Henry James
Gespenstergeschichten
Herausgegeben von Werner Peterich
Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
Aus dem Englischen übersetzt von Werner Peterich, Karl Lerbs, Helmut M. Braem und Elisabeth Kaiser
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Henry James (1843–1916) ging als junger Mann von New York, wo er geboren wurde, als Kritiker und Korrespondent nach Europa. Dort lebte er ab 1877 als freier Schriftsteller. Henry James gilt als ein Meister des psychologischen Realismus.
In dieser Sammlung von Erzählungen zeigt sich die ganze Fülle Jamesscher Erzählkunst – von der reinen Gespenstergeschichte über die gesellschaftskritische Erzählung bis hin zur subtilen Persönlichkeitsanalyse wird das Übersinnliche, das Düstere, das Geheimnisvolle eingesetzt, um seelische Vorgänge zu verdeutlichen, Handlungsabläufe zu betonen, aber auch um Spannungen zu erzeugen und Lesevergnügen zu wecken.
»Sir Edmund Orme« (1891); »Das Privatleben« – »The Private Life« (1892); »Owen Wingrave« (1892); »Der Altar der Toten« – »The Altar of the Dead« (1895); »Die Daumenschraube« – »The Turn of the Screw« (1898); »Das wirklich einzig Wahre« – »The Real Right Thing« (1899); »Das Tier im Dschungel« – »The Beast in the Jungle« (1903); »Das glückliche Eck« – »The Jolly Corner« (1908).
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei KiWi Bibliothek
© 2017 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
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Impressum der Reprint Vorlage
ISBN (eBook) 978-3-462-41037-2
Zur Erinnerung an Helmut M. Braem
Der 1843 in New York geborene und 1916 als britischer Staatsbürger gestorbene Henry James wurzelt in der amerikanischen Neuengland-Tradition genauso wie in der englischen Literatur. Beide Literaturen – die englische wie die amerikanische – bleiben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein von einem mächtigen, aus dem 18. Jahrhundert stammenden Sonderzweig gespeist, der sogenannten gothic novel, dem Schauerroman à la Walpole (Das Schloß von Otranto) und M.G. Lewis (Der Mönch). Der berühmteste Vertreter dieses Genres in Deutschland ist E.T.A. Hoffmann mit seinem Roman Die Elixire des Teufels.
Der Ausdruck ›wild-romantisch‹ ist bei uns in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen und bezeichnet eine ganz bestimmte Stimmungslage, die auch und besonders in Deutschland in Literatur und Kunst bis hin zu Caspar David Friedrich ihren Niederschlag gefunden hat. Ursprünglich eine Reaktion auf die durchsichtige Klarheit des Rationalismus, schwelgten Künstler und Schriftsteller in der Darstellung des Unerklärlichen, Irrationalen und Übersinnlichen und bedienten sich einer Fülle von szenischen und atmosphärischen Mitteln, die mit der Zeit fast zu auswechselbaren Requisiten wurden: Sturmnächte und Friedhöfe, Schloß- und Burgruinen, klagende Käuzchen und Klosterdunkel, geheimnisvolle Mönche und Räuberhauptmänner, Burgverliese und Waldeseinsamkeit. Da flackern die Kerzen in unerklärlichem Luftzug und eilen dunkle Gestalten durch wallenden Nebel, erscheinen zu mitternächtlicher Stunde geheimnisvolle Fremde und fliehen rätselhafte Reiter durchs tückische Moor. Der Geist und das Schloßgespenst haben ihren festen Platz in diesem Katalog. Dem Fernsehzuschauer heute sind diese Schauder und Spannung erzeugenden Elemente aus den Verfilmungen etwa der Kriminalromane von Edgar Wallace vertraut; sie wurden zeitweilig fast zu etwas wie einem Markenzeichen des englischen Films.
Als Henry James sich einiger dieser Schauerelemente zu bedienen begann, stellte er sie jedoch bald in den Dienst höherer künstlerischer Ziele. War Sir Edmund Orme (1891) noch eine reine Gespenstergeschichte, in der das Übersinnliche anscheinend noch um seiner selbst willen dargestellt wird, ist ihm das in Das Privatleben (1892) nur mehr gleichsam auslösendes oder augenöffnendes Element, um zum Beispiel einen Politiker und einen Schriftsteller als ›leere Hülsen‹ darzustellen – ein hochaktuelles Thema, das man bei James genausowenig erwartet wie das der – modern ausgedrückt – ›Wehrdienstverweigerung‹ in der dritten der in diesem Band vereinigten Geschichten, Owen Wingrave (1892).
Um wesentlich subtilere psychologische und moralische Fragen wie ›Nichtverzeihen-Verzeihen‹ oder ›Verderbtheit-Unschuld‹ geht es in Der Altar der Toten (1895) und vor allem in James’ unübertroffenem Meisterwerk dieses Genres Die Daumenschraube (1898). Die Lektüre dieses Klassikers der Horrorliteratur wird noch Generationen von Lesern die Haare zu Berge stehen lassen und noch Generationen von Kritikern anregen, die Zahl der durchgängig belegbaren Interpretationen zu erhöhen. G. Willen hat in seinem Casebook on Henry James’ ›The Turn of the Screw‹ fünfzehn solcher Interpretationen zusammengestellt, doch liefert die Sekundärliteratur in einzelnen Aufsätzen mit Leichtigkeit drei- bis viermal soviel an Deutungen und Meinungen über diese wohl unergründlichste aller Geistergeschichten der Weltliteratur.
In den vier letzten Stories dieses Bandes dient das übersinnliche Element der Aufhellung äußerst verfeinerter Seelenvorgänge, für die Henry James ja so berühmt ist. In Das wirklich einzig Wahre (1899) wird die Frage nach der Unverletzlichkeit des geistigen Eigentums aufgeworfen; in Das Tier im Dschungel (1903) nach dem wahren Leben gefragt, das ohne Leidenschaft und selbstlose Liebe unmöglich scheint. Wer sich in James’ Werk ein wenig auskennt, hört hier in abgewandelter Form bereits das erregt-beschwörende ›Lebe! Lebe!‹ aus dem Roman Die Gesandten wieder, der im selben Jahr (1903) entstand. Der gefeierte Autor, der sich selbst als distanzierten Beobachter und Chronisten psychischer und gesellschaftlicher Vorgänge begriff, legt ausgerechnet in der Zeit, da er die hinreißendsten Analysen europäisch-amerikanischer Begegnungen schreibt (seine drei großen Spätwerke: Die Gesandten, Die Flügel der Taube und Die Goldene Schale), im Alter von sechzig Jahren in geradezu tragischem Aufschrei ein betroffen machendes Bekenntnis zu dem ab, dem er für unser Empfinden nur in seinem Werk nachgespürt, das er jedoch nie selbst aktiv gestaltet hat – dem Leben.
