Macht

Inhaltsverzeichnis

Schritt 2: Isoliere das Opfer und mache es vollkommen von dir abhängig.

Schritt 3: Beherrsche das Opfer und lass es sich um deine Anerkennung und Zustimmung bemühen.

Schritt 4: Instruiere das Opfer und erziehe es so weit um, dass es nach deiner Ideologie handelt.

Schritt 5: Verführe das Opfer und vermittle ihm neue sexuelle Wertvorstellungen.

(»Gehirnwäsche, wie man den menschlichen Verstand in fünf einfachen Schritten beugt, verwirrt und zerstört«, ein Artikel aus dem Herrenmagazin OUI, erschienen 1976, zitiert in »Die Leibeigene«, Christine McGuire, Carla Norton, Bergisch Gladbach 1988)

»Mit Frauen und Untertanen umzugehen ist äußerst schwierig.«

(Konfuzius)

Ich habe gerade das Telefon installiert, das ich auf dem Dachboden gefunden habe, ein einfacher hellgrauer Fernsprechapparat mit Wählscheibe und ohne technische Fisimatenten – kein Stand-by-Modus, kein Bildschirm, kein integriertes Kopiergerät, dessen Druckerpatrone nur unter Zuhilfenahme einer bebilderten Bedienungsanleitung gewechselt werden kann, und vor allem kein Anrufbeantworter. Nichts als ein altmodisch großer Hörer auf einem robusten Gehäuse, das von jedem Laien mit einem einfachen Schraubenzieher geöffnet und repariert werden kann.

Aber als es jetzt klingelt, ist es nicht dieser Inbegriff der Nachhaltigkeit und Wiederverwertbarkeit, der meine Eltern in den 60er-Jahren mit der Welt verbunden hat, sondern es ist natürlich das schicke, flache, leicht konkave Ego-Smart in meiner Hosentasche, dieser Fluch der Menschheit, der uns zwingt

Ich fürchte, dass es jemand vom Heimatbund sein könnte. Unvorsichtigerweise habe ich zugesagt, beim gemeinschaftlichen Geländeeinsatz gegen den alles überwuchernden Killer-Raps mitzuhelfen. Aber das Gesicht auf dem Display – eine halb kahle, halb ergraute Raubvogelphysiognomie mit Beuteln unter dem unrasierten Kinn – kenne ich von irgendwo anders her, wenn ich auch nicht sofort weiß, woher.

»Hey Basti«, schreit das Gesicht, »es ist wieder so weit! Bist du dabei?«

Kaum jemand sagt heute noch am Telefon seinen Namen. Je langweiliger ein Mensch, desto mehr ist er auch davon überzeugt, dass seine öde Hackfresse überall einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen hat. Ich shamme das Bild auf den 80-Zoll-Compunikator über dem Sideboard, hoffe, dass sich wenigstens dort der Name des Anrufers einblendet – aber Fehlanzeige.

»Ich bin’s – Norbert! Sag bloß, du erkennst mich nicht? Norbert Lanschick! Weißt du nicht mehr, wer ich bin?«

»Ja, … schon, … du hast doch …«

Ich lasse große Pausen zwischen den Wörtern in der Hoffnung, dass Norbert Lanschick sie füllt.

»Gymnasium Ohlstedt! Abiturjahrgang 1981! Na, fällt der Groschen?«

»Und ich dachte schon, du hättest die Sache aufgesteckt …«, sage ich zu ihm. Das letzte Treffen ist nämlich ausgefallen. Da hat es wohl einen Karriereknick gegeben. Aber nun wieder! Was wird er uns diesmal vor die Füße legen, wie ein gut abgerichteter Labrador? Eine neue Frau, ein neues Auto?

»Das letzte Mal konnte ich nicht«, sagt Lanschick

Das auf die vierfache Größe aufgeblasene Geiergesicht auf dem Compunikator-Bildschirm versucht, ein selbstzufriedenes Grinsen zu unterdrücken. Eine Haut wie angetrockneter Grießbrei. Alt sieht er aus – alt, alt, alt. Wie kann man sich nur so gehen lassen.

