Holly Bourne
Happy End gibt’s nur im Film
Roman
Aus dem Englischen von Nina Frey
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Holly Bourne, geboren 1986 in England, hat erfolgreich als Journalistin gearbeitet, bevor sie das Schreiben von Büchern zu ihrem Beruf machte. Mit den Wünschen und Sehnsüchten von Jugendlichen kennt sie sich gut aus, da sie auf einer Ratgeber-Webseite viele Jahre lang Beziehungstipps an junge Leute gab.
Nina Frey, studierte Anglistik und Germanistik in Hamburg. Sie arbeitete lange im Kunsthandel, bevor sie sich als Übersetzerin selbstständig machte.
Audrey ist durch mit dem Thema Liebe. Nach der Trennung ihrer Eltern lebt sie allein mit ihrer Mutter. Um ein bisschen Geld zu verdienen, nimmt sie einen Nebenjob im Kino an und trifft dort auf Harry. Der ist eigentlich der neue weltbeste Regisseur, nur weiß das noch niemand. Während er auf seinen Durchbruch als Filmemacher wartet, verbringt er seine Zeit mit dem Aufsaugen von Popcorn, mit Flirten und mit Grasrauchen. Damit ist er sicher nicht Audreys Traumtyp. Trotzdem verlieben sich die beiden Hals über Kopf ineinander. Audrey fühlt sich, als wäre sie in einem dieser Kitschfilme gelandet, die sie so verabscheut …
Von Holly Bourne sind bei dtv außerdem lieferbar:
This is not a love story
Mein total spontanes Makeover und was dann geschah
Spinster Girls – Was ist schon normal?
Spinster Girls – Was ist schon typisch Mädchen?
Spinster Girls – Was ist schon Liebe?
Witchy Wishes – Ohne Magie klappt das nie!
Deutsche Erstausgabe
2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Copyright © Holly Bourne 2017
Titel der englischen Originalausgabe:
›It only happens in the movies‹
2017 erschienen bei Usborne Publishing Ltd., London
© der deutschen Ausgabe:
2021 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Lektorat: Susann Harring
Umschlaggestaltung: buxdesign|Lisa Höfner
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eBook-Herstellung: Greiner & Reichel, Köln (01)
eBook ISBN 978-3-423-43982-4 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-74075-3
ISBN (epub) 9783423439824
Für Lexi, für das Telefonat
Für Eryn und Willow
»Liebesfilme sind Geld druckende Kitschkathedralen, errichtet auf dem sandigen Grund unglaubwürdiger und schädlicher Stereotype …«
Audrey Winters’ Medienkundearbeit
Kerzen hatte ich nicht erwartet.
Sie erleuchteten das ganze Kino – Teelichter, die fetten weißen Stumpen, wie man sie aus Kirchen kennt, und die langen, dünnen, in Kerzenständer gestopft. Es juckte mich vor lauter Hitze.
Ich blinzelte und schüttelte den Kopf. »Was soll das bitte?«
Dann sah ich Harry.
Er schien so richtig stolz auf sich zu sein. Chaosfrisur, die Hände verschämt in den Hosentaschen, Kopf schief gelegt, die Zähne zu seinem markanten Grinsen gebleckt. Im flackernden Licht sah er aus wie ein Hologramm.
Harry …
Mein ganzer Körper erklärte sich selbst den Krieg. Mein Herz hämmerte gegen meinen Rippenbogen, als wolle es mich mit der dunklen Seite der Macht zu ihm ziehen. Doch alles andere weigerte sich. Meine Innereien verkrampften und mein Magen verknotete sich, in meinem Hals stieg Galle auf.
»Audrey.« Er trat in den Kerzenschein und ich wich einen Schritt zurück. Sein Gesicht wurde lang, die Zähne verschwanden. »Audrey, bitte. Lass es mich erklären. Schau, das hab ich alles für dich gemacht.«
Das war kaum zu übersehen, aber es änderte rein gar nichts.
»Harry, du kannst nicht einfach ein paar Kerzen anzünden und …«
Wieder rückte er einen Schritt nach vorne und stand jetzt vor mir. Er berührte mein Gesicht, wischte mir mit dem Daumen sanft eine Träne ab. Eine Träne, die ich nicht einmal bemerkt hatte.
Und ich dachte: Wenn das hier ein Film wäre, was würdest du machen, Audrey?
Würdest du das Mädchen auf der Leinwand anbrüllen? Sie mit Popcorn oder Kissen bewerfen und brüllen »TU’S NICHT, DU IDIOTIN«?
… Oder würdest du seufzen – und dir anhören, was er zu sagen hat?
ZWEI WIE FEUER UND WASSER
Reiches Mädchen trifft armen Jungen.
Sie stammen aus zwei Welten.
Sie ist für Großes bestimmt, doch sie fühlt sich davon wie erdrückt.
Er kommt aus einer üblen Gegend. War mal Mitglied einer Gang. Damals.
Aber wild aussehen tut er immer noch, und zwar genug, um den Eltern des Mädchens einen Heidenschreck einzujagen, als sich die beiden Hals über Kopf ineinander verlieben – und das, obwohl ihre Leben nichts, aber auch gar nichts gemeinsam haben.
*****
»Hier bewahren wir den Zupfbraten auf.«
Marianna – »Alle nennen mich einfach Ma« – zog eine Metallluke auf und pustete mir eine Ladung Totes-Schwein-Gestank ins Gesicht.
»Den was?«
»Zupfbraten. Pulled Pork«, wiederholte sie. »Für die Pulled-Pork-Hotdogs.«
»Pulled-Pork-Hotdogs im Kino?«
Ma knallte die Luke so laut zu, dass ich zusammenzuckte. »Flicker ist nicht einfach irgendein Kino. Wir sind doch kein Cinemaxx hier. Wir bei Flicker sind stolz darauf, ein einzigartiges Boutique-Kinoerlebnis bieten zu können.« Sie strich sich ihr schwarzes Seidenhemd glatt. »Also, wenn du mir jetzt bitte in die Küche folgst, dann führ ich dir vor, wie man frische Guacamole herstellt.«
Zwei Stunden später hatte ich noch immer keine einzige der Fähigkeiten erlernt, die ich mir von meinem ersten Arbeitstag in einem kleinen Programmkino versprochen hatte. Ma hatte weder das Wort Film in den Mund genommen noch mir gezeigt, wo sich der Projektor befand. Stattdessen hatte ich gelernt, wie man die Kasse bediente, Avocado zermatschte, Spanferkel zerhäckselte, genau die richtige Menge Balsamicoessig in natives Olivenöl goss, um die Dippschale für die »Sauerteigstäbchen« zu bereiten, und, ach ja, »Zimtstaub« für das Popcorn zusammenmischte. Ma brauchte eine Stunde, um einzugestehen, dass sie trotz allem doch noch Popcorn anboten.
»Wann weist du mich ein, wie man Karten abreißt und den Leuten ihre Sitzplätze zeigt?«, fragte ich Ma, als ich mir schon die Hälfte der Avocadopampe unter den Fingernägeln rausgeklaubt hatte. Das Kino würde in kaum einer halben Stunde aufmachen und ich hatte noch nicht mal einen der Säle von innen gesehen.
