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ANDREA FAZIOLI, geboren 1978, studierte in Mailand und Zürich Romanistik und arbeitete als Radio- und Fernsehjournalist. Er ist leidenschaftlicher Saxophonspieler und Pfeifenraucher. Für seine Tessiner Kriminalromane um den eigenbrötlerischen Privatdetektiv Elia Contini wurde er mehrfach ausgezeichnet. Andrea Fazioli lebt in Bellinzona.
Restaurant in Zürich. Tatsächlich gab es ein Treffen zwischen Glauser und J.C. Heer (vgl. Friedrich Glauser, Dada, Ascona und andere Erinnerungen, Zürich, Arche, 1976).
E.T.A. Hoffmann wird, in Anspielung auf etliche seiner Figuren, in der Literatur oft »Gespensterhoffmann« genannt.
Als Glauser die Geschichte ein zweites Mal von vorn beginnt, stellt er dem Text folgende Vorrede voran, in der er selbst in der ersten Person das Wort ergreift.
Evangelium nach Johannes 8,6.
F. Glauser, Die Fieberkurve, Zürich, Morgarten, 1938. Der 1935 verfasste Roman ist der zweite mit Wachtmeister Studer als Protagonisten.
Der Heide ist das erste umfangreichere Werk Glausers, das er vermutlich 1918 schrieb und das in fünf Folgen (von Mai bis September 1921) in der Zeitschrift Die Schweiz erschien.
F. Glauser, Der Chinese, Zürich, Morgarten, 1939.
Dt.: »Meine Methode besteht darin, keine Methode zu haben.« Womöglich nimmt Glauser hier Bezug auf eine Formulierung des belgischen Schriftstellers Georges Simenon (1903–1989). In seinem Roman Le chien jaune (Fayard, 1931; auf Dt. zuletzt 2019 in der Übersetzung von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz unter dem Titel Der gelbe Hund im Kampa Verlag erschienen) wendet sich Kommissar Maigret mit folgenden Worten an seinen jungen Gehilfen Leroy: »… Surtout en ce qui concerne cette affaire, dans laquelle ma méthode a justement été de ne pas en avoir … Si vous voulez un bon conseil, si vous tenez à votre avancement, n’allez surtout pas prendre modèle sur moi, ni essayer de tirer des théories de ce que vous me voyez faire …«
Viel Sonne heute.
Sehr gute Früchte.
Hier wird auf Szenen angespielt, die in der ersten Manuskript-Version fehlen.
Auch diese Szene fehlt in der ersten Version des Manuskripts.
1914–1918: die Jahre des Ersten Weltkriegs.
Theodor Reuß (1855–1923): Deutscher Staatsbürger, Opernsänger, radikaler politischer Aktivist, Esoteriker, tantrischer »Sexualmagier«, Theosoph, Journalist, nicht regulärer Freimaurer, angeblicher Geheimagent, Meister des Orientalischen Templerordens OTO (Ordo Templi Orientis). 1917 veröffentlichte er in Ascona das Manifest der Hermetischen Bruderschaft des Lichts und organisierte einen Kongress zu verschiedenen politischen, sozialen, medizinischen und esoterischen Themen. Zu diesem Anlass führten die Mitglieder der Tanzschule von Laban einen rituellen Tanz – den Sang an die Sonne – auf, der vom Morgengrauen bis Sonnenuntergang dauerte.
Der belgische Industrielle Henri Oedenkoven und die deutsche Pianistin Ida Hofmann gründeten im Jahr 1900 eine naturistische Gemeinschaft, zunächst auf veganer, dann auf vegetarischer Basis. Zur Unterbringung der Mitglieder der Gemeinschaft erwarben sie Land auf dem Monte Monescia, den sie später in Monte Verità – »Berg der Wahrheit« – umtauften. 1920 verließen Hofmann und Oedenkoven Ascona und wanderten nach Brasilien aus.
Einst ortsübliche Bezeichnung für den Monte Monescia, der später in Monte Verità umgetauft wurde.
Dialektausdruck (Zusammensetzung aus biot, dt.: »nackt«, und ballare, dt.: »tanzen«), mit dem die Bauern und Einwohner Asconas die Bewohner des Monte Verità bezeichneten.
