Für die auf der Räuberleiter
kann ich ohne mich zu beugen in ihm leben
oder wachs’ ich lebenslang in ihn hinein
L’état et moi (Mein Vorgehen in 4, 5 Sätzen), Blumfeld
Vom Norden aus liegt der Rest der Republik ganz schön abseits. Die Wege sind weit und die Zugfahrten lang. Häufig genug verpasst man den Anschluss und will nach drei Tagen Wahlkampfreise nur noch nach Hause, um wenigstens zum Tischabräumen und Abwasch noch da zu sein, wenn man schon das gemeinsame Essen mit der Familie verpasst hat. Stattdessen steht man auf zugigen Bahnsteigen in Dortmund oder trollt sich in Bahnhofsbuchhandlungen in Hannover. Wahlkampf bedeutet, unterwegs zu sein. Und je mehr ich unterwegs war, desto größer wurde das Verlangen nach einem Halt, nach einem Fixpunkt.
Im Winter 2015/16 bekam ich viele Einladungen von Kreisverbänden und Landesverbänden, um Neujahrs- oder Aschermittwochsreden zu halten, auf Klausurtagungen zu diskutieren oder im Wahlkampf zu helfen. Ich tat das so oft und so gut es meine Zeit zuließ. Oft stellte ich mir den Wecker auf vier Uhr, um den Zug um fünf zu nehmen und dann gute zehn Stunden später in Landau oder Friedrichshafen zu sein. Abends lief ich durch fremde Städte, um dann in kalte Hotelbetten zu kriechen. Aber die vielen Stunden in der Bahn, das Warten in Wartehallen, die Zeit zwischen den Terminen, manchmal auch nur die merkwürdigen Momente auf zugigen Bahnsteigen, wenn ich nach einem Tag unter vielen Menschen und lauter Gesprächen plötzlich allein war, waren für mich besondere. Sie waren auf eigentümliche Art eindringlich. Sie warfen mich – um ein wenig existenziell zu werden – auf mich selbst zurück.
Dieses Alleinsein – nur mit einem Rucksack als Begleiter, in dem alles Notwendige war – kannte ich nicht mehr. Ich war in den letzten Jahren entweder mit meiner Familie gereist, hatte aufpassen müssen, dass keines meiner Kinder abhandenkam, musste Essen oder Trinken besorgen, oder ich war als Minister im Korsett der Termine unterwegs, begleitet von Mitarbeitern und Referenten. Dass sich niemand um mich kümmerte und ich mich um niemanden kümmern musste, das war eine neue alte Erfahrung. Und in einer Zeit, in der mich alle möglichen Ratschläge, Kommentare, jede Form von Kritik und manchmal auch Lob erreichten, war dieses Alleinsein plötzlich bedeutsam. Ich hatte Zeit. Ich konnte nachdenken. Mein Halt, mein Fixpunkt, war mein Notebook. Ich schrieb auf den langen Fahrten und Abenden dieses Buch.
Schreiben war mein Beruf, bevor Politik es wurde. Aber was macht Politik eigentlich zu einem Beruf? Nirgendwo kann man ihn erlernen – außer in der Politik selbst. Ab wann ist man dann Berufspolitiker? Und verändert »Politik als Beruf« eine Person so sehr, dass man ein anderer wird als der, der man sein wollte, als man in eine Partei eintrat?
Manchmal ist es gut, sich daran zu erinnern, warum man eigentlich Politiker geworden ist. Manchmal eicht der Blick zurück den Kompass. Auf zugigen Bahngleisen, in überheizten IC-Abteilen beschleichen einen manchmal ja sehr grundsätzliche Fragen. Und sicher ist, dass im normalen Alltag des Berufspolitikers für ihre Beantwortung kaum Zeit ist, ja, noch nicht einmal für das Nachdenken darüber.
Meine Form des Nachdenkens ist Schreiben. Das war es immer. Es ist Reflexion und Selbstvergewisserung. Und zu der Entschleunigung meines Lebens durch die vielen langen Zugfahrten passte gut die Verlangsamung beim Tippen. Während sonst in meinem Alltag lauter Dinge gleichzeitig passieren, ich in Sitzungen bin, parallel auf meinem Handy E-Mails beantworte und mich auf die Rede am Abend vorbereite, gibt das Schreiben Ruhe. Es hat etwas Grundsätzliches und zugleich Persönliches.
Politik ist eine Beziehung zur Welt. Sie macht aus einer Reihe von subjektiven Erfahrungen objektive Tatsachen. Sie verallgemeinert. Das ist ihr Spannungsbogen und ihr Sinn. Was man sich allein denkt oder vornimmt, wird in einer Demokratie durch die Gruppe Wirklichkeit. Man braucht andere, im besten Fall Mehrheiten. Beim Schreiben ist man wieder allein. So ist ein privates Buch über das Leben in öffentlichen Ämtern entstanden. Es ist entlang meines Lebens in der Politik erzählt. Entlang der Erfahrungen, die ich auf meinem Weg in der Politik gemacht habe, spürt es der Frage nach, wie viel von den Idealen, Wünschen und Vorstellungen, die mich angetrieben haben, erhalten geblieben sind. Wie sich diese Ideale und Wünsche verändert haben, wie sie mich verändert haben, aber auch wie sie Politik und Wirklichkeit verändern können.
Im ersten Kapitel suche ich nach Erfahrungen und Motiven aus Schul- und Studienjahren, die später politische Bedeutung bekommen haben.
Das zweite Kapitel erzählt, wie ich Politiker geworden bin, wie Politik mein Leben mehr und mehr beeinflusst, bereichert und strapaziert hat. Es lotet aus, wie weit man sich als Person in politische Prozesse einbringen und behaupten kann, aber auch welche Grenzen zum Privaten berührt werden und wie ich versuchte, sie zu verteidigen.
Das dritte Kapitel schildert den ständigen Konflikt zwischen Enttäuschungen und Erwartungen, zwischen Vision und Wirklichkeit im Amt als Minister – und bejaht ihn.
Im vierten Kapitel schließlich hole ich mir die Freiheit des Anfangs zurück und steche noch mal in See.
In See stechen?
Ich bin am Meer aufgewachsen, im Amt bekam ich die Verantwortung für den Meeresschutz, den Nationalpark Wattenmeer, den Küstenschutz. Konflikte zwischen Naturschutz und Fischerei, Schweinswalschutz und Stellnetzen, Muschelfischern und Nullnutzungen prägten meine letzten Jahre. Das Meer ist zunehmend eine Metapher für meinen Blick auf Politik geworden.
