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Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg

Copyright für diese Ausgabe © 2018 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

Copyright © 1988 by Robin Norwood

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München

 

 

Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:

 

 

ISBN Printausgabe 978-3-499-19155-8

ISBN E-Book 978-3-688-11050-6

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-688-11050-6

Fußnoten

Statt Nar-Anon (einer Selbsthilfegruppe für Angehörige und Freundinnen beziehungsweise Freunde von Drogenabhängigen) oder C-Anon (für Angehörige und Freundinnen/Freunde von Kokainsüchtigen) habe ich Moira Al-Anon empfohlen, und das aus zwei Gründen: Erstens ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß es in ihrer Nähe eine Al-Anon-Gruppe gibt, denn diese Gruppen sind zur Zeit wesentlich weiter verbreitet als die beiden anderen. Zweitens gibt es Al-Anon schon sehr viel länger und so ist die Wahrscheinlichkeit größer, daß dort der Genesungsprozeß bei einigen Mitgliedern schon eine tragfähigere Basis erreicht hat, als das in den neueren Gruppen der Fall ist. Der Genesungsprozeß folgt in allen diesen Gruppen den gleichen Prinzipien, und ideal wäre es, zu allen von ihnen zu gehen.

Die Unterscheidung in «normale» und «abnormale» Menschen geschieht in unserem Kulturkreis zumeist recht willkürlich, vor allem wenn man bedenkt, daß Inzest in sehr vielen Fällen ungeahndet bleibt. Als «abnormal» gelten diejenigen, die auf Grund von Sexualdelikten eingesperrt worden sind, während diejenigen, denen das (noch) nicht widerfahren ist, als «normal» gelten.

Es ist heute allgemein üblich, von sexuellem «Mißbrauch» zu reden, deshalb ist dieser Begriff hier auch beibehalten worden. Eigentlich ist er aber ein verräterischer Begriff, impliziert er doch, daß es auf der anderen Seite einen richtigen Gebrauch von Kindern gäbe. (Anm.d.Übers.)

Bei der Regressionstherapie versetzt sich die Patientin beziehungsweise der Patient in traumatische Szenen – in der Regel aus der Kindheit – zurück und durchlebt diese noch einmal. Zur Regressionstechnik siehe zum Beispiel S. Damm: «Eine an Janovs Primärtherapie orientierte neuartige Methode der Gruppentherapie auf psychoanalytischer Grundlage» in: P. Kutter (Hg.): Methoden und Theorien der Gruppenpsychotherapie, Stuttgart Bad-Cannstatt 1985, S. 217 – 236, besonders S. 220ff (Anm.d.Übers.)

Da die überwiegende Mehrheit der Opfer von sexuellem Mißbrauch Mädchen sind, heißt das folglich, daß für die Arbeit mit Inzestopfern in erster Linie Therapeutinnen in Frage kommen. Im Originaltext ist neutral von therapists die Rede. (Anm.d.Übers.)

Endogene Depressionen sind physiologisch bedingt, das Ergebnis einer Stoffwechselstörung mit mehreren Ursachen wie zum Beispiel erbliche Veranlagung und ständige schwere Belastungen (Stress), die nach und nach den Stoffwechsel verändern. Genetisch sind sie oft verbunden mit Alkoholismus. Exogene Depressionen sind reaktiv, das heißt, sie sind Folge eines Verlustes, also hauptsächlich Trauer. Bei einem Menschen, der für endogene Depressionen anfällig ist, kann jeder Stress (Verlust und Trauer darüber) eine Episode endogener Depression auslösen.

Alkoholismus ist gar nicht so schwer zu definieren. Wenn jemand trinkt, dadurch Probleme bekommt und trotzdem weitertrinkt – das ist Alkoholismus. In vieler Hinsicht ist Alkoholismus vergleichbar mit Schwangerschaft. Entweder man ist es, oder man ist es nicht. Aber wenn man es ist, zeigt es sich zu Anfang nicht sehr deutlich, also wird es einem selbst und anderen Menschen vielleicht gar nicht auffallen. Aber im Verlauf der Zeit wird es immer offensichtlicher.

Aus dem «Big Book of Alcoholics Anonymous», 3. Auflage, S. 449, Abdruck mit Genehmigung von Alcoholics Anonymous World Services, Inc.

«Mother Love», produziert von Columbia Broadcasting Systems, 51 West 52 nd Street, New York, NY10019. Zu beziehen über Carousel Films, Inc., 241 East 34th Street, New York, NY10016.

«Love among the Monkeys», Science News, Dezember 20, 1975 S. 389–390.

Eine solche «Intervention» ist eine therapeutisch strukturierte Konfrontation, bei der die Familie und die Freunde/Freundinnen dem/der Alkoholkranken einige Situationen vor Augen führen, in denen seine oder ihre Trinkerei Probleme und seelische Schmerzen verursacht hat. Das geschieht unter Anleitung einer neutralen Person, gewöhnlich einer Beraterin/eines Beraters, die/der für diese Aufgabe ausgebildet wurde. Ziel der «Intervention» ist es, den Alkoholkranken dazu zu bringen, daß er oder sie sich in Behandlung begibt.

Was du in Jahren nicht ergrübeln kannst,
das Ziel «Erkenne dich selbst!»,
lehrt dich der Liebe Leidenschaft
an einem einzigen Tag.

Ralph Waldo Emerson
(1803 – 1882), «History»

Dank

Genau wie bei meinem vorigen Buch «Wenn Frauen zu sehr lieben» ist auch das Schreiben dieses neuen Textes wieder eine schwierige Geburt gewesen, bei der mir zwei Frauen unschätzbare Hebammendienste geleistet haben. Zum einen hat meine Lektorin Laura Golden Bellotti, die an der Entstehung und Gestaltung von «Wenn Frauen zu sehr lieben» schon so lebhaft Anteil genommen hatte, auch bei diesem Projekt wieder ihr feines Gespür und ihr großes Talent eingebracht. Obwohl sie sich auf die Geburt ihres eigenen Sohnes vorbereiten mußte und seither von den Pflichten und Freuden einer Mutter ganz in Anspruch genommen wird, hat sie als Lektorin weiterhin eine glückliche Hand gehabt, die mich stets sanft, fest und ermutigend geführt hat. Was für ein Segen, daß ich wieder mit ihr arbeiten durfte!

Zum anderen hat mir Victoria Raye Starr beigestanden. Während sie diese vielen Briefe und meine handschriftlichen Kommentare dazu abtippte, hat sie immer wieder eigene Bemerkungen an die Blätter geheftet und mich mit diesen vielen, vielen Notizzetteln darüber informiert, wie sie ganz persönlich und aufrichtig als Frau mit einer reichen Lebenserfahrung zu dem in diesem Buch behandelten Themenkreis steht. Häufig sah ich mich dann gezwungen, bestimmte Textpassagen im Lichte ihrer treffenden Randbemerkungen und auf Klärung drängenden Fragen noch einmal zu überarbeiten. Die Gespräche mit ihr waren mir eine unschätzbare Hilfe dabei, die in diesem Buch behandelten Themen auch anders zu sehen.