Sic. Heute meist Balladrum genannt.
Sic. Gerbi ist heute ein Ortsteil von Ascona.
Ein hübsches Mädchen!
Haben Sie die Kleine adoptiert?
Vgl. F. Glauser, »Im afrikanischen Felsental«, in: Dada, Ascona und andere Erinnerungen (o.z.), S. 109.
Die Informationen zu dem »anderen Cattaneo« stammen aus verschiedenen Werken Glausers: Dada, Ascona und andere Erinnerungen (o.z.); Gourrama (Zürich, Limmat, 1997); »Der kleine Schneider«, in: Mattos Puppentheater. Das erzählerische Werk, Bd. 1 (Zürich, Limmat, 1992).
Mit diesem Fragment skizziert Glauser erneut einen möglichen Anfang.
1925 fand in Locarno eine internationale Friedenskonferenz statt, mit der die vom Versailler Vertrag festgelegte Grenze zwischen Frankreich und Deutschland bestätigt und der Beitritt Deutschlands zum Völkerbund erleichtert wurde.
Die Wörter »Bademode« und »Badekostüm« kamen im Lauf der 1920er Jahre in Gebrauch.
Liegestuhl
Sonnenschirm
bezaubernd
Marianne von Werefkin wurde 1860 in Tula geboren und starb 1938 in Ascona. 1921 verließ Alexej Jawlensky sie und heiratete Hélène Nesnakomoff, mit der zusammen er 1902 Sohn Andreas gezeugt hatte. Nesnakomoff war 1895 im Alter von vierzehn Jahren bei Marianne von Werefkin in den Dienst getreten und sechsundzwanzig Jahre bei ihr geblieben.
Jass ist ein in der Schweiz verbreitetes Kartenspiel für zwei, drei oder vier Spieler mit 36 Karten. Das hier verwendete Wort »schieben« bedeutet einer der verbreitetsten Spielvarianten zufolge, dem jeweiligen Spielpartner die Wahl des Trumpfes zu überlassen.
Der Text erschien im Sommer 1921 in italienischer Sprache unter dem Titel Il dramma di Villa Paola in der Zeitung Gazzetta Ticinese. Glauser zitiert in seinem Manuskript – ohne einen Verweis auf das italienische Original –, wie folgt, auf Deutsch daraus.
Mit mir steht’s bös. Hierüber ist kein Zweifel möglich. Früher war’s einfach, da annoncierte ich jeweilen: »Junger Mann sucht Beschäftigung.« Heute muss ich annoncieren: »Leider nicht mehr junger, sondern bereits etwas ältlicher, abgenutzter Mann fleht um Erbarmen und Unterschlupf.«
Robert Walser
Das letzte Prosastück
Ich hatte mich zum Lesen auf den Balkon im ersten Stock gesetzt, als auf der Straße unter mir ein Mann stehen blieb und mich fragte, ob ich ihm bitte das Leben retten könnte. Es war ein stämmiger Mann, mit grauem Haar und breitem, von Falten zerfurchtem Gesicht.
Zuerst dachte ich, ich hätte ihn falsch verstanden.
»Verzeihung«, fragte ich, »kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Sie können mir behilflich sein zu leben.«
Ich legte mein Buch beiseite (es war ein Roman von Simenon, wenn ich mich recht erinnere) und sah auf die Straße, den Parkplatz, das Rondell mit dem Brunnen in der Mitte. Niemand sonst war zu sehen. Es war ein strahlender Märztag. Der Mann, um die siebzig, trug einen für die Jahreszeit unpassenden dunkelgrauen Dufflecoat. Er reckte den Kopf zu mir hinauf und schirmte mit einer Hand die Augen gegen die Sonne ab.
»Ich versichere Ihnen, dass es sich um ein seriöses Anliegen handelt. Möchten Sie meine Visitenkarte sehen?«
Mit diesen Worten zog er ein Kärtchen aus der Tasche und streckte es mir entgegen. Ich merkte, dass es zu spät war, um abzulehnen, also beugte ich mich vor und zeigte dem Mann die Eingangstür. Dann ging ich nach unten, um zu öffnen. Wortlos reichte er mir das Kärtchen.