Der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry schreibt in seinem so melancholischen wie visionären Buch »Die Stadt in der Wüste«: »Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.« Die Sehnsucht nach dem Meer als Hoffnung auf weite Horizonte.
Ich erlebe als Minister täglich, wie sich Realitätssinn und Idealismus gegenseitig beflügeln. Beflügeln, nicht widersprechen. Das ist eine erstaunliche und überraschende Erfahrung. Ich habe gedacht und befürchtet, dass ich in der Politik und erst recht als Minister unter all den Kompromissen, Paragrafen und Zwängen meine Leidenschaft verliere, dass sich meine Vorsätze abschleifen. Das Gegenteil ist eingetreten. Im Amt ist mein Idealismus gewachsen. Politischer Fortschritt gelang. Und das lag stets daran, dass Menschen nicht nur Konsumenten sein und ein Leben in ökonomischer Austauschbarkeit fristen wollen. Wir wollen als Bürgerinnen und Bürger und als politische Individuen über den Alltag hinausdenken. Es gibt eine Sehnsucht nach einer Politik, die Visionen und Ideen nicht für ein Schimpfwort hält, eine Politik, die Menschen bewegt und mitnimmt, die Demokratie erlebbar macht. Nach einer Regierung, die transparent und selbstkritisch arbeitet und die jeder als Teil der Gesellschaft ansieht. Nicht als »die da oben«. Davon handelt dieses Buch – von der Notwendigkeit zum Mut, Antworten zu geben, und von der Toleranz, Antworten, die einem nicht passen, als Meinungen der anderen in jeweils ihrem Recht stehen zu lassen. Und gerade deshalb aber umso leidenschaftlicher für seine Sache zu streiten. Kein Eiferertum, aber Mut und Leidenschaft sind Tugenden – und sie werden jetzt gebraucht: Auszubrechen aus dem taktischen Korsett, offen und mit Risiko die politische Auseinandersetzung suchen und nicht aus Angst vor Niederlagen gar nichts mehr riskieren – das ist das, was jetzt ansteht. Wer wagt, muss jetzt beginnen.
Vielleicht habe ich nur angefangen, mich für Politik zu interessieren, weil ich verliebt war. Im Mai 1986 führten wir im Schultheater Shakespeares »Ein Sommernachtstraum« auf. Das Stück passte zu meinem Leben. Das Herumirren der Liebenden durch den Wald, das Sich-Finden und Sich-Verlieren – das war die Metapher meines damaligen Lebens. Ich war sechzehn und das Leben verführerisch und verlockend.
An einem Abend nach der Aufführung begann es leicht zu nieseln. Panisch rissen die Zuschauer auf dem Weg nach Hause die Regenschirme heraus, schützten sich mit allem, was sie hatten, vor dem Niederschlag. Was sonst ein herrlich warmer Frühlingsregen gewesen wäre, vielleicht die Kulisse für Küsse mit nassen Haaren, war jetzt plötzlich eine tödliche Bedrohung.
Eine Woche zuvor war der Reaktor von Tschernobyl in der Ukraine explodiert. Das hatte Folgen, auch für Deutschland. Ich erinnere mich gut an die verwaisten Spielplätze, an Verbote, Pilze und Fleisch zu essen, an die Fernsehbilder, an den anfänglichen Gleichmut vieler Menschen und ihre spätere Panik und die Hamsterkäufe. Der Zweite Weltkrieg war ja erst seit einer Generation vorbei. Viele Menschen kannten noch die Bedrohung ihres Lebens aus heiterem Himmel, das Kriegsende liegt genauso nah an meiner Geburt wie die deutsche Einheit an meiner Gegenwart.
Für mich war der GAU ein jäher Einbruch ins Glück des Erwachsenwerdens. Mitten in meinen Lebenshunger, in das Glück des Verliebtseins, brach ein endzeitliches Szenario.
Ich glaube, ich hatte damals gar nichts groß gegen Atomkraft. Ich wusste wenig von Gorleben und war zu jung oder vielleicht auch zu sehr damit beschäftigt, mein Leben auf die Reihe zu bekommen, um die Proteste um das AKW Brokdorf mitbekommen zu haben. Aber dass mein Leben plötzlich konkret bedroht war, dass wir vielleicht alle verstrahlt werden würden, mindestens aber nicht mehr mit Sommernachtsträumen im Regen spazieren gehen durften, dass mir vielleicht die Möglichkeit geraubt würde, glücklich zu werden, mein Leben zu leben, vielleicht die Liebe meines Lebens zu finden und Kinder zu bekommen, machte mich in diesen Tagen zum Atomkraftgegner. Die Grünen und die Anti-AKW-Bewegung, schön und gut. Es ging um mein Leben und dass mir da niemand reinpfuschen sollte. Es war die Verteidigung meines kleinen Glücks, wegen der ich mich für die große Politik zu interessieren begann. Eine Politik und ein Staat, der meine Freiheit und mein Leben durch seine Entscheidungen zur Atomkraft bedrohte, brauchte Widerstand. So sah meine Welt mit 16 aus.
Aber noch heute geht es für mich in der Politik im Wesentlichen darum, dass Menschen um die Möglichkeiten zur freien Entfaltung ringen, um die Souveränität über ihre Entscheidungen. Vieles ist mit der politischen Erfahrung komplexer und komplizierter geworden, immer gibt es eine Widerrede, ein Aber und ein Abwägen. Wenig steht für sich allein und ist unbestritten. Freiheiten müssen geschützt und organisiert werden, sind voraussetzungsreich, schließen Bildung, Arbeit, auch freie Zeit und eine halbwegs intakte Natur mit ein. Das ganze politische Panoptikum ist eigentlich ein Wirrwarr aus Widersprüchen und Abhängigkeiten.
