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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2014

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Umschlaggestaltung yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem

(Abbildung: GK Hart/Vikki Hart/Getty Images; Viktor Pravdica, Phase4Photography, Dmitri Stalnuhhin – Fotolia.com)

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ISBN Printausgabe 978-3-499-26761-1 (1. Auflage 2015)

ISBN E-Book 978-3-644-50121-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-50121-8

Ich finde es nicht gut, erschossen zu werden.

Es ist dafür schlicht und ergreifend zu früh, und irgendwie ist es auch viel zu unvermittelt und unsympathisch. Auch wenn wir hier auf einem Friedhof sind und der Tod somit nicht fern liegt, so bleibe ich dabei, ich will es nicht. Ich will nicht sterben. Und schon gar nicht in Berlin.

Wenn es schon so kommen muss, dann möge es doch bitte im Vogelsberg geschehen, von mir aus auch in der Wetterau, aber nicht hier.

 

Um mich herum wird aufgeregt geschrien. Ich will auch schreien, doch es kommt kein Ton heraus. Nur die Knie zittern. Mein Vater liegt schon neben mir auf Boden und Bauch, ehe ich mich, da meine Knie nun endgültig nachgeben, zu ihm in die Waagrechte geselle.

Eben gerade noch lauschten wir der Grabrede auf irgendeinen alten Berliner Polizisten, da knallte es. Ein Schuss, fürchte ich.

 

Ich bin mit einem Mal ganz ruhig. Eine interessante Erfahrung: Wenn ich erschossen werde, bleibe ich also cool. Hätte man vorher nicht unbedingt gedacht. Ich hätte eher erwartet, dass ich in so einer Situation meinem Naturell gemäß zu lamentieren anfinge. Nun, da Selbstmitleid endlich einmal angebracht wäre, mag sich so gar keines einstellen. Schau mal einer an, ich bin also doch ein verdammt harter Hund.

Jetzt müsste mich Franziska einmal sehen.

Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass ich gar keine habe. Dass ich gar nicht getroffen wurde.

Aber ich habe eben doch so ein Zischen gespürt, ganz nah an meinem Körper. Ich öffne die Augen, blicke in den Himmel über Berlin.

Ich drehe mich zur Seite und sehe meinen Vater dort liegen. Er liegt mit dem Rücken zu mir gedreht auf der Seite und atmet schwer. Gut, dass meine Mutter nicht mitgekommen ist. Dass sie das hier nicht sehen muss.

«Papa», flüstere ich. «Papa, ist alles in Ordnung?» Langsam dreht er sich um. Wir sehen uns lange an und stellen fest, dass wir leben. Das beruhigt. Ungemein. Trotz aller familiären Spannungen.

«Ein Arzt, ein Arzt, gibt es hier einen Arzt?», schreit plötzlich irgendein Mann in unmittelbarer Nähe. «Hat jemand den Notruf angerufen?»

«Nicht nötig», sage ich. «Meinem Vater und mir geht es gut, wir sind unverletzt.»

 

Da sehe ich, dass wenige Meter hinter uns einem Mann Blut aus dem Mund läuft.

Freundlich und gutgelaunt, ja nahezu beschwingt grüße ich alle Beamten, Wärter und sonstigen Angestellten der Justizvollzugsanstalt 3 Frankfurt-Preungesheim, die ich auf meinem langen Fußweg durch die weitläufigen Gänge zu Gesicht bekomme. Unzählige Türen werden für mich geöffnet und hinter mir wieder verschlossen. Jedes Mal bedanke ich mich höflich.

«Büdde schön», murmelt ein untersetzter, fast kahlköpfiger Wärter und winkt mich durch eine weitere Tür.

«Hey, das gübt’s doch nüch, warte mal», ruft er mir hinterher. «Wenn das mal nüch der Bröhmannhenning ist?»

Ich bleibe stehen und drehe mich um. «Ja?», frage ich leicht verunsichert nach.

«Kennste mich nüch mehr?»

«Nee, sorry, tut mir leid. Ich weiß jetzt nicht …»

«Ich bin’s, der Böschi!»

Der Böschi stiert mich mit erwartungsfrohen Augen und offenem Mund an. Dabei nickt er wild, als könne er meinem Gedächtnis mit dieser Geste auf die Sprünge helfen.

«Der Böschi», ruft er noch mal. «Na? Klingelt’s?»

«Aaaach natürlich, der Böschi», trällere ich und weiß noch immer nicht, wer er ist.

«Endlich», sagt der Böschi, «das wär ja auch ein Ding, wenn du dich nüch mehr an mich erinnern könntest, was?»

«Ja wirklich, das wär ja … also das wär ja … nee, wirklich …?», stottere ich.

«Und was treibt dich hierher?»

«Was?», rutscht es mir etwas zu schnell und hektisch heraus.  

«Hehe», mache ich und grinse.

Die Situation wird mir langsam, aber sicher zu unangenehm. Bekannte zu treffen, die man nicht mehr erkennt, ist das eine. Ihnen hier und jetzt in diesem Etablissement zu begegnen ist das andere.

«So, ich muss dann wirklich mal los, Bröschi, bin schon etwas zu …»

«Böschi!»

«Was?»

«Böschi, nicht Bröschi», korrigiert er mich ein wenig gekränkt.

«Klar doch», sage ich und reiche meine Hand zum erhofften Abschied, doch stattdessen sagt er: «Komm, ich brüng dich hin. Haste jetzt ein Verhör?»

«Ich?»

«Na, wer denn sonst?!»

«Ach so, jaja, so was in der Art. Aber ist wirklich nicht nötig, mich zu begleiten, ich kenne den Weg.»

«Umso besser», bleibt der Böschi hartnäckig. «Ich arbeite erst seit letzter Woche hier. Da kennst du dich wahrscheinlich besser aus als ich, was?»