Aurelio Cattaneo
Anarchistischer Dichter,
Legionär, Gastwirt
Mehr nicht. Auf der Rückseite eine Adresse: »Ronco Pizzotti, 6721 Ludiano, Schweiz«. Cattaneo sah mich unverwandt an, als warte er auf einen Kommentar meinerseits. Ich sagte, ich sei erfreut, ihn kennenzulernen, und mein Name sei …
»Ja«, unterbrach er mich. »Sie heißen Fazioli. Schriftsteller. Ich kenne Sie.«
Da ich nach wie vor das Kärtchen in den Händen hielt, begann ich mit dem Nächstliegenden.
»Sie sind Gastwirt?«
»Ja, ich war zu alt geworden, um in der Welt herumzureisen. Inzwischen bin ich auch zu alt für die Gastwirtschaft. Ich kann von einem Tag auf den anderen sterben, wissen Sie?«
Und nach einer kurzen Pause: »Wie übrigens wir alle.«
Daraufhin bot ich ihm einen Kaffee an. Er willigte ein, vorausgesetzt, ich hätte einen Schuss Grappa für einen Caffè Corretto. Wir nahmen am Küchentisch Platz.
»Ich habe einige Manuskripte für Sie.«
»Manuskripte? Aber wollten Sie nicht, dass ich Ihnen das Leben rette?«
War er am Ende ein Schriftstellerneuling? Vielleicht hatte er den Roman seines Lebens verfasst und wollte eine Meinung einholen. Oder aber, was öfter der Fall ist, ihn interessierten gar keine Meinungen, sondern es ging ihm nur ums Veröffentlichen.
»Wie Sie sicherlich wissen«, sagte er, wobei er mich nicht aus den Augen ließ, »können Worte Leben retten.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
Er überging meinen Einwand: »Ich habe keine Wurzeln. Meine Großmutter ist jung gestorben, und meine Mutter wuchs in einer Pflegefamilie auf. Sie behielt jedoch den Namen ihres Vaters, also meines Großvaters: Cattaneo. Auch ich heiße Cattaneo, da mein Vater unbekannt blieb.« Er goss noch ein wenig Grappa in seinen Kaffee. »Und mein Großvater … war in der Fremdenlegion. Wie ich.«
Er deutete auf das Abzeichen an seinem Jackenkragen: eine flammende Granate auf rot-grüner Flagge.
»Meine arme Mutter ist vor einem Jahr gestorben, mit neunundneunzig Jahren. Damals, als ich mir endgültig keine Hoffnungen mehr darauf machte, bin ich wieder auf meinen Großvater gestoßen.«
Unter den Dingen, die seine Mutter hinterlassen hatte, befand sich auch ein Koffer oder Karton (das habe ich nicht richtig verstanden), der von seinem Großvater stammte. Offenbar hatte dieser ihn kurz vor seinem Tod aus Marokko geschickt. Er war voller Papiere und Krimskrams. Cattaneos Mutter, die damals mit dem neugeborenen Sohn völlig in Anspruch genommen war, hatte ihn nie geöffnet, sondern lediglich das zusammen mit dem Koffer angekommene Geld verwendet.
»In eines der Hefte hatte mein Großvater geschrieben: Il faut attendre il faut attendre / Il faut attendre d’autres jours. Man muss abwarten. Aber es sind über siebzig Jahre vergangen, und bevor ich sterbe, möchte ich die Wahrheit erfahren.«
»Haben Sie die Manuskripte denn nicht gelesen?«
»Es ist ein riesiger Berg, auf Deutsch, Italienisch, Französisch. Ich bin alt und sehe schlecht. Sie dagegen sind jung, Sie könnten alles schriftlich in Reinform bringen. Natürlich gegen Bezahlung.«
»Nun ja, ich weiß nicht, ob …«
»Ich habe bereits Kontakt mit einem Verleger aufgenommen.«
»Was?«
»Bitte, Sie können mir das Leben retten … Sie müssen nur schreiben! Sie können doch schreiben, oder?«
Ich habe beschlossen, diese Geschichte nicht selbst zu erzählen.
