Tobias Hülswitt
Ich kann dir eine Wunde schminken
Roman
Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
> Buch lesen
> Titelseite
> Inhaltsverzeichnis
> Über Tobias Hülswitt
> Über dieses Buch
> Impressum
Tobias Hülswitt, geboren 1973 in Hannover, lernte Steinmetz und studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Er debütierte 2000 mit dem hochgelobten Roman »Saga«. Seine Erzählung »Fußballgott« erschien in der von Hubert Winkels herausgegebenen Anthologie »Beste Deutsche Erzähler 2003«. Im Jahr 2002 war er Stadtschreiber von Kairo.
Hendrik Nühus schmeißt sein Studium, stapelt bei einem vietnamesischen Obsthändler Kisten und erzählt in der Literaturshow »Urst Übelst« melancholische Witze. Zwar gehen ihm seine Mitstreiter Pamela Anders, Carmen Amen und Jan D-Day auf die Nerven, aber er hat ja seine große Liebe Laura, die ihn nach einem Auftritt ansprach und nun Teil seines Lebens sein will.
Zur gleichen Zeit startet der Comedian Max Dopper eine neue TV-Show. Er überrascht mit Witzen über den Krieg und wirbt Hendrik als Gagschreiber an. Ehe der es sich versieht, ist er »Comedy Content Director«, sammelt Geld auf dem Konto und Überstunden im Büro, verliert allmählich den Überblick – und komplett die Nerven, als er eines Tages erkennen muss, dass er betrogen wird.
Tobias Hülswitts Roman ist ein Eifersuchtsdrama in der Welt der TV-Comedy. Und die Geschichte eines jungen Mannes, der Pointen schreiben kann, aber im Leben nicht auf den Punkt kommt.
Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
Erschienen bei KiWi Bibliothek
© 2018 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
Impressum der Reprint Vorlage
ISBN (eBook) 978-3-462-41174-4
Doch in meiner verdämmernden Vision
gewahre ich das nur undeutlich, was diese
plötzlich auf der Oberfläche der Dinge
enthüllten Glasscheiben von dem Inneren
erkennen lassen, das sie verhüllen und enthüllen.
Bernardo Soares
Laura übersetzte ihre Gedanken oft ins Englische. Auf Englisch, fand sie, klang alles besser. Wenn sie einen Gedanken übersetzte, sollte er klingen, als würde er irgendwo in Amerika gerade ganz lässig gesagt. Manchmal musste sie die Gedanken in verschiedenen Versionen denken, bevor sie lässig genug klangen.
Es war Ende März und dunkel und kalt. Laura stand seit zwanzig Minuten im Licht einer Neonlampe in der Schlange vor ›Ilses Erika‹. Die Kassierer kassierten gemächlich, und Laura dachte: Winter never ends in northern Europe. Sie hätte an der Schlange vorbei direkt nach vorne gehen können, denn an der Kasse saß Hendrik. Da sie aber erst vier Wochen zusammen waren und Laura zum ersten Mal als seine Freundin kam, wollte sie nur umsonst hinein, falls er es ihr anbot. Sie wollte nicht den Eindruck erwecken, als ginge sie davon aus. Obwohl sie davon ausging.
Sie war direkt nach einem späten Seminar vom theaterwissenschaftlichen Institut, an dem sie studierte, mit der Straßenbahn herausgefahren. Sie trug eine lange schwarze Daunenjacke, blaue Turnschuhe, Jeans und einen roten Pullover, und seit dem ersten Januar waren ihre Haare wasserstoffblond. Sie war jetzt gleich dran. Sie schaute dem Mädchen vor ihr über die Schulter und beobachtete Hendrik, der neben seinem Kollegen auf einem Barhocker hinter der Kasse saß und ganz darin vertieft war, dem Mädchen vor Laura einen Teddybär aufs Handgelenk zu stempeln. Hendrik kam ihr im Halbdunkel des Clubs noch schmaler und blasser vor als sonst. Laura beschloss, ihn zu einer Diät zu überreden. Einer Zunehmdiät. An seinem Hals sah die Haut rau und trocken aus. Hendrik hatte seine langen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er trug ein Motörhead-T-Shirt unter seinem grünen Kunstledermantel, den Laura ihm auch noch ausreden wollte. Sie wartete nur auf die Gelegenheit, es tun zu können, wenn sie irgendwo im Schlussverkauf einen schöneren für ihn fände.