»Aber diesmal mache ich es wieder. Wenn ich es nicht mache, macht es doch niemand. Ist dir das überhaupt klar, dass das diesmal unser fünfzigjähriges Klassentreffen ist? Also: Kneifen kommt nicht infrage. Soll ich für dich ein Zimmer buchen?«

»Nein, ich brauche kein Zimmer«, sage ich. »Ich wohne wieder in Wellingstedt.«

»In Wellingstedt? Wo denn? Du wohnst doch nicht wieder bei deinen Eltern?« Lanschick lacht meckernd. »Seit wann?«

»Schon seit vier Jahren«, sage ich. »Und meine Eltern sind tot. Ich wohne bloß in dem Haus.«

Als die Dinge um mich herum sich aufzulösen begannen, meine Frau mich verließ und mir die Kinder wegnahm, als klar wurde, dass die Klimaerwärmung sämtliche Tipping-Points bereits überschritten hatte und auch der verordnete Staatsfeminismus nichts mehr daran würde ändern können, als meine Lieblingskneipe abbrannte und meine Augen so schlecht wurden, dass ich die Zeitung nur noch lesen konnte,

»Ist ja eigentlich auch gar keine schlechte Lage«, räumt Lanschick gönnerhaft ein, »habe selbst schon einmal daran gedacht.«

Wellingstedt gilt inzwischen als erstklassige Wohngegend für gut verdienende junge Familien und Angeber wie Lanschick. Eine geringe Kriminalitätsrate, nur zwei – noch dazu bestens integrierte – Asylbewerberheime, grüne Wälder und ein brauner Fluss, der sich durch die Endmoränenlandschaft windet, und nur zwanzig Kilometer bis zur Hamburger Innenstadt. Ende der 50er-Jahre bauten Handwerker und kleine Angestellte hier ihre Häuser auf Grundstücke, die ihnen ein wenig vorausschauender Bauer zu einer unfassbar niedrigen Leibrente überlassen hatte. Unter ihnen meine Eltern, die nach Feierabend Beton mischten und die Ziegelsteine in einer Schubkarre heranschafften. Nachdem

Damals lebten hier Erdkröten, Eisvögel und Fischotter und selbst heute kann man mit etwas Glück noch einem Spatzen oder einem Kaninchen begegnen. Natürlich hat sich Wellingstedt ganz schön verändert. Die in den 60er-Jahren in die Gärten gepflanzten Koniferen sind so groß geworden, dass die Grundstücke inzwischen aussehen wie die Toteninseln von Böcklin. Außerdem verwandelt sich der Ort langsam, aber unvermeidlich in ein Habitat der Reichen. Vor den letzten kleinen Häusern, in denen noch indigene Bevölkerung vor sich hin wurschtelt, schnüren Makler auf und ab. Und wenn eines dieser alten Häuser frei wird, reißt man es weg und setzt stattdessen einen Klotz von Toskana-Villa auf das

»Das Gebäude selber hat gar keinen Wert«, sagte der Makler, den mein Bruder damals beauftragt hatte, den Preis unseres Elternhauses für ihn vorteilhaft zu bestimmen. »Im Gegenteil, Sie müssen vom Grundstückswert minus Abrisskosten ausgehen – aber das sind immer noch schöne 500000 Euro cash – Euro-Nord natürlich.«

Die Grundstückspreise sind explodiert. Weswegen auch das Wollgeschäft und die Scheune, die an meinem Schulweg lagen, längst verschwunden sind. Der etwas schmuddelige Reiterhof ist jetzt ein Sport-Hotel und die Erdbeerfelder, auf denen ich vor Jahrzehnten kleine, sandige und sonnenwarme Früchte in einen Spankorb pflückte, wurden in einen 27-Loch-Golfplatz verwandelt. Im Nachbarort hat sich ein Koi-Züchter niedergelassen. Außerdem gibt es dort jetzt ein Sternerestaurant und zwei Läden für Wohndesign. Meine Vergangenheit löst sich auf wie ein Zuckerstück im Regen.

»Ist deine Frau mitgezogen?«, fragt Lanschicks Riesengesicht. »Ich meine, die muss doch in Berlin anwesend sein, da kann die doch nicht ständig hin- und herpendeln. Wie macht ihr das denn?«

Ich antworte nicht. Lasse ihn einfach schmoren, warte darauf, dass es ihm von selber einfällt.

»Gott«, sagt Lanschick, »Gott, wie dumm von mir!

»Ist schon okay«, sage ich, »ist ja über zwei Jahre her. Außerdem waren wir da schon getrennt. Die Scheidung war da schon lange durch.«

Lanschick murmelt noch mehrmals, was für ein Trottel er sei, und hört gar nicht auf, sich zu entschuldigen.

»Schon gut«, versuche ich die Sache zu verkürzen. »Erzähl mir lieber, wer alles beim Klassentreffen dabei sein wird. Haben schon viele zugesagt? Sind Bernie und Rolf dabei?«

»Ja, beide. Die kommen doch immer.«

»Und von den Frauen? Kommen Kiki Vollert und Elisabeth Westphal?«, frage ich möglichst nebenbei. Elisabeth Westphal ist die Frau, die ich niemals gehabt habe. Elisabeth Westphal ist der Grund, weswegen ich zu den Klassentreffen gehe. Ich habe meine halbe Jugend damit verbracht, mich nach ihr zu sehnen. Selbst heute fehlt sie mir immer noch. Auch wenn mir ihr Fehlen inzwischen so zur Gewohnheit geworden ist, dass ich es meistens gar nicht bemerke. Bis es mir bei einem melancholischen Lied oder dem Anblick einer Frau, die so ähnlich lacht oder sich so ähnlich bewegt wie Elli früher, plötzlich wieder einfällt.

