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Fußnoten

Zufällig erfuhr ich durch den Sohn einer ehemaligen Patientin in Münchenbuchsee, die etwa im Alter meines Vaters war, dass Paul Plattner auch den Schriftsteller Friedrich Glauser während seines Aufenthalts in der Basler Nervenheilanstalt Friedmatt behandelt hatte.

Paul Sacher lebte von 1906 bis 1999. Durch die Heirat mit einer reichen Pharmazie-Erbin wurde der ausgebildete Dirigent in die Lage versetzt, die bedeutendsten Komponisten seiner Zeit mit Werkaufträgen zu versehen. Als Der Geliebte der Mutter von Urs Widmer ging er in die Literatur ein.

Obwohl mein Vater ihn verehrte, war der Name Max Frisch bei uns zu Hause tabu. Irgendetwas oder irgendjemand hatte ihn in den Augen meiner Mutter suspekt gemacht. Ebenso erging es Klaus Schädelins Buch Mein Name ist Eugen. Als ich die Bibliothek meines Vater auflöste, fand ich es in neutrales Packpapier eingeschlagen.

Mein Vater schrieb als Bauherr für die Zeitschrift einen sarkastischen Text, in dem er seinen Kampf mit der Baupolizei und der staatlichen Heimatschutzbehörde schilderte. Sarkastisch war der Ton selbst dann noch, als er sich für die schließlich erteilte Baugenehmigung bedankte.

Tatsächlich gab es mehrere Sendeantennen. Eine wurde abgebaut und auf St. Chrischona in Riehen wieder aufgebaut, eine andere in einer spektakulären Aktion im August 2011 gesprengt.

Natürlich werde ich kein Buch über die Macht des Radios schreiben, da dieses von Jurek Becker längst geschrieben wurde.

Wenige Tage nachdem dieses Kapitel als Vorabdruck im Magazin des Tages-Anzeigers erschienen war, erhielt ich ein Paket der Firma Hug-Familie mit einem freundlichen Begleitschreiben, in dem ich dazu ermuntert wurde, doch einmal die weichere Version der Ringlein au chocolat zu probieren. Ich tat es und danke der Mitarbeiterin für diese Aufmerksamkeit. Tatsächlich sind die weichen den harten »Ringli« (wie es natürlich richtig heißen müsste) deutlich überlegen.

Populär bis zuletzt, starb die St. Gallerin Trudi Gerster 2013 im Alter von dreiundneunzig Jahren in Basel. Ihre erste Erfahrung mit dem Vorlesen von Märchen machte sie während der Landesausstellung 1939. Bereits ein Jahr später trat sie vor ein Mikrofon des Senders Beromünster. Sie hat die Kindheit von mindestens drei Generationen Schweizer Kindern begleitet.

Der Name des Vikars fiel mir wieder ein, als ich über die beiden Diakonissen – siehe Seite 59ff. – schrieb, die ich zu meinem Gottesdienst eingeladen hatte. Er hieß Lindner.

Just an dem Tag, an dem ich diesen Text korrigierte, bot Aldi Süd eine Uhr für 9,99 Euro an.

Hätte sein Name ein rororo-Bändchen geziert, hätte ich mir diese Frage natürlich nicht gestellt, im Gegenteil, er wäre meiner grenzenlosen Bewunderung sicher gewesen.

Tatsächlich gibt es im Französischen keine Entsprechung zum deutschen »warmen Bruder«, den wir meinten. Wir übernahmen einfach eine deutsche Wendung und übersetzten sie ins Französische, wo sie keinen Sinn ergab (dort hätte er am ehesten »tapette« geheißen), so wie wir umgekehrt Wörter aus dem Französischen verdeutschten, etwa »abdebarassieren« von »débarasser la table« fürs Tischabdecken.

Reedli = Rädchen, weil er wie auf unsichtbaren Rädern über die Bühne glitt, wenn er den Primaballerinen und Primadonnen beim Applaus Blumensträuße, manchmal auch Blumentöpfe überreichte.

Erst später wurde mir bewusst, dass Josef Biburger als Opernstudienleiter natürlich noch wichtigere Aufgaben hatte, als im Ballettunterricht zu spielen.

Tatsächlich hieß die Sammlung Die schönsten Märchen der Welt für 365 und einen Tag, Jena 1926/27.