Mein Bedürfnis, mich politisch zu engagieren, entstammte also dem Impuls, gegen etwas zu sein, als ich merkte, dass falsche Politik das eigene Leben beeinflussen kann. So ist es ja bei vielen Menschen. Man ist gegen Krieg, gegen Nazis, gegen Windräder, gegen Fracking oder Kohlekraftwerke, und sucht sich Verbündete. Wird daraus eine Mehrheitsbewegung, wird aus dem Protest eine Partei, die die Dinge wirklich ändern will und nicht nur kritisieren, kommt irgendwann der Moment, in dem man sich entscheiden muss, ob man tatsächlich politische Verantwortung will. Übernimmt man dann Verantwortung, wird aus dem Protest schnell eine Realität, die Positives wollen muss. Denn etwas abzulehnen bedeutet, etwas anderes zu bejahen. Wer gegen Atomkraft ist, hat die Wahl zwischen Windkraftanlagen oder Wohlstandsverzicht. Was allerdings nicht geht, ist gleichzeitig weniger und mehr zu wollen. Wahrhaft politisch zu sein bedeutet, Entscheidungen zu treffen. Und jede Entscheidung hat Folgen und Konsequenzen, die wieder neue Schwierigkeiten und Fragen aufwerfen. Die erneuerbaren Energien verändern die Landschaft, und Menschen fühlen sich durch sie bedrängt. Flüchtlinge aufzunehmen hat verstärkte Integrationsanstrengungen zur Folge. Sich europapolitisch zu engagieren erfordert, mit solchen Leuten wie dem ungarischen Premier zu verhandeln.
Aber obwohl aus Protest schnell etwas Kompliziertes wird, obwohl ich jetzt als Minister die Verantwortung habe, dass Atomkraftwerke tatsächlich rückgebaut und entsorgt werden, geht es mir unter dem Strich immer noch um das Motiv des Anfangs: Selbstbestimmung. Verantwortung für das eigene Leben übernehmen zu können. Und eine Politik, die das unmöglich macht, ist keine gute Politik. So ist die Energiewende eben neben allen ökologischen Notwendigkeiten zuvorderst die Rückkehr des Prinzips Verantwortung in die deutsche Energiepolitik. Selbst zu bestimmen heißt, verantwortlich sein zu wollen. Das Prinzip Verantwortung gilt nicht für die Produktion von Atomstrom und die Verbrennung fossiler Energien.
Ich bin auch Mitglied der deutschen Endlagersuchkommission. Ihre Aufgabe ist es, die Bedingungen für die sichere Endlagerung des Atommülls für eine Million Jahre zu finden. Erst dann strahlt der Müll nicht mehr. Eine Million Jahre! Wann wurde noch mal Jesus geboren? Eine Million Jahre, das ist eine so absurd lange Zeit, dass vernünftigerweise niemand für diesen Zeitraum überhaupt irgendetwas verantworten kann. Erderwärmungen und Eiszeiten werden kommen und gehen und vermutlich werden die Wesen nach uns, die wahrscheinlich keine Homo sapiens mehr sein werden, weder Deutsch noch Englisch sprechen. Wir wissen ja noch nicht einmal, wie wir sie warnen sollen, dass der Atommüll gefährlich ist. Unsere Schriftzeichen werden sie jedenfalls aller Voraussicht nach nicht mehr entziffern können.
Auch die Verbrennung von Kohle, Öl oder Gas ist nicht verantwortlich im vollen Sinn des Wortes. Denn wir sind für die Spätfolgen unseres jetzigen Tuns nicht mehr selbst verantwortlich zu machen. Kinder und Kindeskinder werden auszubaden haben, was wir anrichten. Sie werden von Dürren, Naturkatastrophen, Überschwemmungen, Flucht und Krieg bedroht und heimgesucht werden. Die Anlagen zur Erzeugung erneuerbarer Energien dagegen sind leicht zu beseitigen. Wenn uns die Windkraft- und Solaranlagen irgendwann nicht mehr passen oder wir sie nicht mehr brauchen, dann bauen wir sie halt wieder ab. Die Energiewende ist die Rückkehr des Prinzips Verantwortung in die deutsche Energiepolitik.
Zwischen jenem Abend nach der Aufführung des Sommernachtstraums und meinem Alltag als verantwortlicher Minister für Atomausstieg und Energiewende in Schleswig-Holstein liegt ein langer Weg. Es hätte alles auch anders kommen können. Aus lauter Einzelentscheidungen und Zufällen wird nur rückblickend eine Geschichte. Rückblickend aber ist es merkwürdig, wie viele Ereignisse von früher heute wie Fingerzeige aussehen, wie Wegweiser, die ich damals nicht entziffern konnte.
Auch hinter meiner Partei, den Grünen, liegt ein weiter Weg. Sie kamen von der Straße. Und jede Bewegung, die als Protestbewegung beginnt, artikuliert erst einmal eine Minderheitenmeinung, braucht also zur Rechtfertigung ihrer Existenz einen Standpunkt höherer Moral. Bei den Grünen wurde diese Legitimation der politischen Rolle aus einer ökologischen Wahrheit abgeleitet. Gerade weil eine Bewegung Legitimation nicht aus der Mehrheitsmeinung ziehen kann, da sie erst einmal keine Macht hat, braucht sie eine nicht zu hinterfragende Position der eigenen Legitimität und Dringlichkeit. Der Satz »Mit dem Klima lässt sich nicht diskutieren« etwa bedeutet eben auch, dass gar nicht mehr diskutiert werden soll. Aber diese Gewissheit ist letztlich nichts anderes als die moralische Form der Alternativlosigkeit. Andere Meinungen zuzulassen und trotzdem Lösungen zu finden ist anstrengender, aber am Ende überzeugender, demokratischer und tragfähiger.
Der Punkt ist, dass die Grünen heute keine Minderheitenpositionen mehr vertreten, auch wenn sie keine Mehrheiten in Umfragen haben. Wir sind in so vielen Landesregierungen wie nie zuvor vertreten, erzielen 30-%-Ergebnisse, stellen einen Ministerpräsidenten und sind in Bereichen wie Energiepolitik, Landwirtschaftspolitik, Verbraucher- und Umweltpolitik auf den Fachministerkonferenzen Meinungs- und Mehrheitsführer. Daraus folgt, dass wir neu und anders argumentieren sollten. Wir sollten ein neues und anderes Selbstverständnis aufbauen, wenn wir diese Mehrheiten im öffentlichen Diskurs der Gesellschaft auch bei Wahlen für die Demokratie nutzbar machen wollen: und zwar ein republikanisches statt ein sektiererisches, ein offensives statt ein defensives, ein progressives statt ein regressives Selbstverständnis. Wir müssen uns nicht mehr hinter der Behauptung verstecken, die Wahrheit zu besitzen, wir haben die Argumente für die Gegenwart. Dieses Land ist ganz schön grün. Es ist vielleicht sogar grüner und besser, als wir Grünen es manchmal selbst glauben.
