… Ich habe es immer abgelehnt, dass man in welcher Form auch immer meine Dienstreden der Öffentlichkeit präsentiert! Durch dieses Buch wird die ganze Schwere meiner kraftvollen Sprachauswüchse durch die gedruckte Form erhöht! Das wollte ich niemals zulassen, allein wegen der Gefahr, Nachahmer könnten es in völlig falscher Diktion weitergeben und damit eine ganze Generation dem Gespött der nachfolgenden Generationen aussetzen! Doch nun, nachdem ich das Buch (gezwungenermaßen, denn dieses Buch ist von selbst entstanden, ohne dass ich dazu etwas zu sagen habe) in eigenen Händen halte und überrascht bin ob der unwillkürlichen Obszönität meiner eigenen, längst vergessenen Worte, entscheide ich um: Dieses Buch, fast schon das Buch eines Gelehrten, ist die Erscheinung, die es bisher noch gebraucht hat! Mit letzter Tinte, so drückte es einmal mein Freund Günter Grass aus, hat der Verlag die Seiten dieses Buches bestimmt. Ohne mein Zutun! Genial! Ich, der ich die Freiheit über alles liebe und deshalb frei habe, komme zu dem Entschluss, dass es nichts braucht als Buchstaben, um eine tief schürfende Kraft zu übersetzen. Die Kraft, die aus den Zeilen kotzt.
Helge Schneider, im April 2015
Viele Leute denken sich ja: Komisch, hier auf der Bühne sind ja gar keine Videoleinwände wie bei Marius Müller-Collins. Nein, das brauchen wir nicht. Ich habe eine Lupe mit, damit ihr mich besser sehen könnt! Die hab ich im Urlaub gefunden, am Strand von Honolulu. Das ist eine kleine, schöne Insel, mehr oder weniger ein Einland. Spiegeleierbau. Eine sehr schöne Insel im Pazifik. Den Pazifik kennt ihr vielleicht. Den Atlantik auch. Pazifik ist aber woanders. Der Atlantik fängt in Holland an und hört in New York auf. Der Pazifik ist auf der anderen Seite von New York und geht bis zum Kaukasus, Indien, China, Italien, diese Länder dort am Hindukusch. Afrika, Australien. Neuseeland ist auch zu empfehlen – rudern. Achter mit Steuermann, immer Weltmeister. Ich habe früher ja auch mal gerudert. Leider nur mit einem Einer und in der Kreisliga. Aber ich will nicht zu viel vom Sport erzählen.
Also, diese Lupe hier habe ich gefunden, am Strand von Honolulu, eine sehr schöne Insel. Aber es gibt ja auch noch andere Inseln, z.B. Sylt. Und ich ging da also entlang, ich hab den Kinderwagen – ich hab ja ein kleines Kind – am Wasser abgestellt und wollte mal ein bisschen spazieren gehen für drei Stunden, es war Ebbe, und wollte mal allein sein mit meinen Gedanken, sofern ich überhaupt Gedanken hege. Im Urlaub habe ich noch nicht mal Gedanken. Das ist so eine schöne Sache, Urlaub. Ich habe eine Woche Urlaub gehabt dieses Jahr. Und da habe ich auf einmal das hier in der Sonne glitzern sehen. In der Abendsonne von Hawaii, die dieselbe Sonne ist wie auf Haiti oder Honolulu. Das ist auch dieselbe Sonne wie hier, komisch, nicht? Aber die Sonne kommt hier zu einem anderen Zeitpunkt über den Erdbuckel, wie der Fachmann sagt, also am Horizont. Aber wir wollen nicht so viel über Erdkunde reden, sondern wir wollen mal wissen, wie es überhaupt weitergeht, Helge, nicht? Ja, das kann ich euch sagen – die Frage war an mich selbst gerichtet. Als ich das hier in der Sonne glitzern sah, da habe ich mir auch die Frage gestellt: Helge, was ist denn das? Ich bekam die Antwort: Weiß ich doch nicht. Eine prompte Antwort von mir selbst gegeben. Das können nur die wenigsten Menschen, dass sie ohne zu sprechen – das spielt sich alles nur im Gehirn ab –, also man fragt sich selbst und kriegt auch gleich die Antwort, auch wenn die Antwort diesmal negativ ausgefallen war. So ist es manchmal im Leben.