Hendriks Kassenkollege war klein und korpulent, er trug einen Siebzigerjahreanzug mit über das Revers gelegten, großen roten Hemdkragenzipfeln und blinzelte den Gästen entgegen. Laura blinzelte unwillkürlich zurück. Auf dem Tisch lag ein Pappschild mit der Aufschrift »Urst Übelst – Die Show für alles«, und darunter: »7 Mark«. Laura zog ihre Handtasche vor den Bauch und tat so, als wolle sie ihr Portemonnaie herauskramen. Dabei schaute sie erst den Kollegen, dann Hendrik an, lächelte und sagte: »Hallo!« Sie hatte immer noch ein flaues Gefühl im Magen, wenn sie ihn sah.
In diesem Moment bekam sie einen Stoß. Eine Frau mit mahagonigetönten Locken drängelte an ihr vorbei und zog einen blonden, nicht großen, aber breitschultrigen Mann hinter sich her, der in etwa einen solchen dunklen Mantel trug, wie Laura ihn Hendrik beschaffen wollte. Er übernahm nun die Führung und holte seine Brieftasche heraus. »Hi!« sagte er zu Hendrik und dessen Kollegen. »7 Mark?«
Hendrik hielt den Kopf schief und sah den Mann mit offenem Mund an, und wenn sie nicht gewusst hätte, dass er schlau war, dachte Laura, hätte sie ihn jetzt für dumm gehalten. Der Korpulente hatte ein kaltes Lächeln aufgesetzt, und sie rührten sich nicht. Sie waren eingefroren. Jemand hat auf Stop gedrückt, dachte Laura.
Die Frau hatte ihre Hände auf die Schultern des Blonden gelegt, stellte sich auf die Zehenspitzen und sagte: »Das ist Max Dopper!«
Hendrik sah seinen Kollegen an. »Wer?«
»Von mir aus kann er Graf Zahl sein«, sagte der Kollege.
»Dann würde die Schlange immer noch an ihrem Ende anfangen.«
»Na kommt«, sagte der Blonde, und eine Haarsträhne rutschte ihm in die Stirn. »Jetzt sind wir schon hier.« Er griff die Frau und zog sie neben sich.
Hendrik und sein Kollege schüttelten langsam die Köpfe und zeigten mit flachen Händen in die Richtung, in der sich draußen in etwa das Ende der Schlange befand. Der Mann namens Max Dopper ließ einen Zwanzigmarkschein auf den Tisch fallen, schob sich und die Frau an der Kasse vorbei und sagte: »Stempel brauchen wir nicht.«
Hendrik und der Kollege sahen sich wieder an. »Scherzkeks«, sagte der Kollege.
»Laura«, sagte Hendrik, »komm, geh rein, der Freak hat für dich mit bezahlt.«
Laura hielt ihr Portemonnaie mit beiden Händen vor der Brust und lehnte sich auf den Tresen, um etwas zu bestellen. Plötzlich war der Freak neben ihr. Er zog eine Schachtel Davidoff aus der Tasche und steckte sich eine zwischen die Lippen. Seinen Mantel hatte er abgelegt, und darunter war er zu schick gekleidet für die Umgebung. Laura hatte eine kleine Bühne im Kopf, ihr eigenes Theater, auf dem sie Männer in durchsichtigen Anzügen mechanisch tanzen und einander Zahnrädern gleich vorantreiben ließ, und immer versagte einer der Zahnradmänner, blockierte und zerbrach, sodass die unaufhaltsam weitermahlende Maschinerie ihn ausspucken, fallen lassen und zerquetschen musste. Klar. Aus den Lautsprechern drangen die Pixies. Dieser Max sah sie an, viel zu direkt, und hielt ihr die Zigaretten hin. Sein Gesicht hatte etwas überwältigend Freches, und Laura musste lächeln, als sie »Nein danke« sagte.
»Hast du Feuer?« fragte er.
D’you have light, dachte Laura, hast du Licht? Sie griff in ein großes Glas auf dem Tresen und fischte eine Schachtel Streichhölzer heraus. Die Barkeeperin stellte ihr einen Orangensaft hin. Die Pixies wurden unterbrochen, Ping Pang Pong, machten die Lautsprecher, und eine Frauenstimme sagte: »Die Vorstellung beginnt in wenigen Minuten.«
»Oh«, sagte Laura, wollte diesem Max die Streichhölzer in die Hand drücken und zu ihrem Platz gehen, was ihr dann aber unhöflich und überhastet erschien. Sie zog ihre Hand wieder zurück. Max streckte seine aus, aber zu spät, und ließ sie wieder fallen. Laura hatte seine Hand gesehen und wollte die Schachtel nun doch hineinlegen, aber da war sie schon wieder weg. Laura musste lachen, und Max nahm ihr freundlich die Schachtel aus den Fingern.