Um die Frage nach den verschiedenen Möglichkeiten sich zu entwickeln und zu leben geht es auch in der letzten Geschichte, Das Glückliche Eck (1908). Die Geister der Vergangenheit zwingen den Betroffenen zur Stellungnahme und eröffnen die Möglichkeit zur kritischen Betrachtung des eigenen Daseins.
James hat die ganze Fülle der Möglichkeiten durchgespielt: von der reinen ›Gespenstergeschichte‹ über die engagierte Gesellschaftsanalyse und die tour de force von etwas, was uns wie der Gipfel des l’art pour l’art anmutet, bis zu den feinsinnigen Persönlichkeitsanalysen, in denen sich der Meister des psychologischen Romans selbst übertrifft.
Die Geistergeschichten – auch bei James nur ein Seitenzweig? James hat sich sein Leben lang nicht der Faszination des Übersinnlichen entziehen können. Er hat sie als Schriftsteller benutzt, wo es ihm sinnvoll erschien, und hat damit gespielt, wo es ihm ›nur‹ Spaß machte. Damit ist der Sinn dieses Bandes klar ausgesprochen: die Auswahl soll heranführen an das Gesamtwerk eines in Deutschland immer noch als Geheimtip geltenden Autors von Weltrang; die Lektüre selbst aber sollte vor allen Dingen ›Spaß‹ machen.
Einige der in diesem Band gesammelten Erzählungen sind schon in früheren Ausgaben veröffentlicht worden; Der Altar der Toten in der Übersetzung von Karl Lerbs erschien 1949 im Verlag Müller & Kiepenheuer; die Erzählungen Das wirklich einzig Wahre, Das Tier im Dschungel und Das Glückliche Eck, übersetzt von Helmut M. Braem und Elisabeth Kaiser, stammen aus der Anthologie Henry James, Erzählungen, Kiepenheuer & Witsch Köln 1958.
Die Übersetzungen aller Erzählungen wurden vorgenommen nach den Texten der New Yorker Gesamtausgabe (1907 bis 1909), bis auf die Erzählung Das Glückliche Eck, für die eine frühere Ausgabe herangezogen wurde.
Werner Peterich
Holzen, im Januar 1979
Auch wenn die Erklärung undatiert ist, scheint sie lange nach dem Tod seiner Frau geschrieben worden zu sein, von der ich annehme, daß es sich bei ihr um eine der Personen handelt, von denen hier die Rede ist. Gleichwohl enthält die merkwürdige Geschichte nichts, womit sich das beweisen ließe; vielleicht ist das aber auch nicht so wichtig. Als ich seinen Nachlaß übernahm, fand ich diese Blätter in einer verschlossenen Schublade unter Schriftstücken, die mit dem allzu kurzen Erdenleben dieser unglücklichen Dame zu tun hatten (sie starb ein Jahr nach der Hochzeit im Kindbett): Briefe, Notizen, verblichene Photographien, Einladungskarten. Dieser Umstand stellte die einzige Verbindung dar, auf die ich hinweisen kann, und man kann ohne weiteres sagen – und wird das vermutlich auch tun –, die Geschichte sei viel zu überspannt, als daß sie nachweislich auf wirkliche Geschehnisse zurückgeführt werden könnte. Ich kann, wie ich zugebe, nicht bezeugen, daß er ein wirkliches Vorkommnis beschreiben wollte – was ich freilich beschwören kann, ist seine allgemeine Wahrheitsliebe. In jedem Falle hat er die Geschichte für sich aufgezeichnet, und sie war nicht für andere bestimmt. Ich gewähre – was mir durchaus freisteht – anderen gern vollen Einblick, und zwar ausdrücklich deshalb, weil es sich um ein so einzigartiges Dokument handelt. Mögen diese anderen aus Achtung vor der Form des Ganzen stets bedenken, daß sie wirklich nur für ihn selbst aufgeschrieben wurde. Ich habe nichts daran geändert außer den Namen.
Sofern die ganze Angelegenheit eine Geschichte genannt werden kann, so erkenne ich den genauen Augenblick, da sie anfing. Sie begann an einem milden, ruhigen Sonntagnachmittag im November um die Mittagsstunde, kurz nach der Kirche auf der sonnenbeschienenen Parade Marine von Brighton. Das Seebad war voll von Menschen; es war der Höhepunkt der Saison, und es war nicht nur ein wunderschöner Tag, sondern auch noch ein Feiertag – was die vielen Spaziergänger erklärt. Die blaue See selbst verhielt sich gesittet; sie schien sanft schnarchend zu dösen (wenn man das gesittet nennen will), als ob die Natur eine Predigt hielte. Nachdem ich den ganzen Vormittag über Briefe geschrieben hatte, war ich hinausgegangen, um vorm Mittagessen noch einen Blick aufs Meer zu werfen. Ich hatte mich über das Geländer gelehnt, welches die King’s Road vom Strand trennt, und rauchte, glaube ich, gerade eine Zigarette, da wurde ich durch etwas aus meinen Gedanken gerissen, was lustig gemeint war – jemand legte mir einen leichten Spazierstock auf die Schulter. Es war, wie ich feststellte, eine Augenblickseingebung von Teddy Bostwick von den Rifles, der auf diese Weise ein Gespräch anknüpfen wollte. Dieses Gespräch entspann sich, als wir gemeinsam dahinschlenderten – er hakte einen stets unter, um einem zu zeigen, daß er einem verzieh, wenn man seine launigen Einfälle nicht zu schätzen wußte –, die Leute betrachteten, vor einigen von ihnen den Hut lüpften, überlegten, wer andere sein mochten, und unterschiedlicher Meinung waren, was die Schönheit der Mädchen betraf. In Hinblick auf Charlotte Marden, die wir mit ihrer Mutter auf uns zukommen sahen, stimmten wir freilich überein; und zweifellos hätte es niemand gegeben, der anderer Meinung gewesen wäre als wir. Die Luft in Brighton war von jeher dazu angetan, unscheinbare Mädchen hübsch und hübsche noch hübscher zu machen – ob dieser Zauber auch heute noch wirkt, weiß ich nicht. Auf jeden Fall war das Seebad ganz besonders gut für den Teint, und der von Miss Marden veranlaßte die Leute geradezu, sich nach ihr umzudrehen. Wir jedenfalls blieben weiß Gott stehen – zumindest war dieser Teint eines der Dinge, die uns dazu bewegten, denn wir kannten die Damen bereits. Wir machten mit ihnen kehrt, schlossen uns ihnen an und gingen da hin, wohin auch sie gingen. Sie spazierten nur von einem Ende der Promenade zum anderen – sie kamen gerade aus der Kirche. Und abermals äußerte sich Teddys Laune darin, daß er sich augenblicklich Charlottens bemächtigte und es mir überließ, an der Seite der Mutter weiterzugehen. Darüber war ich jedoch nicht unglücklich; jetzt hatte ich das Mädchen vor mir, und außerdem konnte ich mich über sie unterhalten. Wir dehnten unseren Spaziergang aus, Mrs. Marden hielt mich fest, um schließlich zu sagen, sie sei müde und müsse sich setzen. Wir fanden Platz auf einer windgeschützten Bank – und plauderten über die Vorübergehenden. Mir war bei den Mardens bereits aufgefallen, daß die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter selbst für Ähnlichkeiten dieser Art erstaunlich war – und zwar um so mehr, als diese die Verschiedenheit im Wesen eigentlich unberücksichtigt ließ. Auf reife Mütter wird häufig warnend hingewiesen – sie seien sichtbare, mehr oder weniger entmutigende Zeichen dafür, was einmal aus den Töchtern werden könne. In diesem Falle war jedoch nichts Abschreckendes in der Vorstellung, daß Charlotte mit fünfundfünfzig genauso schön sein würde wie ihre Mutter – selbst dann nicht, wenn man davon ausging, daß sie einmal genauso blaß und besorgt aussehen sollte wie Mrs. Marden. Jedenfalls hatte sie mit zweiundzwanzig etwas rosig Reines und war bewundernswert hübsch. Ihr Kopf hatte die bezaubernde Form des mütterlichen Hauptes geerbt, und ihre Züge wiesen das gleiche Ebenmaß auf. Außerdem waren da noch Blicke, Bewegungen und Tonfall (in manchen Augenblicken vermochte man kaum zu sagen, wen von den beiden man vor sich hatte), die bei den beiden Damen gleichsam jeweils wie ein Widerhall waren, eine Erinnerung.