Wie wohlerzogen und bar jeder kriminellen Energie ich doch war: Es dauerte noch Jahre, bis ich auf den Gedanken kam, man könnte Bücher, die man sich nicht leisten konnte, auch klauen.

Zu Recht taucht der Irre, der diese Stäbchen erfand, bis heute nicht einmal bei der deutschsprachigen Wikipedia auf. In Deutschland wurde die Methode dieses belgischen Schulinspektors, der 1975 starb, nie angewandt. Wer weiß, wie er starb? Wer weiß, wer seinem Treiben ein Ende machte? Vielleicht wurde er von einem Schüler, wie ich einer war, ermordet?

Schriftdeutsch: karierte

Schriftdeutsch: Kindergartenschüler

Der ACV (Allgemeiner Konsumverein) wurde eines Tages in Coop umbenannt. Natürlich nannte man die Rabattmarken Rabattmärkli.

Um ehrlich zu sein, der »rote Sportwagen« ist frei erfunden, aber er passt so gut, dass ich dazu neige, meiner Fantasie zu vertrauen.

»Ohne meine Mutter«, dachte ich wohl nicht.

Radio Sottens (mit ausgesprochenem End-s) war der französischsprachige Landessender, der dem Deutschschweizer Radio Beromünster entsprach.

Alle nannten sie »Fürzchen«, und manche tun es noch heute.

Am besten mit berüchtigt zu übersetzen; »bunte Hunde« wäre ebenso zutreffend.

Zur falschen Zeit, Berlin 2010.

Ich frage mich, ob es irgendwo, in einem Museum, vergessen in einer Werkstatt, bei einem Sammler, noch einen dieser großen Wagen gibt, von denen es damals Hunderte gegeben haben muss, die über die Dörfer fuhren, um die Bevölkerung mit den Produkten der Migros zu versorgen, die günstiger waren als die der anderen Anbieter.

Man nannte sie jovial Frau Schweizer.

Sie sagten: Für jeden Hafenkäse; leitet sich von Käse im Krug ab.

Man kaufte nicht ein, sondern machte Kommissionen aufgrund des Kommissionenzettels; es handelte sich um eine Sprachgewohnheit, die aus dem Westschweizer Französischen stammte (faire les commissions) und uns vorbehalten war; im regulären Französisch würde es heißen: Faire les courses.

Wir sagten Leibchen.

Im »Konkubinat« zu leben, wie das hieß, war damals strafbar. In Basel-Stadt sahen die Gesetzeshüter großzügig über dieses »Delikt« hinweg, in Zürich hingegen musste man noch mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen.

Das »Trinkei« ist nach diversen Lebensmittelskandalen längst aus den Regalen und dem Sprachgebrauch verschwunden.

Es handelte sich um Charles Aznavours Que c’est triste Venise. Sie legte die Single in Abwesenheit meines Vaters auf, und dies in einer Lautstärke, wie sie sie uns nicht hätte durchgehen lassen. Es war, als wollte sie uns entgegen ihrer ansonsten kühlen Art auf verschlüsselte Weise einen Schmerz mitteilen, den sie nicht artikulieren konnte. Klar war, dass dieser Schmerz etwas mit unserem Vater zu tun hatte.

Später, noch zu Michaels Lebzeiten, schrieb ich darüber die Erzählung Bergelson.

Er arbeitete vor allem als Sprecher beim German Service der BBC, dessen Aufgabe darin bestand, während des Kriegs gegen das nationalsozialistische Deutschland zu agitieren; nach 1945 wurde die sowjetisch besetzte Zone zu deren bevorzugter Zielscheibe; einer der politischen Kommentatoren war Erich Fried.

Zu Beginn der Siebzigerjahre gelten andere Gesetze; Beziehungen zwischen einem Achtzehnjährigen und einem Erwachsenen erlaubten, wenn sie ruchbar wurden, polizeiliche Maßnahmen; andererseits lauerte noch nicht überall der Vorwurf der Pädophilie.

Die Erinnerung an diese Wohnung an der Unteren Rebgasse in Basel diente meiner Fantasie als Vorbild für die Wohnung des Kellners Erneste im Roman Ein perfekter Kellner.

Michaels Vater hatte eine Textilfabrik besessen, seine Mutter war von Gustav Mahler an die Hofoper engagiert worden, bevor sie auf Druck ihrer Familie heiraten musste.