Für etwaige Fehler und Mängel bin ich allein verantwortlich, während diese beiden Frauen unendlich viel zu dem, was an diesem Buch wertvoll ist, beigetragen haben. Dafür bin ich ihnen zutiefst dankbar.

Vorwort

«Na, schreibst du an einem neuen Buch?» bin ich immer wieder gefragt worden, und mir scheint, das fing schon in dem Moment an, als ich «Wenn Frauen zu sehr lieben» abgeschlossen hatte. Meine Reaktion war immer die gleiche. Mir war wie einer frisch entbundenen Mutter zumute, die erschöpft daliegt und sich von einer langwierigen, schweren Geburt zu erholen sucht, und ständig kommen fröhliche Besucher ans Bett und fragen: «Na, und wann kommt das nächste Baby?» Allein die Frage zeigte schon, daß man das ganze Geschehen unterschätzte und für nichts Besonderes hielt, was mich meist etwas sauer reagieren ließ, wie das besagte Mutter vielleicht auch getan hätte: «Also daran will ich jetzt nicht einmal denken!» Insgeheim war ich mir sicher, daß mich keine zehn Pferde dazu bringen würden, die Schmerzen der Geburt noch einmal durchzumachen.

Doch die Saat, aus der dieser zweite Band gewachsen ist, wurde schon mit dem ersten Brief gesät, den ich auf das erste Buch hin erhielt. Sogar schon vor dem offiziellen Erscheinungstermin hatte eine Frau es in die Hände bekommen und gelesen und war davon so betroffen gewesen, daß sie mir einen Brief schrieb, den ich hier ungekürzt wiedergeben möchte.

Liebe Frau Norwood,

noch nie in meinem Leben hat mich ein Buch so berührt, daß ich an den Autor schreiben mußte. Ihr Buch habe ich zufällig entdeckt, als ich eigentlich nach betriebswirtschaftlichen Lehrbüchern suchte, von denen ich mir Hilfe für mein gerade begonnenes neues Leben versprach. Ich muß sagen, Ihr Buch hat mich tiefbewegt. Es war für mich ein Schlüsselerlebnis, das mich dazu brachte, nach so vielen qualvollen und verworrenen Jahren eine neue, und zwar positive Richtung einzuschlagen. Dessen bin ich ganz sicher. Beim Lesen hatte ich manchmal das Gefühl, dieses Buch sei allein für mich geschrieben worden. Es hatte auf mich eine außerordentlich starke Wirkung. Ich kann mich erinnern, wie ich eines Abends in der Küche auf dem Boden saß und die Buchseiten naß wurden von meinen Tränen. Manchmal mußte ich das Buch zuklappen und beiseitelegen, bis mein Weinen etwas nachließ. Dem Himmel sei Dank für Ihre Klarheit, Ihre Sensibilität und Ausdruckskraft und vor allem für Ihren Entschluß, dieses Buch zu schreiben!

Ich bin mit einem sehr mächtigen Mann verheiratet gewesen. Ich mußte ihn verlassen, um selbst zu überleben – obwohl er mich doch auf seine Art sehr geliebt hat. Dank Ihrer Gabe, das alles so klar aufzuschreiben, erkenne ich jetzt so viel von dem, was zwischen uns abgelaufen ist und was ich bisher nie verstanden habe.

Elizabeth B.

Als ich diesen Brief las, mußte ich weinen. Drei lange, schwere Jahre hatte es gedauert, bis mein Buch «Wenn Frauen zu sehr lieben» das Licht der Welt erblickte. Aber jetzt wußte ich, daß es der Mühe wert gewesen war. Vorher, während mein Buch langsam heranwuchs, hatte es so manche schwierigen Momente gegeben: Leute, die das Verlagsgeschäft weit besser kannten als ich, hatten immer wieder gesagt, mein Buch müsse heiterer, positiver, weniger deprimierend sein und dürfe nicht so sehr auf den Aspekt der Sucht abheben, wenn es sich gut verkaufen solle. Aber ich sah meine Aufgabe darin, das zu schildern, was bei meinen Klientinnen, meinen Freundinnen und Bekannten und bei mir selbst in unseren täglichen Kämpfen mit den Männern unseres Lebens wirklich passierte. Ich wollte zeigen, wie oft süchtige Abhängigkeit und Co-Abhängigkeit in unseren Erzählungen auftauchen und wie ungeheuer gefährlich es für uns ist, wenn wir in unseren Beziehungen und im Zusammenleben mit Männern weiterhin solchen ungesunden Verhaltensmustern folgen. Und ich wollte klarmachen, welch ein enormes Stück Arbeit vor uns liegt, wenn wir uns dazu entschließen sollten, diese Verhaltensmuster zu ändern. Da ich versucht hatte, das oft qualvolle Leben von Frauen, die zu sehr lieben, ohne Beschönigung zu schildern, war mein Buch nicht das flotte, leicht lesbare Selbsthilfebuch geworden, das einige Leute erwartet hatten. Aber es war genau das Buch, das ich hatte schreiben wollen.

Durch Elizabeth B.s Brief wußte ich, daß mein erstes Buch zumindest einer Frau etwas gegeben hatte. Doch abgesehen davon, daß das Buch offenbar seinen Zweck erfüllte, gab es in Elizabeths Brief noch etwas, das mich innerlich ansprach. Ich wußte nur zu gut, wie das ist, auf dem Fußboden zu hocken und zu weinen – vor Schmerz, Erlösung und Dankbarkeit darüber, daß eine andere Frau ihren eigenen Kampf so ehrlich geschildert hatte, einen Kampf, der in so vielem an meinen eigenen erinnerte. Es war Anfang der siebziger Jahre: Da las ich einen Artikel, in dem die Autorin schilderte, was es in unserer Kultur bedeutet, eine Frau zu sein – aufzuwachen und endlich klar zu erkennen, auf wie vielerlei Art Frauen als Klasse beleidigt werden. Während ich diesen Artikel las, wußte ich, daß ich nicht mehr allein war. Diese Erkenntnis kam wie ein Schock über mich. Hier schrieb eine Autorin so tief und wahrhaftig über das Bedürfnis, über mein Bedürfnis, Augen und Ohren zuzumachen und einfach nichts wahrnehmen zu wollen, um nur den Schmerz, die Wut und die Demütigung nicht spüren zu müssen, die in unserer männerbeherrschten Gesellschaft zum Frausein dazugehören. Aber der Preis, den ich bisher dafür gezahlt hatte, daß ich so viele meiner eigenen Erfahrungen und Reaktionen nicht wahrhaben wollte, war hoch, und so sprach der Artikel in mir den Wunsch an, mir meiner Erfahrung voll bewußt zu werden und alles, was ich erlebte, wirklich zu sehen, zu hören und zu spüren – und nicht länger stillschweigend an meiner eigenen Entwertung mitzuwirken. Das, was für die Autorin jenes Artikels wahr war, traf auch auf mich zu, und durch ihr Beispiel war ich in der Lage, solchen Gefühlen freien Lauf zu lassen, die ich zuvor sogar mir selbst verheimlicht hatte. Ihre Wahrheit hatte mir geholfen, stärker, mutiger und erwachsener zu werden. Als ich nun, über ein Jahrzehnt später, Elizabeths Brief las, konnte ich mich an diesen inneren Wandlungsprozeß von damals lebhaft erinnern. Jetzt hatte mein Buch «Wenn Frauen zu sehr lieben» eine Frau ebenso tief berührt wie damals jener Artikel mich; und an dieser Erfahrung ließ sie mich jetzt teilhaben. So begann ein Austausch zwischen uns, der immer umfassender, immer tiefer und immer erhellender werden sollte.