Die Damen besaßen ein wenig Vermögen und ein lustiges kleines Haus in Brighton, das angefüllt war mit Porträts, Andenken und Trophäen (ausgestopfte Tiere oben auf Bücherschränken und verblaßte, lacküberzogene Fische unter Glasstürzen), an denen Mrs. Marden ihrem eigenen Eingeständnis nach mit frommen Erinnerungen hing. Ihr Gatte war krankheitshalber nach Brighton ›beordert‹ worden, um die letzten Jahre seines Lebens dort zu verbringen, und sie hatte mir gegenüber bereits erwähnt, daß sie in diesem Haus immer noch das Gefühl hatte, von seiner Güte behütet und beschützt zu werden. Seine Güte schien groß gewesen zu sein, und bisweilen hatte man bei ihr das Gefühl, als müsse Mrs. Marden sie gegen geheimnisvolle Anwürfe verteidigen. Offenbar brauchte sie irgendein Gefühl des Beschütztwerdens, eines Einflusses, der beschworen werden konnte und an dem man innig hin; sie schien von einer unbestimmten Wehmut, einer gewissen Sehnsucht nach Sicherheit erfüllt. Sie brauchte Freunde und hatte deren eine ganze Menge. Gleich beim erstenmal war sie sehr freundlich zu mir, und ich habe sie nie im Verdacht gehabt, die übliche Absicht damit zu verfolgen, mich ›einzuwickeln‹ – ein Verdacht selbstverständlich, wie er nur allzuoft in eingebildeten jungen Männern aufkommt. Es kam mir nie in den Sinn, daß sie mich für ihre Tochter oder, wie einige unnatürliche Mütter, gar für sich selbst haben wollte. Es war, als ob sie beide gemeinsam ein tiefes, schüchternes Bedürfnis nach Freundschaft gehabt hätten und bereit gewesen wären zu sagen: ›Ach, sei doch freundlich zu uns und vertraue uns! Keine Angst, wir erwarten nicht, daß du uns heiratest.‹ – ›Selbstverständlich hat Mama ein gewisses Etwas; das ist es ja gerade, was sie besonders liebenswert macht!‹ erklärte Charlotte mir einmal vertraulich in einem frühen Stadium unserer Bekanntschaft. Sie vergötterte das Aussehen ihrer Mutter. Das war das einzige, worin sie eitel war; die hochgezogenen Augenbrauen nahm sie als bezaubernd unumstößliche Tatsache hin. ›Sie sieht aus, als wartete sie auf den Arzt, die liebe Mama‹, sagte sie bei anderer Gelegenheit. ›Vielleicht sind Sie der Arzt; glauben Sie, Sie sind es?‹ Wie sich herausstellte, besaß ich in der Tat einige Heilkraft. Aber wie dem auch sei: als ich erfuhr – sie ließ einmal eine diesbezügliche Bemerkung fallen –, daß Mrs. Marden ihrerseits glaubte, Charlotte habe etwas ›furchtbar Merkwürdiges‹ an sich, wurde die Beziehung zwischen den beiden Damen für mich immer interessanter.
Im Grunde war es eine durchaus glückliche Beziehung; jede dachte immer so sehr an die andere.
Der Strom der Spaziergänger auf der Parade wich nicht von seiner Richtung ab, so daß Charlotte schließlich mit Teddy Bostwick an uns vorüberging. Sie lächelte, nickte und ging weiter, doch als sie sich uns zum zweiten Mal näherte, blieb sie stehen und sprach uns an. Captain Bostwick wollte durchaus noch nicht heimgehen; er sagte, die Gelegenheit sei zu günstig: ob sie nicht noch eine Runde drehen könnten? Die Mutter ließ ein ›Tun Sie, wie es Ihnen beliebt‹ fallen, und das Mädchen schenkte mir, als sie uns verließen, über die Schulter hinweg einen kecken Blick. Teddy sah mich durch sein Monokel hindurch an; doch das störte mich nicht; ich dachte ausschließlich an Miss Marden, als ich meiner Begleiterin gegenüber bemerkte: »Sie ist ja sehr kokett, wissen Sie.«
»Sagen Sie das nicht – sagen Sie das nicht!« murmelte Mrs. Marden.
»Das sind gerade die nettesten Mädchen – ein ganz kleines bißchen«, führte ich großmütig für sie ins Feld.
»Aber warum werden sie dann immer bestraft?«
Die Heftigkeit, mit der sie diese Frage stellte, erschreckte mich – sie war ihr mit solchem Ungestüm entfahren. Deshalb mußte ich einen Moment überlegen, ehe ich nachfragte: »Was wissen Sie denn darüber?«
»Ich war selbst ein schlechtes Mädchen.«
»Und sind Sie bestraft worden?«
»Die Strafe trage ich mit mir durchs Leben«, sagte Mrs. Marden und wandte den Blick ab. »Ah!« kam es plötzlich von ihren Lippen, sie atmete vernehmlich, fuhr von der Bank hoch und starrte ihre Tochter an, die zusammen mit Captain Bostwick wieder erschienen war. Mit dem eigentümlichsten Ausdruck im Gesicht stand sie ein paar Sekunden da; dann ließ sie sich wieder sinken, und ich bemerkte, daß sie puterrot geworden war. Charlotte, der ihre Bewegung nicht entgangen war, kam direkt auf sie zu, ergriff mit rascher Zärtlichkeit ihre Hand und setzte sich neben sie.