Ich zucke mit den Schultern und antworte darauf nichts. Der Böschi blättert in einem dicken Schnellhefter herum, den er schon die ganze Zeit in seiner linken Hand hält.

«Ich bin ja hauptsächlich für die Angehörigenbesucher zuständig», fährt er fort, «für die armen Säue, weißte, für alle, die hier ihre Mutter, Frau oder Tochter oder so besuchen müssen. Würklich unfassbar, dass Frauen Kinder in die Welt setzen und trotzdem krüminell werden. Da muss ich mich erst noch dran gewöhnen … wie gesagt, bin ja noch neu hier.»

Während ich noch nach einer Antwort suche, ruft er plötzlich: «Das gibt’s ja nüch!», und deutet auf eine Liste in seinem Schnellhefter. «Hier bei uns sitzt eine ein, die heißt auch Bröhmann. Das ist ja ein Zufall.»

Zunächst lacht er, der Böschi, dann so ganz langsam, so nach und nach verebbt sein Lachen, und am Ende ist er stumm, der Böschi, und blickt mich nur noch sehr nachdenklich an.

«Ja, ich weiß», sage ich. «Franziska Bröhmann, meine Frau, Totschlägerin im minder schweren Fall und die Mutter meiner beiden Kinder. Die treffe ich jetzt da drüben im Besucherraum. Tschüs, Böschi, mach’s gut, wer immer du auch bist.»

Ich lasse den Böschi mit offenem Mund da stehen, wo er ist, und gehe zielstrebig weiter.

 

Heute habe ich mich allein aufgemacht, da unser Sohn Laurin sich an diesem Samstag auf einem F-Jugend-Fußballturnier abwechselnd von bildungsfernen Trainern und akademischen Fanmüttern anschreien lässt und Tochter Melina am Eröffnungshappening eines amerikanischen Hähnchenmüllrestaurants in Gießen teilnimmt.

Sosehr diese Besuche Routine geworden sind, so unwirklich kommen sie noch immer daher. Schlappe fünf Prozent aller Häftlinge in Deutschland sind Frauen, und ausgerechnet meine eigene ist eine von ihnen.

Inzwischen haben wir uns damit arrangiert. Was bleibt uns auch anderes übrig? Es ist nun mal so, wie es ist. Am besten scheint Franziska selbst mit dieser Situation klarzukommen. Jedenfalls macht sie den Eindruck.

In der Gefangenschaft wirkt sie befreiter als noch im letzten

Drei Jahre ohne Bewährung. Der Fall war längst abgeschlossen, sie hätte es nicht tun müssen. Doch sie musste reinen Tisch machen. Für sich und für uns, ihre Familie. Davon abhalten konnte sie keiner, auch wenn sie wusste, dass sie ihre Kinder wieder alleine lassen würde. Das war der Preis, den sie zahlen musste, den wir alle zahlen müssen. Sie erzählte die ganze Wahrheit, bis auf ein winziges Detail: Mich als Mitwisser hielt sie aus der Sache raus, sodass ich weiter den Beruf des Hauptkommissars im Polizeirevier Alsfeld ausüben darf. Beziehungsweise muss.

 

«Hallo, du minder schwerer Fall», begrüße ich Franziska launig-nervös, setze mich ihr gegenüber an den kargen Holztisch und versuche, ihr tapfer in die Augen zu sehen.

«Hast du die Säge dabei?», flüstert sie.

«Nein, aber dafür das Heroin», scherze ich etwas zu bemüht zurück.

Meist albern wir in dieser Art herum, wenn wir uns hier sehen. Das geht am einfachsten. So halten wir uns auf einem gut zu ertragenden Abstand, und es tut nicht ganz so weh. Wir geben uns sarkastisch, ironisch und manchmal auch zynisch, vor allem dann, wenn die Kinder nicht dabei sind. Wir lachen, blödeln, erzählen uns ungehemmt Nichtigkeiten und hatten lange nicht mehr so viel Spaß zusammen wie während meiner Besuche in der Justizvollzugsanstalt 3 zu Frankfurt-Preungesheim.

«Und, freust du dich?», fragt sie mich nach einer dieser Gesprächspausen und lächelt angestrengt.

«Auf was? Auf Berlin?»

Franziska nickt.

«Ja, auf Berlin an sich schon, auf meine Eltern im Gepäck allerdings weniger.»

Man muss wissen, meine Eltern sind recht anstrengend. Vor allem, wenn sie im Doppelpack auftreten. Jeder für sich alleine ist es allerdings auch.

«Das wird schon», macht mir Franziska Mut. «Melina und Laurin sind als Puffer doch auch dabei.»

Meine inzwischen sechzehnjährige Tochter ist seit Tagen mit nichts anderem beschäftigt, als sich auf diesen Trip zu freuen. Wer mag es ihr verdenken? Sie lebt seit ihrer Geburt in einem sehr, sehr stillgelegten Kurort am Rande des sehr undicht besiedelten Vogelsbergs. Da möchte sie auch einmal etwas anderes sehen als Wiesen, Felder, Felder und Wiesen.

Auch der siebenjährige Laurin fiebert der Reise entgegen und freut sich besonders darauf, mit Prominenten aus Wachs fotografiert zu werden.

«Und Berlusconi und Hitler kommen auch mit, oder? Dann müsst ihr unbedingt zum Olympiastadion, da wird sich Hitler doch ganz besonders freuen», switcht Franziska zurück in den Scherzmodus.

«Charlie», korrigiere ich und hebe mahnend den Zeigefinger. «Er heißt Charlie, nicht Hitler.»

«Du hast ihn doch immer so genannt.»

«Jaja, ich weiß, aber ich reiß mich zusammen, wegen der Kinder.»

Er hat in der Mitte seiner flachen hellen Schnauze ein schwarzes Fleckchen, und die schwarzweiß gescheckte Stirn gleicht einer strengen Scheitelfrisur.