Diesem ersten Brief folgte sehr schnell eine Lawine von Zuschriften. Brieflich und telefonisch wollten Frauen und auch einige Männer mit mir Kontakt aufnehmen, um mir zu sagen, was ihnen das Buch bedeutete. (Bald sah ich mich wegen der zahllosen Anrufe gezwungen, mir eine neue Telefonnummer zu besorgen, die nicht mehr im Telefonbuch stand.) Sie wollten mir ihr Herz ausschütten, mir von ihren eigenen Erfahrungen erzählen und, sehr häufig, sich bei mir bedanken. Viele suchten aber auch nach Antworten auf spezielle Fragen, oder sie hatten Probleme, auf die das Buch ihnen nicht gründlich genug eingegangen war.

Diese Fragen waren wichtig. Manche hatte ich schon bei meiner Arbeit mit Suchtkranken immer wieder gehört. Andere Fragen bezogen sich auf Punkte, die ich in «Wenn Frauen zu sehr lieben» behandelt hatte, und kamen nicht nur in vielen Briefen vor, sondern auch bei meinen Vortragsveranstaltungen und Seminaren zu diesem Thema. Als die viele Post nicht mehr auf meinem Schreibtisch Platz hatte und so langsam beinahe jede Fläche im Haus von Briefen bedeckt war, und als es für mich zum Problem wurde, alle Schreiben zu beantworten, da mußte ich mir Gedanken machen, wie ich sie möglichst effizient und möglichst individuell beantworten könnte. Obwohl es aus Zeitgründen und schon allein wegen der riesigen Anzahl von Briefen unmöglich war, verspürte ich doch den Wunsch, jeden einzelnen Brief ausführlich zu beantworten – und zwar zum einen aus meiner eigenen Sicht als Frau, die zu sehr geliebt hat (ja, die die meiste Zeit ihres Lebens beziehungssüchtig gewesen ist), und zum anderen aus meiner Sicht als Therapeutin mit meiner langjährigen Erfahrung auf dem Gebiet der Suchttherapie.

Doch ich wußte auch, daß die Menschen, die mir da schrieben, viel mehr brauchen als nur einen Antwortbrief. Sie brauchen sich gegenseitig. Diese Frauen und Männer, die mir so viel von sich mitteilten, müßten eigentlich gegenseitig ihre Geschichten hören, um gemeinsam zu entdecken, welche Rolle ihre Krankheit, ihre Beziehungssucht, bislang in ihrem Leben gespielt hat. Ich wollte ihnen gerne die Möglichkeit verschaffen zu erfahren, wie sehr es das eigene Leben verändern kann, wenn man von anderen, die das gleiche Problem haben, hört, wie es ihnen damit ergeht. Wahrscheinlich haben die meisten noch nie etwas von einer solchen Möglichkeit gehört, oder aber sie haben noch nicht erlebt, wie wirksam diese Methode auch bei der Behandlung von Beziehungssucht ist.

Als Therapeutin und als selber Betroffene bin ich davon überzeugt, daß Selbsthilfegruppen von enormem Wert sind. In solchen Gruppen arbeiten Menschen, die offen und ehrlich miteinander über ein Problem reden wollen, das jeder von ihnen hat. Sie halten sich dabei an einfache Regeln und spirituelle Grundsätze und kommen so ohne äußere Leitung aus. Nach meiner Erfahrung stellen diese Selbsthilfegruppen die stärkste und intensivste Heilquelle dar, die uns überhaupt zur Verfügung steht. Sie bieten die Grundlage, auf der man sich von jeder Art von Sucht befreien kann, sei sie nun körperlich oder verhaltensmäßig begründet. Mit Hilfe einer derartigen Gruppe kann jeder Süchtige auf ein neues, besseres Leben hoffen.

«Briefe von Frauen, die zu sehr lieben» verfolgt demnach einen doppelten Zweck. Zum einen kann ich auf diesem Wege all die vielen Briefe ausführlich beantworten, deren Thematik und Fragestellung gleichgelagert sind. Zum anderen kann ich Menschen, die alle mit dem Problem der Beziehungssucht konfrontiert sind, auf diese Weise die Möglichkeit geben, voneinander zu erfahren, wie sie mit ihrer Sucht umgehen und – falls sie sich von ihr schon etwas haben freimachen können – wie sie diesen Schritt geschafft haben.

Wer aus dem vorliegenden Band einen möglichst großen Gewinn ziehen möchte, sollte zuvor «Wenn Frauen zu sehr lieben» gelesen haben – und zwar langsam, sorgfältig und am besten mehr als einmal. Ich empfehle sehr, das frühere Buch noch einmal zu lesen, ehe Sie mit diesem neuen anfangen. Solange Sie «Wenn Frauen zu sehr lieben» nicht gründlich verarbeitet haben, werden Ihnen diese «Briefe von Frauen, die zu sehr lieben» nicht viel helfen, da sie nicht etwa veröffentlicht werden, um nur die im vorangegangenen Buch entwickelten Gedanken noch etwas weiter auszuführen. Vielmehr soll hier anhand von Fragen und Erfahrungen von Leserinnen (und Lesern) erörtert werden, was es heißt, diese Einsichten in die Tat umzusetzen.

Wenn wir uns einsam und verlassen fühlen, sehnen wir uns nicht einfach nur nach Gesellschaft, sondern nach Menschen, denen es ähnlich geht wie uns. Ich bin überzeugt, daß die «Kummerbriefkästen» der Presse nicht so sehr wegen der Antworten, sondern wegen der Fragen gelesen werden. Wir möchten wissen, daß wir nicht allein sind – daß unter all den anderen Menschen, deren Leben sich nicht vor unseren Augen abspielt, doch auch welche sind, die genauso zu kämpfen haben wie wir. Indem ich dieses Buch schreibe, bin auch ich nicht allein, und dafür bin ich dankbar. So viele von Ihnen haben mir erzählt, was sie durchmachen, und mir dadurch geholfen, meinen eigenen Kampf zu bestehen und mich ins Freie vorzuarbeiten. Und das ist schon all die Jahre so gewesen, in denen ich langsam von meiner eigenen Sucht genesen bin. Durch diese «Briefe von Frauen, die zu sehr lieben» können Sie jetzt, so hoffe ich, wechselseitig an Ihrer aller Lebensgeschichten Anteil nehmen.