Und das ist die Herausforderung: nach den Protestjahren und den rot-grünen Projektjahren eine neue Phase einzuläuten, eine Phase, die bisher nur in Parteitagsreden mit »Haltung« und »Orientierung« umschrieben wurde. Aber was heißt das eigentlich? Meiner Ansicht nach heißt das, dass die Grünen weder die Ankläger noch das schlechte Gewissen dieser Gesellschaft sein sollten, sondern ihre Vertrauensleute, ihre Anwälte. Grüne Politik muss einschließen, nicht abwehren. Nicht angreifen, sondern eingreifen. Dass wir nicht mehr nur zu der Gesellschaft sprechen, sondern für die Gesellschaft, dass wir aus »diesem Staat« »unser Land« machen, dass wir uns in das Herz der gesellschaftlichen Debatte begeben, statt Parteidiskussionen immer wieder zu einem zermürbenden Selbstgespräch darüber zu machen, »was grün ist« oder »wer der grünste Grüne ist«, dass wir uns nicht in Spiegelgefechten zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethikern verlieren, über Binnenasteriske in Genderfragen streiten und dabei den Bezug zu dem verlieren, was wirklich unter den Nägeln brennt. Das müssen wir jetzt anbieten. Das ist die Aufgabe für uns. Und es ist eine neue Aufgabe. Ein drittes Zeitalter für die Grünen ist herstellbar. Nicht mehr Protestpartei, nicht mehr Projektpartei, sondern Orientierungspartei.
Der demokratische Diskurs funktioniert dann, wenn die Grundannahmen der jeweiligen Überzeugung offengelegt und so auch hinterfragt werden können. Wenn man sich zum Beispiel den Fragen der Integration von Geflüchteten stellt, dann vor dem Hintergrund der Annahme, dass es unseren Werten entspricht, Menschen in Not aufzunehmen. Nazis müssen Fragen nach Integrationslotsen nicht beantworten.
Dass es solche Grundwerte bei allen gibt, ja geben sollte – zumal bei jedem Politiker –, ist die Voraussetzung für einen offenen, pluralen, lösungsorientierten Diskurs. Aber auch Werte müssen reflektiert und im Verhältnis zu anderen gesehen werden. Werte sind von Menschen definiert und damit prinzipiell relativ zu gesellschaftlichen Veränderungen. Man kann nur mit besseren oder schlechteren Argumenten für sie streiten. Man kann sie nie als gegeben nehmen oder voraussetzen. Das klingt erst mal nach wenig. Aber dieses wenige ist genau genommen der beste Grund für eine Parteiendemokratie, dafür, sich für eine Partei zu engagieren – man muss für seine Überzeugungen streiten und darf nicht darauf warten, dass andere auf wundersame Art durch sie erleuchtet werden.
Mit Tschernobyl also begann ich, mich politisch zu engagieren. Ich las politische Bücher, suchte nach meinem persönlichen politischen Kurs. Im folgenden Schuljahr wurde ich zum Schülersprecher gewählt, gründete eine Politik-AG, in der die Tagespolitik diskutiert wurde, damals Themen wie Vermummungsverbot, Hausbesetzungen, Apartheid. Ich übernahm zusammen mit Freunden die »Heulboje«, unsere Schülerzeitung. Ich setzte mich mit der Bundeswehr und der Frage des Einsatzes von Gewalt und des Tötens anderer auseinander, verweigerte den Wehrdienst und wählte Philosophie als Leistungskurs.
Wenn ich mich richtig erinnere, war es eine Geschichte, die mich zur Philosophie hinzog: Platons Höhlengleichnis. Der griechische Philosoph erzählt in diesem Gleichnis von Menschen, die in einer Höhle als Gefangene leben. Sie sind so gefesselt, dass sie keine anderen Menschen neben sich sehen können und den Ausgang aus der Höhle und damit das Licht im Rücken haben. Auf der Wand vor ihnen sehen sie nur ihre eigenen Schatten. Von der Welt draußen sehen sie nur die Schatten von Gegenständen, hören aber Geräusche und Stimmen. Sie müssen also glauben, die Gegenstände könnten sprechen. Was sie auf der Wand sehen, ist für sie die Wirklichkeit. Und würden sie jemals befreit und ans Licht kommen, sie würden die Welt weder verstehen noch akzeptieren können, sondern sich wieder in das Dunkel ihrer Höhlenwelt zurückwünschen. Philosophie sollte nach Platon eine Art Anleitung zum Ausbrechen aus dieser Höhle sein. Da musste ich mit 16, 17 nicht lang überlegen, welchen Leistungskurs ich belegen wollte.
Heute lese ich etwas anderes in dem Gleichnis. Ich frage mich, wie und ob Menschen außerhalb und innerhalb der Höhle zu einer gemeinsamen Weltsicht kommen können. Wessen Welt ist wahrer? Vor allem: Was ist heute Höhle und was draußen? Und wie halten wir die Neugierde für das Draußen wach?
Das Höhlengleichnis beschreibt eben auch, dass für Menschen ihre jeweiligen Weltsichten die absolute Wahrheit sind und nichts als die Wahrheit. Es steht somit auch für eine Alternativlosigkeit als Weltsicht. Und die Alternativlosigkeit ist die Bankrotterklärung des Politischen. Sie ist die andere Seite der Klage darüber, dass wir, die Politiker, die Menschen nicht mehr erreichen, eine Art Höhlenpolitik betreiben. In der Politik der Alternativlosigkeit endet das Gespräch der Regierenden mit den Regierten. Regierende können die Regierten nicht mehr erreichen, wenn sie selbst keine Handlungsspielräume mehr sehen, vor deren Hintergrund sie ihre Entscheidungen erläutern. Alternativlosigkeit meint im weiteren Sinn eben nicht nur, dass es keine andere Entscheidung gibt, sondern dass man es gar nicht erst zur Entscheidung kommen lässt. In der Politik geht es aber eben gerade nicht um das Selbstverständliche, sondern um Probleme, die noch nicht gelöst sind.
Meine Abiturprüfung legte ich später über Immanuel Kants »transzendentale Ideen« ab. Die sind so etwas wie die abstrakte Theorie der Saint-Exupéry’schen »Sehnsucht nach dem Meer«. Denn nachdem Kant vernunftkritisch Begriffe wie »Seele«, »Welt«, »Gott« als nicht real verworfen hat, schafft er sie als »transzendentale Ideen« oder »Vernunftideen« neu. Diese Begriffe erfüllen nach Kant ihren Sinn in einem positiven, regulativen Gebrauch. Sie geben unserem Leben im Alltag und der Empirie eine Richtung. Logisch begründen lassen sich viele Glaubenssätze nicht unbedingt. Aber es macht manchmal Sinn, an ihnen festzuhalten. Denn wenn wir die regulative Kraft von Ideen nicht aufrechterhalten, dann versinken wir in völligem Relativismus.