»Wie heißt du?« Er blies den Rauch so zur Seite, dass sie nichts abbekam.
Laura sagte ihren Namen, und Max strahlte sie an: »Ich bin Max.« Er hatte Zähne, die aussahen, als könnte man mit einem Hammer dagegen schlagen, ohne dass ihnen etwas passierte. Seine Augen waren blau, sein Gesicht breit, er hatte Grübchen in den Wangen und eine flache Nase. Er sah sie an, als müsse sie ihn kennen. Sie überlegte noch einmal genau. Zeitung? Fernsehen? Sie kannte ihn nicht.
»Ich weiß«, sagte sie trotzdem, denn seinen Namen hatte sie ja an der Kasse gehört. Das war dumm, denn nun dachte er womöglich, sie würde ihn doch kennen, aus den Medien, und sich sonst was einbilden. Sie nahm ihren Orangensaft, lächelte ihm zu und ging davon. Sie streckte dabei den Rücken durch und ließ die Hüften schwingen, und beinahe hätte sie sich noch einmal umgedreht, aber dann kam sie sich lächerlich vor und hörte auf, so komisch zu gehen. Außerdem war sie frisch verliebt, und sie war hier, um ihren Freund auf der Bühne zu sehen, und das war ja wohl nicht der richtige Zeitpunkt zum Flirten. Sie stieg über die Leute, die nun schon im Zwischengang auf dem Boden saßen, rutschte sich auf ihrem Platz in der ersten Reihe seitlich der Bühne zurecht, stellte die Füße auf den Bühnenrand und wartete, dass das Licht ausging.
»Ladies and Genitals, begrüßen Sie nun zu Urst Übelst, Ihrer Show für alles: Jan D-Day, Pamela Anders, Carmen Amen und Hendrik Nühus!«
Das Publikum klatschte und johlte, und aus den Lautsprechern kam brutal laut das Intro. Jan D-Day drückte sich im Licht des Spots mit einem Klappstuhl in der Hand durch einen Spalt in der Kulisse. Er trug einen weißen Anzug und eine Siebzigerjahrefrisur mit angeklebten Koteletten. Bei der letzten Show, erinnerte sich Laura, hatte er dasselbe getragen. Er stellte den Klappstuhl in der Mitte der Bühne auf. Er löste eines der Mikrofone von einem Ständer, und aus den Lautsprechern drang ein Fiepen. Er fingerte erschrocken an dem Mikrofon herum, das Fiepen verschwand, er hielt es zur Seite, sprach etwas hinein, war aber nicht zu hören. Er sah über die Stuhlreihen hinweg zur Technik. Jemand aus der ersten Reihe rief: »Einschalten!« Jan sah auf das Mikro, drehte es und entdeckte einen Knopf.
»Aaah«, sagte er, während er es an den Mund führte, »jetzt! Jaah, guten Tach, mein Name ist Jan D-Day, ich hab da mal was geschrieben, das les ich jetzt mal vor. Die Geschichte heißt: Reif.
Eigentlich müsste man mal wieder in Urlaub fahren. Lange nich gemacht. Müsste man ma eigentlich wieder machen. Rasch noch das Freundschaftsband für Wolfgang Petry fertig gestrickt und dann müsste man aber eigentlich schnellstens ma los. In Urlaub. Dahin wo es wunderschön ist. Wo man mal die ganzen Alltagssorgen vergessen kann. Wo man die einfach links liegen lassen kann, die Alltagssorgen. Da wo man sich nicht viel Sorgen machen muss um den Alltag. Mit’m Zug vielleicht? Über die Schweiz und so nach Spanien. Da solls ja auch ganz schön sein. Spanien, olé, olé. Wo die Sonne immer scheint und viele hübsche Madams. Spanien, ein Wunschfloß der Träume, eine Odyssee voller sehnsuchtsvoller Zärtlichkeit, ein mit gertenschlanken Boccadillos bepflanzter Garten Eden. Spanien, viele Synonyme, die dich schmücken! Weltmeister warst du, und Kolumbus, der die Eieruhr erfand, kam von ganz in deiner Nähe. Deine Strände immer voll mit Sand, deine Häuser, da passt mancher rein. Toreros, Madrid, König und so weiter. Spanien, Land der Triebe, Land der Sonnenuntergänge unter freiem Himmel, Land der Mücken, Land der 1000 verschiedenen Möglichkeiten, was man so machen kann. Spanien, du bist so verschieden. Viele Eroberer, die deine hohen Türme bestiegen und runterguckten und staunten und sagten ›Hui, hui, hui‹. Wer kennt nicht die vielen Namen, die deine Töchter und Söhne in der Kirche übergeholfen kriegen.«
Laura sah diesen Max, wie er sich auf der anderen Seite der Bühne durch eine Reihe schob, ein Bier und ein Glas Sekt in der Hand, das er der Frau mit den Mahagonilocken reichte. Dann setzte er sich sehr langsam, wobei er noch einmal lächelnd um sich sah. Laura guckte schnell weg. Dafür, dass er so kräftig gebaut war, hatten seine Bewegungen etwas erstaunlich Geschmeidiges, und sein beiger Pullover sah weich und teuer aus.