Ihnen allen ist dieses Buch gewidmet.

Einleitung

Die Briefe, die in diesem Buch abgedruckt sind, existieren wirklich und werden hier mit Genehmigung der jeweiligen Verfasser/innen wiedergegeben. Viele der Schreiber/innen, deren Briefe hier zitiert werden, haben darin auch zum Ausdruck gebracht, wie dankbar sie für das sind, was «Wenn Frauen zu sehr lieben» ihnen gegeben hat. Dafür möchte ich mich an dieser Stelle herzlich bedanken. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird dieser Briefteil im folgenden allerdings nicht mitabgedruckt. Außerdem sind die Briefe geringfügig bearbeitet worden, um sie an manchen Stellen klarer zu machen und um die Anonymität der Verfasserinnen zu gewährleisten.

Die Briefe und meine Antworten sind – wie könnte es anders sein – in Kapitel eingeteilt worden, die sich jeweils mit einem bestimmten Thema befassen. Etliche Briefe enthalten jedoch eine Vielzahl von Fragen und Problemen. Suchtkrankheiten, zu denen auch die Beziehungssucht gehört, überschneiden sich im wirklichen Leben oft, und das kommt folglich auch in den Briefen zum Ausdruck. So kann es etwa sein, daß in einem einzigen Brief die Themen Alkoholismus und Co-Alkoholismus, sexuelle Abhängigkeit, Inzest, Eßzwang und Genesung zur Sprache kommen. Von daher muß jede Einteilung dieser Briefe willkürlich sein. Erwarten Sie deshalb bitte nicht, daß der Inhalt eines bestimmten Briefes genauso eng gefaßt oder eindeutig ist, wie die jeweilige Kapitelüberschrift vielleicht vermuten läßt.

Beim Beantworten der Briefe kommt mir meine fünfzehnjährige Erfahrung aus der Arbeit mit Suchtkranken sowie meine eigene Betroffenheit zugute, denn auch ich habe fast mein ganzes Leben lang zu sehr geliebt, kann aber inzwischen dankbar auf sieben Jahre der Genesung zurückblicken. Das heißt jedoch keineswegs, daß meine Antworten «richtig» sind. Es sind eben meine Antworten und also unvollkommen, subjektiv und nicht frei von Vorurteilen. Ich versuche nie, absolut umfassende Antworten zu geben. Ich beantworte jeden Brief vielmehr unter dem Blickwinkel der Sucht als Krankheit, und in jeder Entgegnung oder Anmerkung kommen meine festen Ansichten darüber zum Ausdruck, wie eine Therapie auszusehen hätte. Zu diesen Ansichten bin ich erst im Laufe vieler Jahre gelangt, in denen ich Fehler gemacht und daraus gelernt habe. Vielleicht gefällt Ihnen unter Umständen die eine oder andere meiner Antworten nicht; mit manchem mögen Sie nicht einverstanden sein. Ich gebe gerne zu, daß auch andere Antworten möglich sind, die vielleicht hilfreicher, verständnisvoller oder sachbezogener wären als die, die Sie in diesem Buch kennenlernen. Jede von uns wird diese Briefe mit ihren Augen und ihrem Herzen lesen, so wie wir das bei einer Serie von Rorschach-Tintenklecksen täten, bei deren Interpretation unsere individuelle – durch unsere unverwechselbare eigene Lebensgeschichte gefärbte – Wahrnehmung entscheidend ist. Beim Lesen fließen unsere eigenen Erfahrungen mit ein; die Briefe spiegeln unsere eigenen Projektionen. Deshalb wird jede von uns in ihnen natürlich etwas anderes sehen und dabei etwas anderes empfinden. Ich glaube sowieso, daß meine Kommentare gar nicht so wichtig sind. Was zählt, sind die Briefe selbst mit ihren schmerzvollen und ergreifenden Stellen, ihren Lernschritten, Rückschlägen, Fortschritten und manchmal sogar ihren Triumphen.

Wir alle suchen Lösungen für unsere Fragen, unsere Ängste und Zweifel und unser Ringen mit Problemen. Aber letztlich erhalten wir die Antworten nicht durch Ratschläge, die uns jemand gibt, sondern durch dessen persönliches Beispiel und unseren eigenen Einsatz; wir müssen unser Leben wirklich verändern wollen. Der Weg zur Genesung fällt uns leichter, wenn wir uns auf einen Pfad begeben, den schon andere beschritten haben und beschreiten, die mit den gleichen Problemen konfrontiert sind und die gleichen Ängste, Zweifel und Kämpfe kennen, die dabei aber ihren Weg nicht aus den Augen verlieren. Wenn wir von anderen hören, wie es ihnen dabei ergeht, welche Fehler sie machen und welche Siege sie erringen, dann hilft uns das, auch unseren eigenen Weg zu finden.

Darüber hinaus muß ich betonen, daß der vorliegende Band keinesfalls eine allgemeine Abhandlung über die Liebe sein soll oder darüber, wie man den richtigen Mann findet oder wie man es am besten anpackt, damit eine Beziehung klappt. Ganz im Gegenteil, genau wie «Wenn Frauen zu sehr lieben» habe ich dieses Buch in erster Linie für heterosexuelle Frauen geschrieben, die beziehungssüchtig sind. Es soll Frauen helfen, die mit ihrem Leben immer weniger zurechtkommen, entweder weil sie auf einen langjährigen Partner oder auf ihre neueste Eroberung völlig fixiert sind oder aber – wenn eine Beziehung gerade zu Ende gegangen ist –, weil sie wie besessen nach einem neuen Mann suchen und bei alldem zunehmend Kräfte lassen. Wenn ich das Thema dieses Buches solchermaßen eingrenze, will ich damit nicht behaupten, daß nur heterosexuelle Frauen beziehungssüchtig werden können, denn das ist keineswegs der Fall. Auch viele heterosexuelle Männer entwickeln in ihren Beziehungen eine suchtartige Abhängigkeit, und ebenso ist für zahlreiche homosexuelle Paare die Beziehungssucht ein nicht zu übersehendes Thema. Ich habe beschlossen, mich auf heterosexuelle Frauen zu konzentrieren, weil ich das, was sie bei ihrer Beziehungssucht durchmachen, sowohl persönlich als auch beruflich am besten verstehe.