Viele der wenigen Wörter, die ihnen zur Verfügung standen, wurden mit Nonchalance und Beharrlichkeit falsch ausgesprochen. Statt Ford Taunus sagte Ida Ford Tannöser. Wie das Wort in ihren Sprachschatz gelangt war, blieb schleierhaft, zumal ihr Mann keinen Führerschein, geschweige denn ein Auto besaß – und auch kein dezidierter Wagnerianer war.

Bezeichnet eher eine mentale als eine geografische Grenze.

Von den Romands spöttisch bourbines genannt. Weitere, mir nicht geläufige, in meiner Gegenwart wohl kaum verwendete Bezeichnungen sind laut wikipedia: les schtôbirnes, les schtôfifres, les schnaquebiques, les totos, les casques à boulons, les mâcheurs/pelles de gravier, les creucreu, les schnabeguetze.

Ungeschriebene Gesetze diktierten den Zeitpunkt, an dem es so weit war, kurze gegen lange Hosen zu tauschen. Noch bin ich auf der Suche nach dem Kulturwissenschaftler, der mir sagt, wann Jungen in der Schweiz, Deutschland, Frankreich, England oder den USA endlich lange Hosen tragen durften. Mit Sicherheit gab es da von Land zu Land feine Altersunterschiede und Fälligkeitstermine (Kommunion, Konfirmation, Geburtstag).

Mein Vater besaß einen Rasierapparat von Braun, des Designs wegen, nehme ich an.

Von all jenen ganz zu schweigen, deren Namen ich vergessen habe.

Später, als ich meine eigene Schreibmaschine besaß und in eigenen Wohnungen lebte, war es unumgänglich, darauf zu achten, die Nachbarn im unteren Stockwerk nicht zu stören. Es war undenkbar, sich in einem Mietshaus mitten in der Nacht an die Schreibmaschine zu setzen, ohne das ganze Haus aufzuwecken.

Leider ist nichts davon erhalten. Das Schriftbild und die roten Kapitelüberschriften sehe ich allerdings genauso vor mir, wie ich das gedämpfte Klappern der Olivetti höre.

Das Erwachsenengerüst, München 1983.

Postskriptum, Berlin 2015

Für Daniel

The past is a foreign country

L.P. Hartley

Mein portugiesischer Vater

Ende der Vierzigerjahre lernten sich meine Eltern in der Nervenheilanstalt Münchenbuchsee kennen. Mein Vater war Patient, meine Mutter Krankenschwester. Den Namen des leitenden Arztes, den ich lange Zeit für den Eigentümer der Klinik hielt, habe ich im Lauf meiner Kindheit, so glaube ich mich zu erinnern, fast täglich gehört. Le Docteur Plattner – meine Mutter sprach nur Französisch – war der Arzt meines Vaters und der Vorgesetzte meiner Mutter gewesen.[1]

Kurz nach dem Krieg hatten sich meine Mutter und eine ihrer fünf Schwestern als Krankenpflegerinnen in Portugal aufgehalten. In Coimbra, so erzählte sie, war sie verlobt. Doch die Verlobung wurde aufgelöst. Sie erzählte nie warum, und niemand fragte je danach. Ich wurde Schweizer.

Wäre ich in Portugal aufgewachsen, hätte ich mich, so dachte ich, nur unwesentlich von dem unterschieden, der ich jetzt war. Nur dass ich in einem warmen Klima aufgewachsen wäre. In Portugal hatte ich ältere Schwestern und eine mondäne Großmutter, die sich in weiße Spitze kleidete, einen Großvater, der stets Krawatten trug, und eitle Tanten, die eine Opernloge auf Lebenszeit gemietet hatten. Mein portugiesischer Vater stand mitten im Leben und war nicht auf die Hilfe von undurchschaubaren Ärzten angewiesen. Anders als mein wirklicher Vater wäre mein portugiesischer Vater, dessen Namen ich nie erfahren habe, nicht mit fünfzig pensioniert worden. Er wäre ein erfolgreicher Geschäftsmann aus gutem Haus gewesen, das enge Beziehungen zur Familie des Diktators António de Salazar unterhielt, ein Mann, der, anders als mein Vater, niemals aufgab. In ihren letzten Lebensjahren erwähnte ihn meine Mutter kaum noch.