»Da könnte man ma hinfahrn, in Urlaub. Den ganzen Stress einfach vorher in’n Keller runterbringen und den Ladys von gegenüber Arrivederci sagen. Die Tasche schnappen mit den Schlüppern drin und die Creme und die ganzen Decken und so, los, rein in’n Zug. Tatütatü. Türe zu. Abfahrt. Türe richtig zu! Die is doch gar nicht richtig zu! Machste die ma richtig zu! Siehste, jetz is jemand rausjefallen. Tot. Tschüss! Schon sind ma inna Schweiz. Schön sieht’s aus in der Schweiz, aber da wolln wir ja gar nicht hin, sondern in Urlaub. Trotzdem sieht die Schweiz aus wie ein Wunder im Monat Dezember zwischen Weihnachten und Heiligabend. Besonders wenn die Schneeflöckchen vom Himmel tänzeln und alles Leben ersticken, doch wir wolln nich in die Schweiz.«
Laura fand Jan, wie er dort auf der Bühne stand, sympathisch, sie wusste gar nicht, was Hendrik immer mit ihm hatte. So ein komisches Ding zwischen Männern, wahrscheinlich. Hendrik hatte ihr erzählt, dass er Jan anfangs sehr gemocht habe, aber dann von ihm schwer enttäuscht worden sei, menschlich, und Laura hatte sich gewundert, wie er überhaupt jemanden von vornherein so bedingungslos mögen könne, und gesagt, dass die Enttäuschung dann doch vorprogrammiert sei. Obwohl sie in ihrem Fall froh war, dass Hendrik sie erst einmal bedingungslos mochte. Sie machte es immer umgekehrt. Sie misstraute zuerst, dann schenkte sie nach und nach, wenn eine Freundschaft möglich schien, Vertrauen.
Jan las mit vollkommen unschuldiger Stimme jeden Satz so, als sei die Geschichte zu Ende, und legte eine kleine Pause ein. Dann kam der nächste Satz. Und noch einer. Und immer noch einer dran.
»Spanien, Land der frischen Minze. Land des Duftes. Freiheit, Abenteuer, Sommer, Sonne, Pistazien. Die Kinder haben lustig dicke Backen. Spanische Wurst abgeschnitten vom Busen der Mutter Natur. In Spanien sind die Politiker o.k. So Menschen wie du und ich. Sie werden vom Volk verehrt wie Götter. Spanien und die Schweiz. Ein Unterschied wie Himmel und Nacht. Man könnte mal in’n Urlaub fahren. Könnte man mal. Is aber auch irgendwie weit weg, so’n Urlaub.«
Er ließ sein Notizbuch sinken, Applaus brach los, und ein neuer Jingle, der für zwischen den Nummern, donnerte aus den Lautsprechern. Jan D-Day klappte seinen Stuhl zusammen und verbeugte sich. Der Spot erlosch. Für ein paar Sekunden war alles dunkel. Als er wieder anging, standen zwei Frauen auf der Bühne, Carmen Amen und Pamela Anders. Seit Carmen Amen einmal im Stadtmagazin zur »Sexiest Entertainerin in Town« gekürt worden war und in der folgenden Ausgabe der Brief eines aufgebrachten Lesers erschien, der Pamela Anders viel sexier gefunden hatte, konnten die Zuschauer in Ilses Erika nach jeder Show ihre Stimme für die eine oder die andere abgeben. Das Ergebnis wurde ans Stadtmagazin übermittelt und dort veröffentlicht. Meistens gewann Pamela, sie kleidete sich einfach offensiver. Deshalb wählte Laura jedes Mal Carmen. Sie mochte schüchterne Frauen. Außerdem war sie grundsätzlich für die Unterlegenen.