Ma lächelte. »Immer langsam mit den jungen Pferden.«
Das Lächeln bereitete mir Bauchschmerzen, als würde gleich irgendwo irgendwer hervorgesprungen kommen, wie im Horrorfilm. Sie konnte höchstens dreißig sein, aber sie gebärdete sich wie ein Roboter. Ihr Haar war zu einem strengen Knoten gezwirbelt und sie klapperte auf lächerlich hohen Absätzen umher. »Du bist heute Abend nur für das Essen zuständig. Für mehr hab ich dich im Dienstplan nicht eingeteilt.«
Den farbkodierten Dienstplan hatte ich vorhin schon in dem winzigen Belegschaftsraum gesehen. Darauf war jede Stunde in Zehn-Minuten-Intervalle eingeteilt.
»Super!«, quetschte ich heraus.
»Harry wird gleich hier sein, für die Karten. Der neue Dick Curtisfield ist raus, da ist sicher ordentlich was los.«
Dick Curtisfield. Früher war ich ganz verrückt nach seinen flauschig schrägen Wohlfühlfilmen gewesen.
»Ist das okay?« Mas Blick legte nahe, dass sie mir bei jeder anderen Antwort als »Ja« an die Gurgel gegangen wäre. Aber »ordentlich was los« war gut. »Ordentlich was los« war der Grund, weshalb ich diesen Job angenommen hatte. Mir doch egal, welche Lügen sich die Leute da reinzogen, solange nur so ordentlich was los war, dass mir keine Zeit blieb, um über die Nachricht nachzudenken, die beim Betreten des Kinos mein Handy heimgesucht hatte.
Mum: Dein Vater möchte das Haus verkaufen.
Er möchte das Haus verkaufen. Unser Haus. Unser Zuhause.
Ich lächelte Ma zu, weil lächeln manchmal die einzige Methode ist, nicht in Tränen auszubrechen. »Klingt gut. Also, kannst du mir nur noch einmal die Sache mit dem Zimtstaub erklären?«
»Ordentlich was los« war sehr milde ausgedrückt. Das Kino hatte nur zwei Säle, zwischen denen sich ein mit lila Teppich ausgelegter Bereich mit Kartenschalter und kleiner Bar befand. Zu Stoßzeiten war es hier so voll, dass man noch nicht mal all die detailverliebten Schwarz-Weiß-Gemälde von Hollywoodstars an den Wänden sehen konnte.
Harry erschien zwei Minuten bevor wir aufmachten, gehüllt in eine Wolke aus Zigarettengestank und kalter Herbstluft.
»Ich weiß, ich weiß«, sagte er zu Ma, die auf ihre Armbanduhr tippte. Und noch bevor sie eine Predigt vom Stapel lassen konnte, hatte er sie schon in die Arme geschlossen und hochgehoben.
»He, Harry, lass mich runter!«
Als er es schließlich tat, war sie knallrot und lächelte.
»Draußen stehen sie schon Schlange«, berichtete er.
»Genau deshalb darfst du auch nicht zu spät kommen. Wieder mal. Laut Arbeitsplan hättest du schon vor einer halben Stunde hier sein sollen.«
»Ich bin immer zu spät, Ma. Kannst du das nicht einfach hinnehmen und den Arbeitsplan danach ausrichten?«
Und sie kicherte. Sie kicherte tatsächlich!
Ich stand hinter der Bar und polierte die Theke in einem fort. Harry bemerkte mich, winkte mir zu und kam herüber.
»Hallo, neuer Mensch.«
»Das ist Audrey«, sagte Ma und stöckelte ihm hinterher. »Sie ist noch in der Oberstufe, also kann sie nur einen Tag unterhalb der Woche und am Wochenende.«
Harry kam hinter die Bar und pflanzte sich mir direkt vor die Nase, als hätte er noch nie was von persönlicher Distanz gehört. »Dich kenn ich doch.« Er hatte dunkles, wild abstehendes Haar und alles an ihm war ein bisschen zu lang und zu dünn, als hätte man ihn im nassen Zustand einmal zu fest ausgewrungen.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, glaub ich nicht.«
»Doch, ganz bestimmt …« Er hatte noch nicht ganz ausgeredet, als Ma zischte: »Harry? Die Warteschlange?«, und so sprang er zurück über die Theke und öffnete die Tür, um die trampelnde Herde einzulassen. Also, nicht dass es in Bridgely-upon-Thames jemals Getrampel gäbe, wenn man es genau nimmt. Hier gibt es nur Chanel No 5 und Radley-Handtaschen, Einfamilienhäuser, die Daily Mail und Oboenunterricht, bis man die zwölfte Klasse mit Auszeichnung abschließt. Die Meute fiel in die Bar ein wie die stilvollste Zombieapokalypse aller Zeiten, und ich ließ den Lappen fallen und fragte stotternd das erste Pärchen nach seiner Bestellung.
»Für uns bitte zweimal den chilenischen Merlot, zweimal Popcorn mit Zimtstaub, die Knoblaucholiven … hach … nehmen wir vielleicht gleich eine ganze Flasche? Eine Flasche Merlot …«
Und damit war ich viel zu beschäftigt, um weiter nachzudenken. Was mir sehr gelegen kam.
Die Filme begannen und der Wahnsinn legte eine Verschnaufpause ein. Nervös bat ich Ma, auf die Toilette gehen zu dürfen, und sie sah erst auf die Uhr, bevor sie murmelte: »Ja, vermutlich kannst du eine kurze Unterbrechung gebrauchen. Zehn Minuten.«
Ich verbrachte die gesamte Pause mit dem Kopf zwischen den Knien auf der Personaltoilette, während mein Handy in meiner Tasche in einer Tour vibrierte. Sollte es doch.
Als ich wieder herauskam, war Harry im Foyer und sammelte die leeren Gläser ein, die die Leute auf dem Tresen verteilt hatten.
»Das hat ja gedauert«, bemerkte er. Als würden wir uns schon ewig kennen, was sich ebenso befremdlich wie wohlig anfühlte. »Alles klar bei dir?«
Ich blickte vielsagend in Richtung von Mas Büro. »Ist sie immer so?«
»Wer, Ma?« Er grinste und entblößte riesige Zähne. Für Zahnfleisch war im Grunde kein Platz mehr. »O ja. Sei versichert, dass sie immer so ist. Du gewöhnst dich dran … schließlich haben sich die Leute auch an Stalin gewöhnt.«
Ich kratzte mich am Arm. »Warum will sie Ma genannt werden? Sie sieht aus, als wär sie um die dreißig.«
Harry klemmte sich gleich vier Gläser gleichzeitig zwischen die Finger und schob sie in den Geschirrspüler.
»Ach, Audrey – du hast erst die Spitze des Mas-Neurosen-Eisbergs gesehen.«
Wie aufs Stichwort … »Audrey?« Mas Stimme schallte aus ihrem Büro heraus, spitzer als ein gespitzter Bleistift. »Deine Pause war vor zwei Minuten vorbei. Ich hoffe, du füllst gerade den Schwarzkirschlikör nach.«
»Audrey, bei Fuß«, flüsterte Harry und ich bekam einen Kicheranfall.
Genau wie Ma, ertappte ich mich.
Beim zweiten großen Andrang ging uns die Guacamole aus, und Ma führte sich auf, als hätte ich das verbrochen.
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass wir keine Avocados mehr haben?«, fragte sie mich schmallippig.