Ich hätte niemals Deutsch gelernt.

Bücher hätte ich als Portugiese wohl nie geschrieben.

Ich wäre in die Fußstapfen meines portugiesischen Vaters getreten und hätte meine Gene großzügig weitergegeben.

Dass der erste Verlobte meiner Mutter zur Gewalttätigkeit neigte, erfuhr ich erst nach ihrem Tod. Deshalb verließ sie ihn und kehrte in die Schweiz zurück. Wie weit er ging, weiß ich so wenig wie ich seinen Namen kenne.

Hochzeit im engsten Kreis

Anwesend waren das Brautpaar, der Priester und die beiden Trauzeugen, sonst niemand. Keine Familienmitglieder, keine Freunde oder Freundinnen, weder Kollegen noch Kolleginnen aus dem Lehrerseminar oder der Schwesternschule. Meine Mutter war katholisch, mein Vater protestantisch. Meine Mutter stammte aus der Romandie, mein Vater aus der deutschen Schweiz. Da Religion in ihrem Leben keine wichtige Rolle spielte, kamen sie schnell überein, katholisch zu heiraten, die Kinder katholisch zu erziehen und ihnen französische Vornamen zu geben. Katholisch und französisch waren lange Zeit für mich eins.

Der Hochzeitstag wies den Weg in die lebenslängliche Abschottung. Die Trauung fand in Zofingen statt, wo sie niemanden kannten. Nach der Zeremonie gingen die jungen Eheleute mit dem Priester und den Trauzeugen essen. Als einzige Bewohner eines einsamen Planeten waren sie niemandem etwas schuldig. So sollte es auch in Zukunft bleiben. Der Tag ihrer Eheschließung ging nicht in die Familienerinnerungen ein. Auswärts essen gehen kam fortan so gut wie nicht mehr vor. Ich bin sicher, dass meine Mutter ein Leben lang wusste, was bei ihrem Hochzeitsessen nebst der Maggiflasche und der Cenovis-Streuwürze auf den Tisch kam.

Meine Eltern verspürten offenbar schon früh den Drang, sich vor den Augen ihrer Mitwelt unsichtbar zu machen. Ein Versteckspiel, das im Großen und Ganzen erfolgreich war – wenn man es als Erfolg betrachtet, von den anderen nicht wahrgenommen zu werden, obwohl man nichts zu verbergen hat.

Ihr einziges Geheimnis teilten sie mit vielen: Ihre Heirat erfolgte unfreiwillig. Die Verlobte war schwanger. Das Missgeschick hätte man verhindern können. Kondome gab es seit fast hundert Jahren, und ihre Reißfestigkeit ließ wenig zu wünschen übrig, seitdem zu ihrer Herstellung Latex verwendet wurde.

Zu welchem Zeitpunkt mein Großvater mütterlicherseits, ein wiederverheirateter Witwer, dessen erste Frau jung gestorben war, und meine Großeltern väterlicherseits von der Heirat erfuhren, weiß ich nicht. Vielleicht fand sie nicht heimlich, sondern lediglich in ihrer Abwesenheit statt. Möglicherweise waren sie unterrichtet, aber nicht eingeladen. Da man nur ungern reiste, dachte niemand daran, die Strapazen eines so weiten Wegs auf sich zu nehmen. Strecken, die man heute in weniger als einer Stunde zurücklegt, nahmen damals halbe Tage in Anspruch und waren beschwerlich. Als wolle man der Sache keine allzu große Bedeutung beimessen, verzichteten meine zukünftigen Eltern auf alles, was den Hochzeitstag für andere zum schönsten Tag des Lebens machte. Sie brachten die Sache formlos hinter sich und gingen danach gleich zur Tagesordnung über, was meiner unsentimentalen Mutter gewiss entgegenkam.

Szene auf dem Bauernhof

Meine Mutter hätte meinen Vater nicht geheiratet, wenn sich die Szene, deren unfreiwillige Zeugin sie wurde, vor ihrer Hochzeit abgespielt hätte. Als sie zufällig die Küche des Bauernhauses betrat, in dem das junge Ehepaar kurz nach der Hochzeit vorübergehend wohnte, lag mein Vater vor seiner Mutter auf dem Bauch und trommelte mit den Fäusten auf den Boden. Dass mit meinem Vater etwas nicht in Ordnung war, wusste meine Mutter natürlich, schließlich hatte sie ihn in Münchenbuchsee kennengelernt – doch dieser Paroxysmus war schockierend. Zeitlebens war ihr Verhältnis zu ihrem Mann und seiner Mutter von diesem unerwarteten, ebenso peinlichen wie peinigenden Ereignis geprägt. Die Ursache seines Rückfalls in die Kindheit ist mir nicht bekannt.