Zwar bin ich es gewohnt, Romane zu schreiben, aber hier geht es um historische Recherchen. Die Manuskripte beziehen sich auf dokumentierte Ereignisse, auf Orte und Personen, die real existieren (oder vor hundert Jahren existiert haben). Ich habe daher beschlossen, sie so zu lassen, wie sie sind, damit sich beim Lesen jeder ein eigenes Bild von der Angelegenheit machen kann.
Zu Beginn werde ich einen E-Mail-Verkehr wiedergeben, zu dem es einige Tage nach Cattaneos Besuch kam. Ich hatte immer wieder die Visitenkarte zur Hand genommen, aber etwas machte mich stutzig. Dass er eine Gastwirtschaft hatte, traf sicher zu, aber war er wirklich in der Fremdenlegion gewesen? Und was bedeutete »anarchistischer Dichter«? Dann bekam ich eine E-Mail, die mir einige Antworten lieferte. Zusammen mit vielen neuen Fragen.
Von: Magda (magda@casagrande.ch)
An: Andrea (info@andreafazioli.ch)
Gesendet: 11. März, 10:02
Betreff: Ascona-Roman
Lieber Andrea, wie geht es dir? Wir sind hier sehr mit der Book Pride beschäftigt. Wirst du auch vorbeischauen? Ich schreibe, um dir eine etwas verrückte Idee zu unterbreiten … Wir haben kürzlich ein unveröffentlichtes Manuskript von Friedrich Glauser erhalten: wenige Seiten, eigenhändig von ihm unterzeichnet und auf seiner Schreibmaschine getippt. Es sind Fragmente eines Kriminalromans, der bei Ascona spielt, mit Wachtmeister Studer als Hauptfigur. Wir dachten uns (und jetzt kommt die verrückte Idee): Und wenn wir sie übersetzen lassen und dann Fazioli fragen, ob er sie zu einem Roman vervollständigt? Denk drüber nach, dann sprechen wir uns. Magda
Von: Andrea (info@andreafazioli.ch)
An: Magda (magda@casagrande.ch)
Gesendet: 11. März, 12:34
Betreff: Re: Ascona-Roman
Hallo Magda! Alles gut bei mir, danke! Danke auch für deinen Vorschlag, aber es ist nicht so einfach, Glausers Worten etwas hinzuzufügen. Wie seid ihr an das Manuskript gekommen?
Bis bald, Andrea
Von: Magda (magda@casagrande.ch)
An: Andrea (info@andreafazioli.ch)
Gesendet: 11. März, 13:15
Betreff: Re: Re: Ascona-Roman
Anhang: Glauser_Ascona-Roman.doc
Das Manuskript war hier, im Tessin … seit siebzig Jahren! Ein gewisser Cattaneo hat es gefunden: Es befand sich unter verschiedenen Dokumenten seines Großvaters, der Glauser in der Fremdenlegion kennengelernt hatte. Wie im Film, oder? Ich habe Gabriella de’Grandi gebeten, die Texte ins Italienische zu übersetzen, aber fürs Erste schicke ich dir eine Kopie der deutschen Originale, damit du dir einen Eindruck verschaffen kannst.
Von: Andrea (info@andreafazioli.ch)
An: Magda (magda@casagrande.ch)
Gesendet: 11. März, 13:18
Betreff: Re: Re: Re: Ascona-Roman
Soviel ich weiß, war auch Aurelio Cattaneo in der Legion. Hat er euch nur den unveröffentlichten Glauser oder auch die Manuskripte seines Großvaters gegeben?
Von: Magda (magda@casagrande.ch)
An: Andrea (info@andreafazioli.ch)
Gesendet: 11. März, 13:18
Betreff: Re: Re: Re: Re: Ascona-Roman
Ich glaub, er hat uns nur den Glauser-Text gegeben. Dann kennst du ihn also?
Von: Andrea (info@andreafazioli.ch)
An: Magda (magda@casagrande.ch)
Gesendet: 11. März, 13:21
Betreff: Re: Re: Re: Re: Re: Ascona-Roman
Vor ein paar Tagen ist er bei mir zu Hause aufgetaucht und hat mir erzählt, er habe einen Koffer voller Manuskripte. Er ist davon überzeugt, dass ich seiner Existenz einen Sinn verleihe, wenn ich die Geschichte seines Großvaters aufschreibe.