Also habe ich mich gebückt, ich dachte, es wäre vielleicht eine versteinerte Qualle, solche Fossile findet man ja oft am Strand. Ich hab zum Beispiel mal eine alte Milchflasche aus dem Tertiär gefunden, das war so ein Knubbel Schildpatt. Oder die Schuhe von Hans-Joachim Kulenkampff, weggerutscht von seiner Jacht im Sturm. Die sind da an Land geschwemmt worden, um genau zu sein in Norddeich Mole, das ist, wenn man von Norderney rüberfährt, aber die waren nicht mehr zu erkennen, nur noch als Algen, als grüne Fäden.
Apropos Algen, ich dachte also erst, es könnte eine versteinerte Qualle sein. Es war merkwürdig, ich konnte meine Hand da durch erkennen, und je weiter ich es weghielt, umso größer wurde die Hand, also musste es eine Riesenqualle gewesen sein, wenn es denn eine Qualle gewesen wäre.
Es gibt ja Quallen, die sind vier Meter im Durchmesser und die Tentakeln acht Kilometer lang. Das ist die Spanische Galeere, eine der gefährlichsten und schnellsten Quallen der Erde. Und ich rede jetzt nur von der Erde. Wir wissen nicht, wie viele Quallen es noch im Universum gibt, sicherlich auch kilometerlange Quallen. Jedenfalls, wer von diesen Tentakeln erwischt wird, ist sofort weg, und zwar acht Kilometer weit weg, zwischen den gelben Zähnen der Qualle, und wird dort verköstigt. Denn Quallen essen Menschen, wenn sie Menschen essen können. Wenn sie das könnten, würden sie das auch tun. Es sind die gefährlichsten Tiere der Welt. Außer Elefantenhornissen, das sind ganz gefährliche Stechtiere, also wie Wespen, nur dreimal so groß. Die sind ungefähr dreimal so groß wie ein Elefant. Die gibt es allerdings nur in der Schweiz ab viertausend Metern Höhe. Diese großen Elefantenhornissen, oder auch Elefantissen.
Ich dachte mir, ich sollte das mal von einem bekannten Fossilologen untersuchen lassen, einem Optologen, der sich damit auskennt, einem Augenoptiker aus Honolulu-Stadt, der dort bis über die Grenzen von Hawaii hinaus bekannt ist. Und zwar handelt es sich um Doctor No Problem. Das ist ein amerikanischer Name, wahrscheinlich ein Künstlername. Seine Eltern kommen aus Belgien – sein Vater aus Lorch am Rhein, also aus Deutschland, seine Mutter aus Dänemark – und haben in Polen studiert. Der Vater ist dann kurzzeitig in die Tschechoslowakei gegangen, um in einem Blumengeschäft versteckt zu ermitteln. Der war nämlich Ermittler. Und die Mutter war in einem Bratapfelbetrieb in Schleswig-Holstein tätig, damals noch für Bauer Hying, der später nach Amerika ausgewandert ist, und die Oma der beiden war bei Mannesmann Hochofenschweißerin.
Das nur mal so nebenbei, um den Werdegang dieses Mannes zu umreißen, letztlich ein Hannoveraner. Hannoveraner sind mit die schnellsten Pferde der Welt. Hans Günter Winkler wusste das zum Beispiel auch sehr genau, deshalb hat er sich auf eine Hannoveraner Stute gesetzt und damit mehrere Goldmedaillen errungen.
Schnell noch ein bisschen Tee. Ich bin Teeist. Ich hatte gerade schon diese Verstauchung hier im Rücken, weil ich zu wenig Tee hatte. Sehr schönes Porzellan. Meißen. Toll. Sehr schön. Eine sehr schöne Arbeit vom Meißner Porzellanmacher. In Meißen habe ich auch gelernt, wie man eine Tasse hält … jetzt hätte ich mich beinahe verschluckt.
