it’s hard to listen while you preach
U2, Every Breaking Wave
Dies ist ein persönliches Buch über ein politisches Problem. Und so beginne ich persönlich.
Am Morgen des 12. März 2020 stieg ich in Hamburg um. Ich kam aus München, hatte den Nachtzug genommen und wartete auf den Regionalzug nach Flensburg. Ich war in der Woche zuvor im bayerischen Kommunalwahlkampf unterwegs gewesen, die Säle und Bierzelte voll, die Euphorie so groß wie bei der erfolgreichen Landtagswahl eineinhalb Jahre zuvor. Der eigentliche Schlussspurt stand aber erst noch bevor. Eine große Bühne auf dem Münchner Marienplatz war bestellt, in den Geschäftsstellen der Partei lagen jutebeutelweise Flyer und Sonnenblumensamen für den Haustürwahlkampf.
Und dann mussten wir das alles wegen Corona absagen.
Ich nahm stattdessen ein paar Internet-Wahlaufrufe auf, machte mit der Münchner Spitzenkandidatin Katrin Habenschaden ein Instagram-Live-Gespräch und stieg um 22.50 Uhr in den wie immer ausgebuchten österreichischen Nachtzug nach Hamburg. Als der Zug losfuhr, stand ich allerdings allein im Dreierabteil. Und so blieb es. Niemand stieg mehr zu. Ich ahnte, dass meine Mitreisenden aus Sorge, Vorsicht und Rücksicht zu Hause geblieben waren.
Diese Nachtfahrt im ausgebuchten, aber leeren Zug war wie ein Vorbote für das, was kommen sollte. Ich erinnere diese merkwürdigen Stunden auf dem Weg in den Norden. Unter mir rumpelte Deutschland, und ich wusste nicht, ob ich mich freuen sollte, früher nach Hause zu kommen, oder ärgern, dass der Wahlkampf, meine, unsere Arbeit, im vollen Lauf gestoppt worden war. Ich fragte mich, was geschehen würde. Worauf wir zusteuerten. Messen, Konzerte, öffentliche Veranstaltungen waren schon abgesagt, und damit war ein Großteil des gesellschaftlichen Lebens, das unser Land prägt, plötzlich angehalten. Über allem lag eine Ahnung, dass noch mehr folgen würde. Aber was? Wie groß würde es werden? Wie gravierend? Und diese Ahnung paarte sich – wie wahrscheinlich bei den meisten Bürgerinnen und Bürgern – mit einem gewissen Unglauben, weil alles, was kommen würde, so undenkbar schien.
Seit ein paar Tagen geisterte die Forderung durchs Land, Kindergärten und Schulen flächendeckend zu schließen. »Corona-Ferien« hieß das in den Kommentaren, ein Wort, das Bilder von fröhlichen Kindern hervorrief, die sich über ein bisschen unerwartete Freizeit freuen.
Aber wie unmöglich erschien schon dies: alle Schulen dicht, so ganz außer der Reihe. Wenn man am Kabinettstisch sitzt, versucht man normalerweise, die Auswirkungen von Gesetzesentwürfen oder Verordnungen in ihrer gesamten Komplexität abzuwägen. Manchmal brauchen Politiker*innen sehr viel Zeit für diese Abwägung, überlegen hin und her und wieder hin – um dann zum Beispiel die Einführung einer CO2-Steuer von 10 Euro pro Tonne in zwei Jahren zu beschließen. Oft genug werden Entscheidungen auch schlicht gar nicht getroffen, beispielsweise als letztes europäisches Land ein Tempolimit einzuführen. Oder so weichgespült, dass faktisch nichts entschieden oder gelöst ist, beispielsweise die Wahlrechtsreform zur Verkleinerung des Bundestages. Und manchmal werden getroffene Entscheidungen sogar noch einmal aufgeschoben, wie das Verbot, männliche Ferkel ohne Betäubung zu kastrieren.
Jetzt aber musste nach kurzer Beratung eine Entscheidung getroffen werden, deren Auswirkungen noch niemand hatte zu Ende denken können. Am Mittwoch, dem Tag meiner Abreise aus München, befand Gesundheitsminister Jens Spahn flächendeckende Schulschließungen noch als zu folgenschwer. Doch schon am Donnerstag würde die Welt eine andere sein: Bayern würde konkret die Vorbereitungen dafür treffen, die anderen Länder im Stundentakt folgen, am Montag würden die ersten Krippen, Kindergärten, Grundschulen, Hauptschulen, Gemeinschaftsschulen und Gymnasien dicht sein. Restaurants, Läden, Sport- und Spielplätze würden kurz darauf schließen, die Bundesländer Ausgehbeschränkungen und Kontaktsperren verhängen – ein ganzes Land wie eingefroren, um dem Virus seinen Weg möglichst schwer zu machen.