Von: Magda (magda@casagrande.ch)
An: Andrea (info@andreafazioli.ch)
Gesendet: 11. März, 13:22
Betreff: Re: Re: Re: Re: Re: Re: Ascona-Roman
Merkwürdig. Bevor Cattaneo gestern gegangen ist, hat er noch bei Fabio im Büro vorbeigeschaut. Ich versuche mal herauszufinden, ob der mehr weiß.
Von: Magda (magda@casagrande.ch)
An: Andrea (info@andreafazioli.ch)
Gesendet: 12. März, 09:18
Betreff: Mysteriöse Manuskripte
Hallo Andrea, tut mir leid, aber Fabio war in einer Besprechung. Heute Morgen hat er mir erklärt, dass Cattaneo im Tessin geboren wurde und später viel in der Welt herumgekommen ist, wobei man nicht genau weiß, wovon er eigentlich seinen Lebensunterhalt bestritten hat (vielleicht als Legionär). Nach seiner Rückkehr hat er einige »anarchistische Gedichte« verfasst. Jetzt ist er Betreiber eines Grottos. Er hat Fabio erzählt, er habe eine Kiste mit sämtlichen Manuskripten seines Großvaters geerbt, zusammen mit den Texten von Glauser. Fabio findet es ganz normal, dass er ein bisschen durcheinander ist, angesichts der bewegten Familiengeschichte. Sie haben auch über dich gesprochen. Cattaneo fände es gut, wenn du Glausers Manuskript fortsetzen und gleichzeitig die Geschichte seines Großvaters schreiben würdest … Aber als Verlag beschränken wir uns auf Glauser!
Von: Andrea (info@andreafazioli.ch)
An: Magda (magda@casagrande.ch)
Gesendet: 12. März, 10:00
Betreff: Re: Mysteriöse Manuskripte
Hat er etwas über die bewegte Familiengeschichte gesagt? (Tut mir leid, wenn ich dir die Zeit stehle, aber ich bin neugierig …)
Von: Magda (magda@casagrande.ch)
An: Andrea (info@andreafazioli.ch)
Gesendet: 12. März, 11:30
Betreff: Re: Re: Mysteriöse Manuskripte
Anhang: Glauser_AsconaRoman_GdG.doc
Aber ich bitte dich, das bin ich doch selbst. Ich habe Fabio nach Details gefragt. Aurelios Großeltern hießen Fredo und Anja (wie Anja mit Nachnamen hieß, weiß Fabio nicht). Die beiden haben Ada Cattaneo in die Welt gesetzt. Aber Fredo hat sich kurz nach der Geburt des Mädchens aus dem Staub gemacht, und Anja ist ums Leben gekommen, als Ada noch klein war. So ist Ada bei einer Familie in Ascona aufgewachsen. Sie selbst hat wiederum Aurelio geboren, mit unbekanntem Vater. Vor einem Jahr ist Ada in hohem Alter gestorben, und Aurelio hat stapelweise Papiere geerbt. Stell dir vor, was für ein Zufall: Das unveröffentlichte Manuskript eines der größten Autoren der Schweiz kommt auf einem staubigen Dachboden zum Vorschein. Gabriella war begeistert von der Idee, den Text zu übersetzen. Sie hat sich bereits an die Arbeit gemacht, ich schicke dir die ersten Seiten im Anhang mit. Wollen wir uns nach der Book Pride treffen, um alles zu besprechen?
Von: Andrea (info@andreafazioli.ch)
An: Magda (magda@casagrande.ch)
Gesendet: 12. März, 12:25
Betreff: Re: Re: Re: Mysteriöse Manuskripte
Einverstanden. Ich fang dann schon mal an zu lesen.
Bis bald!
Eine Villa in unmöglichem Stil, Flachdach, rechts und links vom Eingang zwei Türme, mit roten Ziegeln bedeckt. Auf einem schwarzen Marmorschild in Goldbuchstaben: »Pension Mimosa«. Ein offenes Fenster im ersten Stock umrahmt den massigen Oberkörper eines Mannes; das Gesicht des Mannes ist merkwürdig schmal und mager, ein brauner Schnurrbart bedeckt den Mund. Der Mann raucht eine Brissago und schaut auf den See, der weit unten sich ausbreitet, blau, wie eine angelaufene Stahlplatte.