Das Mädchen war blaß geworden – und starrte die Mutter unbewegt und angstvoll an. Mrs. Marden, die unter einem Schock stand, dessen Ursache wir nicht kannten, erholte sich wieder; das heißt, sie saß schweigend und ausdruckslos da und schaute auf die gleichgültige Menge, in die sonnige Luft und auf die träge dösende See. Zufällig fiel jedoch mein Blick auf die Hände der beiden Damen, die einander festhielten, und mir fiel sogleich auf, daß die ältere die Hände der jüngeren mit großer Heftigkeit gepackt hielt. Bostwick, der nicht wußte, was er von alledem halten sollte, stand vor ihnen und fragte mich aus seinem kleinen leeren Einglas heraus, ob ich es wisse; was Charlotte wiederum dazu brachte, nach einer Weile mit einer gewissen Gereiztheit zu sagen: »Stehen Sie nicht so herum, Captain Bostwick; gehen Sie – bitte, gehen Sie!«
Woraufhin ich mich erhob – und hoffte, daß Mrs. Marden nicht krank sei; sie jedoch flehte mich augenblicklich an, nicht fortzugehen; wir sollten vielmehr bleiben und anschließend zum Mittagessen zu ihr gehen. Sie zog mich neben sich nieder, und einen Augenblick spürte ich, wie ihre Hand meinen Arm drückte, und zwar auf eine Weise, die ebensogut unwillkürlich ihre Verzweiflung verraten als auch ein heimliches Signal sein konnte. Was sie mir jedoch möglicherweise hätte sagen wollen, erriet ich nicht; vielleicht hatte sie jemand oder etwas Ungewöhnliches in der Menge gesehen. Nach ein paar Minuten erklärte sie uns, alles sei in Ordnung mit ihr; sie leide nur unter Herzklopfen, doch das vergehe, wie es komme. Es war Zeit zu gehen, und wir gingen. Der Zwischenfall, so schien es, war abgeschlossen. Bostwick und ich aßen bei unseren geselligen Freunden zu Mittag, und als ich mit ihm fortging, erklärte er, er habe nie so liebe und herzensgute Menschen erlebt.
Mrs. Marden hatte uns das Versprechen abgenommen, am nächsten Tag zum Tee wiederzukommen, und uns ganz allgemein nahegelegt, so oft zu kommen, wie wir könnten. Dennoch sollte ich am nächsten Tag, als ich um fünf Uhr an die Tür des hübschen Hauses klopfte, erfahren, daß die Damen nach London gefahren waren. Sie hatten beim Butler eine Nachricht für uns hinterlassen; er sollte uns sagen, sie hätten überraschend fortgemußt, und es tue ihnen leid. Sie würden für ein paar Tage fortbleiben. Mehr konnte ich aus dem begriffsstutzigen Bediensteten nicht herausholen. Drei Tage später ging ich wieder hin, doch sie waren immer noch fort; erst nach Ablauf einer Woche erhielt ich ein Billett von Mrs. Marden, in dem es hieß: ›Wir sind wieder da; kommen Sie und verzeihen Sie uns.‹ Bei dieser Gelegenheit, so erinnere ich mich (also als ich hineilte, gleich, nachdem ich das Billett bekommen hatte), erzählte sie mir, sie habe plötzliche Gesichte. Ich habe keine Ahnung, wie viele Menschen zu diesem Zeitpunkt in England unter dieser unangenehmen Gabe litten, doch wären es wohl nur sehr wenige gewesen, die das auch erwähnt hätten; deshalb erschien diese Eröffnung höchst ungewöhnlich, zumal Mrs. Marden nicht verhehlte, daß einige von diesen unheimlichen Erfahrungen mit mir zusammenhingen. Es waren noch andere Leute anwesend – Brightoner Müßiggänger, alte Frauen mit angstvollen Augen, die bedeutungslose Bemerkungen machten –, und ich konnte mich nur wenige Minuten mit Charlotte unterhalten; doch danach traf ich beide Damen beim Dinner und hatte die Genugtuung, neben Miss Marden zu sitzen. Diese Stunde, so erinnere ich mich, war der Zeitpunkt, an dem mir zum erstenmal ganz aufging, ein wie wunderschönes, von der Natur freizügig bedachtes Geschöpf sie war. Bisher hatte ich ihre Person gleichsam nur in Bruchstücken und vorüberhuschenden Bildern wahrgenommen, wie ein ausschnittsweise geträllertes Lied, doch jetzt stand sie in eindrucksvoller, rosiger Glut vor mir, als wenn der ganze Stimmumfang zum Tragen gekommen wäre – nun hörte ich die ganze Arie. Es war eine süße, frische Melodie – ich sollte sie immer wieder vor mich hinsummen.
Nach dem Essen wechselte ich ein paar Worte mit Mrs. Marden; und zwar in dem Augenblick, da – spät abends – noch einmal Tee gereicht wurde. Ein Diener ging mit einem Tablett an uns vorüber, ich fragte sie, ob sie eine Tasse haben wolle, und als sie zustimmte, nahm ich eine und reichte sie ihr. Sie streckte die Hand danach aus, und ich gab sie ihr, heil, wie ich hoffte; doch im Augenblick des Entgegennehmens schrak sie unversehens zusammen und wich ein wenig zurück, so daß Tasse und Untertasse laut zersplitterten, freilich ohne die übliche weibliche Bewegung des Rockschürzens von seiten meiner Gesprächspartnerin. Ich bückte mich, um die Scherben aufzuheben, und als ich mich wieder aufrichtete, schaute Mrs. Marden durch den ganzen Raum zu ihrer Tochter hinüber, die ihrerseits lächelnd, doch gleichwohl mit einem angstvollen Aufleuchten in den Augen zu ihr herüberblickte. ›Liebste Mama, was um alles in der Welt hast du nur?‹, so schien die unausgesprochene Frage darin zu lauten. Mrs. Marden errötete, genauso, wie sie es neulich nach ihrer merkwürdigen Regung auf der Parade getan hatte, so daß es mich überraschte, als sie mit unerwartetem Nachdruck zu mir sagte: »Sie sollten wirklich vorsichtiger sein!« Ich hatte stotternd zu einer Entschuldigung angesetzt, als ich plötzlich merkte, daß sie die Augen geradezu flehentlich auf mich gerichtet hatte. Das war zuerst mißverständlich und vergrößerte meine Verwirrung nur noch; dann begriff ich plötzlich genauso unmißverständlich, als ob sie mir zugeflüstert hätte: ›Tun Sie so, als ob Sie es gewesen wären – tun Sie so, als ob Sie es gewesen wären.‹ Der Diener kam zurück, um die Scherben aufzukehren und den verschütteten Tee aufzuwischen, und während ich noch dabei war, so zu tun, als ob das Ganze wirklich meine Schuld gewesen wäre, machte Mrs. Marden plötzlich, daß sie davonkam, und begab sich in ein anderes Zimmer. Mir fiel auf, daß sie dem Zustand ihres Kleides dabei keinerlei Aufmerksamkeit schenkte.