Pamela trug eine rote Perücke mit langen Zöpfen, eine runde Brille, ein enges, geringeltes Top, einen Minirock und geringelte Strümpfe. Carmen eine strenge, zurückgebundene Frisur, eine eckige, schwarz gerahmte Brille und einen dunklen Anzug. Pamela hielt eine Sahnetorte auf der flachen Hand. Sie standen beide ganz still, Pamela schaute ins Publikum, Carmen über die Köpfe hinweg. Jemand kicherte, hörte aber sofort wieder auf. Pamela schlug die Torte in Carmens Gesicht. Dann fragte sie, auf Carmen zeigend: »Na, ist das nicht komisch?«
Sie standen wieder einen Augenblick still, dann wischte sich Carmen mit dem Zeigefinger die Brillengläser frei und ging zu dem Spalt in der Kulisse. Dort erschien eine Hand, die ihr eine Schüssel puddinggelber Masse reichte. Carmen kehrte mit der Schüssel auf ihren Platz zurück und blieb dort mit dem Blick ins Publikum stehen. Dann schüttete sie die puddinggelbe Masse über Pamela aus, drückte ihr die Schüssel auf den Kopf und fragte, auf Pamela zeigend: »Na, ist das nicht komisch?«
Pamela ging zum Spalt und bekam eine Tüte Mehl. Sie ging zurück auf ihren Platz, stand einen Moment still und schüttete die Tüte über Carmen aus. Eine Mehlpyramide entstand auf Carmens Kopf. »Na«, rief Pamela, »ist das nicht komisch?«
Carmen bekam vier Schachteln Schokostreusel, die sie über Pamela leerte. »Na, ist das nicht komisch?« fragte sie, aber diesmal klang es wegen ihrer verklebten Lippen wie »Na, ift daff nift kobiff?«.
Pamela erhielt drei Eier und warf sie, eines nach dem anderen, aus zwei Metern Entfernung fest und gezielt gegen Carmens Kopf. »Na, ist das nicht komisch?«
Carmen schüttete eine Schüssel Kartoffelsalat über Pamela aus.
Pamela malte ihr mit weißer Farbe Halbkreise mit Punkten darin auf die Brüste, einen weiteren Punkt auf den Bauchnabel, ein auf der Spitze stehendes Dreieck auf die Scham – und dann Hörner auf die Schlüsselbeine und schrie: »Na, ist das nicht komisch?«
Carmen drehte Pamela um, zog ihr den Minirock hoch, klemmte ihr einen Böller zwischen die Pobacken, hielt ein Feuerzeug an die Zündschnur und brachte ihn zur Explosion. Pamela presste sich die Hände auf den Hintern und stakste mit schmerzverzerrtem Gesicht über die Bühne.
Sie trat Carmen in den Bauch, an die Stelle, an die sie den Punkt gemalt hatte. »Ist das nicht komisch?« Carmen blubberte etwas Blut aus dem Mund.
Jesus Christ, dachte Laura gedehnt auf Englisch.
Carmen kroch zum Spalt, wo die Hand ihr wie zu Beginn eine Sahnetorte hinhielt. Sie richtete sich schwankend auf, zog ihren verschmierten Anzug glatt und wischte sich das Blut vom Kinn. Als sie sich bückte, um die Torte in Empfang zu nehmen, schlug die Hand sie ihr ins Gesicht. Sie stolperte rückwärts und setzte sich auf ihren Hintern. Ein Chor von Stimmen rief: »Ist-das-nicht-ko-misch?«, und der Jingle setzte ein.
Der Spot erlosch, während die Leute frenetisch klatschten. Laura war etwas verwirrt von der vielen Gewalt. Es hatte bisher in jeder Show eine Tortenschlacht gegeben, und sie liebte Tortenschlachten, weil sie überall im Leben Ausschau hielt nach dem Rückzug auf die einfachsten Mittel. Sie liebte Tortenschlachten allerdings fast wider Willen, weil sie im Prinzip der Meinung war, dass das Einfache dennoch immer etwas neues Einfaches sein musste und keines, das es schon gab.