Ich möchte das Gästebuch sehen. Es stimmt, der Graf hat mich nicht angelogen.
»Im ersten Stock«, sagt der Portier, »Zimmer zwölf …« Er spricht Deutsch, was für eine Fremdenpension in Locarno eigentlich selbstverständlich ist.
»Studer, Jakob, Kommissär an der Stadtpolizei Bern.«
Etwas möchte ich gerne wissen, aber ich habe vergessen, gestern Abend danach zu fragen: Wieso hat der Graf, der während des Krieges Militärattaché an der deutschen Gesandtschaft in Bern war, die Bekanntschaft des Polizeikommissärs gemacht? Und hätte ich die Frage auch gestellt, der Graf hätte mir wohl die Antwort verweigert … Der Graf kann sehr diskret sein … Ich bin neugierig, ob der Berner Polizeikommissär mir helfen kann, ich bezweifle es sehr, denn er ist ja in den Ferien, und schließlich geht ihn ja der Fall nichts an … Aufzuklären hat ihn die Tessiner Polizei, aber die ist erstens ungeschickt, und zweitens spricht sie schlecht Deutsch – mein Italienisch aber ist so mangelhaft, dass es immer wieder Missverständnisse gibt – der Graf hat mir gesagt, dass der Berner Polizeikommissär mit den Tessinern gut stehe …
Warum hat die Frau auch gerade fünfzig Meter von meiner Mühle den Tod finden müssen? Die unbekannte Frau? …
»Numme iche …«, sagt eine tiefe Stimme. Und dann bleibe ich im Türrahmen stehen. Der Zugwind reißt an den Gardinen, durchs Fenster sieht man die Berge ob Magadino, sehr dunkel, sehr grün …
Das Fenster hat ein eisernes Gitter, das dem Mann mit der Brissago etwa bis zur Brust reicht, er hat mir zuerst nur den Kopf zugewandt, jetzt dreht er sich ganz um, lehnt sich gegen das Eisengitter, nimmt die Brissago aus dem Munde … In einer Ecke des Zimmers ist eine Frau damit beschäftigt, einen Koffer auszupacken und Wäsche in einem Schrank zu verstauen …
»Was weit-r?«
Ich stelle mich vor, ein wenig stotternd, nenne den Grafen, der mich hierherverwiesen hat, und frage schüchtern, ob ich den Herrn Kommissär nicht allein sprechen könne … Blick auf die Frau … Der Mann nickt, zieht an seiner Brissago, sie ist ausgegangen, er zündet sie an, sagt dann ruhig: »Emmy, los«, und sie solle nur go z’Morge näh, er werde nachkommen … Die Frau nickt, drückt sich an mir vorbei zur Tür hinaus und schließt dann die Tür hinter meinem Rücken …
»Und?«, fragt der Mann. Er ist stehen geblieben, hat seine Ellenbogen auf das eiserne Gitter gestützt und betrachtet mich blinzelnd. Ich kann sein Gesicht schlecht sehen, der Morgen hinter ihm ist sehr hell, darum wirkt der längliche Kopf wie ein Schattenriss.
»Hocked ab …«, sagt der Mann.
»Ja, Herr Kommissär …«
Es kommt mir vor, als verziehe sich sein Gesicht, dann sagt er, er halte nichts von Titeln, ich solle nur ruhig »Studer« zu ihm sagen, in Bern (»Bäärn«, sagt er) seien nur die »Bundeshüüsler« auf Titel erpicht, aber er sei ein einfacher Mann, außerdem in den Ferien … Ob ich auch Berner sei?
Ich nicke. – Und wie ich denn die Bekanntschaft des Grafen gemacht habe?