Was ich mit achtzehn las, bestätigt sich für mich heute mehr denn je. Denn im Kern fordert Kants Philosophie das unermüdliche Hinterfragen von behaupteten Wahrheiten, den Zweifel als Grundmotiv von Politik – und dass man Unvernunft mit Vernunft stellen kann.
Auch die Stücke unserer Theater-AG wurden damals politischer. Wir spielten Arthur Millers »Hexenjagd« und Bertolt Brechts »Dreigroschenoper«. Ich war der Bettlerkönig Jonathan Jeremiah Peachum. Peachum ist ein mit allen Wassern des Zynismus gewaschener Machtmensch, Sinnbild des skrupellosen Kapitalismus. Es war großartig, diese Rolle zu spielen, und noch heute holen mich Textfetzen von damals ein, wenn es auf Parteitagen, vor Listenaufstellungen, bei Koalitionsverhandlungen oder dem Ringen im Bundesrat nicht mehr um Inhalte geht, sondern nur noch um Macht. Kaltschnäuzigkeit gehört auch zum Polit-Theater.
Vor allem aber musste ich damals in der Dreigroschenoper singen. Und ich konnte nicht singen. Ich konnte auch keine Noten lesen. Ich kaufte mir eine Langspielplatte und übte die Lieder, indem ich sie nachsang wie Depeche-Mode-Songs. (Die Platte habe ich noch, sie hat alle Umzüge überlebt, eine grandiose Aufnahme mit Lotte Lenya als Seeräuberjenny.)
Als ich aber das erste Mal auf der Bühne stand, wusste ich, dass ich es nicht können würde, und löste dieses Wissen prompt ein. Ich war total verkrampft und bekam keinen Ton raus. Nein, das stimmt nicht. Ich bekam viele Töne raus, aber keinen richtigen. Die Klavierbegleiterin brach ab, sang mir meine Passage noch mal vor, setzte sich wieder an ihr Instrument – und ich sang schlechter als zuvor. Das wiederholte sich drei, vier Proben, drei, vier Wochen lang. Ich war kurz davor, die Rolle zu verlieren. Aber sie bedeutete mir inzwischen etwas. Ich muss zugeben, dass ich mich mit dem Machtmenschen Peachum zu identifizieren begann. Dazu passte es nun so gar nicht, öffentlich zu scheitern.
Auf einer Strandparty traf ich Mackie Messer, gespielt von meinem Freund Jan. Ich prostete ihm zu, fragte, wieso er das so super hinbekam mit seiner Rolle und dem Gesang. Er könne doch auch keine Noten lesen und eigentlich auch nicht singen. »Das stimmt«, sagte er. »Aber im Unterschied zu dir lasse ich mir das nicht anmerken. Du musst dir vornehmen, selbstbewusst zu sein, um selbstbewusst zu werden.« Ich probierte es – und es ging.
Ich weiß das noch so genau, weil ich heute noch manchmal dran denke. Denn immer wieder erlebe ich Situationen, die ich nicht geübt habe, die neu sind, in denen ich nicht weiß, ob ich sie bestehe. Auch Politik ist eine Bühne. Auch dort stellt man immer etwas dar. Auch Politik ist oft nur durch die richtige Ansprache, durch Tonalität und die richtigen Worte – manchmal auch durch das richtige Schweigen – erfolgreich. Und am Ende will man, dass Leute klatschen.
Meine erste Rede im Landtag von Schleswig-Holstein zum Beispiel. Sie war die Antwort auf die Regierungserklärung des damaligen Ministerpräsidenten Carstensen. Ich hatte noch nie im Landtag geredet, hatte als Parlamentserfahrung nur den Kreistag vorzuweisen und häufiger Lesungen als Debatten bestritten. Und jetzt im Landtag gleich eine Dreiviertelstunde Grundsatzrede im Duell mit Wolfgang Kubicki und Ralf Stegner. Es gibt leichtere Sparringspartner zum Warmboxen. Entsprechend war ich angespannt. Aber ich ließ es mir nicht anmerken. Ich machte es, wie Jan mir vor Jahren geraten hatte. Erste Reden im Bundesrat, wenn einem Horst Seehofer und Winfried Kretschmann und Hannelore Kraft aufs Maul schauen, Parteitagsreden, die in der Tagesschau gezeigt werden, Fernsehinterviews – und immer kann sich Scheitern tausendfach potenzieren. Ich habe mich dabei ertappt, dass ich vor wichtigen Terminen Marotten wie ein Fußballspieler entwickelt habe, der immer mit dem linken Fuß den Platz zuerst betritt. Ich habe immer im gleichen Hotel übernachtet, immer einen Kaffee ohne Milch, aber mit Zucker getrunken. Ich hatte bestimmte Hemden, von denen ich glaubte, sie würden mir Glück bringen.
Mit der Routine der Politik legte sich der Aberglaube dann. Aber die Aufgabe blieb: Wie wird man Politiker und doch nicht austauschbar? Mit Freunden konnte ich zwar darüber reden, wie man als Minister zu sein hat und was überhaupt einen Politiker ausmacht. Und Interviews oder Parteitagsreden konnte ich mit diesen Freunden immer durchgehen. Aber wie es ist, Politiker zu sein, lernt man eben nicht vorher. Man muss es tun. Meine Peachum-Erfahrung hat mich gelehrt, dass man sich trauen muss, wenn man etwas durchsetzen will. Es gibt keine Garantie, dass es gelingt. Aber dass es nicht gelingt, wenn man sich nicht traut, das ist nun mal sicher.
Und das gilt nicht nur fürs Redenhalten. Das Sich-Trauen im Sinne von »Ich stell mich jetzt da vor die Leute hin und lass mir nicht anmerken, dass ich Angst habe« und das Sich-Trauen im Sinne von »Ich wage es, auch anzuecken« bedingen einander. Denn auch wenn das theatralische Moment zur Politik gehört, so ist es doch nicht alles. Wie ich etwas sage, ist wichtig – aber immer noch nicht wichtiger als das Was. Etwas Neues, etwas Eigenes zur Debatte zu stellen, sich auch das zu trauen, macht erst Politik aus.