Obwohl dieses Buch hauptsächlich Briefe von Frauen enthält, die sich in ihren Beziehungen mit Männern verzehren, umfaßt es auch Briefe von homosexuellen Männern und Frauen, von heterosexuellen Männern, von Eltern, die zu sehr auf ihre Kinder, und von Kindern, die zu sehr auf ihre Eltern fixiert sind. Ich hoffe, daß «Briefe von Frauen, die zu sehr lieben» all diesen Gruppen etwas geben kann und auch Wertvolles für diejenigen enthält, die zwar nicht gerade eine suchtartige, aber auch keine ganz problemlose Beziehung haben. Dennoch wendet sich der Text in erster Linie an Frauen, deren geistige und körperliche Gesundheit entweder in Gefahr ist oder bereits gelitten hat, deren Arbeitsfähigkeit potentiell oder tatsächlich beeinträchtigt ist, die sehr wahrscheinlich Geldprobleme haben, die ihre Kinder, Freundinnen und andere Familienmitglieder sowie ihre anderen Interessen vernachlässigen oder mißachten, die potentiell oder tatsächlich selbstmordgefährdet sind – die in ihrer Abhängigkeit von Männern und von dem, was sie selbst «Liebe» nennen, mit den Jahren krank und kränker werden.

Wie ich bereits in «Wenn Frauen zu sehr lieben» gesagt habe, betrachte ich Beziehungssucht als einen definierbaren, diagnostizierbaren und therapierbaren Krankheitsprozeß, der deutliche Ähnlichkeiten mit anderen Suchtkrankheiten wie Alkoholismus und Eßzwang aufweist. Genau wie diese anderen Suchtkrankheiten schreitet auch die Beziehungssucht immer weiter fort (das heißt, sie verschlimmert sich), solange sie nicht behandelt wird, spricht aber umgekehrt auch auf eine spezielle, die körperlichen, emotionalen und geistigen Komponenten berücksichtigende Therapie an. Es ist meine Überzeugung, daß eine Therapie, die einen dieser Aspekte vernachlässigt, sich im Laufe der Zeit als unwirksam erweisen wird.

All das mußte gesagt werden, damit die kompromißlose Methode, die ich auf dem Weg zur Genesung für erforderlich halte, nicht auf Unverständnis stößt. Die wirksamste Methode, um sich von einer Sucht zu befreien, ist diejenige, die von den Gruppen der Anonymen (Alkoholiker, Eßsüchtigen und so weiter) angewendet wird, und dieser Ansatz ist meines Erachtens auch der beste, um von einer Beziehungssucht loszukommen. Sie ist die einzige Methode, die ich persönlich empfehlen kann.

Kapitel 1: Briefe von Frauen

Liebe Robin Norwood,

ich habe Ihr Buch gehaßt.

Ich habe «Wenn Frauen zu sehr lieben» gehaßt.

Ich habe dieses Buch so sehr gehaßt, daß ich

Monate gebraucht habe, um es zu lesen.

Manchmal habe ich am Tag nur eine Seite lesen können.

Ich habe die Frauen gehaßt, über die Sie geschrieben haben. Ich habe die Geschichten gehaßt.

Ich habe Ihre Kommentare gehaßt.

Und dann hatte ich das Buch durchgelesen.

 

Und dann

 

– habe ich mit einer Gruppentherapie angefangen;

– habe ich zum erstenmal in meinem Leben darüber geredet, daß ich sexuell mißbraucht worden bin;

– habe ich mit meinen Freßorgien aufgehört;

– habe ich eine neue Arbeit angenommen;

– habe ich zum erstenmal (ich bin dreiunddreißig) mein Geld eingeteilt und meine Ausgaben geplant;

– habe ich ein neues Leben angefangen.

 

Früher war ich verrückt und nicht zu bremsen. Ich bin 1,60 Meter groß und habe 90 Pfund gewogen, weil ich soviel gefuttert und gleichzeitig Abführmittel geschluckt habe. Jetzt kann ich mir keinen Tag vorstellen, an dem mich «Wenn Frauen zu sehr lieben» nicht begleitet. Ich habe es auf dem Eßtisch liegen, und ein zweites Exemplar liegt in meiner «Privatschublade» im Büro.

Ich danke Ihnen.

Wendy D.

***

Wendys Brief spricht meiner Meinung nach so ziemlich alles an. Wenn wir unser Leben ändern wollen, reicht es niemals, einfach nur ein Buch zu lesen, wie tief es uns auch berührt. Im besten Falle kann ein Buch ein Wegweiser sein – ein Pfeil, der die Richtung anzeigt, die wir einschlagen müssen. Es liegt bei uns, ob wir unsere Schritte in diese Richtung lenken wollen. Aber Wendys Brief erinnert an einen sehr wichtigen Punkt. Wann beginnt eigentlich der Gesundungsprozeß? Wodurch fängt man an, sich von einer Sucht zu befreien?

Der Gesundungsprozeß beginnt, wenn wir uns wie Wendy entschließen, die Energie und Mühe, die wir bisher auf unsere Krankheit(en) ver(sch)wendet haben, statt dessen auf unsere Genesung zu konzentrieren. Wendy wird viel Zeit, Arbeit und Durchhaltevermögen brauchen, um sich von ihrer Sucht zu befreien, aber auf der anderen Seite hat ihre Sucht sie ja auch eine ganze Menge gekostet. Deshalb hat sie sich entschlossen, vor nichts zurückzuschrecken und alles zu tun, um gesund zu werden – und sie entschließt sich dazu jeden Tag aufs neue. Damit hat ihr Gesundungsprozeß begonnen, und er wird weiter anhalten, solange sie diesen Entschluß immer wieder aufrechterhält.

Wo setzen diejenigen von uns an, die den ersten Schritt auf dem Weg zur Genesung von der Beziehungssucht noch vor sich haben? Wir fangen damit an, daß wir die Bereitschaft entwickeln, die Energie und Mühe, die wir bisher darauf verwendet haben, jemand anderen ändern zu wollen, nun darauf zu konzentrieren, uns selbst zu ändern. Unsere ersten Schritte in diese neue Richtung sind nicht unbedingt leicht und schnell und erscheinen anfangs vielleicht als sehr klein, aber wir müssen lernen, sie wichtig zu nehmen. Auf dem Weg zur Genesung ist keiner unserer Schritte wirklich klein, denn jeder einzelne ändert die Ausrichtung unseres gesamten Lebens.

Der nächste Brief liefert ein gutes Beispiel, wie ein solcher erster Schritt auf dem Wege zur Genesung aussehen könnte. Daß die Frau diesen kleinen Schritt unternimmt und keinen Rückzieher macht, wird sich auf den Rest ihres Lebens auswirken. Sie hat angefangen, sich zu ändern.

Liebe Robin Norwood,

dem Valentinstag habe ich immer voller Hoffnung entgegengesehen und ihn gleichzeitig gefürchtet, da ich Angst davor hatte, wieder einmal enttäuscht zu werden, weil niemand an mich gedacht hatte.