An diesem Abend sah ich von keiner der beiden mehr etwas, doch am nächsten Morgen traf ich auf der King’s Road Miss Marden mit einem zusammengerollten Notenblatt in ihrem Muff. Sie sagte, sie sei allein fortgegangen, um Duette mit einer Freundin zu üben, und ich fragte sie, ob wir nicht gemeinsam noch ein wenig weitergehen könnten. Sie gestattete mir, sie bis zur Haustür zu bringen, und als wir davorstanden, fragte ich, ob ich nicht mit hineinkommen dürfe. »Nein, heute nicht – das möchte ich nicht«, sagte sie aufrichtig, doch ohne verletzend zu sein; ihre Worte jedoch veranlaßten mich, einen gedankenvollen und bestürzten Blick zu einem der Fenster des Hauses hinaufzuwerfen. Und der Blick fiel auf das weiße Gesicht von Mrs. Marden, die vom Salon her zu uns herübersah. Sie stand lange genug da, um mich erkennen zu lassen, daß sie es war und kein Gespenst, wie ich einen Moment dachte; dann verschwand sie, ohne daß ihre Tochter sie bemerkt hätte. Die Tochter hatte auf dem Herweg kein Wort von ihrer Mutter gesagt. Da man mir gesagt hatte, daß ich heute nicht erwünscht sei, ließ ich die beiden Damen eine Weile allein, wonach Umstände eintraten, welche uns noch länger getrennt hielten. Ich fuhr schließlich nach London, und während ich dort war, erhielt ich eine dringliche Einladung, umgehend nach Tranton zu kommen, einem hübschen alten Anwesen in Sussex, das einem Ehepaar gehörte, dessen Bekanntschaft ich kurz zuvor gemacht hatte.
So fuhr ich also von London aus nach Tranton und fand bei meiner Ankunft die Mardens mitsamt einem Dutzend anderer Leute als Gäste im Hause vor. Das erste, was Mrs. Marden zu mir sagte, war: »Können Sie mir verzeihen?«, und als ich nachfragte, was ich ihr denn verzeihen solle, entgegnete sie: »Daß ich Sie mit meinem Tee bekleckert habe.« Ich hielt ihr entgegen, dieses Mißgeschick sei doch nicht mir, sondern vielmehr ihr widerfahren, woraufhin sie sagte: »Auf jeden Fall war es sehr ungehörig von mir; aber eines Tages, denke ich, werden Sie verstehen, und dann werden Sie auch nachsichtig mit mir sein.« Am ersten Tag in Tranton ließ sie noch zwei oder drei andere Andeutungen fallen (es waren nicht die ersten, die sie machte), die auf eine geheimnisvolle Initiation hinzielten, welche mir bevorstand; daraufhin fing ich, wie es so schön heißt, an, sie damit aufzuziehen und zu sagen, ich wünschte, die ganze Angelegenheit wäre weniger geheimnisumwittert, und ich würde sie lieber auf der Stelle über mich ergehen lassen. Sie antwortete, wenn sie käme, würde ich sie hinnehmen müssen – es werde mir gar nichts anderes übrigbleiben. Daß es überhaupt dazu kommen werde, daran hege sie insgeheim nicht den geringsten Zweifel, ja, sie sei von einem tiefen Vorgefühl in dieser Hinsicht erfüllt, was im übrigen der einzige Grund sei, warum sie die ganze Angelegenheit überhaupt erwähne. Ob ich mich nicht erinnerte, daß sie gesagt habe, sie habe Gesichte? Vom ersten Augenblick, da sie mich gesehen habe, sei ihr klar gewesen, daß es Dinge gäbe, die ich erfahren würde, ob ich wolle oder nicht. Bis dahin bleibe nichts anderes übrig als abzuwarten, einen kühlen Kopf zu bewahren und nichts zu überstürzen. Ganz besonders sei ihr daran gelegen, nicht noch nervöser zu werden, als sie es ohnehin schon wäre. Vor allem aber solle ich nicht nervös werden – man gewöhne sich an alles. Ich erklärte, auch wenn ich mir keinen Vers darauf machen könne, wovon sie rede, hätte ich entsetzliche Angst; da ich keinerlei Anhaltspunkt hätte, würden auch der Phantasie keine Grenzen gesetzt, und ich könne mir alles mögliche ausmalen. Daß ich übertrieb, geschah mit Absicht; denn wenn Mrs. Marden auch alles mit einem Schleier der Geheimnisse umgab, ich kann eigentlich nicht sagen, daß sie mich erschreckte. Ich konnte mir nicht vorstellen, worauf sie hinauswollte; eher war doch meine Neugier geweckt, als daß ich vor Angst geschlottert hätte. Zwar hätte ich mir sagen können, daß bei ihr im Oberstübchen nicht mehr alles stimme, doch dieser Gedanke kam mir nie. Sie kam mir vielmehr hoffnungslos normal vor.
Es waren noch andere Mädchen im Haus, doch Charlotte Marden war die bezauberndste von allen; dieser Ansicht waren offensichtlich durch die Bank alle, daß es sogar auf die Treibjagd störend wirkte. Es gab zwei oder drei Männer – zu denen auch ich gehörte –, die ihre Gesellschaft jener der Treiber vorzogen. Kurzum, sie galt als eine Art von höherem und erlesenerem Sport, dem man sich widmete. Sie war freundlich zu allen von uns – sie brachte uns dazu, noch spät nach draußen oder früh nach drinnen zu gehen. Ich weiß nicht, ob sie flirtete, doch etliche andere Mitglieder der Gesellschaft glaubten, sie täten es. Wahrhaftig, was ihn selbst betraf, Teddy Bostwick, der von Brighton herübergekommen war, war sich dessen zweifellos sicher.