»So weit bin ich noch nicht. Ich bin erst bei ›L‹. Birgit Lammert will aber kommen«, antwortet Lanschick.

»Schön«, sage ich, »prima.«

Ich gebe ihm meine Festnetznummer.

»Ist nicht dein Ernst«, sagt Lanschick, »wie soll man dich denn dann erreichen? Ich habe schon deine E-Mail-Adresse nicht gefunden. Zum Glück hatte Holger Hasselbladt deine Mobilnummer.«

»E-Mail-Adresse habe ich auch löschen lassen«, sage ich. »In drei, vier Monaten schmeiße ich den Computer raus und dann benutze ich keine Technik mehr, die nach 1980 erfunden worden ist. Wenn du mich erreichen willst, gibt es das Festnetz oder du kannst mir einen Brief schreiben. Oder du kommst vorbei. Alte Adresse: Redderstieg 12. Wie gehabt.«

»Das ist verrückt«, sagt Lanschick. »Das kannst du nicht machen!«

Er klingt empört, aber gleichzeitig klingt er auch beeindruckt.

»Aber sicher doch«, sage ich. »Und komm nicht auf die Idee, mir Briefe mit irgend so einer Billigfirma zu schicken, die ihren Angestellten 4 Westos die Stunde zahlt. Wenn du mir was schickst, dann mit der Post. Oder ich nehme es nicht entgegen.«

Lanschick will mir nicht glauben, er denkt, ich will ihn veralbern, und als er merkt, dass es mir ernst ist, meint er, es wäre wahrscheinlich nur so eine Phase von mir, weil mir gerade alles zu viel sei.

»Geht uns ja eigentlich allen so«, sagt er.

Aber es ist keine Phase, es ist Notwehr. Und wenn

Und nein, keiner der Nachbarn hat etwas gemerkt.

Ich bringe die Kinder zu ihrer Großmutter zurück. Zeit wird’s. Übers Wochenende haben sich die Abdrücke ihrer klebrigen kleinen Finger im ganzen Haus verteilt. Das 50er-Jahre-Schleiflack-Sideboard, in dessen Schubladen ich unvorsichtigerweise die Hologramm-Spiele aufbewahrt habe, ist so stumpf und fettig, dass es aus der Entfernung geradezu pelzig wirkt. Durchs Torfbeet pflügt sich ein Planwagentreck aus seltsamen Gummifiguren. Auf den Kutschböcken sitzen grüne, gelbe und rote Klumpen mit Knollennasen, Cowboyhüten und Pistolenhalfter um die nicht vorhandenen Hüften, die nach Aussage der Kinder irgendwelche Vitamine oder sonstigen Nährstoffe darstellen sollen – Sheriff Fatty, Vitamity-Jane, Mineral-Kid und so weiter.

Wir haben die Fahrräder genommen, weil das Wetter so schön ist. Was heißt schön – das immerwährende Höllenfeuer! Kein Tag unter 35 Grad, gestern

Mein Sohn Racke fährt in wilden Schlangenlinien auf seinem Bingo-Rad vor mir her. Er trägt ein rot kariertes Hemd und eine speckige kurze Lederhose mit einem weißen Herzen aus Hirschhorn auf dem Verbindungsstück der Hosenträger – so eine, wie auch ich sie in seinem Alter getragen habe – und seine gebräunten und etwas pummeligen Beinchen strampeln wie

»Kuck mal«, kreischt er, wobei sein kreideweißes, wenn auch rudimentäres, weil mitten im Zahnwechsel befindliches Gebiss aufblitzt, und macht einen so scharfen Schlenker, dass sich der gefederte Fahrradrahmen bis zum Anschlag zusammenschiebt und der rote Wimpel, der an der Spitze einer biegsamen Stange am Gepäckträger des Fahrrads angebracht ist, fast die Straße berührt.

»Sehr schön«, schreie ich zurück, »und jetzt schau gefälligst nach vorn!«

Warmer Fahrtwind streicht über meine Schläfen, die Wellensittiche zwitschern in den Bäumen und die Rapskäfer prasseln uns gegen die Sonnenbrillen. Ich komme mir vor wie einer dieser aussterbenden Groß-Wale, der mit seinem Jungtier durch ein gelbes Meer pflügt.