Aber das wusste ich in dieser Nacht vom 11. auf den 12. März natürlich noch nicht. Ich lag im Zug, mit dem seltsamen Gefühl, auf dem Weg von einer Welt in eine nächste zu sein. Eine Welt, auf die weder das Land noch die Gesellschaft vorbereitet waren und von der ich nicht wusste, wie schnell in ihr politisch Undenkbares Wirklichkeit werden würde.
In Hamburg musste ich umsteigen. Ich stand auf der Gleisüberführung bei der Wandelhalle, lehnte am Geländer und schaute auf den Bahnsteig runter, wo bald mein Zug nach Flensburg bereitgestellt werden würde. Es war einer jener merkwürdigen unwirklichen Momente, in denen ich versuchte umzuschalten. Die Wochen zuvor waren eine einzige Hast gewesen. Jeden Tag vier Veranstaltungen, jede Nacht woanders, kreuz und quer durch Bayern und ganz Deutschland. Dutzende von Nächten in Hotels, in denen ich trotz Fitnessraum und Minibar nie zu Hause sein werde, Laufstrecken in fremden Städten, Arbeit im Zug, Telefonkonferenzen in den Umsteigezeiten an Bahnhöfen, weil nur dort das Mobilfunknetz stabil ist, die Nachtzüge der Österreichischen Bundesbahn, die mir so manches Hotel und erst recht so manchen Flug ersparten (und die aus unerklärlichen Gründen nicht mehr von der Deutschen Bundesbahn selbst betrieben werden).
Meine Arbeit, ja meine Vorstellung von Politik ist, die Distanz zwischen Menschen, die Distanz zwischen den Typen, die man aus dem Fernsehen kennt, und denjenigen, die von politischen Entscheidungen betroffen sind, zu verringern, nahbar zu sein, Nähe zuzulassen, Kontakte und Begegnungen zu ermöglichen und zu erleben. Die Geschichten der Menschen, ihre Hoffnungen, Nöte und Schicksale politisch zu übersetzen und politische Entscheidungen zu vermitteln – am besten durch Unmittelbarkeit. So habe ich als Minister in Schleswig-Holstein versucht zu arbeiten – direkte Debatten mit jenen, deren Leben sich verändern würde, weil Windräder oder eine Leitung für erneuerbaren Strom in ihrer Nähe errichtet, weil Atomkraftwerke zurückgebaut oder Gewässer, Tiere, die Artenvielfalt besser geschützt werden sollten und das zum Beispiel die Arbeit in der Landwirtschaft beeinträchtigt. Und so haben wir auch die Arbeit an der Spitze der Grünen angelegt. Wir wollten unsere politischen Linien nicht am Berliner Schreibtisch entwerfen, sondern im Gespräch prägen. Nicht »die da oben«, »die in der Blase« sein, sondern zuhören, offen für Gegenargumente sein, uns selbst überprüfen.
Seit 2018 bin ich in zig Winkeln der Republik unterwegs gewesen, von Ostsachsen bis in den Ruhrpott, von Südbayern bis in meine Heimat, habe mit Schäfern gesprochen, mit Arbeiternehmer*innen der alten Industrien und ihren Chefs, auf Bauerndemos, mit wohlwollenden und kritischen Bürger*innen, mit treibenden und skeptischen, fragenden und antwortenden, zugewandten und feindseligen, freundlichen und wütenden. Ich habe von Bauern erklärt bekommen, dass sie wieder Hafer anbauen, weil die Nachfrage nach Hafermilch plötzlich so groß ist. Ich war auf der Tagung der Almbauern, die Angst vor dem Verbot der sogenannten Anbindehaltung haben und deren schweren bayerischen Dialekt ich kaum verstand. Ich war bei den Kohlekumpeln in Ostsachsen, die den Braunkohleausstieg bekämpfen und Angst um ihre Jobs und vor einer Verödung ihrer Regionen haben; ich tourte durch das Ruhrgebiet und redete in langen Kneipenabenden in der Dortmunder Nordstadt, wo so viele Menschen als Geduldete von Abschiebung bedroht sind und trotzdem hart dafür arbeiten, dass wenigstens ihre Kinder deutsche Staatsbürger*innen werden. Reden, fragen, zuhören, sich begeistern lassen und Ängste vor den Veränderungen nehmen, für die meine Partei wirbt – das machte in den letzten Jahren einen Großteil meiner politischen Arbeit aus. Aber der war nun plötzlich ausgesetzt bis zum Zeitpunkt X. Abstand halten statt Distanz verringern, Kontaktsperren statt Kontaktfreude, statt Begegnungen und Nähe nach Möglichkeit zu Hause bleiben, statt Unmittelbarkeit Zoom-Konferenzen. Politische Leidenschaft und Begeisterung brauchen Menschen, die Menschen erleben. Und genau das war jetzt vorübergehend nicht mehr möglich.