Der Spot wurde wieder eingeschaltet. Auf der Bühne standen nun alle vier: in der Mitte an den Mikrofonen die beiden Frauen, bekleckert und verschmiert, Carmen mit einer Gitarre um, und an den Seiten Hendrik mit einem Bass und Jan an einem Synthesizer. Carmen und Pamela sangen: »Es wird dunkel, du weißt nicht Bescheid, / ist das Illusion oder Wirklichkeit? / Bist in der Bundeswehr / ouoh, in der Bundesweah!« Sie begannen zu strippen, und Laura ertappte sich dabei, wie sie wieder zu diesem Max Dopper hinübersah. Sie sah die Frau, die bei ihm war, aufstehen, mit ihrem Mantel hektisch die Reihe verlassen und sich zum Ausgang durchschieben, während Max einen Arm über die Lehne des nun leeren Stuhls legte und sich zurücklehnte, ganz entspannt. In seiner Nähe ging ein BH im Publikum nieder. Laura schaute zur Bühne. Es war Pamelas. Carmen behielt ihren an.
Dann stand Hendrik allein auf der Bühne. Über das Motörhead-T-Shirt hatte er ein etwas zu weites weißes Jackett gezogen, seine Füße standen im Eiermehlmatsch. Seine Haare schimmerten kupfern im Spot. An derselben Stelle und vielleicht genauso hatte er dagestanden, als Laura ihn zum ersten Mal gesehen hatte, vor einem Jahr, in der ersten Urst-Übelst-Show. Und von Show zu Show hatte sie sich mehr in ihn verknallt. Er wirkte immer leicht verwundert und hilfsbedürftig und zugleich respektlos und frech. Er wirkte kindlich und offen und schien doch ein Wissen davon in sich herumzuschleppen, wie kaputt das Leben war. Sie war dann, nach der letzten Show, einfach backstage gegangen, mit ihren neuen Haaren und ihrem neuen Mut. Und er hatte gesagt: »Super, ich wollte auch gerade nach dir schauen.«
»Laut Forschungsberichten«, sagte er ins Mikro, das zu weit weg stand.
»Lauter«, riefen ein paar Leute, und Hendrik streckte, anstatt näher ans Mikro zu gehen, den Hals.
»Laut Forschungsberichten«, wiederholte er, »hat sich unsere Depressivitätsanfälligkeit seit den fünfziger Jahren um das Zehnfache erhöht.«
Er machte eine Pause, sah auf den Boden. Er rührte mit der Fußspitze in dem gelben Eiermehlmatsch. Dann sagte er, ohne aufzuschauen: »Ein deprimierender Gedanke.«
Dann schwieg er sehr lange, schaute auf seine Füße und über das Publikum hinweg. Nach einer halben Minute trat er von einem Bein auf das andere und wieder zurück und wackelte mit allen Gliedmaßen, als ob er sich in seinem Körper nicht wohl fühlte. Nach einer Minute verzog er nervös das Gesicht, presste Oberlippe und Nase gegeneinander und zog dieselbe Partie gleich darauf weit auseinander. Ein paar Leute kicherten. Er streckte den Hals wieder und redete weiter:
»Die kleinsten Kleinigkeiten halten wir heut nich mehr aus. Zum Beispiel, du sitzt so für dein Studium am Schreibtisch und kuckst aus dem Fenster, und da wird einer erschossen. Das lenkt total ab, und dann schaffst du dein Tagespensum nich, das du dir vorgenomm’ hattest, die zehn Seiten in dem einen Buch nochmal genau zu überfliegen, das schaffst du dann nich. Dann bist du abends natürlich traurig und deprimiert und auch niedergeschlagen, weil du mal wieder versagt hast. Mal wieder haste dein Pensum nich geschafft. Du wirst bestimmt mal asozial, wenn du so weitermachst. So Gedanken kommen dir dann. Nur paar solcher Gedanken reichen heutzutage schon aus, um uns so zu deprimieren, dass es kracht.«
Er versank wieder in Schweigen. Dieses Mal bewegte er sich gar nicht. Er schien überhaupt keine Angst zu haben, sich lächerlich zu machen. Diesen Eindruck hatte Laura immer, wenn sie ihn auf der Bühne sah, und sie beneidete ihn, sie hatte das Gefühl, selbst viel zu abhängig davon zu sein, was andere Leute über sie dachten. Im Publikum war es vollkommen still. Die Lüftungsanlage rauschte.
