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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2017

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Umschlaggestaltung Frank Ortmann

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Konvertierung Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN Printausgabe 978-3-499-61054-7 (1. Auflage März 2017)

ISBN E-Book 978-3-644-40190-7

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-40190-7

Lockern Sie sich, Herr Doktor

Lachen Sie mal wieder, Herr Luther, sagte ich zu der Gestalt auf dem Sockel, lockern Sie einfach die Kiefermuskeln, versuchen Sie’s! Da hat sich eine Menge Ernst in Ihren Gesichtszügen gesammelt in den Jahrhunderten, so viel wuchtige Entschlossenheit, so viel demonstrative Standhaftigkeit, so viel Unnahbarkeit, dass wir, die Zeitgenossen des Jahres 2017, die Sie lieber lebendig als erstarrt sehen, nur ganz zivil empfehlen können: Rührt Euch, Herr Doktor! Auch eine Geschichtsbuchfigur wie Sie braucht mal eine kleine Abwechslung, ein paar Lockerungsübungen, ein kurzes Durchschütteln, bevor Sie für die nächsten fünfhundert Jahre wieder in Ihrem eigenen Standbild zu Stein oder Bronze werden. Sie sind kein Heiliger, also zieren Sie sich nicht, so unnahbar sind Sie doch gar nicht. Lockern Sie bitte ganz behutsam die Kiefermuskeln, lächeln Sie, ja, sehr schön, der rechte Mundwinkel zuckt schon, die Augen erwachen und blinzeln aus der Tiefe, weiter so, drehen Sie vorsichtig den Kopf, langsam, sehr gut. Bewegen Sie die Stirnfalten, die Finger, Hände, die Arme, die Beine, offenbar funktionieren auch die Ohren noch bestens, lächeln Sie, und jetzt steigen Sie bitte vorsichtig runter vom Sockel. Warten Sie, ich helfe Ihnen, setzen Sie sich her zu mir. Ich will Ihnen was erzählen, Sie müssen gar nichts sagen, wenn Sie nicht wollen, ich werde Sie nicht fragen, was Sie so gefühlt haben eben beim Steigen vom Sockel oder damals, als Sie den Hammer in der Hand hielten beim Anschlagen der 95 Thesen in Wittenberg, oder was Sie in Worms wirklich gesagt haben, ich werde Sie weder mit Karl V. noch mit der heutigen Weltlage belästigen. Ich würde Sie, wenn möglich, nur gern auf einen winzigen und doch hochheiklen Punkt aufmerksam machen, Herr Luther, über den seltsamerweise niemand spricht, etwas, was Ihr Werk betrifft oder eine Lücke in diesem Werk. Eine Frage, nur kurz, ein halbes Stündchen oder so lange Sie wollen.

 

Brauchen Sie erst mal was zu trinken, zum Wachwerden, damit das Gehirn wieder anspringt nach so langem Denkmalschlaf, nach dem ewigen Dämmern im kalten Bronzekopf? Für die kurze Unterbrechung Ihres Ruhestandes, zu der ich Sie nötige und einlade, rate ich Ihnen, ein Bier zu heben, einen guten Humpen Bier zur Belebung, Beruhigung oder seligen Erinnerung, ganz wie Sie wollen. Denn alles, wirklich alles hat sich verändert seit Ihrer Lebenszeit, seit fünfhundert Jahren, der Mensch, die Kirche, die Geschichte, die Moral, die Bräuche, alles, wirklich alles, nur das Bier nicht. Nur das Bier ist so rein geblieben wie zu Ihrer Zeit, als in Ingolstadt das dauerhafte Reinheitsgebot gegen die Panscherei beim Bierbrauen verfügt wurde im Jahr 1516, genau ein Jahr bevor Sie in Wittenberg mit Ihren Thesen das theologische Reinheitsgebot gegen die Panscherei mit dem Ablass verfügt haben. Das reine Bier und die reine Lehre und der reine Glaube feiern zusammen Jubiläum. Ein halbes Jahrtausend Reinheit in der sonst so dreckigen, bösen Welt … Also ein Bier, ordentlich gezapft, das dauert einen Moment.

 

Sie lächeln skeptisch, mit Recht, Sie ahnen, Sie wissen ja, was Ihnen blüht in diesem landauf, landab gefeierten Lutherjahr. Da werden Sie von allen Seiten mit Phrasen bombardiert, mit Reden zugeschüttet, mit Feiern umheiligt. Keine Sorge, ich bin keiner der hunderttausend Lutheranbeter und Lobredner, die derzeit an allen Lutherorten und in allen Lutherstädten, vor Lutherdenkmälern und Luthereichen mit mehr oder weniger frommen, säuselnden, sanftprotestantischen Sätzen sich über Sie und Ihre Taten und Ihre Aktualität auslassen und brüchige Brücken schlagen von 1517 bis 2017. Ich bin auch keiner der vielen Lutherspezialisten, die mit immer dickeren Büchern immer dünnere, angeblich neue Details aus Ihrem Leben und Wirken zum Besten geben, ohne auch nur einen Funken Ihrer Sprachkraft und Sprachwut und Sprachlust zu bieten. Nein, Sie werden von mir nicht zum tausendsten Mal gewürdigt als wichtigster Reformator aller Zeiten, als Papstgegner, mutiger Rebell, der sich auf sein Gewissen und sein Ich berief, als tüchtiger Ketzer, trefflicher Übersetzer und Begründer des evangelischen Glaubens, als ungewollter Retter des Katholizismus, und was der glorreichen Luther-Effekte mehr sind, alles richtig, aber eben schon tausendmal gesagt und hunderttausendmal wiederholt.

 

Ich werde Ihnen auch nicht mit dem Gegenteil kommen und statt der Lutherlobrednerei die allbekannten Lutherverdammungsurteile auspacken, ich werde Ihnen nicht vorhalten, wie stur und gnadenlos Sie gegenüber Ihren Mitreformatoren gewesen sind, wie verbrecherisch gegenüber den Bauern, wie widerlich gegenüber den Juden, wie opportunistisch gegenüber den Fürsten, wie töricht gegenüber Erasmus. Alles richtig, an diesen Ihren schwersten Vergehen gibt es nichts zu beschönigen, das ist mit Recht schon zehntausendmal vorgebracht worden, darüber muss ich nicht auch noch meinen Abscheu ausgießen.

Die 96. These von Wittenberg

Prosit, so viel Latein kann ich noch, wohl bekomme Ihnen das Bier! Na, das schmeckt Ihnen wirklich, so selig lächelnd sieht man Sie selten. Und nun hab ich mich lange genug eingeschmeichelt bei Ihnen, darf ich anfangen? Der Grund, Sie vom Sockel zu locken, ist nur eine Frage, die leise, die vorsichtige, die sehr diskrete Frage, ob Sie vielleicht ahnen, welches der größte Fehler Ihres Lebens oder, um in Ihrer Sprache zu sprechen, die größte Sünde Ihres Lebens gewesen sein könnte.

 

Nein, ich bin kein Beichtvater, habe keinen theologischen Rang, aber Sie können sich ruhig einem