In dieser Stimmung lehnte ich im Hamburger Hauptbahnhof über dem Geländer und sah dem Treiben zu. Es wurden minütlich weniger Menschen, schien mir. Ein älterer Mann ging an mir vorbei und zischte mich an: »Erschießen sollte man dich!«
Ich mag es eigentlich, dass man sich im Norden duzt, auch wenn man sich gar nicht kennt. Und ich bin Gegenwind gewohnt. Jedes Foto, das ich auf Instagram hochlade, wird von Spöttern kommentiert. Menschen, die ich noch nie getroffen habe, haben eine Meinung von mir. Das ist mein Beruf seit jetzt bald zwei Jahrzehnten. Und es ist okay.
Aber dieser Satz riss etwas in mir auf: Wo kommt dieser Hass her? Betroffen sind so viele: vor allem Kommunalpolitiker*innen, insbesondere Frauen. Natürlich vertrete ich Positionen, die nicht allen gefallen. Natürlich gab es schon immer Beleidigungen und Beschimpfungen von Politiker*innen – mitunter gerade untereinander. Aber der Satz »Erschießen sollte man dich!« geht doch weit über die übliche politische Ablehnung hinaus. Zumal ja inzwischen Menschen in Deutschland erschossen werden – in Hanau, in Halle, in Kassel, die Opfer des NSU in Nürnberg, München, Hamburg, Heilbronn, Rostock, Dortmund, Kassel, die zahlreichen Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte, der Anschlag auf die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Es gibt rechtsradikale Netzwerke in Polizei und Bundeswehr. Aus Bundeswehrbeständen sind über hunderttausend Schuss Munition, 62 Kilogramm Sprengstoff und mehr als 100 Dienstwaffen verschwunden. Und auch die mörderische Ideologie des Islamismus zieht ihre Spur durch Europa und Deutschland – der Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin, der Mord in Dresden, Ansbach, Würzburg, Hamburg. Dieser menschenverachtende Terror will Angst und Misstrauen schüren und die Gesellschaft spalten. Das fordert uns als offene, vielfältige Gesellschaft in besonderer Weise heraus.
Ich habe mich in all den Gesprächen und Diskussionen der letzten Jahre um Ausgleich bemüht. Selbst denjenigen, deren politische Haltung ich komplett ablehne, versuche ich mit Respekt zu begegnen. Ich habe während der Ost-Wahlkämpfe bewusst Veranstaltungen in Orten gemacht, wo die AfD stark ist, in Chemnitz, Zwickau, Bautzen, Freital, Görlitz, um die andere Seite mit zu sehen. Auf jeder Bauerndemo von »Land schafft Verbindung«, die vor Veranstaltungen gegen uns protestierten, habe ich geredet und mich mit den Sprechern getroffen, in Landshut wie Hamburg. Wenn AfD-Anhänger*innen in meinen Veranstaltungen waren, habe ich mir ihre Fragen angehört und versucht, ihnen höflich zu antworten. Woher also der Hass, der sich in der im Vorbeigehen gezischten Bemerkung Bahn brach? Was repräsentiere ich, das Menschen fantasieren lässt, mich erschießen zu wollen?
Dieser Hass geht wohl über die einzelne Person hinaus. Gemeint ist ja nicht der Mensch in seiner Individualität, sondern das, wofür er oder sie steht. Und so trifft er viele: die Jugendlichen, die monatelang freitags für Klimaschutz demonstrierten, diejenigen, die sich im Winter 2019/20 dafür aussprachen, zumindest die Kinder aus den elenden Flüchtlingslagern in Griechenland zu holen, diejenigen, die uns erläuterten, wie das Covid-19-Virus andere ansteckt, alle Vertreter*innen des Staates, Wissenschaftler*innen, Polizist*innen, die sich in den Städten und Dörfern dafür einsetzen, dass man anständig und respektvoll miteinander umgeht, Walter Lübcke, den Kassler Regierungspräsidenten, der für die Aufnahme von Geflüchteten eintrat – sie alle wurden für einen kleinen, aber umso aggressiveren Teil der Gesellschaft zu Hassfiguren.
Aber die Frage nach dem Hass geht über extremistische AfD-Anhänger hinaus. Es gibt ihn als sprachliche Enthemmung auf Demonstrationen und in den sozialen Medien. Und er stachelt eine allgemeine Gereiztheit an, die – nach einer kurzen Pause während der Hochphase der ersten Pandemiewelle – wieder mehr zunimmt und die Gesellschaft auseinandertreibt.
Schon bei alltäglichen Anlässen lässt sich das beobachten. Viele kennen wohl den Rechtfertigungsdruck, wenn man zum Beispiel bei einem Familienfest sagt, dass man kein Fleisch mehr isst – oder umgekehrt, wenn man Koteletts grillt und dann die sich vegan ernährenden Enkelkinder zu Besuch kommen. Was eigentlich nur eine belanglose persönliche Information ist, wird plötzlich zum Drama. Wie man arbeitet, wo man lebt, was man einkauft, wohin man in den Urlaub fährt, wird immer mehr Teil einer öffentlichen Zurschaustellung und Bewertung. Sie betrifft SUV-Fahrer, Kreuzfahrttouristen und konventionelle Landwirte, die von der einen Seite abgewertet werden, und sie betrifft die, die für Seenotrettung im Mittelmeer spenden, aufs Fliegen verzichten und mit dem Rad zur Arbeit fahren, von der anderen. Stadtteile stehen für Milieus, Urlaubsziele sind Codes für gesellschaftliche Zugehörigkeit, die einen trinken Dosenbier, die anderen Aperol Spritz – und in den Mikrokosmen und Filterblasen der sozialen Netzwerke werden diese Spaltungstendenzen noch verstärkt. Nichts ist mehr egal. Alles ist übersteigert wichtig. Permanent wird Banales bewertet. Immer soll man etwas müssen.