»Weil ich nicht wusste, dass ich das soll.«
Ma schob sich eine Strähne aus der hohen Stirn und ich sah, wie sie vor dem enttäuschten Kunden die Augen verdrehte.
»Verzeihung, sie ist neu. Wie wäre es mit etwas Zitronengras-Hummus aufs Haus?«
Es wurde so aberwitzig, dass Harry zu unserer Unterstützung herbeispringen, sich mit Popcornschachteln bewaffnen und es aus der Maschine schaufeln musste.
Es war nicht zu übersehen, dass Harry etwas von einem manipulativen Arschloch an sich hatte. Ma kicherte, sobald er den Mund aufmachte, genau wie alle weiblichen Gäste. Er betörte sie mit Komplimenten über ihre Mäntel, kommentierte ihre Haarschnitte, sagte »Eine hervorragende Wahl«, sobald irgendwer eine beliebige Kombination aus Essen und Wein bestellte.
»Hast du noch den Überblick, Audrey?« Augenzwinkernd reichte er mir ein paar Sauerteigstäbchen herüber und ich lächelte wissend zurück.
Alarmstufe Rot Alarmstufe Rot Alarmstufe Rot.
Mit Alarmsignalen kannte ich mich aus. Alles erlebt, alles abgehakt, meinen Namen auf die Mein erstes Mal war mit einem attraktiven, aber völlig amoralischen Wichser-Liste gesetzt.
Schließlich verschwanden sie einer nach dem anderen in den Vorführräumen und dann gingen krachend die Türen zu. Jetzt, da beide Filme liefen, herrschte im Foyer eine bedrohliche Stille.
Ich lehnte mich erschöpft gegen die Theke. »Und jetzt?«
Ma schüttelte den Kopf. »Hast du dir den Arbeitsplan denn noch nicht mal angesehen, Audrey? Jetzt geht’s ans Aufräumen.«
Also desinfizierte ich sämtliche Oberflächen, räumte sämtliches benutzte Geschirr in die Spülmaschine und wollte mich gerade fußschmerzhalber hinsetzen, als aus Saal eins ein vierschrötiger Mann gewalzt kam. Ich sah mich um, doch von Ma oder Harry keine Spur.
»He, Sie!«, rief der Kunde.
Ich richtete mich auf, als er auf die Theke zukam. »Kann ich Ihnen helfen?
»Ich möchte einen Gourmet-Hotdog mit extra Farmhaus-Topping.«
Gnade.
»Gerne.«
Ich nahm sein Geld entgegen und ging zur Kasse, versuchte mich zu entsinnen, wie sie doch gleich funktionierte. Er hustete.
»Gibt es ein Problem?«, rief ich über meine Schulter.
»Ich verpasse den Film.«
»Es dauert ein paar Minuten, ihn zu machen …« Ich stolperte über meine eigenen Worte, völlig aus der Bahn geworfen von seiner Aggressivität, just als Ma wieder herabgesaust kam.
»Wo liegt das Problem?«
»Ich habe einen Hotdog bestellt«, sagte er.
»Natürlich, natürlich!« Ma klatschte einmal in die Hände. »Wo sitzen Sie? Wir bringen ihn gleich rein, sobald er fertig ist. Verzeihung« – zum zweiten Mal verdrehte sie die Augen –, »sie ist neu.«
Der Mann schritt zum Saal zurück und ich wandte mich wieder dem Pulled-Pork-Warmhalter zu, um Mas Blick zu entkommen.
»Ich wusste nicht, dass wir denen ihr Essen ins Kino nachtragen«, sagte ich, auf dem falschen Fuß erwischt. »Stört das nicht die anderen beim Gucken?«
»Wir machen, was der Kunde wünscht.« Sie spähte mir prüfend über die Schulter, ob ich auch ja die richtige Menge Fleisch drauflöffelte. »Er sitzt auf B12, das ist am Gang links. Kann ich mich drauf verlassen, dass du es ihm reinbringst, wenn es fertig ist?«
Ich nickte. Fühlte mich ungefähr acht Jahre alt.
»Na schön. Dann schau ich mal, wo Harry steckt.«
Sie klick-klackerte davon und ich machte mich daran, den Hotdog zusammenzubasteln, die Biosoße draufzuschaufeln und auf dem liebevoll handgefertigten Bäckerbrötchen zu verschmieren.
Dabei äffte ich sie leise nach: »Ach, vergiss nur nicht, Audrey, der Kunde ist immer König, selbst wenn er ein unhöflicher Armleuchter ist, der nicht mal die halbe Stunde abwarten kann, bis der Film zu Ende ist, um sich seinen überteuerten Schnickschnackhotdog reinzustopfen, sein Wunsch ist uns Befehl …«
»Klingt, als hätte Ma dich schon kleingekriegt.«
Bei Harrys Stimme zuckte ich zusammen und ließ die Zange fallen. Sie klapperte vernehmlich zu Boden, gemeinsam mit dem Brötchen.
»Verdammt«, sagte ich und starrte bestürzt auf den Hotdog.
»Hopsala, Fünf-Sekunden-Regel.« Harry beugte sich hinab und hob ihn auf. Seine Kleider strahlten wieder Eiseskälte ab. Er pustete auf das Brot und entfusselte es, bevor er es mir lächelnd hinhielt. »Der Boden verleiht ihm eine noch zartere Konsistenz«, erklärte er.
Wieder ertappte ich mich bei diesem blöden Gekicher und nahm ihm das Brötchen ab, streifte seine Hand.
»Ma sucht dich.«
»Ach, Kacke.« Obwohl sein Riesenzahngrinsen nahelegte, dass es ihn nicht scherte. »Ich dachte, sie sei zu vertieft in ihren Arbeitsplan, um meine Raucherpause zu bemerken.« Er eilte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend.
Ich entstaubte noch den Teil, den er übersehen hatte. »Danke, dass du das liebevoll handgefertigte Bäckerbrötchen gerettet hast!«, rief ich ihm nach.
Doch von Harry blieb nur ein Hauch kalter Luft.
Beim Betreten des Kinosaals brauchte ich ein paar Sekunden, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ein paar genervte Köpfe drehten sich zu mir, als ich den Gang hinunterschlich.
Ich warf einen Blick auf die Leinwand, um mich von ihrem Licht zu B12 leiten zu lassen.
Dick Curtisfields wunderschöne Heldin rannte gerade durch den Schnee einem Typen entgegen und zerrte dabei einen winzigen Dackel hinter sich her.
»Stopp!«, rief sie. »Warte!«
Der Typ im Schnee blieb stehen und ich konnte richtig spüren, wie das Publikum vereint aufatmete. Ich entdeckte den Umriss des Mannes und ging neben ihm in die Knie.
»Hier ist Ihr Hotdog!«, flüsterte ich.
Er streckte die Hand aus und nahm ihn mir grob aus der Hand, den Blick fest auf die Leinwand gerichtet. Noch nicht mal Danke sagte er.
Ich schlich den Gang wieder hinauf und wollte gerade hinausgehen, als der Schauspieler auf der Leinwand sagte: »Ich habe versucht, dich nicht mehr zu lieben, Katie, aber ich habe es einfach nicht geschafft.«
Unwillkürlich drehte ich mich um. Ich hatte diese Schauspielerin immer großartig gefunden. Immer wieder hatte ich mir ihre besten Szenen angesehen, versucht, mir etwas von ihr abzuschauen. Letztes Jahr noch hätte ich diesen Film um jeden Preis sehen wollen. Der Hauptdarsteller barg ihr Gesicht in seinen Händen. Zu ihren Füßen kläffte der Dackel …
»Das hast du versucht?«, flüsterte sie. Eine Träne lief ihr sacht die Wange hinunter, ohne ihr Make-up zu zerstören.