Alle, die sich um ein politisches Amt bewerben, bewerben sich ja faktisch um das Mandat, die Wirklichkeit zu verändern. Es ist bestenfalls die halbe Wahrheit, wenn Politiker den Bundeswehr-Werbespruch zitieren und wie Merkel 2005 behaupten, dass sie »Deutschland dienen« wollen. Denn »dienen« heißt ja, dass sie einem gegebenen Willen gehorchen wollen. Das stimmt aber nicht. Faktisch wollen Politiker Deutschland nach ihren Vorstellungen entwickeln. Ja, sie sollten es wollen. Denn das ist nichts Schlimmes. Im Gegenteil. Schlimm wäre es, wenn Politiker keine Vorstellung von der Gesellschaft, der Wirklichkeit und ihren eigenen Werten hätten.
Selbstverständlich nehmen Politiker gesellschaftliche Wünsche, Vorstellungen, Entwicklungen oder Probleme auf – oder eben auch nicht. Immer gibt es eine Wechselwirkung mit den Positionen anderer. Aber am Ende muss man sich entscheiden und einen eigenen Standpunkt vertreten und den zur Wahl stellen. Zur Politik gehört nachgerade der Anspruch, die eigene Vorstellung umzusetzen. Entsprechend wird der eigene politische Wert nach dem Erfolg bei der Mehrheit taxiert. Ob man ein guter oder ein schlechter Politiker ist, entscheidet sich daran, ob man seine Positionen mehrheitsfähig machen kann.
Ich zum Beispiel bin Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume einer Partei, die 16% bei Umfragen in meinem Bundesland hat. 84% der Befragten wählen nicht meine Partei. Ich habe keine Chance, meine Überzeugungen durchzusetzen, wenn ich nicht so argumentiere, dass die Mehrheit der Menschen auch außerhalb des grünen Spektrums der Meinung ist, dass zum Beispiel Tierschutz einen ethischen Grund hat, dass Gewässer geschützt werden müssen und die Energiewende fortgesetzt werden soll.
Nach der alten Lehre der Machtpolitik kann man in Koalitionen auch Minderheitenmeinungen durchsetzen. Denn nach einer Regierungsbildung wird die Bevölkerung ja nicht mehr gefragt. Es gibt einen Koalitionsvertrag, und solange die Fraktionen in den Parlamenten sich daran halten, werden die Verabredungen umgesetzt und abgearbeitet.
Aber genau dieses einfache Verständnis von Macht funktioniert meinen Erfahrungen nach nicht mehr. »Ich hab die Macht und damit das Recht« war gestern. Durch Umfragen, dauernde Wahlkämpfe und soziale Medien muss Politik immerzu ihr Tun erläutern. Und zwar so, dass eine Mehrheit der Menschen es versteht und gutheißt.
Politiker zu sein heißt heute, öffentlich über Lösungen nachzudenken. Es heißt nicht unbedingt, jederzeit fertige Konzepte zu haben. Ich habe oft genug erlebt, dass ich keine Antworten hatte, und habe das auch oft genug zugegeben. Immer mal wieder musste ich sagen: Weiß ich noch nicht genau, ich weiß nur, dass wir neue Antworten geben müssen. Wenn es gut lief, habe ich Zeit bekommen, mögliche Lösungen und ihre Voraussetzungen und Konsequenzen aufzuzeigen und den Menschen ein Angebot zu machen, sich zwischen den Lösungen zu entscheiden oder meinetwegen auch eine weitere zu entwickeln. Wenn es gut lief, haben sie das als Einladung genommen mitzudenken.
Aber Politik ist natürlich keine demokratiepädagogische Übung. Sie verändert Wirklichkeit. Auch wenn das mehr und mehr in Vergessenheit zu geraten scheint und Fakten immer weniger zählen in einem Hagel aus Tweets und Empörungskommentaren. Politik entscheidet über Krieg und Frieden und wie viel Eltern für die Kita ihrer Kinder bezahlen müssen. Soldaten werden entsandt oder Flüchtlinge verteilt, Schulen geschlossen, Straßen gebaut, WLAN in Zügen eingeführt – oder eben nicht. Und auch nicht getroffene Entscheidungen sind Entscheidungen und verändern die Lebensumstände von Menschen.
Die Menschen, die wir eben noch im Fernsehen auf den griechischen Inseln gesehen hatten, standen Tage später auf unseren Bahnhöfen, in unseren Städten und Dörfern. Sie waren und sind unsere Angelegenheit. Die Zeiten, in denen man mit genüsslichem Schauer die Tagesschau guckte, weil all das ja weit weg war und abstrakt, sind vorbei. Und die Menschen, die wir jetzt auf den griechischen Inseln sehen und die wir nicht mehr reinlassen, bleiben doch unsere Angelegenheit. Wir können nicht mehr nicht handeln, wir können nicht mehr nicht politisch sein.
Politik definiert unsere Gesellschaft, indem sie Werte in Gesetze umsetzt. Und deshalb ist Politik nur relevant, wenn sie eine Idee hat von Gesellschaft und Zukunft.
Entscheidungen sind kein programmierbarer Automatismus, kein Ergebnis mathematischer Rechnungen. Sie werden von Menschen getroffen und setzen deshalb voraus, dass Menschen als Personen mit ihren Werten, Ideen, Haltungen verstanden werden und sich einbringen. Die, die uns in Vergangenheit und Gegenwart faszinieren, jedenfalls mich, das sind die, die als Personen wahrnehmbar sind, diejenigen, die ihren eigenen Kopf haben. Die Unangepassten.
In den Jahren der Kanzlerschaft Merkels war es jedoch dominante politische Kultur, das Persönliche mehr und mehr zu reduzieren. Die Sprache wurde floskelhaft, die Emotionen verschwanden aus der Politik. Zunächst war das wohltuend, nach den rot-grünen Schröder-Fischer-Jahren mit all ihren Gefühlsausbrüchen und auch ihrer Unberechenbarkeit. Aber wenn improvisiert werden muss, wenn Politik sich in unvorhergesehenen Situationen beweisen muss, dann werden sprachliche Leere und demonstrative Leidenschaftslosigkeit schnell zu einem reinen Ritual, das die Menschen nicht mehr erreicht und mitnimmt. Nach den Landtagswahlen des Frühjahrs 2016 und den Wahlsiegen von Winfried Kretschmann und Malu Dreyer stellten viele Polit-Kommentatoren erstaunt fest, wie wichtig die Person in der Politik ist. Erstaunlich daran ist nur, dass das erstaunlich sein soll. Denn politische Herausforderungen kommen oft ungeplant, sind also nicht durch programmatische Parteitagsbeschlüsse abgedeckt.