Seit der Wahl von Donald Trump, dem Brexit und den weltweiten politischen Erfolgen derjenigen, die die liberale Demokratie angreifen, seit der Wahl eines Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD (ja, auch das war im Jahr 2020), seit dem Erstarken von Verschwörungstheorien in Bezug auf »die da oben« und von Stimmen, die die Wirkmächtigkeit von demokratischer Politik insgesamt bezweifeln, rumort in mir die Frage, was eigentlich der Grund für den politischen und kulturellen Rückschlag ist – und wie darauf richtig zu antworten ist. Wie und warum entsteht diese gesellschaftliche Aggressivität? Und wie unterscheiden sich die politischen Konflikte heute von denen vorheriger Jahrzehnte?
Das fundamentale politische Problem, das in all der gesellschaftlichen Gereiztheit und all den Aggressionen sichtbar wird, scheint mir in einer politischen Orientierungslosigkeit zu liegen, die in der Metapher von »auf Sicht fahren« ihren Ausdruck findet und die zu einer Ziellosigkeit führt, die den Sinn und Zweck von Entscheidungen und auch Zumutungen immer weniger erkennbar werden lässt. Opposition wird dabei zum Selbstzweck und sucht sich willkürliche Gründe für die Empörung. So verselbstständigt sich der Vorwurf an das politische Establishment, Streit nur zu inszenieren und in Wahrheit Komplize einer anonymen Machtallianz zu sein. Zunehmend wird es schwerer, einen gesellschaftlichen Grundkonsens herzustellen. Mit seinem Schwinden schwindet aber auch das Vertrauen in eine freiheitliche, rechtsstaatliche, demokratische Ordnung. Und das ist fatal. Denn Vertrauen in unsere politische Ordnung ist die Voraussetzung dafür, dass die Politik auf die großen konkreten Probleme unserer Zeit auch große Antworten geben kann. Und so droht ein Teufelskreis: Ist Politik ängstlich und agiert getrieben, verliert sie noch mehr Vertrauen, und es wird ihr noch weniger zugetraut.
Überraschenderweise scheint die Corona-Krise die Tendenzen, die bereits vorher angelegt waren, zu beschleunigen und zu verstärken. Überraschenderweise, weil sich Deutschland anfänglich doch tatsächlich im Konsens hinter der Regierung versammelt hatte. Erst gingen die Zustimmungswerte für die Union und die Bundeskanzlerin durch die Decke, dann fand die so oft totgesagte Große Koalition zu neuer Eintracht. In einigen politischen Kommentaren wurde daraus die Interpretation, dass die gemeinsame Krisenerfahrung zu einer größeren Gemeinsamkeit des Politischen führen werde. Aber das ist eine Fata Morgana. Was wie eine Phase der Stabilisierung und Restauration einer alten politischen Ordnung aussieht, entpuppt sich nach und nach als Phase der gesteigerten Krisenerfahrung, des beschleunigten Wandels. Mit dem Ende der Sommerferien – als zwar einerseits die Infektionszahlen wieder stiegen, andererseits Geschäfte, Restaurants und Kneipen längst wieder offen hatten, private Feiern und Urlaub möglich waren – entlud sich der Protest gegen die Maßnahmen aus den Monaten zuvor erstmals in großen Demos. Diese waren eigentümlich in Form und Formation, weil plötzlich Regenbogenfahnen neben Reichskriegsflaggen wehten. Aber wenn Corona auch für eine Extremerfahrung des Wandels steht und ein Symbol für die Krisenanfälligkeit unserer Gesellschaft ist, dann sind die Proteste gegen die Maßnahmen unter dem Strich ein Verlangen nach Sicherheit, nach einer Ordnung, die nicht so kompliziert und differenziert ist wie unsere moderne Welt. Nach einer Wahrheit, die über den Debatten steht. Und die kann sowohl völkisch-nationalistisch wie esoterisch-verschwörungsmythisch sein. Auf einer tiefen Ebene eint die Demonstranten der Wunsch, dass der Streit um Meinungen aufhören möge, dass es eine Welt des Schwarz und Weiß geben, etwas Absolutes über dem Diskurs stehen möge. Aber in einer Demokratie gibt es keine vorpolitische Wahrheit. Weder als völkische Wurzel einer ethnisch homogenen Nation noch als metaphysische Wahrheit einer vorzeitigen, höheren Macht. Politik ist ein System. Es schafft Werte, es bildet sie nicht ab. Es konstruiert seine Geschichten, und wenn Politik gelingt, ihre Geschichte. Das ist ihre Macht. Und wenn man sie gut anwendet, dann schafft sie eine Welt, die mehr Farbtöne hat als Schwarz und Weiß, die mehr kennt als »die« und »wir«, »außen« und »innen«.