Wie man eben so Bekanntschaften mache, erwidere ich. Der Graf habe sich in Ascona niedergelassen, er habe ein kleines Haus gemietet, in dem er mit seiner Frau wohne, er verkehre viel mit uns …
»Uns?«
Ja, wir seien eine kleine Gesellschaft von Künstlern, zwei Maler, eine Graphikerin, eine Tänzerin, zwei Schriftsteller, und dann sei ich noch da, ich schriebe auch … Der Graf interessiere sich sehr für Kunst, und als ich ihn gestern Abend wegen des Mordes, der in der Nähe der Mühle passiert sei, in der ich wohne, um Rat gefragt habe, weil ich mich mit der Tessiner Polizei so schlecht verständigen könne, habe mir der Graf gesagt: »In Locarno ist augenblicklich einer meiner guten Freunde in den Ferien, ein Berner Polizeikommissär namens Studer, der mir seinerzeit viel geholfen hat, gehen Sie zu dem Manne, der wird auch Ihnen helfen.« So habe der Graf gesprochen, und darum hätte ich mir erlaubt, den Herrn Kommissär – eh, den Herrn Studer aufzusuchen …
»Mord?«, fragt der Mann, ohne die Grüße, die ich vom Grafen bestelle, zur Kenntnis zu nehmen. – Wer denn ermordet worden sei? …
Gerade das wisse ich nicht. Eine Frauenperson, fremder Herkunft scheinbar, denn niemand aus unserem Kreise habe sie identifizieren können, sie sei etwa fünfzig Meter von dem Hause, das ich an der Straße bewohne, die von Arcegno nach Ronco führe, aufgefunden worden …
»Wann?« Der Kommissär Studer stellt die Frage, ohne mich anzublicken, er sucht nach einem Stuhl, findet einen neben dem Bett, setzt sich, die Beine gespreizt, und stützt die Unterarme auf die Schenkel. Ich kann nun sein Gesicht besser sehen: Die Lider sind halb geschlossen, er blickt zu Boden. Die erloschene Brissago hält er zwischen Zeige- und Mittelfinger …
»Gestern Morgen um fünf Uhr …«
»Von wem?«
»Von einem gewissen Heinrich Gösch, einem sonderbaren Mann, eigentlich meinem unmittelbaren Nachbarn, er bewohnt am Anfange des Dorfes Ronco, etwa achtzig Meter von der Straße entfernt, ein altes Bauernhaus mit seiner Frau und zwei kleinen Mädchen … Das eine Mädchen ist stumm …«
»Stumm? Kann nicht reden?«
Wie dumm dieser Mann daherredet, denke ich. Ob ihn der Graf nicht doch überschätzt hat. Ich antworte ironisch:
»Stumme können gewöhnlich nicht reden, Herr Kommissär!«
Der Mann blickt gar nicht auf. Er drückt auf den Knopf eines Benzinanzünders, zieht umständlich an seinem stinkenden Kraut, nickt abwesend, wie irgendeine Porzellanfigur, deren Kopf beweglich wäre, abwesend und unbeteiligt … Sagt nach einer Weile:
»Gösch? Der Theosoph?«
Ich bin ein wenig erstaunt, denn Heinrich Gösch ist nur in den sogenannten Okkultistenkreisen bekannt … Er hat sich übrigens von den Theosophen getrennt, ist in Unfrieden von ihnen geschieden, er behauptet sogar, die Stummheit seines Töchterchens sei auf die Feindschaft eines der Führer dieser Bewegung zurückzuführen, der »Meister« habe das Kind verhext … Nun, jeder Mann hat seinen Vogel, mich stört das nicht weiter, ich mag Gösch gerne, er kommt oft am Abend zu mir, und wir plaudern sehr lange … Er weiß sehr viel, der Heinrich Gösch … Aber woher weiß dieser Polizeikommissär etwas von meinem Freund …
»Zufall!«, sagt der Mann mit der qualmenden Brissago, so als müsse er meine unausgesprochene Frage beantworten. »Ich habe einmal einen Artikel von diesem Herrn gelesen. In einer Zeitschrift … Ja, also der Heinrich Gösch hat die Leiche entdeckt … Wo lag sie?«