Meine Tochter fährt mit einigen Metern Abstand hinter uns. Binja-Bathseba schmollt. Eigentlich schmollt sie ständig. Sie ist sowieso nicht besonders hübsch, ihr Gesicht ist ziemlich rund und dann noch diese ständig beleidigte Flappe – an diesem Tag schmollt sie schon zum zweiten Mal. Das erste Mal hat sie aufgehört mit mir zu sprechen, als ich ihr und Racke die pROJEktas abgenommen und weggeschlossen habe, was bedeutete, dass die beiden einen ganzen Nachmittag ohne ihre 3-D-Freunde verbringen

Das mit dem Boot sagte es, während im Fernsehen eine Sondersendung über die Flutwelle lief, die in Tirol den Reisebus von der Staumauer gespült und zwei talwärts gelegene Dörfer plattgemacht hat, nachdem mehrere Millionen Kubikmeter Geröll und Eis von einem angetauten Gletscher abgebrochen und in den Stausee gerutscht sind. Als ich ihnen die pROJEktas wegnahm, warf Racke sich auf den Boden und brüllte, bis sein Gesicht blau anlief. Binja saß mit verschränkten Armen und untergeschlagenen Beinen auf einem Sessel, aber verkehrt herum, mit dem tränenverschmierten Gesicht zur Lehne, zischte »Faschist« und kniff dann die Lippen zusammen. Das hat mich an Kindern schon immer gestört – diese geringe Frustrationsschwelle und diese Unfähigkeit, Schmerz und Wut dem Anlass gemäß zu dosieren. Bei jeder Kleinigkeit fahren sie gleich das volle Programm ab. Wie laut wollen sie denn bitte heulen, wenn sie mal wirklich einen Grund dazu haben? Wie wollen sie sich noch steigern, wenn die tauenden Permafrostböden der arktischen Tundren und Meere demnächst ihre Milliarden Tonnen Methan an die Atmosphäre abgegeben haben und es auf diesem verdammten Planeten keinen Platz mehr geben wird, wo es nicht entweder brennt oder alles überflutet ist oder gerade eine Dürre herrscht oder so sehr stürmt, dass man sich an den nächsten

Jetzt schmollt Binja, weil Racke und ich keine Fahrradhelme aufgesetzt haben, obwohl sie uns selbstzufrieden und rechthaberisch einen viertelstündigen Vortrag über die Gefahren im Straßenverkehr heruntergebetet hat, der wahrscheinlich eine Woche zuvor an ihrer Schule gehalten wurde. »Es ist gesetzlich vorgeschrieben«, holte sie ihren vorletzten Trumpf aus dem Ärmel, und als Racke und ich bloß Faxen machten, packte sie die ganz große Keule aus: »Mama will auch, dass wir die Helme aufsetzen!«

Das ist richtig. Meine Frau hatte mir sogar einmal angedroht, dass ich die Kinder nicht mehr zu sehen bekäme, wenn ich ihre Erziehung weiterhin systematisch unterwandern würde.

»Mach doch«, habe ich zu meiner Tochter gesagt, »niemand hindert dich daran, die Scheiß-Plastikschale aufzusetzen. Aber geh deinem Bruder und mir damit nicht auf die Nerven. Und übrigens, falls es dir noch nicht aufgefallen ist: Deine Mutter ist nicht mehr da. Und solange sie weg ist, gilt, was ich sage!«

Das war vielleicht etwas hart, schließlich ist sie erst zehn, aber der Fahrradhelmzwang ist nun mal das verachtenswerteste Gesetz, das in den letzten Jahren verabschiedet worden ist, darin manifestiert sich für mich alles Lächerliche und Gluckenhafte unserer heutigen Regierung, dieses kleinkarierte Sicherheitsdenken, als wäre auf einem derart kaputten Planeten so etwas wie Sicherheit überhaupt noch möglich. He,

Ich weiß, ich weiß, Fahrradhelme hat es auch schon gegeben, bevor die Frauen – mit der Unterstützung nützlicher Idioten wie mir – alle Macht an sich gerissen haben, aber Pflicht waren sie damals noch nicht. Oder jedenfalls nicht für Erwachsene. Ich meine: Schaut sie euch doch an, alle diese feschen jungen und echt-jungen Ministerinnen, mindestens fünf Piercings in jedem Ohr und drei in der Nase, und die Unterarme bis über die Ellbogen tätowiert, als müssten sie vor lauter Unangepasstheit zwischen Dienstschluss und Feierabend immer noch schnell ein paar Handelsschiffe kapern. Und was tun sie in Wirklichkeit? – verderben uns das letzte bisschen Spaß, missgönnen uns das Gefühl von Wind und Sonne im Haar, verlangen von erwachsenen Menschen per Straßenverkehrsordnung, sich zu entwürdigen und ein grellbuntes Stück Plastik aufzusetzen.