Weil aber in einer Demokratie die politische Wahrheit immer neu errungen und begründet werden muss, muss sie auch immer neu hinterfragt werden. Das macht die demokratische Argumentation mühsamer als die behauptete Allwissenheit totalitärer Weltbilder. Totalitäre Weltbilder sind geschlossen, sie können Irritation und Neues nicht zulassen. Diese Welt des Entweder-oder ist die Welt des Populismus. Sie kennt nur Sieg oder Niederlage, Verrat oder Kadavergehorsam. Ein offener Diskurs dagegen kann die Veränderung denken und hat so eine bessere Chance, die Welt und Wirklichkeit zu verstehen.
Der Satz »Mit dem Klima lässt sich nicht diskutieren« bedeutet zum Beispiel nicht, dass nicht mehr diskutiert werden soll. Im Gegenteil. Niemand sollte sich hinter der Behauptung verstecken, die Wahrheit zu besitzen, um nicht mehr argumentieren zu müssen. Bei aller Notwendigkeit, endlich mehr zu tun – auch bei der Bekämpfung der Klimakrise gibt es kein Entweder-oder und keinen Absolutheitsanspruch, sondern es muss um den richtigen Weg gerungen werden. Ja, man schwächt sogar langfristig seine politische Position, wenn man um des kurzfristigen Geländegewinns willen gleichsam auf einen Klimatotalitarismus ausweicht. Denn was für die wirtschaftliche und ökologische Zukunftsfähigkeit stimmt, die eben nur durch das beherzte und entschlossene Handeln und gleichzeitige Moderieren des Wandels gelingen wird, gilt gleichermaßen für die demokratische Grundverfasstheit selbst. Wir brauchen keine höhere Wahrheit oder gar moralische Impertinenz, wir müssen aber verstehen, dass die Zukunft nichts ist, was irgendwie auf uns zukommt. Sondern etwas, was hergestellt und gewonnen werden will.
Viel war in den letzten Monaten von Normalität, alter wie neuer, die Rede. Das Bild, das damit gezeichnet wurde, war das von einem normalen Zustand vor der Krise und einem wieder anzustrebenden Normalzustand nach der Krise, kurz unterbrochen von Shutdown und Wirtschaftskrise.
Aber so fühlt es sich nicht an und so ist es auch analytisch nicht zutreffend. Schon vor Corona liefen die großen Krisen – die Krise des Vertrauens in Politik, des Klimas, des Multilateralismus, der Migrationsordnung, des Finanzsystems, der sozialen Ungleichheit – zeitgleich ab, griffen ineinander, verstärkten sich. Ihre Fliehkräfte zerrten und zerren an den Halteseilen der liberalen Demokratie.
In diesem Buch suche ich nach Antworten, die auch die blinden Flecken meiner eigenen politischen Vorstellungen ausleuchten. Denn gerade die Erfolge der liberalen Demokratie und des Fortschritts, des technischen wie gesellschaftlichen, sorgen dafür, dass diese Erfolge gefährdet sind, ja den Misserfolg in sich tragen (Kapitel I). In die Moderne und unsere kapitalistisch-individualistische Welt ist ein Paradox eingewoben, das vor der Politik selbst, der Repräsentation in den Parlamenten und dem Funktionieren von Parteien nicht haltmacht und das man mit der Metapher eines Paternosters beschreiben kann: Gesellschaftlicher Aufstieg und Abstieg bedingen einander. Das heißt aber auch, dass alle scheinbar einfachen ideologischen, ja populistischen Antworten nicht an die Tiefe des Problems heranreichen (Kapitel II). Diesen der Moderne und vor allem dem globalisierten Kapitalismus immanenten Widerspruch kann man in allen Sektoren der Wirtschaft aufzeigen, der Urproduktion, der Industrie, den Dienstleistungen – ja selbst der sozialpsychologische Bereich unserer Persönlichkeit ist seit ein paar Jahrzehnten davon erfasst (Kapitel III).