Offiziell aber heißt unser Jüngster nun Charlie. Nach Charlie Chaplin.

Ich schaue auf die Uhr. Noch zehn Minuten, dann ist die Zeit um. Dann steht Franziska auf und schlendert zurück in ihre Zelle, während bei uns die Sommerferien beginnen.

«Ich bekomme Stressgefühle», klage ich, «wenn ich im Zusammenhang mit einer Bahnfahrt an meine Eltern, an zwei Hunde, an unsere Kinder und an die siebzehn Koffer meiner Mutter denke.»

Franziska grüßt derweil eine Häftlingskollegin, die sich am Nebentisch zu einem Mann setzt, den ich bitte niemals nachts alleine im Parkhaus treffen möchte. In solchen Momenten fällt mir wieder ein, wo ich hier bin.

Ich wiederhole meinen selbstmitleidigen letzten Satz und ernte erneut kein Mitgefühl. Eher werde ich subtil ausgelacht.

«Du hast gut lachen. Machst dir hier in diesem Wellnesshotel für Schwerverbrecher ein schönes Leben und lässt mich mit der Großfamilie Bahn fahren.»

Franziska grinst weiter.

Ich hasse Bahn fahren. Wann immer es irgend möglich ist, benutze ich das Auto. Ökologie hin oder her. Das mag vor allem daran liegen, dass man im Vogelsberg im Nahverkehr die sogenannte Hessische Landesbahn, kurz HLB, zu benutzen hat. Eine Bahn, die nicht selten von gehbehinderten Fußgängern überholt wird und alle drei Minuten mit quietschenden Bremsen an irgendeinem Misthaufen stoppt. Wenn neben so einem Misthaufen

Doch auch das Bahnreisen per ICE in die große weite Welt versuche ich zu meiden. Das liegt nicht nur an der Bahn an sich, sondern vor allem an den Menschen. Es sind einfach zu viele auf zu engem Raum. Jedenfalls in der zweitklassigen Gesellschaft, zu der ich mich aufgrund meines eher mäßig bezahlten Polizeiberufes zählen muss. Ich möchte aber weder Schulter an Schulter mit schwer atmenden Geschäftsmännern sitzen noch Knie an Knie mit rülpsenden Bundeswehrsoldaten.

«Henning, hörst du mir überhaupt zu?», reißt mich meine Knastgattin aus den Gedanken.

«Ja, klar», lüge ich, und dann ist die Zeit auch schon um.

Wir verabschieden uns kurz und unaufgeregt, ehe ich zu meinem Auto zurückkehre, wenig später am Bad Homburger Kreuz im Stau stehe und mir dabei laut fluchend die Nachteile des Autofahrens bewusstmache.

 

Es wird guttun, einmal etwas anderes zu sehen als die ewig gleichen oberhessischen Hügel. Diese Hügel, die ich seit meiner Geburt kenne.

Man mag es mir kaum glauben, aber ich freue mich auf die Berliner Großstadthektik. Ich werde es genießen, nicht jeden Menschen, der mir entgegenkommt, grüßen zu müssen. Vergesse ich das hier nämlich einmal leichtfertig, wenn ich beispielsweise verträumt meinen Gedanken nachhänge, dann werde ich mit einem «Aahhh, der Herr Bröhmann kennt einen auch net mehr» aus gesicherter Entfernung abgestraft. Den Vogelsberg dauerhaft zu verlassen ist mir früher nicht in den Sinn gekommen. Doch in den letzten Monaten nahm dieser radikale Gedanke immer mehr Besitz von mir. Ich fühlte mich immer fest verankert in meiner

Warum nicht noch einmal ganz neu starten? Ich bin doch kein alter Mann, auch wenn ein Blick in den Rückspiegel deutlich macht, dass wieder ein paar Haare mehr Platz für Kopfhaut machen. Und Melina und Laurin würde das doch auch guttun, mal etwas komplett anderes zu erleben. Von Franziska ganz zu schweigen.

 

Auf der Höhe der Raststätte Wetterau, noch immer im Stau stehend, klingelt mein Handy, das natürlich schon längst kein Handy mehr ist, sondern ein Smartphone.

Mein Vater.

«Hallo, Papa, na, freut ihr euch schon? Morgen geht’s los, ne?» singsange ich ihn an.

«Muss man jetzt schon hergehen und so gefühlsduselig mit mir reden, als sei ich ein seniler alter Mann?», bellt er zurück.

Ich schweige. Auch davon habe ich die Schnauze voll. Ich würde tatsächlich gerne einmal erleben, wie es sich anfühlt, mehr Abstand zu den Eltern zu haben, vor allem geographisch.

Mein Vater war jahrelang Polizeipräsident in demselben Präsidium, in dem auch ich meine Arbeit verrichte. Heute ist er im Ruhestand, offiziell, auf dem Papier. Dass ich auch Polizist wurde, hat sich einfach so ergeben. Ich wusste schlicht nichts Besseres mit mir anzufangen und war zu träge, eine eigene Idee zu meiner Berufswahl zu entwickeln. Mein Vater hatte eine, und so fand ich mich, da es mir zu anstrengend war, mich zu wehren, in der Polizeischule wieder. Als ich kurz davor war, die Ausbildung hinzuschmeißen, wurde ich selber Vater, mit 24, und zog mit Franziska, die damals Lehramt studierte, in eine Doppelhaushälfte nach Bad Salzhausen, dem allerstillsten Stadtteil von Nidda.

«Ich wollte dich nur daran erinnern, Sohn, an die Reiseunterlagen zu denken. Nicht dass wir morgen ohne jene welche im Zug sitzen, nicht wahr?», brüllt mich mein Vater aus meinen Gedanken. Aufgrund seines Misstrauens allen kabellosen Telefonen gegenüber schreit er immer, wenn er mich am Handy hat.

