Moos

Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Das Nachwort ist ein Auszug aus dem autobiographischen Essay »Dichter wollte ich nicht werden«, erschienen in Klaus Modicks Essaysammlung »Ein Bild und tausend Worte« (Kiepenheuer & Witsch, 2016).

Der Tod von Prof. Dr. Lukas Ohlburg, der im Frühjahr 1981 im Alter von 73 Jahren verstorben ist, hat seinerzeit, über die Grenzen seiner botanischen Fachkollegenschaft hinaus, in weiten Kreisen des wissenschaftlichen Lebens anteilnehmende und trauernde Beachtung gefunden. Zahlreiche Nachrufe und Würdigungen in Zeitungen und Zeitschriften, nicht nur rein wissenschaftlicher Natur, haben darauf hingewiesen, dass durch Ohlburgs Tod der Botanik im Besonderen wie der Naturwissenschaft im Allgemeinen ein beträchtlicher Verlust entstanden ist. Abgesehen von seinen fachspezifischen Untersuchungen, von denen speziell die beiden großen Arbeiten über tropische und subtropische Vegetationsformen längst zu Klassikern der modernen Botanik geworden sind, hat Ohlburg mit seinen Essays zur Kritik der naturwissenschaftlichen Terminologie den wissenschaftstheoretischen Diskurs stark beeinflusst. Dass ihm dabei neben emphatischem Zuspruch auch heftige Kritik entgegengebracht wurde, liegt in der Natur der Sache und war darüber hinaus von Ohlburg sehr bewusst provoziert.

Dem engeren Mitarbeiter- und Freundeskreis Ohlburgs war bekannt, dass er in seinen letzten Lebensjahren häufig davon sprach, diese Essays in einem systematischen Werk zusammenfassen zu wollen, das den Titel »Zur Kritik

 

»… geht Ihnen mit gleicher Post ein eingeschriebenes Paket zu, das ein Manuskript-Konvolut meines verstorbenen Bruders enthält. Wie Sie wissen, hat er, neben den von Ihnen edierten wissenschaftlichen Texten, auch eine größere Anzahl Aufzeichnungen persönlicher Natur, im Wesentlichen Tagebücher, hinterlassen, die ich, seinem Letzten Willen entsprechend, ungelesen vernichtet habe. Was nun das hier zur Rede stehende Manuskript betrifft, war ich lange unsicher, ob es als persönliche Aufzeichnung oder als zur Publikation bestimmter Text anzusehen sei. Nach mehrmaliger Lektüre, die durch den Umstand erschwert

Mein Bruder ist, wie offiziell verlautbart, in dem Landhaus im Ammerland, das ihm und mir gemeinsam gehörte, tot aufgefunden worden. Als Todesdatum wurde, soweit das noch feststellbar war, der 3. Mai 1981, als Todesursache Herzversagen angegeben. Mein Bruder hatte sich im September 1980 in dies Haus zurückgezogen, um dort an seinem Projekt zu arbeiten. Obwohl er aufgrund seiner Herzschwäche nicht bei bester Gesundheit war, bestand er darauf, sich selbst zu versorgen, lehnte Hilfe im Haus übrigens auch kategorisch ab. Wie eigensinnig er sein konnte, besonders wenn er arbeitete, wissen Sie vermutlich besser als ich. Zu Weihnachten 1980 habe ich ihn dort besucht. Er machte einen zufriedenen, entspannten und ungewöhnlich heiteren Eindruck. Die einzige Veränderung, die mir an ihm auffiel, war die Tatsache, dass er sich einen Bart hatte wachsen lassen. Sein Geisteszustand schien klar. Heute würde ich freilich sagen, dass einige seiner Äußerungen mich hätten stutzig machen müssen. Am

Dass ich mit der Freigabe des Textes so lange gezögert habe, werden Sie verstehen, wenn Sie ihn gelesen haben. Selbst als botanischer Laie glaube ich sagen zu können, dass diese Blätter für die botanische Forschung wohl kaum von Interesse sein dürften. Ich bezweifele auch, dass mein Bruder diesen Text im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte verfasst hat. Als Bruder ist mir die Verwirrung seines Denkens und seiner Sprache bedauerlich, als Psychologe bedenklich. Wiewohl auch immer wieder von einer Kritik der Terminologie die Rede ist, halte ich den Text im Ganzen für das Psychogramm fortschreitender Senilität. Da jedoch an der wissenschaftlichen Reputation meines Bruders nicht der leiseste Zweifel besteht, stehe ich nicht an, die Publikation dieses Textes zu unterbinden. Meine Bedenken gegen die hierin geäußerten Ansichten möchte ich dennoch nachdrücklich geäußert haben. Das Titelblatt, wie einige andere Passagen, deuten darauf hin, dass mein Bruder den Text publizieren wollte. Da ich in seinem Sinne zu handeln glaube, wenn ich Ihnen hiermit das Manuskript überlasse …«

 

So weit die Mitteilungen Dr. Franz B. Ohlburgs, dessen Bedenken ich teile. Das Manuskript befand sich in einem braunen Aktendeckel aus Pappe, der stark gewellt war, wohl aufgrund von Feuchtigkeitseinwirkung. Die chronologische Entstehung der einzelnen Stücke lässt sich nicht

 

Hamburg, im Oktober 1983. K.M.

 

 

 

»Und noch zuletzt sah ich, gleich einem Rauch,

Mich leise in der Erde Poren ziehen.«

Annette von Droste-Hülshoff
Im Moose

Als wir Kinder waren, konnte von solcher Haltlosigkeit natürlich keine Rede sein, legte Vater doch noch im Urlaub, noch hier auf dem Land, allergrößten Wert auf Disziplin und das, was er unter Haltung verstand. War

Zum Verstehen, zum wirklichen Wissen, zur Wahrheit im umfassenden, fast metaphysischen Sinn hat das analytische und dialektische Denken wahrscheinlich nie geführt. Hegel wirft bekanntlich in seiner »Logik« die bemerkenswert unsinnliche Frage auf, ob nicht »eine Figur des Schlusses ein unendlich Höheres als eine Papagei- oder eine Veronica-Art« darstelle, um wie viel Höheres also erst als beispielsweise ein bescheidenes Moos! Diese doch ignorante Arroganz des

Und die botanische Terminologie als Benennungssystem der Naturerscheinungen, in die zum Beispiel dies Haus eingebettet liegt, sagt bestenfalls, was da wächst, das aber seelenlos und unverständig. Nie konnte sie sagen, wie, nie wird sie mit letzter Sicherheit sagen können, warum. Und das ist vielleicht auch besser so.

Die prächtige alte Kiefer, deren Zweige bei Wind gegen das obere Fenster schlagen, kann ich bis auf ihre Molekularstruktur begrifflich zerlegen und »richtig« benennen. Aber für die Sprache, in der sie in ihrem Klopfen ans Fenster zu mir spricht, fehlt mir jedes Wort.

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