Die Erfolge und Verluste ökonomisch-technologischer Veränderungen in den letzten Jahrzehnten sind aber nicht umfassend beschrieben, wenn man sie nur auf der ökonomischen Ebene, der Ebene von Besteuerungen, Verteilungsfragen und Ordnungsrecht diskutiert. Ganz wesentlich ist die ökonomisch-soziale Dimension mit einer normativ-kulturellen verknüpft, ja die eine ist ohne die andere in ihren Effekten überhaupt nicht verständlich. Das subjektive Gefühl der kulturellen Abwertung oder der Verlust eines gesellschaftlichen Status können stärkere politische Treiber sein als die objektive ökonomische Situation (Kapitel IV). Daraus folgt, dass neben den klassischen politischen Instrumenten wie einem guten Sozialstaat, Umverteilung und Ordnungsrecht auch ein neues Zusammenspiel der Gesellschaft organisiert werden muss, eines, das auf der Basis von gegenseitiger Anerkennung bei maximaler Verschiedenheit der Positionen funktioniert. Ich verwende dafür das Hannah-Arendt-Wort vom »Einvernehmen«. Letztlich geht es darum, Macht neu zu denken und zu definieren (Kapitel V). Das mündet in der Folgerung, dass ein neuer politischer Grundkonsens begründet werden muss. Und zwar – paradoxerweise – von denen, die bisher vor allem damit beschäftigt waren, sich selbst zu verwirklichen und eher ihr eigenes Ding zu machen, als sich um »die« Gesellschaft und »den« Staat zu kümmern. Aber vielleicht kann man auf ein Paradox erfolgreich nur mit einer paradoxen Intervention antworten, um mit ihm fertigzuwerden.
Es ist falsch, wenn wir politische Wirksamkeit darüber definieren würden, wie man sich in der Krise bewährt. Alles muss sich in Zeiten abnehmenden Vertrauens in die liberale Demokratie und ihre Handlungsfähigkeit darum drehen, eine Politik zu entwickeln, die Krisen möglichst verhindert. Die nicht von Krise zu Krise stolpert und all ihre Ressourcen darauf verwendet, mühsam den jeweiligen krisenhaften Augenblick zu managen, sondern die die Kraft aufbringt, tatsächlich zu gestalten. Die eine Idee davon hat, wohin dieses Land gehen sollte. Bündnisse und Konsense neuer Art werden dafür benötigt. Sicherheit ist nicht das Gegenteil von Wandel oder Veränderung, sondern, wie sich zeigen wird, deren Voraussetzung und idealerweise auch deren Folge. Freiheit wohlverstanden heißt eben nicht, dass alles offen ist und man alles tun kann, sondern dass man über die Bedingungen und Begrenzungen des Lebens selbst bestimmt. Die dringliche Aufgabe ist es, Veränderungen politisch zu gestalten und zu steuern, damit sie nicht immer wieder als willkürlich über uns hereinbrechende Krisen daherkommen, denen die Politik hilflos ausgeliefert ist. Oder noch schlimmer: die überhaupt erst in dem Ausmaß entstanden sind, weil die Politik nicht oder nur halbherzig gestaltet hat.
Es gibt Wind und Wellen, die kann ich nicht beeinflussen, aber ich kann meine Position und die Richtung beeinflussen – idealerweise vor der Welle. In frühere ruhigere Gewässer kommen wir vorerst nicht mehr. Aber wenn man sich klarmacht, was man beeinflussen kann und was nicht, wenn man verinnerlicht, dass die Ruhe nach der einen Welle eigentlich nichts anderes ist als die Ruhe vor der nächsten und dass man die nächste, die übernächste und die danach im Blick behalten muss und gleichzeitig die eigene Position und die eigenen Ziele – dann kann man beherzt ins politische Steuerrad greifen. Und dann haben sowohl die politisch Handelnden als auch die Bürger*innen vielleicht irgendwann etwas weniger das Gefühl, Getriebene zu sein. Politische Gestaltung braucht eine vorausschauende Haltung, ein Narrativ und Einvernehmen.
Der große Konflikt unserer Zeit ist der zwischen dem erstarkten illiberalen, totalitären, nationalistischen Autoritarismus einerseits und der freiheitlichen Demokratie andererseits. Das politische Problem, das sich aus diesem Konflikt ergibt, besteht in der Herausforderung, die Anstrengungen für den Schutz des Klimas, die Arbeit an neuen technologischen Entwicklungen, an einer globalen Verantwortung und an der Einheit Europas zu intensivieren – ohne auf dem Weg die Menschen, denen in diesem Prozess der Veränderung ökonomische und soziokulturelle Verluste drohen, für die liberale Demokratie zu verlieren. Wie gelingt es also, mutig fortschrittliche Politik zu machen, ohne zu ignorieren, dass gerade der Fortschritt und der Mut zur Veränderung Menschen verprellt, abstößt, aufbegehren lässt? Wie schafft man Sicherheit und Stabilität, auf deren Boden sich Gemeinsinn zuallererst entfalten kann, wenn man doch weiß, dass nichts mehr sicher ist? Wie bringt man nötige Veränderung und die Angst vor ihr zusammen? Von Antworten auf diese Fragen handelt dieses Buch.
Für mich war lange unerklärlich, warum jemand überhaupt auf den Gedanken kommt, die Klimakrise zu leugnen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse gelten längst als gesichert. Die Notwendigkeit zur Emissionsminderung mag im Einzelfall Zumutungen bereithalten, aber dann muss man darüber reden, wie man die Zumutungen lindert, statt die grundlegenden Erkenntnisse der Klimaforschung abzustreiten. Für mich war eines der ausschlaggebendsten Erlebnisse, die mir die Dringlichkeit des Themas vor Augen führten, der Film »Eine unbequeme Wahrheit« von Al Gore, der erst 2006 in die Kinos kam, aber Filmsequenzen aus Vorträgen zusammenschnitt, die Al Gore in den Jahren seiner US-Vizepräsidentschaft und in dem Wahlkampf 2000 gehalten hatte.