Der Doctor No Problem hat das dann also untersucht. Der hat ja die Geräte dafür. Also Lupe, Brille, Pinzette und die ganzen Sachen, Tupfpapierchen und so Lösungen. Und dann haben wir das durchs CT geschickt, also Computertomografie, kennt ihr vielleicht. Viele von euch haben das vielleicht schon einmal machen lassen aus Angst, nichts zu haben. Ich hab’s auch mehrmals machen lassen, aber es war immer dasselbe Bild, egal wen ich da reingesteckt habe. Die Firma, das sind ganz schöne Halunken, die haben die Tomografien schon fertig in der Schublade unten drin. Da legt man sich dann rein und dann summt das so und dann kommt die raus, die Tomografie. Und dann sieht man sich selber als Leiche zerteilt und mit mehreren Farben – so, das soll das Herz sein, ist aber der Fuß. Und dann hat man alles, also Diphtherie, Pest, Cholera und so. Damit man schön Aspirin schlucken muss. Das wird dann ja auch von der Kasse bezahlt, wenn auch sonst nichts mehr, habe ich gehört. Ich war neulich beim Arzt und habe kein Geld gekriegt, nichts. Der Arzt saß in alten Filzlatschen und einer durchgescheuerten Cordhose vor mir, ohne Unterhemd und unrasiert, da muss ich schon sagen: Hartz. Egal. Ich wollte jetzt auch mal ein wenig politisch sein. Der Arzt hat herausgefunden, worum es sich dabei handelt. Und zwar war es die Kontaktlinse von einem Wal.
Hannover. Die Kulturhauptstadt – im Umkreis von fünf Minuten. War schön. Hannover ist immer schön. Ich weiß noch, wie ich zum ersten Mal nach Hannover fuhr. Ich war vorher allerdings noch nie in Berlin gewesen oder in Köln. Da war ich zum ersten Mal mit meiner Band namens »Bröselmaschine«, das waren so Hascher, da habe ich mitgespielt, an der Orgel. Mit denen sind wir das erste Mal in Hannover gewesen und haben in einem Flohzirkus gespielt, das muss man sich mal vorstellen. Wir waren da in einem Hotel gewesen – wie lang ist das her? 1974, da war ich gerade mal 19 Jahre alt. Und in dem Hotel gab es Flöhe im Bett. Ich musste mir mit dem Bassisten ein Bett teilen, das muss man sich einmal vorstellen. Und dann waren da auch noch die Flöhe. Ich bin die ganze Nacht spazieren gegangen. Und zwar an der Leine, damit ich nicht abhaue.
So weit zu Hannover. Schon damals habe ich mich in diese Stadt verliebt. Was für eine tolle Stadt Hannover war, ich glaube, noch nicht wieder aufgebaut zu der Zeit. Jetzt ist das ja toll hier, mit den Kaufhäusern und so, sehr schön auch die Galeria Kaufhof – wie in jeder anderen Stadt, man kann sich nicht mehr vertun.
Meine Damen und Herren, wir sehen nun die vierspännige Kutsche vorfahren mit den beiden Gemählern. Der König von Spanien Juan Carlos der Vierte und seine Frau Werner. Ilse Werner. Im Hintergrund das Bolschoi-Ballett, dirigiert von Hans Werner Henze, dem Autodidakten. Und da sehen wir den Dalai Lama eintreffen, im Gespräch mit Berti Vogts. Das Thema heute wahrscheinlich wieder Apfelernte in Andalusien leicht gemacht mit den Werbefolien von Telerent. Und da kommt die Urne – der unvermeidliche Mayer-Vorfelder lässt sich hier seine eigene Trauerfeier aus Zeitgründen vorwegnehmen. Er selber schreitet lächelnd hinter dem Trauerzug hinterher, und wir sehen Fürst Rainier von Monaco mit – wie man hier sehen kann – traurig verweinten Augen wegen seiner Fürstin Grazia, nach vierzig Jahren immer noch in Trauer. Und nun beginnt der Gottesdienst. Es spricht Felix Magath. Tonausfall. Mette Marie, dort sehen wir sie mit ihrem kleinen Bruder Hansjürgen Wussow. Die Musik für dieses Spektakel komponierte die Schwester von dem Freund von der Schwägerin von George Michael, die auch hier mit Elton John zusammen ein Bild hat.