Vor zwei Tagen hatte ich gerade die ersten dreißig Seiten von «Wenn Frauen zu sehr lieben» gelesen. In meiner Schreibtischschublade lag eine Valentinskarte – süß und vielsagend – an einen Mann, der sich im Grunde genommen schon mehrere Wochen lang um unsere Beziehung überhaupt nicht gekümmert hat. Diese Karte nicht abzuschicken, scheint bloß eine Kleinigkeit zu sein, und doch wäre dies das erste Mal, daß ich mich bewußt entschieden hätte, keine Energie für einen Mann und für eine Beziehung mehr aufzuwenden, die nicht auf Gegenseitigkeit beruht.

Ich habe das Buch noch nicht zu Ende gelesen. Ja, es fällt mir tatsächlich schwer, es zu lesen, weil es so klar anspricht, warum ich eine gescheiterte Beziehung nach der anderen gehabt habe. Vielleicht könnte das endlich ein Ansatzpunkt sein, um mich zu befreien.

Die Karte habe ich immer noch. Ich werde sie nicht abschicken. Vielleicht wird der Geschenktag mein Gedenktag.

Thea P.

Damit Theas Gesundungsprozeß weiter voranschreitet, ist es erforderlich, daß sie einem Mann, der an ihr kein Interesse hat, nicht nur keinen Liebesgruß schickt, sondern daß sie auch etwas Schönes für sich tut, um die solchermaßen entstandene Leere auszufüllen. Wir können ein Suchtverhalten nicht einfach beenden, ohne an seine Stelle ein anderes (hoffentlich positiveres) Verhalten zu setzen. Sonst wird sich das Suchtverhalten nur um so stärker melden. Das liegt wohl daran, daß die Natur ein Vakuum im Bereich des menschlichen Verhaltens und der Gefühle genausowenig ertragen kann wie in der Physik.

Da Thea das, was sie sich bislang die ganze Zeit von jemand anderem ersehnt hat, nicht nur empfangen, sondern auch geben kann, muß sie nicht – innerlich leer – warten, bis endlich ein Mann kommt und ihr Leben mit Freude und Liebe erfüllt. Sie kann sich selbst Liebe geben, wenn sie nur will. Je liebevoller und großzügiger sie zu sich selbst ist, desto weniger wird sie zulassen, daß jemand anders schlecht oder gleichgültig mit ihr umgeht.

All das ist leicht einzusehen, aber nicht so leicht auszuführen, denn nichts ist so schwer zu verändern wie die Art unseres Denkens, Fühlens und Handelns – vor allem mit Blick auf uns selbst. Thea gibt zu, daß sie «Wenn Frauen zu sehr lieben» noch nicht zu Ende gelesen hat, weil es ihr so unangenehm ist, sich ihr eigenes Verhaltensmuster in Beziehungen vor Augen zu führen. Doch wenn wir von einer Sucht loskommen wollen, müssen wir uns ändern, und das ist nur möglich, wenn wir uns als erstes unser Verhalten bewußt machen. Wir müssen bereit sein, uns unser Leben offen und ehrlich anzusehen – und das erfordert Mut. Wir müssen bereit sein zuzugeben, daß wir nicht vollkommen sind, daß wir Hilfe brauchen und daß wir es nicht allein schaffen – und das erfordert Demut. Mut und Demut sind unbedingt erforderlich, damit der Gesundungsprozeß in Gang kommen kann.

In dem folgenden Brief wollen wir sehen, was nötig ist, damit der einmal in Gang gekommene Gesundungsprozeß auch weiter anhält.

Liebe Robin Norwood,

meine Eltern haben ein Alkoholproblem, und obwohl ich weder Alkohol trinke noch Drogen nehme, ist mir jetzt aufgegangen, daß auch ich süchtig bin, und zwar süchtig nach selbstzerstörerischen Männern. Durch Drohungen, verführerisches Verhalten, Lob, Predigten und alle möglichen anderen scheinbar erfolgversprechenden Manipulationsmethoden habe ich versucht, die drei Männer, mit denen ich zusammengelebt habe, in meinem Sinne zu beeinflussen.

Ich sehe jetzt, daß ich genauso selbstzerstörerisch bin wie sie, weil ich mir anscheinend immer nur die bedürftigen Männer aussuche, denen irgend etwas fehlt. Bei Männern, die gesund und tüchtig sind, läßt mein Interesse immer bald nach.

Mein jetziger Freund hat mich gerade von der Kaserne aus angerufen. Er muß fünfundvierzig Tage Arrest absitzen, weil man ihn mit Marihuana erwischt hat. Er meint, das werde ihm eine Lehre sein und er werde sich ab sofort nie wieder in Schwierigkeiten bringen. Ich habe ihm gesagt, wie gern ich das höre. Und ich hoffe wirklich, er nimmt sich in acht. Mir ist klar geworden, daß ich nur auf mich selbst achtgeben kann, und in ein paar Tagen werde ich zu meinem ersten Selbsthilfegruppen-Treffen gehen.

Ich weiß nicht, ob er und ich je wieder zusammenkommen werden, und das ist eigentlich auch gar nicht wichtig, denn ich lerne gerade, mit mir allein zurechtzukommen.

Viele Grüße von einer, die dabei ist, sich von ihrer Männersucht zu befreien.

Britt J.

An Britt können wir beispielhaft das erste Genesungsstadium von einer Beziehungssucht erkennen: Sie macht sich von dem Problem ihres Freundes frei, konzentriert sich statt dessen auf ihr eigenes ungesundes Verhaltensmuster und holt sich äußere Hilfestellung, um dieses zu ändern. Ob sie über dieses erste Stadium hinauskommt, hängt davon ab, wie konsequent sie weiter an ihrer eigenen Genesung arbeitet. An den anderen hier abgedruckten Briefen von Beziehungssüchtigen werden Sie sehen, daß es keine bestimmte Schmerzschwelle gibt, jenseits derer ein Mensch sich auf jeden Fall aus vollem Herzen um seine Gesundung kümmert. Manche lassen sich sogar von einem unglaublichen Maß an persönlicher Demütigung und Erniedrigung nicht dazu bringen zu kapitulieren; und ohne Eingeständnis der eigenen Niederlage kann es zu keiner Gesundung kommen. Ähnlich wie ein zwanghafter Spieler, der mit dem Spielen nicht aufhören kann, weil er schon so viel verloren hat, benutzen auch diese Beziehungssüchtigen ihre Erniedrigung, um ihre immer verzweifelteren Versuche zu rechtfertigen, einen anderen Menschen zu kontrollieren und eine immer schlimmer werdende Situation noch zu retten. Mit anderen Worten: manche Menschen werden als Folge ihrer sich verschlimmernden Beziehungssucht immer kränker. Andere hingegen erreichen irgendwann den Tiefstpunkt und sind dann zumindest vorübergehend bereit, alles Erforderliche zu tun, um nur gesund zu werden.