Wenn man heute nachzeichnet, wann Klimapolitik zu einem parteipolitisch und gesellschaftlich umkämpften Thema wurde, so ist das Jahr 2000, jenes Jahr, in dem Al Gore der Präsidentschaftskandidat der Demokraten im US-Wahlkampf wurde, ein Schlüsseljahr. Gore machte Umwelt- und Klimaschutz zu einem der Schwerpunkte seiner Kampagne. Aus tiefer Überzeugung und Einsicht in die Dringlichkeit gemeinsamen Handelns. Das wiederum machte es für seine politischen Gegner, für die Republikaner und ihren Kandidaten George W. Bush, notwendig, dagegen zu opponieren, Klimapolitik als Unsinn darzustellen und sich gegen wissenschaftliche Erkenntnisse und für die Ölindustrie und den Kohlelobbyismus zu entscheiden.
Der interessante Punkt ist: Vor der Auseinandersetzung zwischen Gore und George W. Bush hatten auch die Republikaner noch ambitionierte Klimaschutzpläne. Aber der Erfolg von Al Gore und seine Präsidentschaftskandidatur lösten eine Dynamik gegen seine Ziele aus. Die öffentliche Figur Al Gore polarisierte eine politische Debatte, die vielleicht besser nicht polarisiert geführt worden wäre.
Die Frage ist natürlich, was er sonst hätte tun sollen. Wenn man für seine Überzeugung streitet, provoziert man fast immer Widerspruch. Daraus kann ja keinesfalls folgen, nicht für seine Überzeugung einzustehen. Aber was es zu bedenken gilt, ist, dass das, wofür man eintritt, nicht neutral im politischen Raum steht, sondern seinen Charakter dadurch verändert, welche Partei und welcher Politiker es sagt.
Ich möchte das anhand zweier kleiner Beispiele aus meiner Erfahrungswelt erläutern. Als im Mai 2020 Covid-19-Ausbrüche in Schlachthöfen entdeckt wurden und eine Debatte über die Produktionsbedingungen in der Landwirtschaft, insbesondere in der Fleischindustrie, begann, veröffentlichte ich einen knappen Plan, der ein Verbot von Werkverträgen und verbesserte Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen vorschlug, der aber auch auf die grundlegende Notwendigkeit hinwies, die Dumpingpreise, auf denen das derzeitige industrielle Agrarsystem basiert, zu beenden. Ich schrieb, dass der Preis für Fleisch unethisch sei und den Tod der Tiere wie die Arbeit der Bauern noch nachträglich entwerte. Daran schloss sich eine Debatte über den Fleischpreis an, und die Bild-Zeitung empörte sich auf der Titelseite, ich wolle das Schnitzel teurer machen. Dass sich zuvor schon die CDU-Agrarministerin Julia Klöckner und selbst der Bauernverbandspräsident für höhere Preise ausgesprochen hatte, spielte keine Rolle.
Umgekehrt weiß ich aber, dass auch meine Partei und ich selbst oft ritualisiert auf Vorstöße des politischen Mitbewerbers reagieren. Das gilt zum Beispiel für Vorschläge zur weiteren Bewaffnung der Bundeswehr oder wenn neue Freihandelsabkommen geschlossen werden sollen.
Sind wir also tatsächlich politisch gefangen in einer Spirale aus Reaktion und Gegenreaktion? Kann es sein, dass man, je erfolgreicher man für sein Anliegen wirbt, je mehr Menschen einem zustimmen, desto stärker zum Teil einer falschen Polarisierung wird und Gefahr läuft, seinem Anliegen einen Bärendienst zu erweisen?
Der US-amerikanische Politikberater Ben Rhodes erzählt in seinem Buch über die Jahre von Barack Obama im Weißen Haus, dass Obama am letzten Amtstag seine Mitarbeiter*innen mit der Frage konfrontiert habe: »What if we were wrong?«
Das ist ein bemerkenswerter Satz eines Regierungschefs am letzten Amtstag. Und man muss ihn in seiner Wucht voll auf sich wirken lassen. Obama fragt angesichts des Wahlsiegs von Donald Trump nicht, was er möglicherweise falsch gemacht habe, wo und wann sie falsch entschieden hätten, er fragt, was wäre, wenn sie sich geirrt hätten – in Bezug auf eine Politik, die versuchte, Gräben zu überwinden.