Ich will ja gar nicht behaupten, dass unsere Eltern alles richtig gemacht haben, aber wenigstens waren sie nicht tätowiert wie die Piraten und besaßen trotzdem hundertmal mehr Lässigkeit im Umgang mit ihren Kindern und dem Straßenverkehr. Mein Vater zum Beispiel hat meine Geschwister und mich zum

Plötzlich höre ich hinter mir einen erstickten Schrei. Als ich mich umdrehe, liegt Binjas Fahrrad im Gras und sie selber wälzt sich in einer summenden schwarzen Wolke auf dem Boden. Rapskäfer! Unglücklicherweise trägt meine Tochter außer ihrem gelben Helm auch noch eine weiße Bluse, was ihr die ungeteilte Aufmerksamkeit der kleinen schwarzen Biester gesichert hat. Ich springe vom Rad, reiße mir mein Oberhemd herunter, schaufele damit den größten Teil der Käfer aus Binjas Gesicht und drücke ihr den Stoff straff vor die Lippen, damit sie atmen kann, ohne den Mund voller Käfer zu haben. Aber Binja begreift nicht, was ich beabsichtige, sie reißt das Hemd weg, schlägt um sich und schreit und heult inmitten des Insekteninfernos. Ich muss ihr mit einer Hand die Arme festhalten, damit ich ihr mit der anderen den

 

»Wie sieht das Kind denn aus«, ruft Oma Gerda auch gleich hysterisch, als wir ankommen, obwohl Binjas Gesicht inzwischen wieder abgeschwollen und nicht halb so rot ist wie mein nackter Rücken, auf dem ein Sonnenbrand zweiten Grades Blasen schlägt. Mein blaues Hemd hat Binja an. Sie trägt es als Kleid über ihren Jeans, mit einem Spanngurt von meinem Gepäckträger als Gürtel. Und offensichtlich geht es ihr nicht so schlecht, dass sie nicht sofort ins Wohnzimmer zum Compunikator gehen und ihre Mails abfragen könnte. Racke wühlt in seinem Rucksack nach dem pROJEkta und lässt den »Destroyer« im Hausflur

»Weiß!«, sage ich. »Denkst du eigentlich überhaupt nicht nach? Genauso gut hättest du meine Tochter mit Honig einschmieren und in einen Ameisenhaufen schubsen können. Die Rapskäfer haben sie beinahe aufgefressen.«

»Du hast nicht gesagt, dass ihr mit den Fahrrädern kommen wollt«, setzt Gerda zänkisch an, aber dann verkneift sie sich den Rest. Wir haben lange und heftig um die Kinder gestritten, nachdem sich abzeichnete, dass Christine wohl nicht so schnell wieder auftauchen würde, und natürlich wurden sie mir zugesprochen. Es gab überhaupt keinen Grund, warum sie nicht bei mir hätten leben sollen. Wenn sie jetzt die meiste Zeit bei ihrer Großmutter wohnen, dann hängt das ausschließlich von meinem Wohlwollen ab. Ich kann sie jederzeit zu mir zurückholen. Und seitdem das geklärt ist, ist mit Gerda sehr viel besser auszukommen.

Das alte Mädchen ist kaum älter als ich, sieht aber wesentlicher älter aus. Ich frage mich, warum sie inzwischen auf Großmutter macht und sich mit dem Erscheinungsbild und der Fitness einer gut konservierten Fünfzigjährigen zufriedengibt. Wie fünfzig sehen heute doch höchstens noch die Neunzigjährigen aus. Dabei war Gerda mal eine der Ersten, die das damals wirklich noch scheißgefährliche Verjüngungsprogramm durchlaufen haben – als die Wahrscheinlichkeit, innerhalb der nächsten fünf Jahre an Krebs zu erkranken, noch bei über 80 Prozent lag. Davon hat

»Ich will dein Freund sein«, schnarrt der Destroyer, klappt sein Krokodilmaul auf und zu, watschelt den Flur entlang und bleibt neben Gerda stehen.

»Oma, du musst antworten!«, ruft Racke.

»Schön. Vielen Dank. Ich will auch dein Freund sein. Wir werden bestimmt gute Freunde«, sagt Oma Gerda. Der Destroyer grunzt zufrieden.

»Lass uns Rabatz machen«, ruft Racke und der Destroyer mustert einen Moment lang unentschieden Oma Gerda und mich, aber dann fällt ihm erfreulicherweise doch noch ein, dass er das entschärfte Programm für Sieben- bis Zehnjährige geladen hat, und er wendet sich ab und schmettert seinen Hammer klirrend in den Flurspiegel.