Die vierspännige Kutsche fährt jetzt vor der Kathedrale von Celle vor. Der Bürgermeister von Wesel gibt seine Audienz. Wir sehen im Hintergrund Johannes Hesters sitzen – als Einzigen. Er bewegt sich nicht. Dort der Agha Khan und natürlich wie immer dabei Soraya neben Helge Schneider und dem Chefredakteur der Gala. Und nun kommt der letzte der Beatles, ein bis jetzt unbekannter Mann, der früher bei den Beatles mitgespielt hat, bevor die Beatles sich kennengelernt haben. Er liest nun in der Ansprache von Frano Nero »Django«.
Ich möchte jetzt noch ein Lied von Beethoven spielen, einem der ganz Großen unserer Zeit, möchte ich sagen, denn unsere Erde ist ja Milliarden Jahre alt, und die Menschheit existiert ja noch nicht so lange. Und so ist es ja eigentlich erst vor ein paar Minuten gewesen, wenn nicht vor ein paar Millisekunden, wenn man mal das ganze Universum sieht. 1802 ist das geschrieben worden, was ich jetzt von ihm spielen werde, also vor zweihundertzwei Jahren. Er hat sehr viele Sachen geschrieben, die ich persönlich sehr gut finde. Beethoven ist einer der ganz großen Komponisten. Auch Mozart war sehr gut. Aber Mozart lebte vor Beethoven. Der kam aus Bonn, wo er geboren worden ist. Er hat die Mondscheinsonate komponiert, die kennt ihr wahrscheinlich, die ist ja ganz berühmt. Viele Leute verdienen heute daran auch Geld. Beethoven selber hat davon keinen Pfennig bekommen, weil damals gab es noch kein Geld, da gab es nur Salz und Pilze. Kurz vorher wurde die Kartoffel eingeführt, kurz danach gab es aber schon ein Einfuhrverbot für Kartoffeln, weil die deutschen Bauern selber Kartoffeln anpflanzen wollten. Die hatten nämlich selber eine Kartoffel erfunden, die dem dicken Zeh von König Ludwig dem Vierzehnten nachempfunden war.
Die Zeit um Beethoven war also eine sehr umstrittene Zeit. Beethoven war ein richtiger Revoluzzer. Er ließ sich die Haare wachsen, wo andere keine hatten. Die Grafen – und auch Händel, dieser auch ganz berühmte Mann –, die trugen ja diese riesigen Perücken und waren geschminkt anstatt gewaschen. Die hatten ihr Leben lang nicht ein einziges Mal Wasser gesehen. Das galt nicht als chic, baden zu gehen, das machten nur die armen Leute. So wie wir hier alle. Die richtigen Könige, die schissen in die Ecke, nur das gemeine Volk hatte Toiletten. Die Könige machten nicht ihre Notdurft, daher kommt auch das Wort – von Not und dürfen –, also in der Not durfte man da hinmachen.
Ich spiele jetzt die Mondscheinsonate. Eigentlich hatte er sie selber nicht so genannt. Das haben die Fans gemacht, er hat auch einen Fanklub. Es gibt auch viele Videos von ihm. Nächstes Jahr, da werde ich fünfzig, kommt auch ein Video von mir raus, das heißt »Helge beim Arzt«. Ist aber nur CD. Beethoven hat auch ganz andere bekannte Kompositionen gemacht. Die Fünfte ist eine seiner berühmtesten. Die hat er extra für den elften Finger geschrieben.