Barack Obama war in diesem Augenblick wohl bewusst, dass er selbst – trotz seiner einvernehmlichen Reden, trotz, ja wegen seiner ausgleichenden Art – für einen Teil der Bürger*innen zum Protagonisten der gesellschaftlichen Spaltung Amerikas geworden war. Als erster afroamerikanischer Präsident war er der lebende Ausdruck einer offeneren, emanzipatorischeren Gesellschaft. Und für seine Gegner stellte er all das dar, was sie ablehnten. Obamas Satz wirft eine erschütternde Frage auf: Konnte Donald Trump nur Präsident werden, weil Barack Obama Präsident werden konnte?
Diese Frage darf man nicht als plumpe Gleichsetzung verstehen, wie man sie manchmal in politischen Diskussionen erlebt. Die Relativierung von Rassismus und Chauvinismus, die Trump betreibt, ist unerträglich und dumm. Obama und Trump sind nicht vergleichbar, nicht mal ansatzweise. In dem Maß, wie Obama versuchte, Gräben zuzuschütten, rissen die Trumpisten neue auf, diskreditierten Menschen, insbesondere Minderheiten, und mobilisierten das Schlechteste in der Politik.
Schon bei George W. Bush war man ja permanent argwöhnisch, ob dieser Mann die Folgen seines Handelns übersah. Aber seit der Entstehung der Tea-Party-Bewegung 2009 gingen die Republikaner einen steil abschüssigen Weg Richtung Populismus und Nationalismus, der in Donald Trump kulminierte.
Genauso falsch ist es übrigens, das Entstehen der Grünen mit dem Entstehen der AfD gleichzusetzen bzw. die Erfolge und Misserfolge zu parallelisieren, wie es manchmal in politischen Kommentaren zu lesen ist. Die Grünen waren immer eine Partei, die für die Rechte aller Menschen eintrat, um ihnen Würde und Freiheit zu sichern. Die AfD will eine exklusive Gesellschaft der völkisch Gleichen schaffen. Es wäre falsch, hier eine Zwangsläufigkeit abzuleiten nach dem Motto, weil die Grünen für gleiche Rechte etwa für Frauen und Homosexuelle eingetreten sind, ist es unabdingbar (und dann ja auch nicht so schlimm), dass jetzt Rechtspopulisten Frauen und Homosexuelle diffamieren.
So plump darf man die Obama-Frage nicht missverstehen. Aber man sollte sie auch nicht abtun. Ich kann sie nicht abtun. Als ich davon in dem Buch von Rhodes las, stockte mir kurz der Atem. Denn diese Frage berührt den Grund und gleichermaßen den Grundzweifel, warum ich Politiker bin. Sie lautet: Wie findet eine Gesellschaft unter den Bedingungen von Freiheit und Demokratie zu einer Gemeinsamkeit, die es ihr ermöglicht, die notwendigen großen Schritte zu gehen? Und welches sind die Kräfte und Dynamiken, die Lösungen und gemeinsamen Fortschritt immer wieder blockieren?
Natürlich könnte ich leicht auf politische Feindbilder ausweichen, also auf einzelne Politiker*innen zeigen, die ich irgendwie doof finde. Aber so einfach will ich es mir nicht machen. Denn ich glaube, dass es statt persönlicher Defizite einen strukturellen Grund gibt, der gerade den Erfolg von lernender Demokratie und politischem Fortschritt zu seiner größten Gefahr macht: nämlich der Widerspruch der Moderne, dass der Fortschritt der einen fast immer einen Rückschritt für andere bedeutet, dass Aufstieg auch Abstieg hervorbringt, das Leistungsprinzip neben Gewinnern zwangsläufig auch Verlierer. Diesen Widerspruch kann niemand einfach so auflösen. Kein Politiker kann eine historische Formation einfach so abschaffen – ganz abgesehen davon, dass es fraglich ist, ob das nicht viel schlimmer wäre. Was man aber tun kann und sollte, ist, diesen Widerspruch anzunehmen, indem man sich immer wieder befragt, wo die blinden Flecken, also die Kehrseiten möglicher Erfolge, sind. Und wie eine Politik aussehen könnte, die über diese hinausweist.
Nun ist es geradezu das Merkmal von Politik, Widersprüche entweder überwinden zu wollen oder zu verneinen oder zu leugnen. Jede Partei muss von sich glauben, dass sie die besten Antworten auf die Fragen der Gegenwart und Zukunft gefunden hat. Das ist auch okay. Aber wenn Politiker*innen so tun, als wären ihre Antworten die einzig möglichen, als wären sie widerspruchsfrei, dann wird es schnell rechthaberisch. Die Position der anderen Seite nicht sehen zu wollen spricht dem Gegenüber gleichsam das Recht auf eine eigene Position ab. Das kann nur in Kränkung und Verletzung enden. Wer das nicht will, der muss von dem Gedanken Abschied nehmen, dass alle Widersprüche aufgelöst werden können – denn dieses Auflösen soll dann ja zu den je eigenen Bedingungen erfolgen (die dann wieder neue Widersprüche erzeugen würden). Die Alternative dazu ist, die Widersprüchlichkeit der Moderne und des Fortschritts zunächst einmal anzunehmen und zu bejahen. Es kommt darauf an, wie wir uns in ihnen bewegen.