«Ja, klar denke ich dran», sage ich so leise wie möglich. «Ich muss die Tickets nur noch ausdrucken.»

«Ausdrucken, ausdrucken! Kann man heutzutage nicht mehr hergehen und die Dokumente wie vernünftige Leute beim Bundesbahnschalter holen? Muss man die jetzt also auch schon wieder … aus … drucken? Das haut dann doch wieder vorn und hinten nicht hin.»

Meinen Vater, den Polizeipräsidenten a.D., hatte es von Beginn an empfindlich gestört, dass er nicht die alleinige Reiseorganisation innehatte. Ich wollte mich aber selber um Tickets und Reservierung kümmern, da das ja auch mit den beiden Hunden irgendwie organisiert werden musste.

Die früheren Familienurlaube mit meiner Mutter, meiner älteren Schwester Ulrike und mir waren stets generalstabsmäßig geplant. Ich blickte immer voller Neid auf meine Mitschüler, die sich in Rimini, Mallorca oder Ibiza sinnentleert von der Sonne verbrennen oder von Animateuren gängeln ließen, während wir spätgotische Kirchen im Schwarzwald besichtigten oder die Loreley erwanderten. Die Urlaube mit meinem Vater waren seit jeher Bildungsreisen, die für elfjährige Jungs natürlich eine geminderte Attraktivität haben. Wir fuhren niemals ins Ausland, denn man muss ja erst einmal seine eigene Heimat

«Und dann möchte ich um Pünktlichkeit bitten. Man muss ja nicht immer hergehen und alles auf den letzten Drücker machen, nicht wahr? Du weißt, wie nervös deine Mutter dann immer wird», legt mein Vater nach.

Jaja. Wer da nervös wird, das weiß ich!

«Ach, und Papa, über unsere Treffpunktszeit am Bahnhof wollte ich trotzdem noch mal mit euch reden. Ich finde, eine Stunde bevor der Zug kommt, schon etwas sehr früh, zumal wir schon um 7.46 Uhr starten … Papa? Papa???»

Doch der Herr Vater hat das Gespräch schon souverän beendet.

Melina ist so gut gelaunt, wie sechzehnjährige Mädchen es nun einmal sind, wenn sie in ihren Sommerferien um 5.30 Uhr aufstehen müssen, um dann am Bahnhöfchen von Nidda-Bad Salzhausen mit ihrem Bruder, ihrem Vater, ihren Großeltern samt zwei Hunden dazu verdammt zu sein, eine Stunde lang auf einen Zug warten zu müssen.

Charlie scheißt auf den Bahnsteig, und der Himmel über Oberhessen vergießt darüber ein paar Tränen. Ich bereinige den Schaden, während mein Vater aggressiv lautlos vor sich hin pfeifend seit zwanzig Minuten den Fahrplan studiert.

Meine Mutter erzählt Laurin, der den gereichten Apfelschnitz nicht essen will, Hungersnotgeschichten aus der Nachkriegszeit, und Berlusconi bellt die morgenzwitschernden Vögel an. Dann beginnt es endlich richtig zu regnen, und kurz darauf tuckert unser heißersehnter Nahverkehrszug ein.

«So, einsteigen bitte», ruft nicht der Schaffner, sondern mein Vater. Ich helfe meiner Mutter, ihre drei Koffer, für jeden Reisetag einen, in das Abteil zu hieven. Laurin hat Charlie an der Leine, Melina Berlusconi.

Wir fahren zunächst nach Friedberg, steigen dort in den Zug nach Frankfurt um, ehe es dann per ICE weiter nach Berlin geht. So ist der Plan.

«Sooo, nun erreichen wir Ober-Widdersheim-Häuserhof, fahrplangemäß, will sagen pünktlich», schnarrt mein Vater, nachdem wir gerade einmal vier Minuten unterwegs sind.

«Ach, Günther», sagt meine Mutter einfach mal so.

Ob das hier alles so eine gute Idee war? Der Plan, mit den

«Sooo, nun müssten wir gleich in Gettenau-Bingenheim einfahren», höre ich meinen Vater wieder. «Und klar, das ist ja klar, da hamm wers: zwei Minuten Verspätung schon! Kann man als Deutsche Bundesbahn nicht einmal ausnahmsweise hergehen und pünktlich sein?»

«Die Deutsche Bundesbahn gibt’s schon seit zwanzig Jahren nicht mehr», nuschle ich genervt, mehr für mich als für die Allgemeinheit bestimmt.

«Sei nicht so frech», sagt meine Mutter.

In vierzig Minuten halten wir zwischen Nidda und Friedberg an neun Haltestellen, die allesamt von meinem Vater kommentiert werden. Melina tut das einzig Wahre und schaltet sich mit Mini-Kopfhörern und Smartphone ab. Meine Mutter redet trotzdem auf sie ein, und Laurin verfüttert derweil alle für die gesamte Reise kalkulierten Leckerlis an die Hunde.

Irgendwie schaffen wir es trotzdem, ohne größere Zwischenfälle zweimal umzusteigen, und sitzen nun auf unseren reservierten Plätzen im ICE nach Berlin. Glücklicherweise konnten wir ein Sechser-Abteil für uns ganz alleine in Beschlag nehmen. Denn wir als Gesamtfamilienkunstwerk sind in dieser Zusammensetzung einem Großabteil, also der Allgemeinheit, nicht zuzumuten. Sonst halte ich mich von allen Orten fern, an denen der Mensch an sich in vielfacher Ausfertigung auf engem Raum

«Melinchen, sag mal, hast du eigentlich schon Pläne für die Zukunft?», beginnt meine Mutter völlig unvermittelt ein riskantes Gespräch.

«Was?» Melina tut alles dafür, um so zu wirken, als habe sie die Frage nicht gehört.

«Na ja, weißt du denn schon, in welche Richtung es beruflich bei dir gehen soll?»