Manchmal ist es schwer zu verstehen, wie es sein kann, daß ein Mensch zwar die zerstörerische Kraft der Sucht in seinem Leben erkennt und für eine Weile auch bereit ist, dagegen anzugehen, später diese Bereitschaft aber wieder völlig aufgibt. Doch so ist es in der Mehrzahl der Fälle. Deshalb muß zwischen drei Phasen der Genesung oder Gesundung unterschieden werden: Zuerst muß man den Krankheitsprozeß erkennen, der sich im eigenen Leben abspielt (das kann durch ein Buch wie «Wenn Frauen zu sehr lieben» geschehen); als nächstes gilt es, die Bereitschaft zu entwickeln, diese Krankheit als die lebensbedrohende Sucht, die sie ist, anzugehen (indem man zu einer der Anonymen-Gruppen geht, die sich mit dem betreffenden Suchtproblem befaßt); und schließlich gilt es, die eigene Gesundung täglich aufs neue zur persönlich wichtigsten Angelegenheit zu machen (indem man regelmäßig an den Gruppensitzungen teilnimmt und täglich liest und betet). So schwer es auch ist, die eigene Genesung in Gang zu setzen, so ist das doch nur ein erster Schritt und keine Garantie dafür, daß die Gesundung zwangsläufig weiter voranschreitet. Viele Alkoholiker schaffen es zwar, trocken zu werden, aber nur einem geringen Teil von ihnen gelingt es, dauerhaft trocken zu bleiben. Und ebenso gelingt es nur einem kleinen Teil von Beziehungssüchtigen, nach den ersten Schritten zur Gesundung auch weiter durchzuhalten.

Es ist ein unerklärliches Merkmal jeder Art von Sucht und jedes Typs von Süchtigen, daß auch bei noch so großer Erfahrung und noch so vielseitigem Fachwissen kein Mensch vorhersagen kann, wer nun von einer bestimmten Sucht loskommen wird und wer nicht. Alles, was sich mit einiger Sicherheit sagen läßt, ist, daß die meisten Süchtigen es nicht schaffen werden. Und dennoch wird es denjenigen, die sich jeden Tag aufs neue nichts sehnlicher wünschen als gesund zu werden und das zu ihrem Hauptanliegen machen, schließlich doch gelingen – langsam, Schritt für Schritt und häufig mit Hilfe anderer Menschen, die den gleichen Kampf durchgestanden haben und ihnen Anleitung und Unterstützung geben können.

Um den Gesundungsprozeß in Gang zu halten, müssen wir zu den genannten Voraussetzungen (Bereitschaft, Mut und Demut), die so notwendig für das Ingangsetzen des Prozesses sind, zusätzlich zwei weitere Eigenschaften entwickeln: die Fähigkeit zu rückhaltloser Aufrichtigkeit und Selbsterforschung und das Vertrauen in eine Macht, die größer ist als wir. Diese Höhere Macht braucht gewiß nicht dem zu entsprechen, was irgendein anderer Mensch in ihr sieht oder gerne in ihr sähe. Man kann sie «Gott» nennen. Sie kann aber auch ohne Namen sein. Man kann sie genausogut in einer Selbsthilfegruppe wie in einer Kirche oder einem Tempel finden. Sie ist ein höchst persönliches, individuell formuliertes Prinzip und – wenn man sie anruft – eine unerschöpfliche Quelle der Kraft und des Trostes.

Cecilias Brief zeigt beispielhaft, wie sehr wir diese Quelle der Kraft brauchen, wenn wir durch den unser Leben verändernden Gesundungsprozeß neu geformt werden.

Liebe Robin,

ich möchte Ihnen schreiben, wie es mir ergangen ist, seit ich vor zwei Jahren Ihr Buch gelesen habe. «Wenn Frauen zu sehr lieben» hat mir die Augen dafür geöffnet, daß ich aus einer Alkoholikerfamilie komme und daß diese Krankheit wirklich die ganze Familie betrifft. Ich bin zu ein paar Al-Anon-Treffen gegangen und habe angefangen, mich selbst und mein Entscheidungsverhalten viel besser zu verstehen. Ich hatte das Gefühl, «geheilt» zu sein.

In Wahrheit war es erst der Anfang.

Ich habe früh geheiratet und eine unglückliche Ehe geführt. Danach kam eine (katastrophale!) Affäre mit einem Mann, der ein langes und häßliches Vorstrafenregister hatte. Aber mit dem, was ich inzwischen gelernt habe, bin ich nun vor kurzem in der Lage gewesen, eine für mich gesündere Wahl zu treffen. Ich habe wieder geheiratet, diesmal jedoch einen wunderbaren Mann, der mich auf Händen trägt. Ab und zu werde ich ärgerlich, wenn er mir sagt, daß er mich liebt. Manchmal fange ich auch einen Streit an. Ich fühle mich wohler, wenn ich zornig bin. Ich kann noch nicht einfach zulassen, daß ich geliebt werde.

Ein Erlebnis aus meiner Vergangenheit ist jahrelang wie verschüttet gewesen. Mit Gottes Hilfe habe ich mich jetzt kürzlich daran erinnern können. Als vor fünf Monaten die Erinnerung daran wieder hochkam, dachte ich zuerst, ich müßte sterben, so weh tat es. Ich habe mich daran erinnert, daß mein Vater sich an mir vergangen hat, als ich vier war. Als ich mir das schließlich eingestehen konnte, ergab für mich auf einmal so vieles einen Sinn. Ich habe meine Mutter nie leiden können; sie hat mir dauernd leid getan. Aber jetzt habe ich angefangen, sie zu verstehen. Natürlich hat sie getrunken. Was hätte sie sonst tun sollen? Der Wahrheit ins Auge sehen? Wohl kaum. Sie hätte sich damit an keinen anderen Menschen wenden können.

Ich habe schon so lange in einem Zustand des Verleugnens gelebt. Ich möchte Ihnen schreiben, wie stark es sich auswirkt, wenn die Wahrheit geleugnet wird. Als bei mir die Erinnerungen an die wahren Umstände meiner Kindheit hochkamen, hat sich das auf mich körperlich ausgewirkt. Ich bekam «Herzanfälle», bei denen mir die Brust weh tat und ich das Gefühl hatte, bewußtlos zu werden. Ich habe einen EKG-Belastungstest gemacht, und der Arzt sagte mir, es gebe keinerlei organische Anzeichen dafür, daß ich Herzprobleme hätte. Ich hätte im Gegenteil ein sehr kräftiges Herz. Daran lag es also nicht. Aber die panikartigen Anfälle kehrten ständig wieder, selbst wenn ich nicht an meinen Vater oder meine Mutter dachte. Ich versuchte immer noch, alles zu verdrängen. Ich wollte mich nicht daran erinnern. Ich wollte es nicht wissen. Ich hatte das Gefühl, alles, was ich von meiner Familie geglaubt hatte, sei eine einzige Lüge. Ich bin fast verrückt geworden. Bei uns zu Hause hat man gelernt zu lügen, auch wenn die Wahrheit gar nicht zu übersehen war. Nun konnte ich mich an nichts mehr halten, konnte nichts mehr glauben.