»Ich muss mal mit dir reden«, sagt Gerda zu mir. Ich sehe, wie viel Mühe es sie kostet, freundlich zu bleiben.

»Oh bitte«, sage ich, »fang nicht schon wieder mit den Punkten an.«

»Aber ich komme einfach nicht aus«, ruft Gerda, »rechne doch mal nach. Binja muss ich zweimal die

»Ich habe dir oft genug erklärt, dass Kinder überhaupt keine Milchprodukte brauchen!«

Das habe ich allerdings, und wenn sie ihre CO2-Punkte für auf tierquälerische Weise hergestellte Joghurts verschleudern will, dann ist das ihr Privatvergnügen. Geht mich nichts an.

Jetzt kann sie sich nicht mehr beherrschen.

»Aber es sind doch die Punkte der Kinder. Und die Kinder wohnen ja nun mal bei mir. Es ist nicht gerecht, dass du das Kontingent der Kinder für dich behältst. Wie soll ich denn mit einem einzigen Kontingent drei Personen satt kriegen?«

»Was willst du damit sagen? Dass ich den Kindern ihr Fleisch wegfresse und ihr Benzin verfahre? Die kriegen schon ihren Anteil, wenn sie bei mir sind. Frag sie, was heute auf dem Tisch stand. Frag sie ruhig. Ich kann es dir sagen: Rindergulasch, das Kilo für 70 Euro und fünf Punkte – dafür hätte ich auch eine Tankfüllung bekommen können.«

»Aber die Kinder waren in diesem Monat nur zweimal bei dir. Und ich hatte sie die ganze übrige Zeit. Es ist einfach nicht gerecht …«

Gerda sackt in sich zusammen. »Bitte«, sagt sie, »bitte, wir sind so furchtbar knapp … Racke muss immer bei den Eltern seiner Mitspieler fragen, ob er bei ihnen mitfahren darf, die fangen auch schon an zu murren, dass ich nie …«

Ich habe von Anfang an vorgehabt, ihr ein Kontingent zu geben. Ich bin ja kein Unmensch. Aber ich warte damit immer so lange, bis sie von ihrem hohen Ross heruntergestiegen ist. Ich bin lange genug von Frauen und ihren blöden Argumenten manipuliert worden. Ich habe ein Recht darauf, die letzten paar Jahre vor dem Weltuntergang in Frieden zu verbringen. Gerda bekommt Binjas CO2-Kontingent, von dem ich noch kaum etwas abgezweigt habe. Ich buche es ihr mit dem Ego-Smart auf ihr Konto rüber. Sie darf dabei zuschauen.

»Danke«, sagt Gerda und ist wieder völlig handzahm. »Danke, das hilft uns sehr weiter. Vielen, vielen Dank.«

Na also. Geht doch.

Wieder zu Hause gehe ich als Erstes in den Keller, um Christine Gesellschaft zu leisten, mich ein wenig mit ihr zu unterhalten und ihr die Zeit zu vertreiben. Mir ist bewusst, dass es nicht besonders angenehm sein kann, 48 Stunden lang allein in einem geschlossenen Raum ohne Fenster zu verbringen, und sie lässt ja auch keine Gelegenheit aus, es mir unter die Nase zu reiben. Also räume ich die Konservendosen aus dem Kellerregal, die Erbsen und Wurzeln und die Tortenpfirsiche, schiebe das Regal zur Seite, drehe mit meinem 70er-Jahre Black-&-Decker die Schrauben aus der Sperrholzplatte, löse sie von der Wand und drücke die Zahlenkombination, um die Stahltür zu öffnen. Voilà, schon bin ich in meinem kleinen, geheimen Reich des Trostes, meiner Schutzzone. Acht mal vier Meter plus eine durch einen Vorhang abgetrennte Nasszelle – die klassische Prepper-Raum-Größe. Genug Platz für ein altmodisches

»Hallo Christine.«

Und sie senkt den Kopf und sagt, ohne mich anzusehen, »mein Gebieter«, wie ich es ihr beigebracht habe, und es ist keine unterdrückte Wut dabei in ihrer Stimme und allerhöchstens ein Hauch von Ironie.