Dazu muss man wissen: Melina hat gerade die 10. Klasse wiederholt und plant nun in der Gesamtschule Schotten einen weiteren Anlauf in Richtung Oberstufe.

«Ei ja, Abitur», murmelt sie gekonnt undeutlich.

«Und danach? Hmm? Melina, danach? Weißt du noch gar nicht, wo es hingehen soll? Noch so gar keine Idee?»

Melina reagiert nicht weiter. Meine Mutter wartet eine Weile, blickt kurz zu ihrem Mann, wischt Kekskrümel von ihrem Schoß und richtet sich schlussendlich an mich: «Hat sie wirklich so gar keine Idee? Wirklich nicht? Ich meine, die jungen Menschen sollten in dieser heutigen Zeit doch schon eine Idee haben, wo es mal hingehen soll, oder? Weiß sie da noch gar nichts? Nein? Noch so gar keine Idee?»

«Sie wird schon ihren Weg gehen, Mutter, keine Sorge», antworte ich, obwohl ich am liebsten auch einfach nur im Melina-Ton «Ei ja, Abitur» geraunt hätte.

«Wir hängen schon wieder sechs Minuten», schaltet sich mein Vater wieder ein, tippt auf seine Armbanduhr und schüttelt gleichzeitig den Kopf. «Laut Fahrplan müssten wir schon längst in Hannover sein.»

Die Erschöpfung drückt meine Augenlider für eine kurze Zeit nieder.

«Die Fahrscheine bitte», ertönt eine gravitätische Stimme. Im ersten Moment denke ich, es sei mein Vater, dann aber reckt ein Schaffner die Hand ins Abteil.

«Henning, reiche dem Herrn Schaffner bitte die Dokumente», befiehlt mein Vater und fuchtelt in Richtung Ablage. Ich stehe auf und krame in meinem Rucksack.

«Mein Sohn wird hergehen und Ihnen die passenden Dokumente zur Ansicht und Prüfung aushändigen respektive vorzeigen, wenn er denn mal so weit ist.»

«Das geht sooo aber nicht», sagt der Schaffner nun, mit Blick auf Berlusconi und Charlie. «Die Hunde haben Maulkörbe zu tragen.»

«Maulkörbe? Oh, das wusste ich nicht», entgegne ich zaghaft. «Die habe ich … äh, jetzt nicht.»

Der stämmige Bahnangestellte, der ein bisschen aussieht wie eine Mischung aus Axel Schulz und Joschka Fischer, wiederholt stoisch und konsequent an mir vorbeiblickend: «Die Hunde haben Maulkörbe zu tragen.»

«Entschuldigung, wie gesagt, das ist mir entgangen, wie soll ich denn jetzt, also woher bekomme ich denn jetzt …?»

«Die Hunde haben Maulkörbe zu tragen!»

Melina tut das Falscheste und zischt: «Ja, Mann, wir haben’s ja jetzt gehört.»

«MELINA», schimpft ihre Großmutter.

«Dann muss ich Sie bitten, in Hannover auszusteigen.»

«Das kann doch nicht Ihr Ernst sein», entfährt es mir. «Wir

Der Schaffnerriese schüttelt den Kopf: «Die Hunde müssen …»

«… Maulkörbe tragen», beendet nun Laurin den Satz.

«Sie können uns doch nicht allen Ernstes in Hannover aus dem Zug werfen», sage ich in flehendem Tonfall.

«Und ob ich das kann!»

«Schauen Sie mal, ich habe sehr alte Menschen dabei, das können Sie denen doch nicht antun.»

Ich ernte vernichtende Blicke von meinen Eltern.

Nun gibt es nur noch eine Chance. Hopp oder topp, ich spiele die letzte Karte.

«O.k.», sage ich, stehe auf und gehe auf den Schaffner zu. «Hauchen Sie mich doch bitte einmal an.»

«Wie bitte?», bellt er zurück.

«Hauptkommissar Henning Bröhmann», schmettere ich ihm ins Gesicht und zücke meinen Dienstausweis. «Ich habe leider den Verdacht, dass Sie nicht vollkommen nüchtern Ihren Dienst verrichten. Wollen Sie, dass ich das überprüfen lasse?»

Bitte, bitte, lieber Schaffner, flehe ich stumm, bitte, bitte, hab was getrunken, sei ein nettes kleines Säuferlein, das sich gern mal das ein oder andere Schnäpschen in den Morgenstunden gönnt.

Der Mann bleibt stumm.

«Oder liegt es auch in Ihrem Interesse, dass wir uns anderweitig einigen?», lege ich nach. Ich warte auf seine Antwort. Er starrt mich ausdruckslos an.

«Anderweitig find ich gut», sagt er dann und verlässt ohne ein weiteres Wort das Abteil.

Melina kichert, Laurin ist stolz, meiner Mutter steht der Mund offen, und mein Vater maßregelt mich: «Junge, wie kann man

Bei der nächsten gemeinsamen Reise packe ich Maulkörbe ein, so viel steht fest. Drei!

 

Warum kann ich meine Eltern nicht einfach mal nett finden? Ich komme mir vor wie ein Dauervierzehnjähriger, dem nichts peinlicher ist als seine Erzeuger. Mit nunmehr vierzig sollte man diese Phase doch eigentlich überwunden haben. Meine sechs Jahre ältere Schwester Ulrike hat es vermutlich richtig gemacht. Sie hat damals die Zeichen der Zeit erkannt und ist direkt nach dem Abitur in die Ferne gezogen. Kommt sie einmal im Jahr zu einem Familientreffen zu Besuch, wird sie von unseren Eltern wie eine Kaiserin empfangen, während ich von meiner Mutter angeherrscht werde, ich soll meiner Schwester Kaffee nachschenken. Das Verhältnis zu Ulrike ist, nicht nur deswegen, sagen wir mal … distanziert.