Er nickte. »Ich habe versucht, dich zu hassen. Ich hab versucht, alle Gefühle für dich in mir abzutöten. Ich hab versucht, dich völlig aus meinem Kopf zu verbannen. Aber ich schaffe es nicht mehr, Kate. Ich kann dich nicht nicht lieben, trotz allem, was passiert ist. Jede meiner Empfindungen, jeder Winkel meines Herzens – all das gehört nur dir. So war es schon immer …«
Ich blinzelte heftig, die Hand an der Tür, und in meinem Hals bildete sich ein Kloß. Ich schob mich hinaus, gerade als die dramatischen Geigen den großen Kuss signalisierten. Ich ging großen Schritts an der Bar vorbei, überhörte Mas gebellte Anweisungen und betrat die Personaltoilette. Und dort ließ ich mit der Unterhose um die Knöchel den Kopf zwischen die Knie sinken und schluchzte – stopfte mir die Faust in den Mund für den Fall, dass Ma hereinkäme und mich weinen hörte.
Mit der Schufterei war es nicht vorbei, als die Menschen aus den Sälen strömten, sich die Augen tupften und sagten, dies sei bislang ihr Lieblings-Dick.
Es war fast Mitternacht, als Ma mir den Mülleimer reichte und mich hineinschickte, um die Säle zu säubern.
Sofort fühlte ich mich schuldig für jedes Mal, das ich Popcorn auf den Kinoboden gebröselt hatte. Es war der reinste Schweinestall – als hätten Wildsäue auf Ecstasy gerade eine Houseparty gefeiert. Ich sah auf mein Handy.
Zwei verpasste Anrufe und drei Nachrichten.
Mum: Wann kommst du wieder?
Mum: Hast du meine Nachricht gelesen?
Mum: Ich fasse es nicht, dass er uns das antut.
Ich schob es zurück in meine Jeanstasche und ging auf die Knie, um Popcorn unter den Sitzen hervorzuklauben.
Harry kam durch die Doppeltür geprescht, beladen mit einem riesigen röhrenden Sauger. »Falsche Taktik, Audrey!«, brüllte er. »Hier kommt der, den du brauchst!«
Ich stand auf und bürstete mir an die acht Kilo Puffmais von der Brust. »Es gibt einen Staubsauger?«
»Wir nennen ihn den Wunderwutzi. Du sammelst das leere Zeug ein, ich mach den Teppich.«
»Danke.«
Ich begann unter diskretem Gähnen, verirrte Weingläser aus sämtlichen Kinosaalritzen zu ziehen. Seit Stunden war ich jetzt auf den Beinen und meinem Bett immer noch nicht näher gekommen. Harry hingegen schwirrte vor Energie, als sei seine Aura aus Knallzucker gemacht. Er summte beim Einsaugen der Trümmer und lächelte über alles hinweg. Als er den Sauger ausstellte, senkte sich Stille über uns. Ich grinste dümmlich und störte mich wahnsinnig daran, dass er die Art von Kerl war, bei der man sich schlagartig dümmlich verhält.
Er fuhr das Kabel ein, während ich all die Schächtelchen einsammelte, die vorher Siebzig-Prozent-Kakao-Schokolinsen enthalten hatten.
»Das ist das bildungsbürgerlichste Kino der Welt«, hörte ich mich sagen.
Harry brach in Gelächter aus. »Und das stört dich?«
Ich stopfte eine weitere Schachtel in den Müllsack. »Ich finde einfach, dieser Laden treibt es ein bisschen auf die Spitze. Ich fühl mich wie in einer Satire.«
Er kauerte sich auf eine lila Sesselarmlehne, mit verschränkten Armen und zuckenden Mundwinkeln. »Und dieses Bildungsbürgertum ist dir natürlich völlig fremd.«
»Was soll das bitte heißen?«
Er beäugte mich von Kopf bis Fuß. »Also, nichts für ungut, aber du bist jetzt auch keine verfickte Eliza Doolittle.«
Mir gefiel es, wie er so beiläufig fluchte. »Meinetwegen, aber ich bin auch keine Bildungsbür–«
»Ach komm«, fiel er mir ins Wort und ließ seinen Blick an mir hinuntergleiten. »Du bist so bildungsbürgerlich, dass ich mich frage, ob du deine Verachtung für diesen Job nicht bei Manufactum bestellt hast!«
Ich sah ihn sehr scharf an – betrachtete sein sorgsam hingeknetetes Haarchaos, seine zerfetzte Jeans, von der jeder weiß, dass sie so aus dem Laden kommt.
»Ja, du hast gut reden«, entgegnete ich. »Wetten, deine Haarpaste ist bio!«
»Du bist so dermaßen bildungsbürgerlich, dass du hundertpro als Kind das Sylvanian-Family’s-Baumhaus hattest!«
Mir klappte der Mund auf. »Woher weißt du das?«
Und wir lachten uns beide tot, was irgendwie cool war, wenn man bedenkt, dass wir uns gerade erst kennengelernt hatten. Ich brach neben Harry auf einem Sessel zusammen und dachte, hier zu arbeiten ginge schon in Ordnung, solange er es auch tat. Meinetwegen, er hatte das Wort Aufreißer in die Grübchen geritzt, aber lustig war er, und was Jungs wie ihn anging, hatte ich meine Lektion gelernt.
»Jetzt weiß ich, woher ich dich kenne.« Er drehte sich zu mir um. »Du bist die Schwester von Dougie!«
»Woher kennst du Dougie?«
»Deine Mutter kennt meine. Dougie und ich sind anscheinend zusammen zur Babymassage gegangen oder so.«
Ich kicherte. »Das ist jetzt aber so was von bildungsbürgerlich.«
Harry stand auf und ergriff meinen Müllsack. »Schuldig, Euer Ehren. Aber ich arbeite viel lieber hier als im Cineplexx – die Bezahlung ist besser, die Kunden sind netter …«
Ich wollte schon zum Protest anheben.
»Netter, hab ich gesagt, nicht nett. Und Ma regt sich auch irgendwann ab, wenn sie weiß, dass du nicht völlig inkompetent bist. Wie läuft’s für Dougie an der Uni? Er ist in Sussex, oder?«
»Ja, gefällt ihm gut, glaub ich. Wir hören nicht so viel von ihm.«
Tatsächlich war er noch nicht ein einziges Mal heimgekommen und hatte mich mit Mum und ihrem neuesten Drama völlig alleingelassen. Ich wollte Harry gerade fragen, wieso er nicht an der Uni war, als Ma durch die Doppeltür preschte, mich beim Entspannen ertappte und völlig in die Luft ging.
Es war gut nach Mitternacht, als Ma uns endlich aus ihren Klauen entließ.
»Du solltest auch los, es ist spät«, sagte Harry, doch sie wedelte ihn unter schwerem Märtyrerinnengeseufze hinaus.
