkung nachweisen, als sie Kindern unter fünf Jahren Videoaufnahmen gähnender Menschen vorführten. Molly Helt und ihre Kollegen an der University of Connecticut benutzten keine Videofilme, sondern führten das Gähnen live vor und konnten damit eine Ansteckungswirkung schon bei Zweijährigen nachweisen; bis zum vierten Lebensjahr nahm der Effekt stark zu.16 Dies lässt darauf schließen, dass das ansteckende Gähnen in der Evolution andere Ursachen hat und später entstand als der sehr alte, allgemein verbreitete Akt des spontanen Gähnens.
Fehlfunktionen im Mechanismus des ansteckenden Gähnens dürften die Ursache mancher psycho- und neuropathologischer Symptome sein. Wie Atsushi Senju vom Birkbeck College der University of London zusammen mit Kollegen nachweisen konnte, ist der Mechanismus des ansteckenden Gähnens bei Kindern mit Autismusspektrumstörung defekt, während ihre Fähigkeit zu spontanem Gähnen nicht beeinträchtigt ist.17 Die verminderte Ansteckungswirkung dürfte mit der gestörten Fähigkeit zu tun haben, Mitgefühl zu empfinden und normale emotionale Bindungen zu anderen Menschen aufzubauen. Das ansteckende Gähnen kann sich verstärken, wenn man Autisten anweist, die Augen eines anderen als wichtigen Anhaltspunkt zu beobachten.18
Nützlich dürfte das ansteckende Gähnen auch zum Verständnis verschiedener Aspekte der Schizophrenie sein, einer schweren psychiatrischen Störung, zu der auch die Unfähigkeit gehört, Schlüsse über die geistigen Zustände anderer zu ziehen. Steven Platek, der damals an der University of Albany arbeitete, untersuchte zusammen mit Kollegen das ansteckende Gähnen bei Menschen, die nicht klinisch krank, aber schizotypisch waren – das heißt, ihnen fehlte das Gespür dafür, was andere wollen, wissen oder beabsichtigen, und hatten im Denken und Verhalten auch gewisse andere Probleme.19 Bei schizotypischen Personen ist die Aufnahmefähigkeit für das ansteckende Gähnen vermindert. Wie Helene Haker und Wulf Rössler an der Universität Zürich zeigen konnten, ist das Ausmaß des ansteckenden Gähnens und Lachens bei schizophrenen Personen geringer.20 Eine provokative Behauptung stellte der verstorbene Heinz Lehmann auf: Danach deutet verstärktes Gähnen (das ansteckende Gähnen wurde nicht im Einzelnen untersucht) auf eine bevorstehende Genesung von der Schizophrenie hin.21
Wer solche Ansteckungswirkungen erforschen will, steht unabhängig davon, ob junge oder alte Menschen, normale oder kranke Menschen oder andere Tiere untersucht werden, vor einer besonderen Herausforderung: Die Aufmerksamkeit ablenkbarer Versuchspersonen muss aufrechterhalten werden. Ohne sorgfältige Kontrollversuche könnte der scheinbare Mangel an ansteckendem Gähnen nur durch unterschiedlich starke Aufmerksamkeit verursacht sein; dann wäre er kein Beleg für ein Defizit oder Unterschiede in kognitiven und sozialen Funktionen. Deshalb sind positive Ergebnisse überzeugender als negative.
Wir können spontan gähnen oder uns anstecken lassen, aber unmittelbar auf ein verbales Kommando hin zu gähnen, ist unmöglich. Diese Unfähigkeit, willkürlich zu gähnen, ist ein Beleg für die weitgehend unbewusste Steuerung des Vorganges. Um unseren bewussten Einfluss auf das Gähnen und andere Verhaltensweisen zu untersuchen und der unbewussten gegenüberzustellen, maßen wir die Reaktionszeit. Man kann davon ausgehen, dass wir über Verhaltensweisen mit kurzen Reaktionszeiten eine größere bewusste Kontrolle haben als über solche, bei denen die Reaktion lange dauert.
Mit der Stoppuhr in der Hand maßen die Mitarbeiter Kurt Krosnowski, Nicole Whyms, Megan Hosey und Cliff Workman die Zeit, bis jemand auf Kommando gähnte. Jeder unserer 103 Versuchsteilnehmer erhielt die Anweisung, nach dem Wort «Jetzt», mit dem der Versuchsleiter die Uhr startete, zu gähnen. Die Versuchsleiter hielten jeweils fest, nach welcher Zeit das Gähnen begann, oder sie verzeichneten eine Maximalzeit von zehn Sekunden, wenn der Akt in dieser Zeitspanne nicht ausgeführt werden konnte. Es stellte sich heraus, dass das Gähnen nach einer langen durchschnittlichen Reaktionszeit von 5,7 Sekunden einsetzte und nur unter Schwierigkeiten hervorgebracht werden konnte; 420581