Auf geheimnisvolle Weise war mein Vater an seine Mutter Fanny gefesselt, die die Angewohnheit hatte, an der Tür zum Schlafzimmer der Frischvermählten zu lauschen und durchs Schlüsselloch zu spähen. So jedenfalls erzählte es meine Mutter, und ich habe keinen Grund, an ihrer Wahrnehmung zu zweifeln. Die zwanghafte Neugierde ihrer Schwiegermutter bekamen später auch wir Kinder zu spüren.

Fanny Schultheiss war die zweite Ehefrau meines Großvaters Jakob Sulzer. Auch ihm, wie dem Vater meiner Mutter, war die erste Frau gestorben, sie im Kindbett, die andere an den Spätfolgen der Spanischen Grippe. Mit der ersten Frau zeugte Jakob zwei Söhne, die er seinem Sohn aus zweiter Ehe stets vorzog. Sie schlugen ganz nach seiner Art, sahen ihm ähnlich, waren stämmig und braun gebrannt und hatten große, gesunde Gebisse, mit denen sie sicher leicht Nüsse knacken konnten. Mein Großvater vererbte ihnen alles, Max, sein dritter Sohn aus zweiter Ehe, erbte ein paar wertlose Grundstücke, auf denen man Kartoffeln pflanzen konnte.

Mein Vater glich weder seiner Mutter noch seinem Vater, der seine Frau bei Tisch, vor den Knechten, vor den Mägden und vor den Söhnen regelmäßig demütigte; es bereitete ihm Vergnügen sich über sie lustig zu machen. Er lachte herzhaft. Die anderen lachten auch. Wehrlos ließ sie den Spott über sich ergehen. Sie verzog den Mund und schwieg. Außer ihrem Sohn nahm sie wohl keiner ernst.

Bauernhof

Man setzt mich auf ein Pferd. Es ist das erste und letzte Mal, dass ich so hoch auf einem Tier sitze. Die Kartoffeln kochen in einem riesigen Kessel, unter dem ein Feuer brennt. Wenn sie abgekühlt sind, werden sie an die Schweine verfüttert. Ich erkenne den Unterschied zwischen den Kartoffeln, die die Schweine essen und denen, die wir essen, nicht. Ich erinnere mich an die Pferde, eines hieß Max wie mein Vater, aber an die Schweine erinnere ich mich nicht, sie hatten bestimmt keine Namen. Hingegen erinnere ich mich an die Schweine eines Onkels, der eine Schweinefarm in Frankreich betrieb und später bei einem Autounfall umkam. Das war im Wallis. Er war Schweizer, nicht Franzose.

Zurück zu meinem Großvater: Ich erinnere mich auch nicht an die Kühe, obwohl mein Großvater Milchbauer war. Paul Sachers Vater[2], der in der Nähe wohnte, kam – korrekt gekleidet im dunklen Anzug – täglich mit dem Milchkännchen vorbei und holte Milch. Er war sehr höflich, erzählte meine Mutter.

Ich erinnere mich vage an Hühner und Kaninchen, aber nicht an die Arbeiten, die auf dem Hof und auf den umliegenden Feldern verrichtet wurden. Wir stiegen auf Leitern und machten uns mit Kirschen, die wir pflücken mussten, die Hände rot und klebrig. Ich mochte keine Kirschkonfitüre, keine eingemachten Kirschen, sehr gerne aber Kirschen frisch vom Baum.

Schwarze Tapeten

Ich habe in den letzten vierzig Jahren unzählige Wohnungen und Hotelzimmer gesehen, doch nie ist mir ein schwarzer Spannteppich begegnet. Auch an schwarz-weiße Tapeten kann ich mich nicht erinnern. Bei uns zu Hause gab es beides.