Wenn man in Betracht zieht, dass es so etwas wie eine naturgegebene Liebe von Eltern zu ihrem Kind und umgedreht gibt, wird hier einmal mehr bewiesen, dass das Spektrum der Liebe sehr breit zu fassen und überhaupt ein weites geheimnisvolles, unergründliches Feld ist. Ich weiß, es gehören zwei Parteien dazu, wenn es in einer Beziehung nicht stimmt. Aber ich versuche es doch! Ich gehe doch Schritte auf sie zu. Warum sonst sitze ich hier mit meinen Eltern im Zug und tue mir das an? Es war mein Angebot, meine Eltern auch auf die blöde Beerdigung zu begleiten. Ich kenne diesen alten Kollegen meines Vaters nicht. Er ist nach Berlin gezogen, da war ich zwanzig, und mein Vater war der große Zampano in der Polizeidirektion.

liebe kirsten. ich weiß nicht, ob du dich freust, wenn du das liest. ich weiß noch nicht mal, ob du das hier überhaupt lesen kannst und diesen brief erhältst, da, wo du bist. wo auch immer das ist. vielleicht muss ich mich bei dir entschuldigen, ich weiß es nicht. ich weiß aber nicht, wie. ich weiß nur, dass ich dich vermisse. das ist die strafe. diese zelle hier und all die jahre, die ich hier verbringen muss, könnte ich ertragen, wenn ich dich nur danach wiedersehen könnte. ich werde mich hier durchbeißen. ich habe vor niemandem mehr angst, ich lass nicht mehr auf mir rumtrampeln, ich lass mich von keinem mehr verarschen. und sie werden es alle bereuen, das sage ich dir. vielleicht interessiert dich das jetzt nicht mehr, nach alldem. doch ich weiß, dass du zu mir hältst. weil du mich liebst, kirsten, oder? du liebst mich doch??? noch immer, oder? da, wo du bist!

 

kirsten, nur du und ich, nur wir beide kennen die wahrheit. wir wissen, was und wie es geschah. das ist unser geheimnis, für immer. und ich werde es hüten, für dich. dann können sie, so oft, wie sie wollen, mit mir reden oder psychologen auf mich ansetzen. für dich sitze ich die jahre nun ab. für dich lasse ich mir von diesem penner mirko aufs maul hauen. mir ist das egal.

eigentlich sind nur arschlöcher hier. nur mit einem, mit jan, komme ich ganz gut klar. der ist in ordnung. der hat seinen vater erschlagen.

es gibt essen nun, ich meld mich wieder, versprochen!

Die Bundeshauptstadt zeigt sich von ihrer bewölkten, windigen, pieseligen Seite, als wir mit unserem Zug endlich ankommen.

«Aha, das ist also der Hauptbahnhof», stellt mein Vater messerscharf fest und deutet mit dem Finger irgendwohin.

«Na ja, da wir mit dem Zug gefahren sind, glaube ich auch, dass dies hier nicht der Flughafen ist», nörgele ich spätpubertär und befeuere die leicht aggressive Grundstimmung.

«Sei nicht so frech», sagt meine Mutter und sieht dabei blass aus.

Ich frage sie in aufrichtig sorgenvollem Ton, ob ihr nicht gut ist.

«Ach, das geht schon», winkt sie ab. «Macht euch mal um mich keine Gedanken.»

Meine Mutter ist keine Memme. Nicht so wie ihr Sohn. Sie nervt einen mit dieser Selbstlosigkeit, die für Frauen ihrer Generation nicht ganz untypisch ist.

 

Wir zerren unsere jeweiligen Koffer, Hunde, Mütter, Väter, Söhne und Töchter über diverse Gleise, Rolltreppen, an unzähligen Geschäften und Restaurants vorbei, durch irrsinnige Menschenmassen hindurch, und steuern am Bahnhofsvorplatz einen Taxi-Van an. Ein kleiner Mann mit Brille, der ein wenig wie Hermann Hesse aussieht, packt unser Gepäck in den Kofferraum. Er schwäbelt, und ich bin ein klein wenig überrascht, da ich immer davon ausging, dass hier alle Taxifahrer berlinern, schroff und unfreundlich oder wenigstens Inder mit Turban sind.

«Kann man nicht mal hergehen, Melina, und rausschauen, wenn man schon mal in Berlin ist?», unterbricht mein Vater den Redefluss des schwäbelnden Dichterfahrers. «Weiß man denn überhaupt, wie der Fluss heißt, den wir linker Hand fließen sehen?»

«Keine Ahnung», nuschelt Melina fast so wie Til Schweiger. «Themse?»

 

Eins muss man meinen Eltern lassen. Sie haben mich und die Kinder großzügig in ein Vier-Sterne-Hotelzimmer in «Toplage» nahe Regierungsviertel eingeladen. Wir schlafen in einem fast geräumigen Doppelzimmer Standard mit Zustellbett, meine Eltern richten sich im Zimmer neben uns ein.

Melina nimmt den skandalösen Umstand, ein Doppelbett mit ihrem Vater teilen zu müssen, erstaunlich gelassen hin. Ich selber hätte ihr gerne ein eigenes Zimmer gegönnt, kann es mir aber derzeit schlicht und ergreifend nicht leisten, da wir zurzeit «sparen» müssen. Ich hasse das. Doch zu hoch sind die Schulden und die monatlichen Abschlagszahlungen für unsere Doppelhaushälfte in Bad Salzhausen, und zu wenig verdient Franziska als inhaftierte Totschlägerin dazu. Ich wollte meinen Eltern nicht auch noch Mehrkosten für ein weiteres Zimmer aufbürden, schon alleine,

An diesem frühen Abend allerdings schleppen wir uns dahin, wo alle Touristen hinwollen: zum Brandenburger Tor und zum Reichstag.