Harry und ich traten gemeinsam auf die vereiste, verwaiste Straße. Unser Atem kristallisierte sofort zu einer gemeinsamen Wolke und schwebte davon. Die Stadt war totenstill. Das Kino lag an einer sonst heillos verstopften Kreuzung, doch jetzt warteten nur unsichtbare Autos darauf, dass die Ampeln von Rot auf Gelb zu Grün sprangen.
»Also, wie war die erste Schicht?«
Ich hörte das unverwechselbare Klick-Fauch eines Feuerzeugs. Harry nahm einen Zug von seiner Zigarette, zog sie sich aus dem Mund und atmete zur Seite aus, damit ich den Rauch nicht abbekam.
»Lief gut. Ich brauch den Job.«
»Sparst du für eine Reise oder so?« Er saugte noch einmal dran.
»So ungefähr.«
Das Röhren eines Motors durchbrach die Stille. Um die Ecke kam ein verbeulter Peugeot geschlittert und bremste ruckartig vor uns ab. Grinsend öffnete Harry die Wagentür und enthüllte den völlig überfüllten Innenraum – wie im Zirkus, wenn sich sämtliche Clowns in einen Mini quetschen. Durch die offene Tür schlug mir unanständig laute Rockmusik entgegen.
»ER IST EIN FREIER MANN!«, brüllte der Fahrer und das restliche Auto jubelte – ausschließlich Jungs, bis auf ein einziges Mädchen. Die Art von Mädchen, deren angeborene Coolness ich schon durch die dreckigen Scheiben erkannte. Da stand ich, peinlich berührt, während sie Harry aus ihrem Kunstpelzmantel heraus anlächelte. Flüchtig fragte ich mich, ob sie wohl seine Freundin war.
Harry ließ die immer noch brennende Zigarette fallen und boxte in die Luft. »ZWÖLF GANZE STUNDEN LANG BIN ICH EIN FREIER MANN!«
»JETZT GEBEN WIR UNS DIE KANTE!«, brüllte der Fahrer.
Harry machte sich an den Einstieg und ich fragte mich, wie er seinen langen Leib dort noch hineinstopfen wollte. Doch da hielt er im Versuch inne und drehte sich um.
»Fährt dich wer nach Hause?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich gehe zu Fuß. Alles okay.«
»Sollen wir dich fahren? Wo wohnst du denn?«
Wieder schüttelte ich den Kopf. »Ich gehe wirklich gerne.«
»Harry, mach hin«, rief das Mädchen aus den Tiefen des Autos.
Harry zögerte. »Bist du dir sicher? Es ist spät und dunkel.«
Ich hob beide Augenbrauen. »Wir sprechen hier von Bridgely-upon-Thames.«
Außerdem, wenn ich zu Fuß gehe, bin ich später zu Hause …
»Auch wieder wahr. Man sieht sich.«
»Man sieht sich«, sagte ich, doch das Auto war schon zu, mit Harrys zusammengefaltetem Körper darin. Es sauste um die Ecke davon, über die rote Ampel.
Und wieder senkte sich Stille über die Stadt.
Die Lichter brannten noch, als ich heimkam, obwohl es so spät war. Ich hatte zwar damit gerechnet, dass sie noch wach sein würde, versuchte aber, mich unbemerkt hineinzuschleichen. Langsam schloss ich die Haustür auf, damit sie nicht quietschte. Unser Haus war viktorianisch – hohe Decken, Erkerfenster und lauter geräuschvolle Extras. Reinschleichen war praktisch unmöglich.
Ich zog die Schuhe auf der Fußmatte aus und ging auf Zehenspitzen in den Flur.
Ich hörte Stimmen, Gläserklirren.
Besuch von Sandra, wie’s schien.
Ich drehte die Augen zur Decke, wollte Bett, sehnte mich nach Bett. Ich brauchte ein Glas Wasser, doch das Klirren kam aus der Küche. Ich würde einfach aus dem Badezimmerhahn trinken.
Ich schlich mich nach oben, putzte mir die Zähne, rubbelte die Schminke von meinem Gesicht und ging auf Zehenspitzen zum Bett. Dort pfefferte ich meine neue Uniform auf den Boden und zog mir eines von Milos alten T-Shirts über. Er hatte es zurückhaben wollen, doch ich behauptete beharrlich, es verloren zu haben. Und ohne etwas zu lesen oder sonst irgendwas, knipste ich mein Licht aus und sank rücklings in mein Bett.
Ich hörte ihre Stimmen durch die dünnen Bodendielen. Das Kreischen ihres Gelächters, das Knallen und Klirren einer weiteren frisch geöffneten Proseccoflasche. Es war Donnerstag, sie musste morgen zur Arbeit. Wie blöd von mir, mir einzureden, es werde besser mit ihr. Als meine Lider nach unten flatterten, dachte ich wieder an diesen Satz aus dem Film.
Jede meiner Empfindungen, jeder Winkel meines Herzens – das alles gehört nur dir. So war es schon immer …
Ich schüttelte den Kopf in meinem Kissen und fand irgendwie in den Schlaf.
Ein stumpfer Aufschlag. Mein Körper schwankte auf der Matratze.
Ein Jaulen.
Meine Augen zuckten auf. Ich roch ihren Atem, bevor ich sie hörte. O Gott. Nicht das wieder. Das hatte sie schon ewig nicht gemacht.
»Du hast nicht mal Hallo gesagt«, winselte sie.
Ich rieb mir die Augen, das grelle Licht, das aus dem Flur hereindrang, schmerzte.
»Hallo, Mum!« Ich war so schlaftrunken, dass ich die Worte kaum herausbekam. Ich drehte mich zu ihr hin. Sie hatte sich rücklings auf mein Bett fallen lassen, die Beine gerade vor sich ausgestreckt, als läge sie in einem Sarg. Ihre Pupillen waren überall und sie stank nach schalem Wein. »Ich hab geschlafen.«
»Hast du meine Nachricht gekriegt?«, fragte sie, ohne sich zu entschuldigen.
»Ich hab morgen Schule.«
»Das Haus.« Ihr brach die Stimme. »Dein Vater nimmt uns das Haus weg!«
Da begann sie zu schluchzen, gerade dann, als mich ihre Worte und das, was sie bedeuteten, wie zwei Keulenschläge hintereinander trafen. Dad hatte vor zwei Jahren alles kaputt gemacht, als er uns eröffnet hatte, er würde uns verlassen und eine neue Familie gründen. Einfach so. Insgeheim hatte er schon über Monate hinweg das Fundament dafür gelegt und sogar Jessie mit Zwillingen geschwängert – die bereits wenige Wochen darauf das Licht der Welt erblicken sollten, nachdem er die Tür unseres Eigenheims hinter sich zugezogen und uns in den Trümmern unseres Lebens zurückgelassen hatte. Ich hätte nicht geglaubt, dass es noch schlimmer kommen könnte, aber jetzt nahm er uns auch noch unser Haus weg?
»Ich hab ihm alles gegeben, Audrey. Alles. Das ist unser Haus. Das ist unser Zuhause …« Ihr Schluchzen mutierte zu Megaschluchzen. Sie rollte sich zu einem Ball zusammen, wie eine Kugelassel – eine schwersttraumatisierte Kugelassel. Ich streckte im Halbdunkel die Hand aus und streichelte ihr das Haar.
»Warum?«, fiepte sie. »Ich versteh einfach nicht, wieso er uns das antut. Warum tut er mir das an, Audrey?«
Ich tätschelte ihr den Kopf. »Ich weiß es nicht, Mum«, murmelte ich. Ich wusste es wirklich nicht.