Ich habe diese Anrede etwa vier Wochen, nachdem ich sie hier heruntergebracht hatte, eingeführt. Ich weiß noch, dass ich mir dabei damals selber etwas albern vorkam. Aber jedes Mal, wenn sie mich mit meinem Namen ansprach, wenn sie Sebastian zu mir sagte, war das mit zig Erinnerungen an Situationen verknüpft, in denen sie früher Sebastian zu mir gesagt hatte. »Sebastian, das ist doch wohl nicht dein Ernst?« Oder als sie sich von mir trennte – sie hat mich verlassen! – und wie selbstverständlich die Wohnung für sich beanspruchte: »Sebastian, du willst doch nicht wirklich den Kindern die Wohnung wegnehmen? Willst du, dass Binja die Schule wechseln muss? Weißt du nicht mehr, wie lange Racke gebraucht hat, um sich an den Kindergarten zu

Letztlich war es nur konsequent, dass sie sich die Wohnung unter den Nagel riss. Schließlich hatte sie ja auch all die vorangegangenen Jahre ganz allein bestimmt, wie unsere Wohnung eingerichtet und gestrichen wurde – mit ihrem fliederfarbenen Weibergeschmack hatte sie das bestimmt, der keine freie Fläche ertragen konnte, ohne eine dämliche Holzschale daraufzustellen und sie mit polierten Halbedelsteinen oder den vertrockneten Schlauben irgendwelcher afrikanischen Pflanzen zu füllen. Und als ich einwilligte, was sagte sie da? Dankte sie mir? Ach woher denn. Sie meinte, dass ich bei meinem Gehalt sowieso Schwierigkeiten gehabt hätte, die Miete allein zu stemmen. Erst im Nachhinein ist mir klar geworden, wie sehr diese Frau mich demoralisiert hat. Schon die Art, wie sie Sebastian sagt, und ich falle sofort in tiefe Resignation und drohe wieder zu dem Mann zu werden, den sie von früher kennt und den zu manipulieren eine ihrer leichtesten Übungen war.

Als ich ihr damals vorschlug, sie solle mich von nun an »mein Gebieter« nennen, biss Christine sich auf die Unterlippe und sah an mir vorbei.

»Was hast du denn?«, sagte ich. »Es ist doch nicht mehr als eine Formalie. Du hast ja auch ›Herr Meier‹ zu Herrn Meier gesagt, ohne dass du ihn als deinen Herrn angesehen hast. Dann kann es doch wohl nicht so schwer für dich sein, zu deinem richtigen Gebieter ›Mein Gebieter‹ zu sagen. Im Grunde benennst da

»Klingt ein bisschen nach 1001 Nacht, findest du nicht?«, sagte Christine.

Oh, dafür liebe ich sie, dass sie solche Dinge sagt, selbst wenn sie eine Kette um den Hals hat. Sie ist ein tapferer kleiner Terrier. Die Kette lässt sich ja nun mal nicht vermeiden, aber ansonsten versuche ich, ihr den Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu machen.

Christine bindet ihre Schürze ab, und wir setzen uns nebeneinander auf das gelbe Sofa, ich lege meinen Arm hinter sie auf die Lehne. Vor uns auf dem Beistelltisch steht die Keksschale mit den warmen Spitzbuben und die Walnusshälften darauf sehen aus wie Mäusegehirne. Daneben steht ein gelb gestreifter Krug mit Limonade – Limburger Dom-Keramik. Meine Mutter benutzte früher den gleichen Krug, bloß mit rosa Streifen, aber ich habe nur noch einen gelben gefunden. Erst hatte ich ihn oben in meiner Küche, aber irgendwann hat mich die falsche Farbe so gestört, dass ich ihn zu Christine ausgelagert habe. Und hier passt er ja auch ganz hervorragend zur Sitzecke.

Wir plaudern, und ich erzähle Christine, was für ein Wetter draußen ist – dasselbe wie seit Wochen, sie soll bloß froh sein, hier schön kühl unter der Erde zu hocken – und dass Racke eine »Sonne mit Wolke« in »Tanzen und Turnen« bekommen hat und Binja ein »Beachtlich« in »Chinesisch« und von dem Gletscher erzähle ich, der in den Stausee gerutscht ist. Wir fragen uns beide, warum das keiner vorhergesehen und die nötigen Evakuierungsmaßnahmen in den beiden

Es ist fast wie damals, als wir gerade erst im Demokratiekomitee aufeinandergestoßen waren und begannen, uns ineinander zu verlieben, während wir mit den anderen ganze Nächte durch Pläne schmiedeten, wie dieser Staat umstrukturiert werden könnte, ohne die Grundsätze der Demokratie dabei aufzugeben. Ich nehme mir einen Spitzbuben aus der Keksschale, knabbere die Walnuss herunter und lege den Keks wieder zurück. Und während Christine sich ereifert, dass die Möglichkeit, das Klima durch die Produktion künstlicher Wolken herunterzukühlen, immer noch eher halbherzig umgesetzt wird – »… dem müsste allererste Priorität eingeräumt werden, haben die das denn noch nicht begriffen?« –, lasse ich meinen Arm auf ihre Schulter gleiten, greife mir eine Strähne ihres Haares und drehe sie zwischen den Fingern.