Müde und erstaunlich friedlich nehmen wir danach ein gemeinsames Buffet-Abendessen im Restaurant unseres Hotels ein, ehe sich jeder zum Schlafen in sein Zimmer zurückzieht.

 

Am nächsten Morgen betritt mein Vater den stickigen Frühstücksraum unseres Hotels und hält nach mir und den Kindern Ausschau. Wir frühstücken bereits seit einer knappen Viertelstunde und winken ihn zu uns. Hunde haben zu diesem Raum zu Recht keinen Zutritt und sind somit im Zimmer zurückgeblieben.

«Wo ist denn Mutter?», frage ich ihn, nachdem wir uns alle wechselseitig einen guten Morgen gewünscht haben.

«Sie hat die ganze Nacht gespuckt», sagt er.

«Wohin?», fragt Laurin, der sich gerade ein siebtes Bratwürstchen auf seinen Teller geholt hat.

«Oje», mache ich.

«Und warum?», fragt Laurin nach. «Warum spuckt die Oma die ganze Nacht?»

«Na, weil ihr blümerant zumute war», antwortet mein Vater und nimmt an unserem Tisch Platz.

Laurin blickt mich fragend an.

«Ei, gekohotzt, Mann, Laurin, gekotzt hat sie. Spucken heißt kotzen», bollert Melina durch den Frühstücksraum, dass die Gespräche an den anderen eng aneinandergestellten Tischen schlagartig verstummen.

Die Ruhe im Raum wird allerdings jäh durchbrochen, als acht Frauen am Nachbartisch Platz nehmen. Sie tragen allesamt türkise T-Shirts, die wie Pellen an ihren Körpern kleben. «Bowling Bitches Bottrop», lese ich auf ihren Rücken. Nicht alle Rücken können entzücken. Die «Bowling Bitches» haben gute Laune, sehr gute Laune, und alle sollen es wissen.

Und das tun wir dann auch sehr schnell, ob wir wollen oder nicht.

«Dann kommt Mutti wohl nicht mit zur Beerdigung, oder?», frage ich meinen Vater. Er schüttelt den Kopf. «Ich denke, da bleibt man besser im Bett.»

«Ich kümmere mich um Oma», sagt Melina friedlich und nippt an ihrem O-Saft. Im ersten Moment traue ich dem Frieden nicht. Da muss doch noch irgendwas Patzig-Pubertäres nachkommen. Tut es aber nicht. Da ändert sich schon seit geraumer Zeit mal wieder etwas bei meiner Tochter.

Voll innerem Frieden blicke ich zu meinen beiden Kindern, da kreischen mit einem Mal die Bottroper Wurstpellenbitches vom Nachbartisch kollektiv so spitz auf, dass mein Vater vor Schreck Kaffee verschüttet. Normalerweise ist es doch schön, wenn Menschen Freude haben und lachen. Hier nicht. Vielleicht bin ich aber auch nur ein wenig neidisch, da ich es beispielsweise nie hinbekommen habe, unbeschwert geselligkeitsspaßig mit Bollerwagen und anderen Mitmännern an «Vatertagen» durch Wälder zu saufen oder gute Laune bei Junggesellenabenden zu entwickeln. Die Bowlingbratzen erheitern sich im Übrigen ausgelassen an Zweideutigkeiten rund um das Wort Ei.

«Kann man hier nicht mal hergehen und sich so verhalten, wie es sich für Damen Ihres Alters geziemt? Ein störendes, ja würdeloses Verhalten ist man hier zu beobachten gezwungen. Ich möchte gerne mit meinem Sohn und den dazugehörigen Enkelkindern in einer für diesen Ort angemessenen Ruhe das Frühstück einnehmen. Ich hoffe, dass dies nicht zu viel verlangt ist und ab nun möglich sein wird. Verbindlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.»

Am Nachbartisch ist es still geworden. Die Bowlinghyänen schauen sich gegenseitig mit offenem Mund an, mein Vater kehrt zu seinem Platz zurück, setzt sich, lächelt den Kindern und mir zufrieden zu und nippt an seiner Tasse Kaffee. Für solche Auftritte liebe ich ihn.

Kurze Zeit später fällt mir ein, dass ich vergessen habe, zum Wohle des Zimmermädchens an unserer Zimmertür das «Bitte nicht stören»-Schild anzubringen. Dort würde sie nämlich von Berlusconi und Charlie vermutlich etwas zu stürmisch «begrüßt» werden. Unsere Hunde sind zwar harmlos, aber das kann man ja nicht ahnen, wo doch der eine aussieht wie Hitler und der andere Berlusconi heißt. Wie kann sie sicher sein, dass nicht auch noch ein Strauss-Kahn im Badezimmer lauert?

Dieser Gedanke lässt mir keine Ruhe, sodass ich mein Frühstück schneller beende, als ich ursprünglich vorhatte.

 

Ich bin beruhigt, sie haben wenigstens ein schlechtes Gewissen.

Folglich tue ich so, als würde ich schimpfen, fege dabei mit der Hand ein paar Haare vom Laken und stopfe ihnen zur Strafe ein paar Leckerlis in die Mäuler. Dann putze ich die Zähne, rasiere mich, setze ich mich aufs Klo und lese neben dem Spiegel:

Können Sie sich eigentlich vorstellen, wie viele Tonnen Handtücher jeden Tag in allen Hotels der Welt UNNÖTIG GEWASCHEN WERDEN und welch ungeheure Wassermenge dafür nötig ist?

Mit Ihrer Entscheidung, das Handtuch ein weiteres Mal zu benutzen, helfen Sie mit für eine saubere und bessere Umwelt.

Kann man sich gut vorstellen, allerdings frage ich mich, ob hier tatsächlich der Umweltgedanke im Vordergrund steht oder ob sich die Hotelführung schlicht und ergreifend davor drücken möchte, teure Wasserrechnungen zu bezahlen. Ich tendiere zu Letzterem und schmeiße alle Handtücher zu Boden. Der eine pubertiert früher, der andere etwas später, ich vermutlich immer.