Mums Schluchzer verebbten zu Gewimmer und ihr Gewimmer verebbte zu Geschnüffel und ihr Geschnüffel verebbte zu Geschnarche, und ich – ich starrte empor zur Decke, und zwar so richtig, richtig lange.
DER BESTE FREUND, DER NUR EXISTIERT, UM DER BESTE FREUND ZU SEIN
Vielleicht sind sie homosexuell. Vielleicht geht bei ihnen männermäßig einfach gar nichts. Oder vielleicht sind sie auch einfach nur die totalen Schussel. Im Grunde ist es auch egal, denn es gibt sie nur, um die Hauptfigur auf ihrer Reise ins Land des ewigen Glücks zu unterstützen. Sie haben keinen eigenen Handlungsstrang, keine eigenen weiteren Ebenen, eigentlich gar nichts Eigenes. Wenn sie Glück haben, werden sie in der letzten Szene noch dem besten Freund des/der Angebeteten aufs Auge gedrückt.
*****
Leroy war mal wieder typisch Leroy, als ich ihn am Tag darauf traf.
»Audrey, du siehst scheiße aus.«
Ich zeigte ihm den Mittelfinger. »Reizend von dir.«
»Einfach nur ehrlich. Das ist reizend, oder?«
»Nein.«
Ich gähnte und wir marschierten gemeinsam zur Schule. Es regnete, diesen unglaublich nervtötenden Regen, bei dem man nicht den Schirm aufklappen kann, ohne sich lächerlich zu machen, der einem aber völlig die Frisur versaut.
»Also, wie lief’s gestern?«, fragte er, mit einen Hauch mehr Verständnis in der Stimme. Obwohl wir hier von Leroy sprachen. Sein Potenzial an Mitgefühl war äußerst begrenzt. Deswegen mochte ich ihn. Kein dummes Gelaber.
»War schon okay, glaub ich. Meine Chefin ist ein Kontrollfreak. Also ein gewaltiger Kontrollfreak. Aber ist mir wurscht, solange ich nur aus dem Haus komme.«
»Mutter weiterhin irre?«
Leroys absoluter Mangel an Schönfärberei brachte mich zum Lächeln.
»Allerdings. Gestern Nacht ist sie wieder zu mir ins Bett gekommen. Daher mein beschissenes Aussehen. Um fair zu sein, das hat sie länger nicht mehr gemacht, aber mein Dad hat uns …« Mein Hals dorrte aus und ich verstummte, weil ich das Thema meiden wollte.
Doch an Mitgefühl wäre ohnehin nichts zu holen gewesen, denn Leroy war bereits mit den Gedanken woanders, hatte das Smartphone in der Hand und prüfte seine Nachrichten.
»Du zu sein ist scheiße.« Das richtete er eher an sein Handy als an mich.
Er litt durchaus mit mir mit. Doch er wusste genau, dass ich nicht gerne darüber sprach. Und ich sprach auch nicht gerne drüber. Erwähnte ich schon, dass ich nicht gerne drüber sprach?
Ich wies mit einem Nicken auf sein Handy. »Was macht der Hofstaat?«
Er nickte, wischte nach links, tippte aufs Display und blickte auf. »Ach, verdammter Humbug, verdammter. Da behauptet irgendwer, meine Zeit beim Regenbogen-Boulevard unterboten zu haben.«
Ich heuchelkeuchte auf. »Aber das ist doch unmöglich!«
Leroy tippte wie besessen weiter. »Was meinst du, was ich denen sage!«
Leroy führte ein seltsames Doppelleben als anonymer Retrogamer. Er spielte Spiele, die schon vor dem Fetalstadium aus der Mode gekommen waren. Aber er war gut darin und lud auf YouTube Videos hoch, die ihn beim Spielen zeigten. Mir war völlig unklar, wo seine über zweihunderttausend Abonnenten herkamen.
»Wetten, dass dieser Mistsack den Feder-Shortcut verwendet und trotzdem behauptet, das sei seine richtige Zeit«, murrte Leroy. »Verlogener Schweinehund.« Er tippte eine letzte Beleidigung, blickte auf und schob sich lächelnd das Handy zurück in die Tasche. »Okay, da bin ich wieder, pardon. Also, wie ist es bei Flicker? Die Karten sind so teuer, man glaubt’s gar nicht.«
»Weil die einen auf Luxus machen«, sagte ich. »Die Kunden sind der Horror, unfassbar eingebildet. Und es gibt nichts Normales zu essen …« Leroy lachte sich schlapp, als er vom Zimtstaub hörte. »Aber sie zahlen gut und der eine Typ dort, Harry, der war nett. Kennst du den? Er sagt, er kennt Dougie.«
»Wie heißt er weiter?«
»Keine Ahnung.«
»Wie sieht er aus? Scharf?«
Ich schlug mit meiner Tasche nach Leroy. »Jedenfalls nicht schlecht. So längeres dunkles Haar und er schmiert sich was rein, damit es absteht. Und vielleicht grüne Augen? Oder braun? Weiß nicht, in Kinos ist es so dunkel. Vielleicht kommt er aus Asien?«
Leroy sah mich verächtlich an. »Vielleicht kommt er aus Asien?«
»Tja, woher soll ich das wissen? Er sieht ein bisschen aus wie Joseph Gordon-Levitt.«
»Audrey, Herrgott noch mal. Der ist jüdisch, nicht asiatisch!«
»Schon gut, schon gut! Ich hab ja gesagt, ich weiß es nicht.«
In Bridgely-upon-Thames kannte normalerweise jeder jeden um zwei Ecken. Wir hatten nur zwei weiterführende Schulen und es zog kaum je eine Familie weg.
Eine Sekunde lang war Leroy still, vermutlich ging er innerlich Gesichter durch. »Gut, das finden wir raus. Also ein asiatisch aussehender, vielleicht jüdischer Kerl mit wahlweise braunen oder grünen Augen …«
Ich lachte und schlug ihn noch mal. »Öhm … seine Freunde haben ihn abgeholt«, sagte ich. »Die schienen alle auf Rockmusik zu stehen. Da war so ein Mädchen mit Undercut. Er raucht …«
»Könnte Harry Lipton sein. Ist er Katholik?«
»Himmel, Leroy. Woher soll ich das wissen? Er hat mich jetzt nicht in einen Holzschrank geschoben und mir alle seine schmutzigen Geheimnisse gebeichtet.«
Leroy grinste. »Mit Männern bist du scheiße.«
Ich schlug ihn zum dritten Mal.
»Wenn er katholisch ist, dann ist er Harry Lipton. So ein Heide, der der Kirche den Rücken gekehrt hat. Zumindest laut meiner Mum.«
»Woher will die das wissen?«
Er seufzte. »Sie führt eine Liste darüber, wer zur Kirche geht und wie oft. Also, eine richtige Liste. Ich hab sie mal gefunden.«
»Deine Mum ist so seltsam.« Ich hielt mein Haar in die Höhe, um zu prüfen, wie schlimm es sich in der Feuchtigkeit kräuselte.
»Das ist mir mehr als bewusst. Aber egal, wenn es der Harry ist, an den ich denke … ich glaube, der hat letztes Jahr mit Cassie geschlafen und sich dann völlig in Luft aufgelöst. Sie hat ihm schwerst hinterhergetrauert.«
»Cassie, die Cassie aus deiner Kirche?«
Er nickte.