»Oder hier«, redete Hendrik unvermittelt weiter, »in deiner Nachbarwohnung, die alte Frau, die da wohnt, wenn die mal stirbt und keiner kriegt’s mit, dann liegt die da erst mal zwei Wochen. Und das stinkt natürlich. Und der Geruch zieht dann unter den Türen durch in deine Wohnung, in der es vorher immer gut gerochen hat, so nach Lavendel und Vanillje und Rosenwasser und Flieder und Weihrauch und Myrrhe und Bratkartoffeln, und jetzt riecht’s da nach verfaulendem Mensch. Kannstu gar nichts ’für, aber dein ganzer Besuch so: ›Igitt, wie stinkt das denn bei dem Hendrik, der alten Sau! Als ob der innerlich verfault! Hab ich doch schon immer gesagt, dass der mal Darmkrebs kriegt!‹ Unsere Freunde brauchen nur mal ’n paar solche Scherze machen, schon sind wir heutzutage völlig am Ende. Es ist brutal.«
Er lächelte etwas naiv und ließ seinen Blick über die Gesichter gleiten. Vielleicht, dachte Laura, hatte er doch Angst vorm Publikum, und gerade deshalb funktionierte sein Auftritt, weil er die Angst verwandelte in dargestellte Schüchternheit und Seltsamkeit.
»Oder hier«, sagte er, »die ganzen Unfälle, wenn die Leute in den Autos zerquetscht werden, da gehen ja auch die Scheiben kaputt, und die Scherben liegen dann nebendran auf dem Bürgersteig rum, und wenn du da mit dem Fahrrad vorbeifährst und in die Scherben rein, dann war’s das: Platten! Ganz toll. Vielen Dank. An ’nem Tach, wo eh schon alles so blöde läuft. Halbe Stunde früher als der Wecker aufgewacht, keine Milch mehr im Haus, aus Versehen im Treppenhaus zum Nachbarn ›Du stinkst‹ gesagt. Und dann sollste jetz noch ’n neuen Reifen aufziehen, haste aber vielleicht keinen dabei, und zack, biste heutzutage schon wieder komplett mit den Nerven am Ende.
Wie soll das erst werden, wenn wir mal echte Probleme kriegen? Steuerfahndung! Wasser im Keller! Flugzeug verpasst! Lieber erst gar nicht dran denken. Deprimiert ein’n doch bloß. Schüss!«
Schnee sinkt auf das Gras,
aus der Tasse steigt der Dampf –
was kommt im Fernsehn?
Yu Pei
Meine Vietnamesen hatte ich kennen gelernt, als ich aus der Gottschedstraße nach Plagwitz zog. Die Gottschedstraße war eine schöne Straße gewesen, als ich hinzog, aber dann wurde Haus für Haus renoviert, und am Ende war sie nur noch voller schnöseliger Kneipen in den Erdgeschossen totsanierter, schnöseliger Häuser. Auf der Suche nach Umzugskartons gab mir jemand den Tipp, in Obstläden nach leeren Kisten zu fragen. Ich landete in einem vietnamesischen Obstladen, was gar nicht anders ging, da in Leipzig alle Obstläden vietnamesische Obstläden sind. To, dessen Namen ich da noch nicht kannte und der vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre alt war, führte mich zu einer kleinen Treppe, die neben dem Laden in einen Kellerraum führte, stieß die Tür auf und gab mir mit Handzeichen zu verstehen, dass ich so viele Kisten und Kartons nehmen könne, wie ich brauchte. Der Raum hatte kühle Sandsteinwände und sandigen Boden, ich ging hinein und fühlte mich sofort wie verschluckt. Von Stille verschluckt und von der Welt vergessen. In mir ging etwas auf, wie eine scheue Pflanze, wenn es so etwas gibt, die erst zu blühen beginnt, wenn niemand sie sieht. Ich stapelte die brauchbaren Kartons neben der Tür, und ich stapelte sie so langsam wie möglich, weil ich diesen Keller im Grunde gar nicht mehr verlassen wollte. Ich stellte die Kartons ganz genau aufeinander und fuhr mit den Fingerspitzen die Kanten des Stapels ab, bis sie gerade Linien waren.