Wenig später bitte ich Melina, mit den Hunden eine kleine Runde zu drehen, und Laurin, nicht die Erdnüsse aus der Minibar zu essen und den Fernseher auszulassen. Keine Antwort; die Anweisungen werden also angekommen sein.

 

«Komm mir nicht zu nah, Junge», stöhnt sie auf ihrem hochgestellten Bett und schaut Frühstücksfernsehen.

«Geht’s dir denn wieder etwas besser?», frage ich sanft, während auf dem Bildschirm eine mäßig talentierte deutsche Schauspielerin schnattert, die der Auffassung zu sein scheint, durch gesichtsstraffende nasenkorrigierende botoxeinspritzende Maßnahmen in Zukunft häufiger besetzt zu werden.

«Ach, ist alles halb so schlimm», sagt meine deutlich würdevoller gealterte Mutter. «Macht euch mal um mich keine Sorgen. Ich denke, ich hab’s jetzt hinter mir. Habe mir bestimmt nur den Mag…»

Im nächsten Moment sehe ich auf dem Teppichboden vor mir, dass sie es noch nicht hinter sich hat. Ich hole Handtücher aus dem Badezimmer, begieße sie mit Haarshampoo, bin ein guter Sohn und wische die Mutti-Bröckchen auf. Dann wasche ich die Tücher aus und lege sie am Ende auf den Fußboden des Badezimmers, denn:

Handtuch am Halter hängen lassen heißt: Ich benutze es ein weiteres Mal, Handtuch auf dem Fußboden heißt: Bitte waschen.

«Erhol du dich gut, ich gehe mit Papa allein auf die Beerdigung», sage ich beim Hinausgehen. «Falls was sein sollte, ruf Melina oder melde dich bei der Rezeption.»

«Ach Quatsch, Junge, doch nicht wegen so einer Lappalie. Macht euch mal um mich …»

«… keine Sorgen, ich weiß.»

 

Schon von weitem sind unzählige stracke Männer in Polizeiuniformen zu erkennen, die ihrem ehemaligen Kollegen, Kriminaloberrat a.D. Viktor Gummer, die letzte Ehre erweisen möchten. Ich selber versuche das Tragen einer Uniform wann immer möglich zu vermeiden, da mich seit jeher der Drang deutscher Männer nach Uniformen, Rängen, Orden und Abzeichen befremdet, sei es beim Militär, bei der Polizei, im Schützenverein oder bei Faschingssitzungen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ein Herzversagen brachte Viktor Gummer mit nur siebzig Jahren in jene hellbraune Kiste, die vor uns Trauergästen in der Friedhofskapelle steht. Gummer hat in den siebziger und achtziger Jahren gemeinsam mit meinem Vater in der Polizeidirektion Alsfeld gearbeitet. Sie waren Freunde oder das, was mein Vater dafür hielt. 1990, nach dem Fall der Mauer, bekam Gummer ein Angebot aus dem nun angeschlossenen Ostberlin, welches ihm so reizvoll erschien, dass er dafür sogar den schönen Vogelsberg verließ. Als mir mein Vater dies vorhin erzählte, meinte ich einen leisen Anflug von Neid und persönlicher Enttäuschung herauszuhören. Jedenfalls scheint er ihn gemocht zu haben, diesen Gummer. Seine Trauer nämlich ist deutlich zu spüren, als das Polizeiorchester brachial zu musizieren beginnt.

Ich stelle mir vor, wie es wäre, wenn mein Vater an der Stelle von Viktor Gummer hier liegen würde, und bekomme daraufhin die seltene Anwandlung, nach seiner Hand zu greifen. Doch das lasse ich lieber.

Wir erheben uns, sprechen das Vaterunser und lauschen

Dann knallt es.

Man kann es drehen und wenden, man kann es wahrhaben wollen oder nicht: Es steht ohne jeden Zweifel fest, dass auf uns geschossen wurde.

Nur, was heißt das genau: auf uns? Auf mich? Auf meinen Vater? Auf alle? Jedenfalls hat uns der Schuss nur um Haaresbreite verfehlt. Die Kugel zischte zwischen uns beiden hindurch, das habe ich mir nicht eingebildet.

Ich mache Anstalten, vom Boden aufzustehen, da stürzt sich irgendein Polizeikollege auf mich und drückt mich wieder zu Boden.

«Liegen bleiben», schreit er.

Recht hat er, der Kollege. Wir wissen ja nicht, ob nicht noch weitere Schüsse fallen.

Um uns herum herrscht eine Mischung aus entsetzter Stille und nervösem Geschrei. Ich blicke auf die Hände meines Vaters. Sie zittern.

Unzählige Beamte rennen mit ihren Waffen auf dem Friedhof herum und suchen nach dem Täter. Doch der Schütze scheint entkommen zu sein, trotz der vielen Polizisten.

Endlich bekommen wir die Erlaubnis, vom Boden aufzustehen. Unversehrt. Äußerlich jedenfalls. Mein Vater wirkt noch wackliger auf den Beinen als ich.

«Papa, setz dich am besten irgendwohin», rede ich ihm mit brüchiger Stimme zu.

«Ach», herrscht er mich an und winkt ab.

 

Ich springe hinzu, ebenso wie ein weiterer Trauergast, der sofort beginnt, verzweifelte Erste-Hilfe-Praktiken anzuwenden. Man muss kein Arzt sein, um sehen zu können, dass es dafür wohl zu spät ist. Der Schuss hat offenbar mitten in die Brust getroffen. Nur kurze Zeit später erscheint der Notdienst. Drei Männer rennen zu dem Mann am Boden, nesteln noch kurz und hektisch an ihm herum, bis ihre Handlungen sichtbar langsamer werden. Dann blicken sie sich zu uns anderen um und erklären den Mann für tot.