Der ganze Stolz meines Vaters war sein Haus, das aufgrund seiner avancierten Vorstellungen und nach zahlreichen Gesprächen mit den Architekten in Riehen geplant und gebaut worden war. Drei Jahre nach meiner Geburt zogen wir vom Lachenweg in die Schlossgasse; von einer Wohnung in ein Haus. Es stand in derselben Straße wie das Geburtshaus meines Vaters, der Bauernhof.

An die Jahre davor, an das Mietshaus am Lachenweg und an die anderen Mieter, deren Namen mich durch Kindheit und Jugend begleiteten, habe ich keinerlei Erinnerung. Oft sprach meine Mutter später noch von Frau Rebholz, die als Person jedoch unsichtbar blieb. Nach dem Umzug pflegten die beiden Frauen keinen regelmäßigen Umgang mehr miteinander. Nunmehr wohnte man auf verschiedenen Kontinenten und begegnete sich höchstens zufällig beim Einkaufen. Von Telefonaten weiß ich nichts.

Das Haus meines Vaters war nicht das Haus meiner Mutter. Sie hasste es uneingeschränkt und ließ keine Gelegenheit aus, ihre Abneigung kundzutun. Niemals habe ich sie freundlich darüber sprechen hören. Das Haus war ein Feind, der sich gegen sie verschworen hatte. Täglich konfrontierte er sie mit neuen Herausforderungen. Mein Vater verteidigte es, solange er lebte; meine Mutter hat ihm die Freude daran ebenso lang zu verderben gesucht. Das fing beim Flachdach an und endete bei den verschraubten Doppelfenstern, die sich nur unter großem Aufwand putzen ließen. Meine Mutter hatte sich ein Walmdach gewünscht, wie sie es von zu Hause gewöhnt war, aber das kam gar nicht infrage. Zu Hause war Domdidier, ein Dorf in der Romandie, in dem vergnügtere und gesprächigere Leute als in Riehen oder Basel lebten, wo man sich zurückhaltend und wortkarg gab (von Onkel Karl einmal abgesehen, einem echten Burckhardt, der zur Gattung der Käuze gehörte).

Ein Walmdach aber entsprach der Auffassung modernen Bauens von Rasser & Vadi ganz und gar nicht. Die beiden Architekten, die ohne Vornamen als zwillingshaftes, abstoßendes Gebilde in den von meiner Mutter verwalteten Teil der Familiengeschichte eingingen, genossen in den Fünfziger- und Sechzigerjahren über Basel hinaus einen gewissen Ruf, weil sie im zoologischen Garten die Häuser für die Raubtiere und Nashörner sowie das damals größte Freibad der Schweiz gebaut hatten; dass Max Frisch in der Jury für das St.-Jakob-Bad gesessen hatte, war für meine Mutter ein Grund mehr, ihn zu verachten.[3] Rasser hieß Max wie mein Vater; einen gewöhnlicheren Vornamen konnte man sich kaum vorstellen. Vadis Vorname hingegen hatte einen erotischen Klang, den er in meinen Ohren bis heute nicht verloren hat: Tibère. Die Literatur kennt diesen Namen nur in der Geschichte. Der Alltag musste auf Vadi warten, bis er ihm einen gallisierten Tiberius schenkte.

Welche Rolle Vadis Vorname bei der Abneigung meiner Mutter gegen ihn spielte, weiß ich nicht. Sie behauptete immer, ich hätte mich in ihren Röcken versteckt, wenn er kam. Kam er allein? Ich glaube mich an einen attraktiven Mann zu erinnern, der tagsüber erschien, wenn mein Vater abwesend war. Täuscht die Erinnerung? Unterscheidet ein Kind, das sich vor ihnen fürchtet, zwischen gut aussehenden und hässlichen Menschen?

Dass das Flachdach jahrzehntelang Schwierigkeiten machte, war im wahrsten Sinn des Wortes Wasser auf die Mühle der nicht enden wollenden Klagen und Beanstandungen meiner Mutter, denn dieses Dach war alles Mögliche, nur nicht dicht oder jedenfalls nicht dauerhaft. Als ob nicht schon seit Jahrzehnten weltweit – und nicht nur in Weltteilen, in denen es kaum jemals regnete – Flachdächer gebaut worden wären, waren im Falle meines Elternhauses immer neue und kostspielige Reparaturen nötig, bis es endlich tat, was es tun sollte: ein Dach über unserem Kopf zu sein, das uns vor den Unbilden der Natur schützte.