Schon die deutsche Einheit war nicht vorhersehbar, so wenig wie die Anschläge von 9/11 in New York oder 13/11 in Paris. Die Finanzkrise, die Flüchtlinge, die Spannungen in Osteuropa und die Kriege im Nahen Osten, all diese Ereignisse sind analysierbar und wären vielleicht sogar vermeidbar gewesen – rückblickend. Faktisch haben diese Großereignisse die Politik unvorbereitet getroffen. Und in diesen Situationen werden altmodische Begriffe wie Vertrauen und Verantwortung wieder wichtig.
Wahlentscheidungen, die wir treffen, sind eben immer auch ein Kredit, ein Vertrauensvorschuss, den wir Personen vorab gewähren. Natürlich haben Parteien Programme und programmatische Aussagen. Und wir wählen Parteien, von denen wir glauben, dass sie unseren Grundwerten nahestehen. Aber wir hoffen auf Politikerinnen und Politiker, die auch und gerade in unvorhergesehenen Situationen stellvertretend für uns Verantwortung übernehmen. Eben das ist der Kern einer Republik – delegierte Macht. Wir statten Menschen mit Macht auf Zeit aus. Recht zu setzen und auf der Grundlage des Rechts gesellschaftliche Antworten zu verabreden, in der Annahme und entlang des Versprechens, dass sie sie zum Wohle der Allgemeinheit ausüben und sie ihren Kredit durch gute Politik zurückzahlen, das ist der Kern der demokratischen Verabredung. Und diese Verabredung findet immer zwischen Menschen statt.
Politik ist kein Kaufhauskatalog, bei dem man auswählt, was andere vorproduziert haben. Politik ist mehr als Erwartungsmanagement der Wählerinnen und Wähler. Es sind Ideen und Menschen, die Menschen begeistern und mitreißen. Ideale formen eine Gesellschaft. Und Politik ist der Wettstreit darüber, wer die besten Argumente für seine Ideale hat. Daraus entsteht im besten Fall ein »überlappender Konsens«, wie es der amerikanische Philosoph John Rawls in seinem Buch »Politischer Liberalismus« einmal formulierte. Aus dem Pluralismus der vielen Meinungen und Stimmen formt sich ein Prozess, in dem sich ein Gemeinwesen über seine normativen Bedingungen klar wird.
Über Politiker, denen wir vertrauen, sagen wir, dass sie Staatsmänner bzw. Staatsfrauen sind. Sie stehen dafür, dass es in der Politik gerade nicht um das automatisch Entscheidbare geht, sondern um das Ringen um die richtige Entscheidung. Gerade jetzt, da die Herausforderungen so groß sind, die Ereignisse so schnell aufeinanderfolgen, dass Parteitagsbeschlüsse rasch überholt sind, sind die prinzipiellen Grundsätze, nach denen Entscheidungen getroffen werden, wichtiger als die inhaltliche Auflistung vieler kleiner Spiegelstriche, die Parteien oder Regierungen versprechen. Keiner weiß, was als Nächstes geschieht. Die nächste Finanzkrise, eine Naturkatastrophe, ein weiterer Krieg, ein weiterer Gau. In solchen Zeiten werden Politiker gewählt, die eine Souveränität im Umgang mit Herausforderungen ausstrahlen, die nicht als Erstes einen Beschluss ihrer Partei von vor vier Jahren lesen, der ihnen dann sagt, was sie zu tun haben. Menschen kann man Vertrauen schenken, Parteiprogramme kann man gut oder schlecht finden, aber zu Papier baut man kein Vertrauen auf.
Je länger ich Politiker bin, desto großartiger und beglückender finde ich, dass im Herzen von allen Systemen, Strukturen, Disziplinen, Strategien der Mensch ist, mit seiner Haltung, seinem Charakter, seinem Ernst und seiner Lebensfreude, und genau deshalb immer wieder die Faszination für Politik auslösen kann.
Das erste philosophische Buch, das ich freiwillig gelesen habe, war eine Essaysammlung von Albert Camus: »Unter dem Zeichen der Freiheit«. Es war auch das erste philosophische Buch, das ich mir selbst gekauft habe. Auf meiner Ausgabe von 1985 ist ein Bild von Camus beim Schreiben zu sehen. In sich versunken, die Zigarette im Mund. So cool wie er wollte ich damals auch sein, so denken, so ganz einer Sache verschrieben sein. Ich las den »Mythos des Sisyphos«. Darin beschreibt Camus, wie der moderne Mensch sich abrackert, sich immer mehr in Widersprüche und Absurditäten verwickelt, dieses Absurde aber letztlich bejaht und sich ihm stellt. Camus schreibt: »Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.«
Ich empfinde diesen Satz bis heute als tröstlich und weise. Denn oft, eigentlich immer, lösen neue politische Antworten, die man gibt, noch viel mehr Fragen aus: Eine Steuer auf Pestizide senkt den Gifteinsatz, verringert aber die Erträge für die Landwirtschaft: Bauern verdienen weniger Geld, Getreide wird teurer. Jede Rede erzeugt eine Gegenrede. So viele Dinge und Prozesse dauern endlos lange, und der politische Fortschritt ist manchmal keine Schnecke, sondern eine Katze, die ihren eigenen Schwanz jagt. Im »Mythos des Sisyphos« beschreibt Albert Camus das so: »Sein Fels ist seine Sache. Darüber hinaus weiß er sich als Herr seiner Tage. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.«
Der Frankfurter Philosoph Martin Seel, bei dem ich in den Neunzigerjahren studiert habe, denkt Camus’ Satz weiter, wenn er in »111 Tugenden, 111 Laster« über einen freien Menschen schreibt: »Er glaubt nicht an die Verhältnisse, wie sie nun einmal sind, sondern an die Möglichkeiten, die sich in ihnen auftun werden. Er segelt gerne gegen den Wind. Man darf ihn sich als einen glücklichen Menschen vorstellen.« Diesen Typus Freiheitsfreund nennt er Fatalist. Das klingt zunächst geringschätzend. Wer will schon gern ein Fatalist sein, wenn »der wahre Fatalist seine Nummer nicht durchzieht«? Aber die anderen Freiheitsfreunde, die Seel anführt, haben einen noch schlechteren Klang (und sind als abschreckende Beispiele lehrreich). Da ist der Tyrann, der seine Freiheit über die Freiheit aller anderen stellt und sie unterjocht. Da ist der Trotzige, der echte Freiheit mit unbegründetem Aufbegehren verwechselt. Und da ist der Fanatiker, der diesen Trotz mit Dogmatismus übersteigert und blind wird sowohl für Fehlentwicklungen wie auch für seine eigene Rechthaberei. Sie alle vergessen, dass Freiheit auch bedeutet, los- und sein-lassen zu können und trotzdem an einem sozialen Miteinander zu wirken, das Menschen Möglichkeiten eröffnet, ein reiches, gelingendes Leben zu führen. Freiheit ist vielleicht als Begriff ein Gegenpol, aber im Leben nur im Zusammenspiel mit anderen Werten sinnvoll und erträglich. Selbstbestimmung braucht die Gemeinschaft.