»Deine Kirche besteht fast nur aus getarnten Perverslingen.«
Er verneigte sich mit der schwulsten Geste, die die Welt je gesehen hat. »Audrey, ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.«
Bald wanderte das Gespräch weg vom Kino hin zum Klagen über die Hausarbeiten, Klagen über die Schule, Klagen über diese Stadt – unser täglich Einerlei. Leroy war der Zyniker, an den ich mich in den Monaten nach Milo geklammert hatte, als sei er meine Sauerstoffmaske. Wir kannten uns aus der Theatergruppe und hatten uns angefreundet, als er mich schluchzend hinter dem Bühnenvorhang erwischt hatte. Ich wusste, dass er mir der beste aller Freunde sein würde, als er sagte: »Nimm’s mir nicht krumm, aber du bist die hässlichste Heulerin, die mit je untergekommen ist.« Obwohl mein Herz sich krümmte vor Schmerz und Scham, hatte ich lachen müssen.
Je näher wir der Schule kamen, desto dichter ballten sich die Bündel dunkelblau uniformierter Schüler, bis wir alle im Einheitsmarsch schlurften. Als sich unsere Wege zu den Klassenzimmern trennten, rief ich Leroy noch einen Abschiedsgruß zu, doch er hörte gar nicht hin. Er war schon wieder in sein Handy versunken, murrte etwas von Federn und Regenbogen. Ich schritt durch die engen Korridore meinem Medienkundeunterricht entgegen und versuchte, mir die Müdigkeit aus den Augen zu reiben, ohne meine Wimperntusche zu versauen. Alice saß an unserem üblichen Platz. Sie winkte mir zu, um ein frisch lackiertes Fingernagelset zu präsentieren, und ich ließ mein Zeug auf den Stuhl neben ihr fallen.
»Neue Farbe?« Ich nickte in Richtung ihrer Hände.
»Jupp. Gestern mit der Post angekommen. Aus Amerika, mit echtem Blattgold drin – siehst du?« Sie schob mir die Finger quasi ins Gesicht.
»Seh ich.« Der Mangel an Begeisterung in meiner Stimme war nicht zu überhören, doch sie schaffte es trotzdem.
»Wie war der erste Arbeitstag?«
»Okay.« Der vergangene Abend kam mir vor wie ein Traum. Schwer vorstellbar, dass ich morgen Abend schon wieder hingehen und alles noch mal machen sollte.
»Kommst du mich dort mal besuchen? Mit den anderen?« Ich versuchte mich an einem Lächeln. Ich versuchte mich an größerer Begeisterung. Beide Versuche gingen voll in die Hose.
Alice übersah auch das geflissentlich. »Oooo ja, das müssen wir unbedingt! Kriegst du uns billiger rein?« Ihre Bemühungen um einen normalen freundschaftlichen Austausch waren wesentlich erfolgreicher – oder vielleicht einfach nur aufrichtiger. Vielleicht war es nur ich, die den klaffenden Abgrund zwischen uns spürte, der früher nicht da gewesen war.
»Hab ich noch nicht gefragt.«
»Moment mal« – Alice zwirbelte sich ihr Haar um den Finger –, »ist der neue Dick Curtisfield nicht angelaufen? Dann schauen wir uns doch den an. Den finden wir doch alle total gut!«
»Klar! Klingt super!«, trällerte ich verkrampft. »Morgen bin ich wieder da.«
»Perfekt! Ich frag die anderen beim Mittagessen.« Ihr Lächeln war echt, doch ihre Stimme klang gezwungen und ich verspürte einen Stich. Wegen dem, was ich uns angetan hatte, was ich unserer Freundschaft angetan hatte.
Ich war erleichtert, als Mr Simmons ins Zimmer gekugelt kam und mit der Stunde begann. Erleichtert, keinen Small Talk mehr machen zu müssen mit dem Mädchen, das meine beste Freundin gewesen war – dem Mädchen, das wahrscheinlich immer noch glaubte, wir wären befreundet. Mir war unerklärlich, warum meine Freundschaften durch die Geschichte mit Milo dermaßen gelitten hatten, obwohl meine Freundinnen ja alles richtig gemacht hatten – aber es ließ sich nicht leugnen.
Meine ganze Kindheit waren es nur Alice, Becky, Charlie und ich gewesen. Zwei beste Freundinnenpaare – die »Mädchenmeute«, wie unsere Eltern uns nannten. Wir hatten die Grundschule, die Pubertät und die Schularbeiten überstanden und uns nach unseren Mittelstufenprüfungen gemeinsam in einen Wohnwagen in Newquay gequetscht, einen irren Urlaub lang. Und diese Freundschaft hatte sogar mein erstes Erdbeben überstanden, als Dad uns verlassen und Mum einen Zusammenbruch erlitten hatte. Sie hatten mich umarmt, als ich geweint hatte, sie waren mit Schokolade vorbeigekommen – für uns beide, Mum und mich. Doch dann, zu Sommeranfang in der zehnten Klasse, war die Milosache passiert und plötzlich war mir, als sei alles in meinem Leben nur noch Dreck. Sogar meine Freundschaften. Ich war zu gedemütigt, um ihnen überhaupt zu erzählen, was geschehen war. Ihre Gesellschaft überforderte mich. Wie findet ihr das Kleid hier? Sieht Russell nicht unfassbar gut aus? Findest du nicht, dass Sarahs alter Haarschnitt ihr viel besser gestanden hat? Geht ihr am Wochenende mit mir einkaufen, ich hab so eine Jacke gesehen, aber ich weiß nicht, ob ich so was tragen kann? Bei ihrer herzigen, dauerpositiven Ach-Audrey-das-wird-schon-alles-wieder-Einstellung drehte sich mir der Magen um, und so flüchtete ich mich vor ihnen in Leroys unsentimentale Arme. Irgendwas in mir war versteinert, während sie ganz die Alten waren.
Mr Simmons tigerte auf dem Teppich hin und her und riss mich zurück in meine Medienkundestunde.
»Schön, dann wäre es also an der Zeit, mal über eure vorwissenschaftlichen Arbeiten nachzudenken, die dieses Jahr anstehen.« Er machte auf dem Absatz kehrt und streifte wieder zurück. »Ziel dieser Einheit ist es, dass ihr lernt, selbstständig ein wissenschaftliches Thema zu recherchieren, um euch auf die Universität vorzubereiten.«
Alice machte ein verschrecktes Gesicht und auch ich quälte mir eines ab.
»Also müsst ihr einen medialen Aspekt auswählen, den ihr kritisch unter die Lupe nehmt. Thema völlig frei. Solange ihr versucht, dabei spezifisch zu bleiben.«
Eine neue Kehrtwendung. Eine weitere Wanderung über den kaugummiverklebten Teppich.
Ein Typ namens George meldete sich. »Also dürfen wir das ganze Schuljahr lang machen, worauf wir Bock haben?«
»Netter Versuch«, sagte Mr Simmons. »Vermutlich werdet ihr das deutlich kniffliger finden als meinen prüfungsvorbereitenden Unterricht. Viele von euch dürften sich am schwersten damit tun, überhaupt ein Thema zu finden.«
Alice hob eine glitzernagelige Hand.