Und dann der Wohnzimmerteppich. Er war hart und widerständig wie Rosshaar, was wir Kinder, die wir beim Spielen ständig mit unseren bloßen Händen, Knien und Füßen damit auf Tuchfühlung waren, zu spüren bekamen. Was meine Mutter störte, war nicht seine Textur, sondern die Farbe: tiefes Schwarz. Dem geübten Auge der Hausfrau entging kein Faden, kein Papierfitzelchen, kein Staubkorn, kein noch so winziges Blütenblatt und schon gar nicht der kleinste Schuhdreckkrümel – nur tote Stubenfliegen mit ausgerissenen Flügeln hatten eine Chance, unentdeckt zu bleiben. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis der Teppich eines Tages, viele Jahre nach dem Bezug des Hauses, auf nicht nachlassendes Drängen und Nörgeln meiner Mutter hin, durch einen rustikalen, jeder modernen Ästhetik Hohn sprechenden roten Klinkerboden ersetzt wurde. Die Zeit der Experimente war endgültig vorbei. Nun ging es darum, die besten Reinigungs- und Pflegemittel zu finden, die dem neuen Boden jenen Glanz verliehen, den er nie mehr verlieren sollte.

Nicht viel länger überlebte die gemusterte Tapete in den beiden Kinderzimmern im zweiten Stock; da man mit meinem jüngeren Bruder nicht gerechnet hatte, gab es lediglich zwei Zimmer für den Nachwuchs. Die schwarzen Formen auf weißem Grund zu beschreiben, fehlt es mir leider an Worten; besser wäre, ich würde das widersprüchliche Muster zeichnen; ich glaube, ich könnte es, obwohl meine bildnerischen Fähigkeiten beschränkt sind.

Ich sehe das Muster deutlich vor mir: nierenförmig, verschlungen, unregelmäßig, gewiss eine Herausforderung für die Tapezierer, die auf die korrekten Anschlüsse zu achten hatten. Doch die Tapeten verschwanden eines Tages wie ihr großer Bruder, der schwarze Teppich. War ich da schon ausgezogen? Ich erinnere mich nicht. In meiner Erinnerung sind sie so präsent, als hätte man sie nie durch planes Weiß ersetzt. Genauso wie die massiven Schiebetüren, die ich liebte, auch wenn sie ständig quietschend in den Schienen klemmten.

Nachdem das Schwarz aus unserem täglichen Leben verbannt war, konnten Orange und Rot, die Lieblingsfarben meiner Mutter, im Hause Einzug halten: als Lampenstoffbespannung, als Lampensockelfarbe und Kissenstoff; der schreiende Grundton der Deckentapete im Schlafzimmer meiner Eltern aber war gelb: psychedelische Sonnen, die über den Köpfen der Schlafenden rotierten. Auch dann noch, als mein geistig verwirrter greiser Vater meiner Mutter gestand, dass es nur eines gebe, was er bereue, in seinem Leben verpasst zu haben: dass er nie mit einer Frau geschlafen habe.

Orange stach Schwarz aus und überlebte, auch meinen Vater, dessen Haus im Lauf der Jahre und Jahrzehnte so gründlich verändert worden war, dass es schließlich – zumindest innen – kaum noch Ähnlichkeit mit jenem Haus hatte, das einst in der Architekturzeitschrift Werk[4] als Paradebeispiel moderner Baukunst an prominenter Stelle vorgestellt wurde. Überlebt hat das Flachdach. Als es endlich wasserdicht war, vergaß man es. Es war ja unsichtbar.

Sofa I

Wir besaßen kein Sofa, keinen Fernseher, keine Hollywoodschaukel, kein Schwimmbecken, auch keinen Gemüsegarten und kein Klavier, lauter Dinge, die ich mir wünschte. Es gab triftige finanzielle Gründe, auf eine Hollywoodschaukel, einen Pool oder ein Klavier zu verzichten. Warum aber kein Sofa?

Das Haus war groß genug dafür. Das Haus war nach den ästhetischen Maßgaben jener Jahre gebaut worden. Das Haus, in dem, anders als bei meinen Schulfreunden, die seltsamen Möbel bedeutender Designer standen, hätte ein Sofa sehr gut vertragen.

Statt eines Sofas gab es eine unerbittlich harte Liege, eine Couch,kuscheliggemütlichfameux.