In dieser schrecklichen Zeit hat Gott mich so sanft und liebevoll wie möglich gebeten, nicht mehr zu trinken. In meinem Kummer über die Verrücktheit meiner Eltern hatte ich zu einem sehr feinen Pinot noir gegriffen, um den Schmerz zu bekämpfen. Ich hatte längst beschlossen, niemals so zu werden wie meine Eltern, und merkte gar nicht, daß ich genauso eine Alkoholikerin war wie die beiden. Jetzt bin ich dankbar, daß ich vom Alkoholismus erlöst worden bin, den es bei uns schon seit drei oder mehr Generationen in der Familie gegeben hat.

Das Trinken ist für mich eine Art Schutz gewesen, der mir jetzt abgeht. Neben Sarkasmus, unfairem Verhalten und ständiger Wut ist der Alkohol für mich ein weiteres Mittel gewesen, um den Schmerz in mir nicht mehr spüren zu müssen. Nun hat Gott mich gebeten, auch diese anderen Taktiken aufzugeben.

Während der ganzen Zeit hatte ich Herzstolpern, und drei- bis viermal in der Woche bekam ich Migräne. Weil ich den Wunsch hatte, meine Vergangenheit zu verleugnen, machte mein Körper einen inneren Krieg durch, und ich wurde davon matt und traurig.

In letzter Zeit habe ich viel geweint, während ich das früher als Kind nie konnte. Es hat mir angst gemacht, die innere Tür zu meinen Tränen und meinem Kummer aufzustoßen. Manchmal war es, als ob ich nie mehr aufhören könnte zu weinen.

Ich schreibe Ihnen, Robin, weil ich meine, daß es für Sie wichtig ist zu wissen, was manche Leute unter Umständen durchmachen, wenn sie Ihr Buch lesen. Die Schmerzen, die man bei einer wirklichen Veränderung erlebt, sind das Qualvollste, was ich bisher kennengelernt habe und hoffentlich nie wieder durchmachen werde. Sie sind nicht schlagartig über mich gekommen und gehen jetzt auch nicht einfach über Nacht wieder weg. Wahrscheinlich werde ich viele Jahre und Gottes Liebe brauchen, um mit diesem verheerenden Familiengeheimnis fertig zu werden, es akzeptieren zu lernen, diese Wunde heilen zu lassen und allen Beteiligten zu verzeihen. Es ist ein sehr hartes Stück Arbeit, und es kostet mich eine Menge Energie, mir das alles wirklich vor Augen zu führen. Aber wenn ich die Augen davor verschließe, kostet es mich noch viel mehr Energie.

Ich möchte, daß die anderen Menschen das erfahren.

Mir geht es im Moment sehr gut. Das, wovon ich geschrieben habe, tut mir weh, es bringt mich zum Weinen, und es heilt auch. Ich versuche nicht mehr dieses «Aber sie hat ja wieder geheiratet!»-Image zu verbreiten und bin langsam etwas weniger auf die Anerkennung aller möglichen anderen Leute angewiesen. Ich stecke mir realistische Ziele und gebe mir liebevoll gesetzte Grenzen. Ich muß nicht mehr jeden angeknacksten Menschen retten, der mir zufällig über den Weg läuft. Ich finde es immer mehr okay, zuerst an mich zu denken. Ich finde es sogar langsam okay, geliebt zu werden!

Ich habe immer geglaubt, daß ich einfach geliebt werden wollte, und dabei habe ich mir in Wirklichkeit nur Menschen ausgesucht, die nicht fähig waren, mich zu lieben. Diesmal habe ich besser gewählt, und ich lerne jetzt, stillzuhalten und diese Liebe anzunehmen.

Gott hat mich in so kurzer Zeit so viel gelehrt, und er hat mir gesagt, daß er auch auf dem übrigen Weg meine Hand halten wird, egal wie lange das dauert. Die Migräne und die Herzschmerzen lassen jetzt nach. Ich akzeptiere, was mit mir geschehen ist, und wenn ich es brauche, trauere ich über meine verlorene Kindheit.

Mein wundervoller Mann stützt und hält mich und versteht sogar, warum es mir so schwerfällt, seine liebevolle Zuwendung anzunehmen. Ich sehe, daß er mit mir zu kämpfen hat, und ich wünschte, wir hätten es schon hinter uns und ich wäre gesund – auch um seinetwillen. Wie Sie sehen, war Ihr Buch nur der Anfang – ein sehr hilfreicher, sanfter, liebevoller Anfang …

Cecilia

Wenn es leichter und angenehmer wäre, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, dann würden wir dazu vielleicht nicht die Hilfe einer Macht brauchen, die größer ist als wir. Wie Cecilias Brief zeigt, kann es jedoch schrecklich weh tun, wenn wir uns selbst und unser Leben offen und ehrlich ansehen. Das kann so schmerzhaft sein, daß die meisten von uns nicht die Kraft aufbringen, sich dieser Aufgabe zu stellen.

Auch ein Mensch, der keinen Glauben hat und keinen haben will, kann den Versuch unternehmen, gesund zu werden, aber für ihn ist es schwieriger. Er wählt den schwereren Weg zur Genesung – etwa so, als würden Sie einen steilen Pfad hinaufgehen, rückwärts, in hochhackigen Schuhen. Ihr Ziel würden Sie vielleicht schon erreichen, aber es gibt eben eine schnellere, wirksamere, weniger anstrengende Möglichkeit, dort hinzugelangen. Menschen können erstaunlich schnell einen Glauben entwickeln, wenn sie nur bereit dazu sind – das heißt, wenn sie bereit sind, so zu handeln, als wäre im Universum eine Intelligenz am Werk, die größer ist als die menschliche. Nichts, gar nichts ist aber eine persönlichere Angelegenheit, als die Suche nach einem Glauben, und keiner kann einem anderen sagen, wie er danach suchen soll. Jeder Mensch entdeckt seinen Gott allein und in der Stille.

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Es hätte keinen Sinn, Briefe von Frauen, die zu sehr lieben, zu sammeln, wenn diese Briefe nicht der Gesundung all derer, die sie lesen, förderlich sein könnten. Die Genesung von der Beziehungssucht ist jedoch eine weit subtilere, weniger leicht definierbare Leistung als die Genesung von den meisten anderen Suchtkrankheiten wie etwa Alkoholismus, Verschwendungssucht, Spielsucht und sogar Eßsucht. Beim Lesen dieses Buches werden Sie sich immer selbst eine Meinung dazu bilden, worin die Genesung von der Beziehungssucht besteht, was ihr förderlich und was ihr hinderlich ist und warum es bei einigen Menschen mit der Genesung klappt, bei anderen aber nicht. All diese Fragen und die dazugehörigen Antworten werden für Sie von großer Bedeutung sein, wenn Sie selbst von Ihrer Abhängigkeit loskommen wollen.