Der dritte Tag, den ich in Tranton weilte, war ein Sonntag, und man machte einen sehr hübschen Spaziergang zum vormittäglichen Gottesdienst. Es war grau und windstill, und das Gebimmel der kleinen alten Kirche, die heimelig auf dem Grunde eines der sanften Täler von Sussex stand, klang nahe und vertraut. Wir bildeten eine auseinandergezogene Prozession in der milden, feuchten Luft (welche einem wie immer in dieser Jahreszeit das Gefühl gab, daß, wenn die Bäume erstmal ihr ganzes Laub abgeworfen hätten, mehr davon dasein würde – ein weiterer Himmel), und es gelang mir, zusammen mit Miss Marden ein gutes Stück hinter den anderen zurückzubleiben. Ich weiß noch, daß ich, während wir zusammen über das Gras dahingingen, stark versucht war, etwas außerordentlich Persönliches zu sagen, etwas Dringliches und Wichtiges – wichtig für mich, nämlich, daß sie mir noch nie so schön erschienen oder daß dieser Augenblick der schönste in meinem ganzen Leben sei. Doch wer hätte in der Jugend noch nicht erlebt, daß einem diese Worte schwer auf der Zunge lagen, ehe sie dann endlich ausgesprochen wurden; überdies hatte ich das Gefühl, daß nicht ich sie gut genug kannte (was mir nichts weiter ausmachte), sondern vielmehr, daß sie mich nicht gut genug kannte. In der Kirche mit den alten Grabsteinen und Messingschildern war die für die Gutsherrschaft reservierte Bank bereits besetzt. Ein paar von uns saßen verstreut auf den anderen Bänken, und ich fand einen Platz für Miss Marden sowie einen für mich neben ihr, der ein wenig von ihrer Mutter und der Mehrzahl unserer Freunde entfernt war. Es saßen noch zwei oder drei redliche Bauern auf der Bank, die noch weiter zusammenrückten, um uns Platz zu machen, und ich setzte mich zuerst, um meine Gefährtin nicht in unmittelbare Berührung mit unseren Nachbarn kommen zu lassen. Nachdem sie sich gesetzt hatte, war immer noch Platz da, der frei blieb, bis der Gottesdienst halb vorüber war.
Das jedenfalls war der Augenblick, da ich mir bewußt wurde, daß noch jemand eingetreten und an dieser Stelle Platz genommen hatte. Als ich seiner ansichtig wurde, war er augenscheinlich bereits ein paar Minuten dort gewesen, denn er hatte Platz genommen und starrte, den Hut neben sich und die Hände auf dem Knauf seines Stocks übereinandergelegt, geradeaus auf den Altar. Es handelte sich um einen bleichen, ganz in Schwarz gekleideten jungen Mann, der den Eindruck eines gebildeten Herrn machte. Ich erschrak ein wenig, als ich seiner gewahr wurde, denn Miss Marden hatte mich nicht auf sein Eintreten aufmerksam gemacht, indem sie etwa ein wenig weitergerückt wäre, um ihm Platz zu machen. Da ich bemerkte, daß er kein Gebetbuch bei sich hatte, streckte ich nach einer Weile den Arm vor meiner Nachbarin aus, um meines vor ihn auf die Ablage des Kirchengestühls zu legen; all das hatte durchaus mit der Aussicht darauf zu tun, daß, da ich nun keines mehr hatte, Miss Marden mir die andere Hälfte ihres, in graues Wildleder gebundenen Bandes zu halten geben würde. Dieser Vorwand sollte indes zunichte werden, da der Neueingetretene – dem ich sein Hinzukommen deshalb verzieh – sich in dem Augenblick, da ich ihm das Buch anbot, erhob und, ohne mir zu danken, lautlos und so diskret aus der (nicht mit einer Seitentür verschlossenen) Bank hinaustrat, daß er keinerlei Aufmerksamkeit erregte und den Mittelgang der Kirche hinunterging. Ein paar wenige Minuten hatten ihm für seine Andacht genügt. Sein Benehmen war eigentlich ungehörig, sein vorzeitiger Aufbruch womöglich noch mehr als sein Zuspätkommen; dennoch verhielt er sich so leise, daß es nicht belästigend für uns war, und als ich den Kopf wandte, um hinter ihm herzusehen, bemerkte ich, daß offenbar niemand durch sein Hinausgehen gestört wurde. Mir fiel nur auf, daß all dies Mrs. Marden so berührt hatte, daß sie sich unwillkürlich für einen Augenblick von ihrem Platz erhob. Sie starrte ihn, als er vorüberging, an, doch er war so rasch wieder verschwunden, daß sie sich sogleich wieder hinsetzte, freilich nicht, ohne daß unsere Blicke sich quer über die ganze Länge der Kirche getroffen hätten. Fünf Minuten später fragte ich Miss Marden leise, ob sie mir wohl mein Gebetbuch wiedergeben würde – ich hatte abgewartet, ob sie das nicht spontan von sich aus tun würde. Sie reichte mir diese Anleitung zur Andacht, war jedoch offensichtlich weit davon entfernt gewesen, sich diese Mühe zu machen, denn während sie es mir herüberreichte, fragte sie: »Warum um alles auf der Welt haben Sie es denn dahingelegt?« Ich stand schon im Begriff, es ihr zu sagen, da ließ sie sich auf die Knie nieder, und ich schwieg. Ich hatte nur sagen wollen: »Mir schien das ein Gebot der Höflichkeit.«
Nach dem Segen, als wir unsere Plätze verließen, war ich abermals leicht verwundert, als ich bemerkte, daß Mrs. Marden, statt mit ihren Freunden hinauszugehen, den Mittelgang heraufkam, um sich uns anzuschließen, weil sie ihrer Tochter offenbar etwas zu sagen hatte. Das tat sie zwar auch, aber ich merkte sogleich, daß das nur ein Vorwand war – daß es ihr im Grunde genommen um mich ging. Sie nötigte Charlotte voranzugehen und flüsterte mir plötzlich zu: »Haben Sie ihn gesehen?«
»Den Herrn, der hier Platz genommen hat? Wie hätte ich ihn nicht sehen sollen?«
»Psst!« machte sie mit dem Ausdruck äußerster Erregung. »Kein Wort zu ihr – sagen Sie es ihr nicht!« Damit hakte sie sich bei mir unter, um mich in ihrer Nähe, ja, um mich, wie es schien, von ihrer Tochter fernzuhalten. Diese Vorsichtsmaßnahme war unnötig, denn Teddy Bostwick hatte sich bereits Miss Mardens bemächtigt, und als sie vor mir aus der Kirche hinaustraten, sah ich, wie einer der anderen jungen Herren auf der anderen Seite neben ihr Tritt faßte. Offenbar war man der Meinung, daß ich ihre Gesellschaft genug genossen hätte. Kaum, daß wir im Freien waren, zog Mrs. Marden ihre Hand wieder zurück, freilich nicht, ohne mir verstehen gegeben zu haben, daß sie der Stütze wirklich bedurft hatte.
»Sprechen Sie mit niemand darüber – sagen Sie es keinem Menschen!« fuhr sie fort.