Es war eine schwierige Zeit, ich machte mir Sorgen und konnte nachts nicht schlafen, ich hatte mein Studium abgebrochen und es meinen Eltern nicht gesagt, damit ich weiter Geld von ihnen bekam, Geld, das gerade mal für Miete und Essen reichte. Ich schrieb zwar eine monatliche Kolumne fürs Stadtmagazin und trat alle vier Wochen in »Urst Übelst« auf, aber beides brachte kaum Geld. Deshalb hätte ich mir eigentlich einen Job suchen müssen, mit dem ich etwas verdiente. Stattdessen fragte ich im Obstladen, ob ich wiederkommen dürfe. »Warum?« fragte Nam, der Tos älterer Bruder oder Cousin oder auch bloß nur Kollege war und dessen Namen ich damals auch noch nicht kannte, und ich nahm ihn mit in den Keller, zeigte ihm meine Stapel, stellte einen weiteren Karton darauf, richtete die Kanten aus, schloss die Augen und brummte laut: »Omm.« Nam lachte, und ich lachte auch. Ich sagte: »Okay?«, und Nam rief To und die Frau, die den Laden zu führen schien, vielleicht ihre Mutter oder Tante oder große Schwester. Ich führte ihnen meine Meditation noch einmal vor, sie alle lachten, sie redeten laut und schnell miteinander, und dann sagte Nam: »Okee, okee!« Ich fragte: »Morgen gleich wieder?« Und er meinte: »Morgen okee!«
Nachdem ich ein paar Tage jeden Nachmittag gekommen war und die Kartons gestapelt hatte, brachte mir Nam eine Klangschale und ein Räucherstäbchen in den Keller, wir verbeugten uns voreinander und mussten grinsen. Von da an verbeugten wir uns jeden Tag, wenn ich kam, jeden Tag steckte ich ein Räucherstäbchen an und schlug die Klangschale, bevor ich zu stapeln begann und wenn ich den Keller wieder verließ. Es war eine richtige kleine Show, eine Show für niemanden außer Nam und To und die Frau. Und es war ein guter Deal. Sie hatten Spaß, und ich beruhigte meine Nerven.
Es war März, und ein kalter Wind, der sich anfühlte, als käme er direkt aus dem Kontinentalklima Russlands herüber, blies durch die Straßen von Plagwitz und Schleußig. Vor ein paar Wochen hatte ich Laura kennen gelernt, und in Gedanken nannte ich sie bereits die Frau meines Lebens. Sie übertraf den Rest der Menschheit bei weitem an Schönheit, Intelligenz und Humor, und sie hatte mich als ihren Freund gewählt. Ich kam vom Kistenstapeln nach Hause, lümmelte mich auf das alte Sofa vorm Fernseher und hoffte, dass sie mich anrief, wenn sie für heute mit der Uni fertig wäre. In den Nachrichten zeigten sie Kampfjets, die über die Adria nach Belgrad flogen, und interviewten einen Menschen in Uniform, der sagte, es sei durchaus eventuell möglich, dass die deutschen Soldaten im Krisengebiet einer potenziellen Gefahr ausgesetzt würden, vielleicht, falls die Serben, was ja nicht auszuschließen sei, auf die Bombardierung reagierten, und ich schaltete um zu den Simpsons, den Anfang hatte ich verpasst. Gerade als Grampa sagte: »Damals war ich bekannt als Sergeant Simpson, und ich war Befehlshaber der Fliegenden Höllenfische«, klingelte das Telefon. Ich machte leiser und streckte mich nach dem Apparat, der auf dem Boden stand, kam nicht heran, musste aufstehen und hingehen und nahm ab.
»Sag mal, würdest du dir in einem Restaurant einen Löffel geben lassen, um die Kohlensäure aus dem Mineralwasser zu rühren?« Es war Laura. »Eben hat mich eine Kommilitonin gefragt, ob ich mit ihr was trinken gehe. Wir sind dann zu dem Italiener im Barfußgässchen gegangen, weil sie Hunger hatte, und das war schon ziemlich unglaublich, weil mich noch nie irgendjemand aus dem Institut gefragt hat, ob wir was trinken gehen. Wir sitzen immer nur da wie die Kaninchen, beobachten uns heimlich, lächeln uns beim Rausgehen zu oder auch nicht und gehen nach Hause. Und die fragt mich, ob ich was mit ihr trinken will, und geht dann gleich mit mir essen! War ja nett, dass sich endlich mal jemand traut – aber dann bittet sie als Erstes die Kellnerin, andere Musik aufzulegen, weil die, die läuft, sie nervös mache. Als Zweites lässt sie sich einen Löffel bringen, um die Kohlensäure aus dem Mineralwasser zu rühren. Das war mir alles so peinlich. Obwohl es mir gar nicht hätte peinlich sein müssen. Sie