Ich habe hier eine sehr schöne Gitarre. Die war mal weiß, und ich will euch die Geschichte erzählen, wie es dazu gekommen ist, dass diese Gitarre jetzt so schön bunt ist. Ich stelle sie erst mal wieder hin. Sieht ein bisschen doof aus. Hallo, das kann umkippen. Egal. Auf jeden Fall war die Gitarre mal weiß. Ich war im Kaufhof in der ersten Etage, da war ich lecker essen. Es gab falschen Rehrücken, der wird aus Formfleisch von ehemaligen Fischen hergestellt, also genauer gesagt aus Fischimitat, eine Art Fischmehlersatz aus Polymethylen und Polyesterharz-Soße. Das wird zu einer flockigen Form vermengt, damit man es essen kann, und da rein legt man dann Einlegesohlen von Stöckelschuhen von Frauen, die in der Oper waren, und die sie abends in Sektlaune aus ihrem Porsche herausgeschmissen haben. Die, die innen diese dreieckigen Abdrücke haben von den Apollo-Hühneraugen-Pflastern. Die werden mit den Fingern zerrieben und auch mit verarbeitet. Nach drei, vier Jahren ist solch eine Sohle gar nicht mehr viel wert. Und das zusammen mit dem Polyester-Erzeugungsmittel aus dem Müllcontainer, von den letzten Resten herausgekratzt, wird dort dann verkauft als Essen. Und ich muss sagen, das sieht auch gut aus. Denn auf dem falschen Rehrücken, also auf dieser Masse, ist ein Foto von einem richtigen Rehrücken draufgepappt. Und das Essen kriegt man gebracht mit dem Wort: »Da!« Und man fragt sich: Wo haben die denn das schöne Foto her von dem Rehrücken? Das ist sicher so ein Fall, wo der Fotograf ruft: »Yeah, Baby! Ja, gut so! Zeig deinen Rücken! Ja, du schaffst es! Du bist wer!«, oder wie die das immer bei den Mannequins im Fernsehen sagen, bei den Mordserien, wenn die die Mannequeens fotografieren, und dann kommt der Kommissar und sagt: »Da war eine Gräte im Essen«, oder der Mörder hat seine Zigarette in dem Essen ausgedrückt, und durch die Bluttests wird dann … ach, ich kenne alle diese Sendungen. »Arithmetik« heißt die eine, oder nein, »Autopsie«. Talk Talk Talk, eine sehr schöne Sendung. Egal, ich schwoff gerade etwas ab, Entschuldigung. Sehr schön die Fotocollage von dem Rehrücken, wahrscheinlich war die aber auch falsch. Wahrscheinlich hat die Tante Margot sich von hinten fotografieren lassen. Die hat auch so ein bisschen einen Rehrücken, da sie ja ziemlich behaart ist dort hinten.
Das Ganze jedenfalls sehr lecker im Reisrand, mit Nudeln und Kartoffelbrei. Dazu gibt es Pellkartoffeln und Bratkartoffeln, Kartoffelklöße, Reibekuchen und Pommes, und zu guter Letzt kommen Gnocchi und Kartoffelsalat. Eine sehr schöne Mischung, die zusammen durch den Wolf gedreht und im Eimer umgestürzt wird und dann, wie gesagt, dem Gast mit den Worten: »Da!« serviert wird. Das Schöne ist, man kann dort mit Studentenausweis zum selben Preis essen wie die anderen Leute auch. So kommt man nie in den Verruf, Student zu sein oder es nicht zu sein. Das ist ja beides schlimm.
Auf jeden Fall saß ich da und saß und saß und saß. Ich hatte die Gitarre auf den Knien. Ich kam gerade vom Rockunterricht »Rock ohne Hose«, das wird in der Volkshochschule angeboten, wo man ein paar Griffe lernt, die man zu Hause seinen Kindern vorspielen kann, und dann sagen die Kinder: »Okay, Alter, ich bleib noch ein paar Monate zu Hause wohnen.« Da sind die stolz auf einen, weil man so ein paar Griffe kennt von Deep Purple oder wie die heißen. Jedenfalls sitze ich da mit der Gitarre, als ein stadtbekannter Zahnarzt reinkommt, und ich denke mir, den kenne ich doch irgendwoher.