»Ich verstehe nicht. Ihnen was nicht sagen?«
»Wieso – daß Sie ihn gesehen haben.«
»Aber sie haben ihn doch bestimmt selbst gesehen.«
»Keiner von ihnen hat das getan, kein einziger.« Sie sprach mit so leidenschaftlicher Entschiedenheit, daß ich sie anblickte – sie starrte gerade vor sich hin. Freilich spürte sie die Aufforderung in meinem Blick und verweilte noch auf der Schwelle des alten braunen Holzportals der Kirche, während die anderen schon ziemlich weit vorausgegangen waren, und sagte, indem sie mich auf ganz ungewöhnliche Art dabei anblickte: »Sie sind der einzige Mensch – der einzige Mensch auf der ganzen Welt.«
»Bis auf Sie, meine Teuerste!«
»Ach, ich – selbstverständlich. Aber das ist ja gerade mein Fluch!« Womit sie sich eilends von mir entfernte, um sich dem Hauptteil der Gesellschaft anzuschließen. Ich hielt mich auf dem Heimweg eher am Rande, hatte ich doch genug, worüber ich nachsinnen konnte. Wen hatte ich gesehen, und warum war die Erscheinung – die wieder höchst deutlich vor meinem geistigen Auge stand – für die anderen unsichtbar gewesen? Sofern Mrs. Marden darin eine Ausnahme bildete, warum war diese Erscheinung für sie ein Fluch? Und warum war es mir beschieden, ein so fragwürdiges Vorrecht mit ihr zu teilen? Diese Fragen, denen ich stumm in meiner Brust nachhing, waren zweifellos dafür verantwortlich, daß ich das ganze Mittagessen hindurch Schweigen bewahrte. Hinterher trat ich hinaus auf die alte Terrasse, um eine Zigarette zu rauchen, doch war ich kaum ein paarmal auf und ab gegangen, da gewahrte ich Mrs. Mardens schön modelliertes Antlitz am Fenster eines der Zimmer, die auf die unregelmäßig gearbeiteten Steinplatten hinausgingen. Dieser Anblick erinnerte mich an ihr ähnlich flüchtiges Erscheinen am Fenster in Brighton – an jenem Tag, da ich Charlotte getroffen und sie nach Hause begleitet hatte. Diesmal verschwand meine rätselhafte Freundin nicht; sie pochte vielmehr an die Scheibe und gab mir zu verstehen, ich möchte hineinkommen. Sie befand sich in einem sonderbaren kleinen Gemach, einem der vielen Gesellschaftsräume, aus denen das Erdgeschoß von Tranton bestand; man nannte es das Indien-Zimmer, und es hatte eine an den Fernen Osten erinnernde Einrichtung – Sitzbänke aus Bambus, Faltschirme mit Lackschnitzereien, Laternen mit langen Fransen daran und merkwürdige Göttergestalten in Vitrinen, Gegenstände, die nicht dazu angetan waren, die Geselligkeit zu fördern. Der Raum wurde wenig benutzt, und als ich zu ihr stieß, hatten wir ihn ganz für uns allein. Kaum war ich eingetreten, sagte sie zu mir: »Bitte, sagen Sie mir – lieben Sie meine Tochter?«
Ich zögerte einen Augenblick. »Ehe ich Ihnen darauf antworte – würden Sie bitte so freundlich sein, mir zu sagen, wieso Sie auf diesen Gedanken kommen? Ich bin der Meinung, daß ich nicht unziemlich zudringlich gewesen wäre.«
Mrs. Marden, die mir mit ihren schönen angstvollen Augen widersprach, gab mir keine befriedigende Antwort auf meine Frage, sondern fuhr nur mit sichtlicher Mühe fort: »Haben Sie ihr auf dem Weg zur Kirche nichts gesagt?«
»Wie kommen Sie darauf, daß ich etwas gesagt haben könnte?«
»Die Tatsache, daß Sie ihn gesehen haben.«
»Wen gesehen habe, meine liebe Mrs. Marden?«
»Ach, Sie wissen schon«, entgegnete sie ernst, ja, fast sogar ein wenig vorwurfsvoll, als ob ich versuchte, sie zu demütigen, indem ich sie zwang, das Unsagbare in Worte zu fassen.
»Meinen Sie den Herrn, der Anlaß zu Ihrem sonderbaren Betragen in der Kirche war – derjenige, der sich auf unsere Bank gesetzt hat?«
»Sie haben ihn gesehen, Sie haben ihn gesehen!« Mrs. Marden rang mit einer merkwürdigen Mischung aus Bestürzung und Erleichterung nach Atem.
»Selbstverständlich habe ich ihn gesehen; genauso wie Sie!«
»Ich habe nicht ganz begriffen. Hatten Sie das Gefühl, es sei unausweichlich?«
Wieder stand ich vor einem Rätsel. »Unausweichlich?«
»Daß Sie ihn sehen mußten?«
»Gewiß. Ich bin doch nicht blind.«
»Sie hätten es sein können; alle anderen waren es.« Ich tappte herrlich im dunkeln und gestand das auch unumwunden meiner Gesprächspartnerin ein; doch wurde die Sache für mich auch nicht durchschaubarer dadurch, daß sie schließlich ausrief: »Ich wußte, daß Sie es sein würden, genau von dem Augenblick an, da Sie sie wirklich lieben würden! Ich wußte, daß das die Probe sein würde – was sage ich? –, der Beweis!«
»Ist denn mit diesem erhabenen Zustand eine so merkwürdige Verwirrung verbunden?« fragte ich lächelnd.
»Das merken Sie doch! Sie sehen ihn, Sie sehen ihn!« verkündete Mrs. Marden frohlockend aus tiefstem Herzensgrunde. »Und Sie werden ihn wiedersehen!«
»Dagegen habe ich nichts einzuwenden; doch würde ich mich mehr für diesen Herrn interessieren, wenn Sie so freundlich wären, mir zu verraten, wer er ist.«
Sie zögerte, blickte einen Augenblick vor sich nieder; dann schlug sie die Augen zu mir auf und erklärte: »Das werde ich Ihnen sagen, wenn Sie mir vorher verraten, was Sie auf dem Weg in die Kirche zu ihr gesagt haben.«
»Hat sie behauptet, ich hätte etwas gesagt?«
»Bin ich darauf angewiesen?« fragte Mrs. Marden.
»Ach ja, ich erinnere mich – Ihre Geschichte! Nun, da muß ich Ihnen zu meinem Leidwesen sagen, daß Sie sich diesmal geirrt haben. Ich habe wirklich nichts zu Ihrer Tochter gesagt, was im geringsten ungewöhnlich gewesen wäre.«
»Sind Sie dessen ganz sicher?«
»Bei meiner Ehre, Mrs. Marden.«
»Dann meinen Sie also, daß Sie sie nicht lieben?«
»Das steht auf einem ganz anderen Blatt!« Ich lachte.
»Sie tun’s, Sie tun’s wirklich! Sie hätten ihn nicht gesehen, wenn Sie es nicht täten.«
»Wer, zum Teufel, ist er denn, Gnädige?« fragte ich einigermaßen verwirrt.