Ich weiß nicht, ob ich all das mit 16 verstanden habe, als ich Camus zum ersten Mal las. Eher nicht, würde ich denken. Aber von heute aus betrachtet, erfühlte ich zumindest den Sinn. Jedenfalls suchte ich, was in den Sätzen mitklang. Bindungen einzugehen und selbst über sie entscheiden zu können, arbeiten zu können und dürfen, aber auch die Möglichkeit zu haben, es nicht zu tun, sich zu bilden und fortzubilden, Arbeit, Spiel und Müßiggang – all das sollte in ein gutes Verhältnis zueinander gebracht werden. Und heute habe ich qua Jobbeschreibung die Aufgabe, Rahmenbedingungen nicht nur für mich und mein Leben und meine Familie, sondern auch für andere Menschen zu schaffen. Oft ist das nicht leicht, eigentlich nie. Meistens steht die Antwort in keinem Parteiprogramm. Oft genug bekomme ich morgens erst auf dem Weg ins Büro eine E-Mail oder lese einen Zeitungsartikel, dass eine Biogasanlage ausgelaufen ist, die Vogelgrippe ausgebrochen ist oder eine Tierschutzvorschrift nicht eingehalten wurde. Der Tag ist dann ein suchendes Tasten. Soll ich alles frei laufende Federvieh aus Sicherheitsgründen einsperren oder lieber den Tieren ihren Auslauf lassen? Muss der Bauer mit der Biogasanlage den Schaden für die Nachbarn bezahlen oder treiben ihn die Strafzahlungen in den Ruin? Und dazu all die guten oder abstrusen Ideen, die sich meine Politikerkollegen so täglich ausdenken und rausposaunen. Ist es wirklich klug, wie es Sigmar Gabriel vorgeschlagen hat, straffällig gewordene Flüchtlinge in die Gefängnisse ihres Heimatlandes abzuschieben? Soll ich darauf hinweisen, dass das bei Syrern die Gefängnisse Assads oder des IS wären? Oder halte ich lieber die Klappe?
Ich weiß, dass ich nicht alles besser weiß. Kant hat mir die Kritik beigebracht und Camus den Zweifel. Zweifeln, ob das alles richtig ist, das steht vermutlich nicht im Handbuch für politisches Selbstbewusstsein. Aber ich hoffe, man kommt auch an, wenn man gegen den Wind segelt.
Freiheit zu realisieren ist noch immer die stärkste Motivation für mich. Und das ist durchaus nicht nur altruistisch als Dienst für andere gemeint. Die Politik selbst ist schon Selbstverwirklichung. Jedenfalls für mich.
Ja, Politik bringt Zwänge mit sich. Sie birgt Enttäuschungen und Rückschläge. Aber sie bringt eben auch die Möglichkeit, die Bedingungen der Umstände des eigenen Lebens mitgestalten zu können. Politik bedeutet Einmischung. Politisches Engagement birgt die Chance, nicht nur zu behaupten, dass man recht hat, sondern tatsächlich recht zu bekommen. Politiker zu sein bedeutet auch, neue Freiheiten zu erkämpfen oder zu verteidigen. Das ist das Versprechen, das Politik gibt. Und ich finde, es ist ein grandioses. Es ist wie bei dem Mythos des Sisyphos, der als Strafe der Götter tagein, tagaus einen Fels einen Berg hochrollen muss. So ist es mit der Politik. Sie ist nie fertig. Aber man muss sich den Politiker als glücklichen Menschen vorstellen.
1987, ein Jahr nach dem Tschernobyl-GAU, wurde ich Schülersprecher an einer Schule in einem Vorort von Kiel. Es war genau die Zeit, als die Barschel-Affäre eskalierte. Ich erinnere mich an die Zeitungslektüre am Morgen und die Debatten mit meinen Eltern und die Debatten der Eltern untereinander und die Häme und Härte, die alles überlagerte. Es war eine Zeit, in der es in der Politik nur noch darum ging, Menschen fertigzumachen. Und das gelang. Barschel, der damalige CDU-Ministerpräsident Schleswig-Holsteins und Bundes-CDU-Hoffnungsträger, wurde der Intrige und der Lüge überführt. Er hatte Engholm Steuerhinterziehung, Homosexualität und Aids-Infektion unterstellt. Barschel starb in Genf in einer Hotelbadewanne, wie und unter welchen Umständen, ob Selbstmord oder Mord, ist bis heute unklar. Engholm musste später als SPD-Bundesvorsitzender und Ministerpräsident zurücktreten und wurde politisch vernichtet, als rauskam, dass er von den Machenschaften Barschels gewusst hatte. Jede Grenze politischen Anstands wurde in diesen Affären überschritten. Überall wurde über Politik gesprochen. Genauer gesagt, über die Moral in der Politik, eine Moral, die es gar nicht mehr gab.
Ein halbes Jahr vor meinem Abitur 1988 wurde bei der Barschel-Engholm-Wahl dann erstmals seit 1950 in Schleswig-Holstein die CDU abgewählt. Engholm holte Künstler und Freidenker ins Land, gründete eine sogenannte »Denkwerkstatt« und plötzlich wurde anders gesprochen und regiert. Als ich Schleswig-Holstein verließ, bekam ich aus den Augenwinkeln noch mit, welche Hoffnung Politik und politische Machtwechsel bei Menschen auslösen können. Das Land war damals konservativ bis in die Knochen. Die CDU