Das war so ein Notzahnarzt. Die Zahnärzte heute sind ja auch nicht mehr so reich wie früher. Die fahren nicht mehr in den Golfklub an die Algarve. Die spielen auch gar kein Tennis mehr. Die spielen zu Hause mit ihren Kindern Tipp-Kick, mit ihren Fingern, und als Fußball nehmen sie einen Popel oder so. Jedenfalls, so einen Notzahnarzt ruft man nur am Wochenende an, wenn man nicht zum Zahnarzt gehen und vor lauter Schmerzen nicht mehr sprechen kann: »Hmpfmgmerzensahargh.« – »Ja? Wie heißt die Straße noch mal?« – »Hmpfrahgahtpf.« – »Ah ja. Kaiserstraße 14. Der Doktor kommt sofort.« Der setzt sich dann auf sein Fahrrad oder Gehrad – wer etwas auf sich hält, besitzt heutzutage ja ein Gehrad, das ist so eine Mode, die wiederkommt, wie zum Beispiel Kukident und diese Sachen. Toupet, angeklebter Schnäuzer, falsche Nase, so etwas. Dieser Zahnarzt kommt dann zu einem nach Hause und haut einem mit Hammer und Meißel in den Mund – die Zähne, die man runterschluckt, die sind sowieso nicht mehr so gut – und kassiert die Praxisgebühr, obwohl er ja gar keine Praxis hat.
Und dieser Zahnarzt kam da also rein und ich dachte mir noch, was hat der für einen riesigen Pickel am Hals, und der fummelte daran herum, während er immer näher kam, bis er auf meiner Höhe war, wo ich gerade meinen schönen falschen Rehrücken verspies. Und der drückte an diesem riesigen, reifen, dicken Pickel herum, und in letzter Sekunde habe ich mir geistesgegenwärtig die Gitarre vors Gesicht gehalten, und aus diesem Grund hat die nun diese eigenartige Rock-Färbung. Ich muss sagen, das steht ihr ganz gut. Es ist einfach so: Die schönsten Geschichten schreibt doch das Leben selbst. So etwas kann man nicht erfinden.
Die wenigsten wissen, dass ich aus der DDR komme. Vor zwei Wochen war ich da. Das wird ja jetzt »Neue Länder« genannt, da meint man, da wäre alles neu geformt, das Land wäre neu, das heißt, da war vorher nichts. Jetzt sind da neue Länder. Ich war im Erzgebirge gewesen, eine der schönsten Gegenden dieser Gegend. Ich muss sagen, die Bäume und Sträucher haben mir sehr gut gefallen, auch die Menschen dort und die Autos und die Straßen. Und ich habe aus dem Erzgebirge ein sehr schönes Lied mitgebracht.
Dort hat ja die Holzschnitzerei praktisch ihr Zuhause. Viele Leute kennen die Sachen, die man zu Weihnachten geschenkt bekommt. Diese Weihnachtspyramiden, wo man die Kerzchen ansteckt, bei denen man aber vorher die Transportsicherung losmachen muss, sonst dreht sich das nicht, und wenn man dann in die Kirche geht und dann nach Hause kommt, brennt das Haus lichterloh. Dafür hat man diese Transportsicherung. Nein, ich wollte euch nicht erschrecken, so gläubig waren wir nicht, dass wir uns zu Weihnachten aus dem Haus bewegt hätten.
Aber jetzt war ja Ostern gewesen. Ich habe da im Radio im Deutschlandfunk viele Sachen gehört, die wusste ich noch gar nicht. Über die Ostergeschichte und die Leute, die da mitmachen, wie heißen die noch, Maria und Josef und die alle. Ergreifend.
Wie gesagt, die Leute machen dort Holzschnitzereien, so Wurzelmännchen mit Bärten. Auch unser Bundeskanzler, der Merkel – es ist ja so ein Leichtes, über diesen Mann zu lachen, bloß weil er so feminin wirkt –, der hat auf dem Fensterbrett diese Wurzelmännchen neben seinen Hydrokulturpflanzen und einem Weihnachtsstern, der leider verblüht ist. Es gibt aber auch schöne Männchen aus Stein. Das ist ein Stein, auf dem klebt noch ein flacher Stein, auf dem ein Gesicht draufgemalt ist. Das sieht sehr schön aus, auch mit den Füßen – es könnte auch ein Maikäfer sein oder einfach zwei Steine, die da liegen.