Und wiederum wollte sie mir nur mit einer Gegenfrage antworten. »Haben Sie ihr denn nicht wenigstens etwas sagen wollen – sind Sie nicht drauf und dran gewesen, es zu tun?«
Diese Frage traf den Nagel so ziemlich auf den Kopf; zumindest rechtfertigte sie die vielbesprochenen Gesichte. »Ich war wirklich drauf und dran – ums Haar hätte ich’s getan. Ich weiß selbst nicht, was mich davon abgehalten hat.«
»Das genügt durchaus«, sagte Mrs. Marden. »Nicht was Sie sagen ist entscheidend, sondern was Sie fühlen. Das genau ist es, wonach er sich richtet.«
Mittlerweile ärgerte ich mich aber doch über ihre ständig wiederholte Anspielung auf jemand, den ich nicht kannte, und so legte ich die Hände zu einer Geste inständiger Bitte ineinander, hinter der sich ein nunmehr beträchtliches Maß an Ungeduld verbarg, eine noch größere Neugier und sogar die ersten Ahnungen eines gewissen heiligen Schreckens. »Ich flehe Sie an, mir zu sagen, von wem Sie sprechen.«
Sie warf die Arme hoch und wich meinem Blick aus, gleichsam, als wollte sie sowohl Bedenken als auch Verantwortung abschütteln. »Sir Edmund Orme.«
»Und wer ist Sir Edmund Orme?«
In dem Augenblick, da ich das sagte, schrak sie zusammen. »Pst! Sie kommen.« Und dann, als ich der Richtung ihres Blickes folgte, sah ich Charlotte Marden auf der Terrasse beim Fenster, und ihre Mutter fügte eindringlich hinzu: »Sie dürfen ihn einfach nicht beachten – niemals!«
Charlotte, welche die Hände seitlich an die Augen gelegt hatte und lächelnd ins Zimmer hereinspähte, gab zu verstehen, daß man sie einlassen solle, woraufhin ich ging und die Terrassentür öffnete. Die Mutter wandte sich ab, das Mädchen kam herein und sagte keck: »Was um alles in der Welt heckt ihr beide denn da aus?« Man hatte sich für den Nachmittag irgend etwas vorgenommen – was, weiß ich nicht mehr –, für das man Mrs. Mardens Teilnahme oder Zustimmung erheischte – daß ich mitmachen würde, wurde als selbstverständlich vorausgesetzt –, und sie hatte das ganze Haus nach ihr abgesucht. Ich war aufgeregt, weil ich sah, daß Mrs. Marden aufgeregt war (als sie sich umdrehte, um ihre Tochter anzusehen, vertuschte sie das mit einer gewissen ungewöhnlichen Reaktion, indem sie ihrer Tochter um den Hals fiel und sie in die Arme schloß), und um diese Erregung zu überspielen, sagte ich gutgelaunt zu Charlotte: »Ich habe Ihre Mutter um Ihre Hand gebeten.«
»Was Sie nicht sagen – und hat sie zugestimmt?« antwortete Miss Marden fröhlich.
»Das wollte sie gerade tun, da erschienen Sie hier.«
»Nun, es dauert nicht lange – ich bin gleich wieder fort.«
»Magst du ihn, Charlotte?« fragte Mrs. Marden mit einem Freimut, wie ich ihn kaum von ihr erwartet hätte.
»Wie soll ich darauf in seiner Gegenwart antworten?« erwiderte das Mädchen und ging ganz auf den spielerischen Ton ein, den ich angeschlagen hatte, sah mich dabei aber an, als möge sie mich nicht.
Freilich hätte sie es sogar in Gegenwart einer vierten Person sagen müssen, denn in diesem Augenblick trat von der Terrasse her kommend (die Terrassentür war offengeblieben) ein Herr ein, dessen zumindest ich gerade erst jetzt ansichtig wurde. Mrs. Marden hatte gesagt: ›Da kommen sie!‹, doch schien er ihrer Tochter in einem gewissen Abstand gefolgt zu sein. Ich erkannte in ihm augenblicklich jene Persönlichkeit, die in der Kirche neben uns gesessen hatte. Diesmal sah ich sie besser, erkannte, daß ihr Antlitz und ihr ganzen Wesen sehr sonderbar waren. Ich spreche als ›Persönlichkeit‹ von ihm, denn man hatte – unbeschreiblich – auf der Stelle das Gefühl, als ob ein regierender Fürst eingetreten sei. Er hielt sich mit einer Art selbstverständlicher Majestät, als wäre er etwas anderes als wir. Dennoch blickte er mich unentwegt und mit großem Ernst an, bis ich mich fragte, was er wohl von mir wollte. Meinte er, ich müßte das Knie vor ihm beugen oder ihm die Hand küssen? Mit dem gleichen Ernst und der gleichen Unbewegtheit wandte er den Blick jetzt Mrs. Marden zu. Die jedoch wußte, was zu tun war. Nachdem die erste Erregung über sein Erscheinen sich gelegt hatte, nahm sie weiter überhaupt keine Notiz von ihm, was mich an das erinnerte, was sie mir so eindringlich ans Herz gelegt hatte. Zwar kostete es mich größte Überwindung, es ihr gleichzutun, denn wenn ich auch nichts weiter von ihm wußte, als daß er Sir Edmund Orme war, empfand ich seine Gegenwart doch als eindringliche Mahnung, fast als etwas Bedrückendes. Er stand da, ohne ein Wort zu sagen – jung, bleich, stattlich, glatt rasiert, würdig, mit außerordentlich hellblauen Augen und – wie auf einem Porträt aus längst vergangener Zeit – etwas Altmodischem in seiner Kopfhaltung, der Art, wie er frisiert war. Er war ganz in Trauer (es fiel einem augenblicklich auf, daß er sehr gut gekleidet war) und trug den Hut in der Hand. Abermals sah er mich mit eigentümlicher Eindringlichkeit an, eindringlicher, als mich je jemand in meinem Leben angeblickt hatte; und ich erinnere mich, daß es mich unversehens kalt überlief und ich wünschte, er würde etwas sagen. Kein Schweigen war mir jemals so lautlos erschienen. All das war selbstverständlich ein außerordentlich rascher Eindruck; daß er dennoch einige Augenblicke benötigt hatte, sich durchzusetzen, bewies mir plötzlich der Anblick von Charlotte Marden, die von ihrer Mutter zu mir blickte und wieder zurück (er sah sie kein einziges Mal an, und sie ließ ihrerseits durch nichts erkennen, daß sie ihn angesehen hätte), und dann brach es aus ihr heraus: »Was um alles in der Welt habt ihr denn bloß? Ihr macht ja ein so komisches Gesicht!« Ich spürte, wie wieder Farbe in mein Gesicht zurückkehrte, und als sie im gleichen Ton fortfuhr zu sagen: »Man könnte ja denken, ihr habt ein Gespenst gesehen!«, wurde mir klar, daß ich puterrot geworden war. Sir Edmund Orme errötete kein bißchen, und ich erkannte, daß er einfach nicht die Fähigkeit besaß, verlegen zu werden. Zwar kannte man Menschen dieser Art, doch nie hatte ich einen kennengelernt, den alles so überlegen gleichgültig gelassen hätte.
»Nun sei nicht ungezogen! Geh lieber und sag den anderen, daß ich mitkomme«, sagte Mrs. Marden mit viel Würde, aber dennoch mit zitternder Stimme.