»Ich finde dich immer noch schön«, sage ich und das ist die reine Wahrheit. Ich gebe ihr ein Drittel meiner täglichen Ephebo-Dosis. Ich kann sie hier unten ja schließlich nicht verschimmeln lassen. Sie ist 48, sieht mithilfe der Ephs aber wie Mitte dreißig aus, während ich mit der doppelten Dosis als Ende dreißig durchgehe. Kein Mensch würde jetzt noch vermuten, dass ich eigentlich zwanzig Jahre älter bin.

Es ist schon eine merkwürdige Vorstellung, dass Christine ohne die Medikamente so alt wie ihre

»Wann lässt du endlich deine Brusthaare wieder wachsen«, sagt Christine. »Kein Mensch trägt heute noch rasiert.«

»Na, du musst es ja wissen«, sage ich.

Wir legen uns ins Bett und ich ziehe ihren Körper eng an mich. Sie küsst meinen Hals und streicht über meine Brust.

»Schon seit zehn Jahren trägt niemand mehr rasiert. Ich würde gern wissen, wie das bei dir aussieht.«

»Blöd«, sage ich, »das würde völlig blöd aussehen. Da und dort eine Insel und um jede Brustwarze einen Kranz von Borsten. Das willst du gar nicht sehen.«

Wir schlafen miteinander, haben den liebevollen, routinierten und geschmeidigen Sex eines alten Ehepaars mit jungen Körpern. Hinterher liegt Christine in meinem Arm und zupft und krault in meiner nicht vorhandenen Brustbehaarung herum. Ich werde ganz sentimental dabei.

Aber Christine kann es nicht gut sein lassen, sie muss mal wieder die Stimmung versauen. Ruckartig setzt sie sich auf und schiebt meinen Arm von ihrer Hüfte, als wäre er ein zudringliches Haustier.

»Sieh mich an«, sagt sie. »Es ist nicht wie früher! Nichts ist wie früher! Ich bin mit einer Kette angebunden. Das ist nicht normal. Dir muss doch klar sein, dass es krank ist, was du hier tust?«

Geht das also wieder los. Christine schafft es nie länger als ein paar Tage, sich zusammenzureißen. Wir haben dieses Gespräch schon hundertmal geführt und wir werden immer besser dabei. Das heißt: Ich werde besser, von Mal zu Mal geschliffener in der Argumentation. Christine sagt eigentlich immer bloß das Gleiche: dass es krank sei, dass ich krank sei.

»In sehr vielen Ländern sperren Männer ihre Frauen ein«, erwidere ich geduldig, »und es ist gesellschaftlich vollkommen akzeptiert, ja, es wird geradezu erwartet. Warum soll ich meine ureigenen männlichen Bedürfnisse verleugnen, bloß weil ich das Pech habe, ausgerechnet in diesem winzigen Zeitfenster geboren zu sein, in dem man den Frauen hier allen Ernstes die Regierung überlasst? Nur ein paar Jahre früher und die Sache hätte völlig anders ausgesehen. In den meisten Ländern sieht es ja auch heute noch anders aus. Oder wieder. Männer herrschen seit Jahrtausenden über Frauen. Und sie würden es auch die nächsten tausend Jahre tun, wenn die Menschheit noch so lange Bestand hätte. Das, was gerade in Europa und Nordamerika passiert, diese Verweiblichung

Sie lässt mich ausreden, wie ich ihr das beigebracht habe, eine Sache, die früher undenkbar war. Ständig hat sie dazwischengeplappert, nichts blieb unwidersprochen. Aber nun kann ich mich ausbreiten, wie ich will, und sie lässt mir alle Zeit der Welt, wartet notfalls minutenlang, bis ich fertig bin, bevor sie antwortet.

»In keinem Land der Welt werden Frauen an die Kette gelegt«, sagt Christine. »Selbst in Saudi-Arabien laufen sie frei auf der Straße herum.«

»Ja, aber bloß, weil es keinen Ort gibt, wohin sie fliehen könnten. Sie haben gar keine andere Möglichkeit, als wieder nach Hause zu kommen. Wenn ich mich darauf verlassen könnte, dass du wieder zu mir zurückkommst, würde ich dich auch einkaufen gehen lassen. Aber solange das noch nicht geht, freu dich doch, dass ich dir diese Arbeit abnehme.«

Darauf sie: »Niemand darf seine Frau an einer Kette halten, das gibt es in keiner Kultur, das ist überall ein Verbrechen. Das ist krank!«

»Das bezweifle ich«, sage ich sehr ruhig, »aber