»Wie gesagt, fünfzig Meter von meinem Haus entfernt. Von der Straße, die Ronco mit Arcegno verbindet, zweigt ein Fußweg ab, der nach Ascona führt. Gerade bei dieser Abzweigung ist die Leiche der Frau gelegen …«
»Jung?«
»Achtundzwanzig bis dreißig …«
»Hm … Und was soll ich tun?«
»Die Polizei hat mich im Verdacht, gestern haben zwei Fahnder ihr Generalquartier bei mir aufgeschlagen, am Abend ist noch der Polizeikommissär von Locarno gekommen …«
»Pedrello …«, sagt Studer gedankenvoll. »Ein guter Kerl, aber … äbe … jaaa …«
»Äbe … jaaa …«, wiederhole ich und versuche zu lachen. Aber das ist schwer. Mein Gegenüber lacht auch nicht. Darum fahre ich ernster fort: »Er kann nicht gut Deutsch und ich nicht gut Italienisch, und da gibt es die ganze Zeit Missverständnisse. Der Herr Kommissär Pedrello behauptet, ich kenne das Meitschi … pardon, die Frau … Aber ich habe sie bei Gott nie gesehen … Und es ist ein Zufall gewesen, dass man sie in der Nähe meiner Mühle gefunden hat …«
»Mühle?«
»Ja, ich wohne mit einer Freundin in einer alten Mühle, die schon lange außer Gebrauch ist. Die Miete ist billig, zehn Franken im Monat, denken Sie sich, Herr Kommissär, äh … Herr Studer. Es stehen nur wenige Möbel darin, aber genug für uns, und ich kann in Ruhe schreiben. Manchmal kommen die Freunde uns besuchen, und wir können Lärm machen, so viel wir wollen, wir stören niemanden. Wie gesagt, das nächste Haus gehört Gösch und ist etwa dreihundert Meter von unserer Mühle entfernt …«
»Und die Leiche? …«
»Eben … die Leiche … Sie lag etwa zwei Schritte von der Straße entfernt auf einem kleinen Nebenweg, der nach Ascona führt … Gösch hat sie durch Zufall gefunden, wie er mir sagte, gestern Morgen um acht, als er von Ascona kam, wo er Kommissionen gemacht hatte …«
»Auf dem Rückweg hat er sie gefunden? … Ja? … Warum nicht schon auf dem Hinweg?«
»Weil er von seinem Hause aus einen direkten Weg durch die Wiesen hat, der auf die Hauptstraße Locarno—Brissago führt. Den hat er für den Hinweg genommen. Zurück hat er dann den Fußweg genommen, der am Monte Verità vorbeiführt und bei unserem Sträßli fürechunnt … Um neun Uhr hat Gösch die Leiche gefunden, er ist dann gleich zu mir gekommen, wir sind zusammen an den Fundort gegangen, die Frau hatte einen tiefen Messerstich im Rücken … das Messer hat wohl das Herz getroffen, wenigstens hat der Dottore das behauptet … Ich bin dann nach Ascona zum Syndaco, zum Bürgermeister, und der hat die Locarneser Polizei alarmiert …«
»Und wo ist die Leiche jetzt?«
»Pedrello hat sie nach Ascona schaffen lassen, sie liegt in einem Schulzimmer … Doktor Brambilla hat die ersten Feststellungen gemacht … Morgen soll die Leiche nach Bellinzona überführt werden, dort haben sie einen Gerichtsarzt, der die Sektion machen wird …«
Schweigen. Ganz schwach tönt durch das Fenster das zögernde Schlagen eines Glockenspiels, von der Decke des Zimmers hängt ein brauner Papierstreifen, mit Leim bestrichen. Tote Fliegen kleben daran, eine aber ist noch lebendig und surrt eintönig, um sich zu befreien.
Mein Gegenüber hat die Hände gefaltet und den Kopf gesenkt. Ich sehe nur sein kurzes braunes Haar, das wie eine feine Bürste wirkt. Seine Augen kann ich nicht sehen. Plötzlich murmelt Studer:
»Eine Frau … Messerstich … Heinrich Gösch … Der Graf …« Er schweigt, dann flucht er leise: »Himmelherrgott … nicht einmal ruhige Ferien kann man sich gönnen … aber natürlich, der Pedrello …« Wieder eine Pause, dann hebt er den Blick und fragt, was er eigentlich machen solle? …
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