Hier kommt unser Freund aus der Ukraine, aus Kiew. 1984 spektakuläre Flucht im Einmachglas. Zuerst nach Borneo. Von dort aus mit einem Birnendampfer als Birne Helene nach Rotterdam. Zwei Jahre dort im Hafen gearbeitet als Kran. Dann entdeckt worden von Elena Berger für Sexspiele nach Feierabend. Nach drei Monaten hatte er die Schnauze voll und hat in der Zeitung inseriert: »Ballettheini hat noch Termine frei (ehemaliger Kassenwart im Bolschoi-Ballett)!« Und wir haben ihn sofort mit auf Tournee genommen, bevor er von Milva wieder auf Tournee genommen wird, denn dort war er ein Jahr lang als Erschrecker tätig. Privat für Milva, bis sie eingesehen hat, dass sie dafür auch selber in den Spiegel gucken kann.
Als ich ein kleiner Knirps war, das war 1960, da wusste ich nicht, dass Bremen hier in dieser Gegend liegt. Ich dachte, Bremen wäre Fantasie. Wegen der Bremer Stadtmusikanten. Ich besaß früher ein Buch von meiner Oma, da waren die Stadtmusikanten abgebildet und auch Teile von Bremen. Und da habe ich gedacht, das wäre nur ein Dorf mit alten Häusern, wo man durch die Altstadt gehen und Aale aus Töpfen essen kann. Meine Fantasie war so groß, dass man durch die Altstadt geht, und vor der Altstadt ist die Weser, über die führt eine moderne Brücke, und ich habe mir vorgestellt, man kommt in die Altstadt und da gibt es ganz schmale Straßen mit Fachwerkhäusern, und da kann man grüne Aale essen aus so einer Eisenpfanne. Und mit dieser irrwitzigen Vorstellung bin ich dann nach Bremen gekommen.
Oder Labskaus. Das gibt es ja gar nicht. Labskaus ist für Seemänner die Verspeisung. Bremen liegt ja ein bisschen weitab vom Meer. Wenn ihr Labskaus noch nicht kennt: Da ist Kartoffel drin, da sind Zwiebeln drin, da ist Blutwurst drin, da ist jeder Fisch aus dem Müll drin, das ist jeder Kladderadatsch drin, was die Küchenschabe fallen lässt. Da sind Kakerlaken drin. Das ist ein monumentales Mischmahl, das wird zusammengemischt und dann ordentlich Schnaps, ist klar. Erst mal das Zeug hingestellt und Mut angetrunken. Einmal hingeguckt, einmal gekotzt. Schnell Schnaps, Schnaps, Schnaps. Ein Fass Schnaps mit Strohhalm. Dazu ein kleiner Kuchenlöffel. Rein damit, und diese große Terrine aufgegessen und Mutprobe gewonnen. Aber tot.
Das war jetzt mal für feine Leute gesprochen. Aber wir sind keine feinen Leute und können ruhig einmal Labskaus essen, das ist gar nicht so schlimm. Man kann auch nur Kartoffeln und Zwiebeln nehmen. Kartoffeln stampfen, Butter rein, ein bisschen Milch drüber, Salz und Pfeffer, ein bisschen Petersilie, Möhren dazuschrubben und eine Bratwurst braten. Da hat man ein ganz anderes Gericht, das ist auch lecker.
Oder man lässt einfach die Kartoffeln weg und nimmt einen Topf heißes Wasser, tut da Spaghetti rein, am besten Miracoli, und rührt dann aus dem Plastik das Rote zusammen und ein bisschen Butter und die Gewürze. Zack, da drüber, aufgegessen, die Kinder sind beruhigt. Das war der schönste Tag im Leben, wenn man früher Miracoli essen durfte. Von Tante Erna das Geschlonz, das konntest du nicht runterkriegen. Da ist Labskaus ein Feinheitsessen gegen. Obwohl das auch wieder nicht stimmt, ich habe das nur gesagt zum Lachen. So schlimm war es auch nicht.
Und wenn ich jetzt eine Heiße Hexe sehe, dann hole ich mir so einen Hamburger und versuche, dieses Creutzfeldt-Jakob zu kriegen. Damit ich nicht so eine Außenseiterrolle habe. Und so geht das Leben langsam vorbei. Ein Viertel ist jetzt um bei mir.