»Ja, Alice?«
»Könnten Sie uns ein paar Beispiele nennen?«
»Natürlich, natürlich.« Er griff sich einen Stoß Papiere und teilte sie aus. Ich nahm mir eines und überflog die Fotokopie einer fremden Handschrift. »Also, das einzige echte Kriterium ist, dass ihr einen medialen Aspekt aus akademischer Perspektive betrachtet – die Nachrichten, Fernseh-Sitcoms, Hollywoodfilme, eigentlich alles … Letztes Jahr hat eine Schülerin die Berichterstattung über Frauensport auf den großen Fernsehkanälen mit der über Männersport verglichen. Ein anderer hat sich Schleichwerbung in James-Bond-Filmen näher angeschaut. Oder wie viel Leinwandpräsenz nicht-weiße Schauspieler und Schauspielerinnen in Oscar-nominierten Filmen haben. Also …«
Mr Simmons setzte sich und nippte an seinem Kaffeebecher. »Ich weiß, dass sich das recht herausfordernd anhört, lasst uns doch mal zehn Minuten Ideen sammeln. Was fällt euch so ein?«
Alice und ich sahen einander ausdruckslos an. »Irgendwelche Geistesblitze?«, fragte sie.
»Null. Du?«
»Keine Ahnung.« Sie begann, den Rand ihres Blocks mit Schnörkeln zu verzieren. »Vielleicht könnte ich irgendwas über Frauenzeitschriften machen.«
»Klingt doch perfekt. Würde sich auch gut in deinem Lebenslauf machen, wenn du dich für ein Praktikum bewirbst.«
Alice hatte schon als Siebenjährige den Wunsch gehabt, mal für ein Hochglanzmagazin zu schreiben. Sie lebte in der ständigen Angst, der Printjournalismus könnte schon Geschichte sein, bevor sie ihren Traum überhaupt wahr machen konnte.
»Dann nehm ich das.« Sie setzte sich gerader hin und notierte Frauenzeitschriften.
Ich tippte mit dem Stift auf den Tisch und sah zu, wie alles um mich herum loskritzelte. George war der Einzige, der völlig überfordert aussah, und wir grinsten einander zu. Dann fiel mir ein, dass George einer von Milos besten Freunden war, und ich bekam Panik, dass er wissen könnte, was passiert war. Ich wurde rot, bekam einen flauen Magen und stierte auf mein leeres Blatt.
Was konnte ich schon ein ganzes Halbjahr lang recherchieren?
Was konnte einem schon derart am Herzen liegen?
Mr Simmons musste mein Zögern bemerkt haben, denn er kam herbei und ging neben meinem Tisch in die Hocke. »Tust du dich schwer, Audrey?«
Bei seinem Kaffeeatem verzog ich das Gesicht. »Mir fällt einfach nichts ein.«
»Nun, für was interessierst du dich denn?«
Ich zuckte die Schultern, fühlte mich bloßgestellt, weil jeder uns zuhören konnte. »Ich weiß nicht.«
»Wie wäre es mit Filmen oder Fernsehen? Bei all den Schultheateraufführungen, bei denen du mitgemacht hast?«
Seine Worte versetzten mir einen Schlag. Genauso gut hätte er mir ins Auge spucken können. »Ich mag Filme, denk ich mal.«
»Hervorragend, super.« Er führte sich auf, als hätte ich gerade eine unlösbare Gleichung geknackt, statt das Banalste vom Banalen zu äußern. »Was für Filme gefallen dir denn?«
Ich hatte keine Ahnung mehr, was mir gefiel. Ich hatte keine Ahnung mehr, was ich hier zu suchen hatte. Warum ich Medienkunde bis zum Abschluss weitermachte und nicht Theater.
Mein Lieblingsfach – eigentlich mein einzig wahres Fach – und ich hatte es einfach in den Wind geschossen. Ich hatte Theater abgewählt … Ich war seit letztem Sommer quasi durch mein eigenes Leben geschlafwandelt, hatte mich durch jeden einzelnen Tag geschleppt, die Tage gezählt und abgehakt, obwohl ich mir gar nicht sicher war, worauf ich eigentlich hinwartete. Ich hatte große Entscheidungen allein auf der Grundlage getroffen, was mir am wenigsten Mühe, die wenigsten Schmerzen bereiten würde. Für mehr fehlte mir nach dem, was Milo getan hatte, die Kraft. Immer wieder kam es hoch, ein kalter, schwelender Zorn, der einfach nicht abebben wollte.
»Du magst doch Liebesfilme, oder, Audrey?«, sprang Alice mir bei, um mich aus meinem Elend zu erlösen.
»Ach, tatsächlich?«
Ich spürte, wie ich rot anlief.
»Sie ist nach Audrey Hepburn benannt!«
»Wirklich?«, fragte Mr Simmons und ich brachte ein halbes Nicken zustande.
»Nun, die ist natürlich eine Ikone. Vielleicht findet sich über sie ein Thema?«
Ich sah ihn so abgrundtief ablehnend an wie möglich.
»Ooooooder vielleicht auch nicht. Also, du magst Liebesfilme?«
Ich schüttelte heftig den Kopf. »Früher ja. Aber jetzt nicht mehr.«
Trotz meines Winks mit dem Zaunpfahl bohrte er weiter. »Verstehe, und wieso nicht?«
»Weil sie lauter irreführende Lügen verbreiten!« Das kam aus meinem Mund geschossen, bevor ich überhaupt merkte, dass ich ihn aufgemacht hatte. Ich hörte George schnauben und brach auf meinem Stuhl zusammen, wand mich vor Scham über meinen kurzen Gefühlsausbruch.
Wenigstens brachte er Mr Simmons ein paar Sekunden zum Schweigen. Alice kicherte im Versuch, die Peinlichkeit zu übertünchen, und neuer Hass wallte in mir auf, obwohl sie ja gar nichts verbrochen hatte.
»Stimmt doch«, beharrte ich. »Romantische Filme versauen einem die Beziehungen im richtigen Leben. Sie verbreiten eine Vorstellung von Liebe, die im wahren Leben gar nicht aufrechtzuerhalten ist. Das ist gefäh…« Ich wollte gerade »gefährlich« sagen, bremste mich aber, als ich mitbekam, dass die ganze Klasse mir zuhörte. Ich ballte die Fäuste. Ich suchte ein schwächeres Wort. »Das ist … jämmerlich.«
Mein Lehrer lächelte, auf mitleidige Weise, und ich zerrte mir die Ärmel über die Hände und beugte mich vor, um mich hinter meinem Haarvorhang zu verbergen.
»Scheint, als hättest du da schon den richtigen Riecher, Audrey«, sagte er leise. »Denk doch mal drüber nach, was du aus diesem Gedanken machen könntest.«
»Sie arbeitet in einem Kino«, flötete Alice fröhlich dazwischen. Immer noch meine inoffizielle Sprecherin für den heutigen Tag. »Im Flicker.«
»Ach ja?« Mr Simmons stand auf. »Na, dann freue ich mich schon auf eine tolle Projektbeschreibung, Audrey – wo du doch an der Quelle sitzt.«
»Ich weiß ja noch nicht mal, ob ich mir überhaupt die Filme umsonst ansehen darf«, sagte ich, doch Mr Simmons hatte mir schon den Rücken zugekehrt.
Ich blickte auf meinen Block.
Ich hatte geschrieben:
Warum Liebe nie wie im Film ist.
IHR