Sieben Heringe

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Obwohl sie nie darüber spricht, spüre ich, dass sie sehr genau weiß, wie knapp ihre verbleibende Zeit ist. Jetzt ist es Anfang Oktober. Früher hätte sie um diese Zeit längst gefragt, ob wir wieder eine Ente für Weihnachten bestellen sollen. Seit vielen Jahren ein großes Thema in unserer Familie, das über Wochen immer wieder durchgesprochen

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Es gibt Sätze, die sie wie Leitplanken benutzt. Sie wiederholt sie immer wieder, als könne sie damit ihr Leben sortieren, in eine logische Abfolge bringen. Einer dieser Sätze lautet: Ich bin von einer Aufregung in die nächste geraten. So deutet sie jetzt ihre Jugend, als eine Abfolge von Aufregungen. Das ist sehr tiefgestapelt, geradezu verharmlosend ausgedrückt, andere würden von wahr gewordenen Albträumen oder, etwas distanzierter, von schweren Traumata sprechen. Vorhin hat sie mir von einer Aufregung berichtet. Als Vierzehnjährige wurde sie 1944 als Stadtkind zum Landdienst der Hitlerjugend geschickt. Ein Pflichtjahr für alle Mädchen. Die Volksschule in Brück, einem Vorort im rechtsrheinischen Teil von Köln, war für sie kriegsbedingt plötzlich zu Ende, wie oft hat sie später mit diesem frühen Abbruch ihrer Bildungsbiografie gehadert! Alles, was sie heute weiß, verdankt sie allein ihrem autodidaktischen Bildungshunger. Noch kürzlich hat sie über Wochen geduldig einen 800-Seiten-Wälzer über russische Geschichte gelesen. Sie verleibt sich

Jedenfalls musste sie nach der Volksschule für lange Zeit weg aus ihrem Elternhaus in Köln und zog in ein Lager im mittelfränkischen Ohrenbach, ohne in diesem Moment ahnen zu können, dass sie in dieser Gegend sogar noch das Ende des Krieges erleben würde.

Das Lager war hart, wiederholt sie immer wieder, aber hart ist gar kein Ausdruck. Morgens um sechs wurden die Mädchen mit Gebrüll aus dem Schlaf gerissen: Aufstehen und sofort antreten! Sie mussten dann schlaftrunken auch bei Schnee draußen mit nackten Füßen zum Appell strammstehen und durchzählen. Es war sehr mühsam, dabei nicht im Stehen einzuschlafen, erinnert sie sich, denn wir waren ja alle erschöpft von der schweren Arbeit tagsüber bei den Bauern. Die da morgens geschrien hat, die Landdienstführerin der Hitlerjugend, war gerade mal ein paar Jahre älter als sie. Eine junge Frau, die die

Mit der Zeit im Lager verbindet meine Mutter vor allem eins: eisige Kälte.

Sie hat gefroren, wenn sie morgens barfuß strammstehen musste, sie hat gefroren, wenn sie abends am Bach die geliehenen Schuhe säubern musste, die gar nicht passten, weshalb sie lange Zeit eitrige Füße hatte, und nachts hat sie auch gezittert, weil die Bettdecke zu dünn war. Es war hart, wiederholt sie und greift nach einem für lange Zeit vergessenen alten Poesiealbum, das sie vor ein paar Tagen aus dem Schrank hervorgekramt hat. Sie blättert einen Moment darin, dann stößt sie auf einen Eintrag, den sie mir zeigen will. Aber ich komme mit der übertrieben akkuraten

 

Neben diesem Stolz, die brutalen Lebensprüfungen von damals überstanden zu haben, entwickelt sich bei meiner Mutter aber nun erst im hohen Alter ein geschärftes Bewusstsein dafür, welche

Abends, wenn wir todmüde waren, fährt sie fort, war niemandem mehr im Lager nach Liedern zumute, wir mussten aber singen, und zwar im Stehen, damit keiner währenddessen einschläft. Und wir mussten jeden Abend noch Briefe schreiben an die Front in Russland. Junge Männer, die wir gar nicht kannten, von denen wir nur die Feldpost-Nummer bekamen, sollten sich freuen über aufmunternde Worte aus Mädchenhand. Schreibarbeit, hieß das im Lager. Beim Zuhören frage ich mich, ob diese lästige Pflicht der Moral der Truppe tatsächlich aufgeholfen hat. Ob die jungen

Dann fällt ihr mitten im Erzählen ein, dass chronologisch gerade etwas Wichtiges gefehlt hat. Sie ist nach dem Ende der Volksschule nicht gleich in den Landdienst eingezogen worden, vorher musste sie noch eine andere Aufregung bestehen. Sie zögert, bevor sie mit ihrer Schilderung beginnt. Ich merke, dass sie sich überwinden muss, und rechne mit etwas Aufwühlendem. Wir haben mit vierzehn Jahren provisorische Zeugnisse in die Hand gedrückt bekommen, ohne jede Feierlichkeit, und dann hieß es: Morgen müsst ihr alle an den Westwall. Dort wurden 1944 auf Befehl von Adolf Hitler viele fleißige Hände gebraucht, um Gräben zur Panzerabwehr auszuheben. Eine Panikreaktion auf die Nachricht von der erfolgreichen Landung der Alliierten in der Normandie. Ihre ganze Schulklasse sei dem Befehl gefolgt, berichtet sie, nur sie sei zu Hause geblieben. Nach ein paar Tagen stand der gefürchtete Ortsgruppenleiter der NSDAP vor der Haustür, der davon Wind bekommen hatte, und verlangte Auskunft, warum sie nicht längst am Westwall zum

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Ich konnte nach unserem letzten Gespräch gar nicht schlafen, eröffnet sie mir beim nächsten Mal, im Bett ist mir alles wieder durch den Kopf

Aber womit hat alles angefangen, was muss da wieder und wieder raus aus der Kehle und will als dunkle Quelle auch so lange danach einfach nicht versiegen? Was war ihre erste Erfahrung mit überbordender Gewalt? Sie muss nicht lange überlegen, das war in der Zeit, als sie noch zur Schule ging und vermutlich dreizehn Jahre alt war. Damals hatte es einen schweren Luftangriff auf Köln gegeben, und die Schulkinder vom Stadtrand wurden anschließend zum Dienst verpflichtet, sie mussten in einer Turnhalle in der Stadt Butterbrote für ausgebombte Familien schmieren. Meine Mutter weiß nicht mehr, wie sie danach jemals wieder in den Schlaf finden konnte, denn

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Warum all das aufschreiben? Für den Moment bin ich vermutlich zu nah dran, um eine wirklich durchdachte Antwort darauf zu geben, warum ich nicht nur zuhören, sondern auch festhalten

Der Tod meines Vaters, von dem noch zu berichten sein wird, liegt noch nicht lange zurück, gerade erst ein knappes Jahr. Auch in seinem Fall hatte ich das Glück, dass das Fenster längere Zeit weit offen stand. Das eigene Ende vor Augen, hat er rückhaltlos sein Leben bilanziert und auch von Schreckensmomenten berichtet, die er lange Zeit niemandem erzählen wollte. Um für sich den Deckel draufzuhalten, und sicher auch, um uns zu verschonen. Über etliche Tage hinweg habe ich im Krankenhaus an seinem Bett gesessen, meist in den Abendstunden, und dann hat

Seinerzeit habe ich es versäumt, das Erlebte sofort aufzuschreiben, was ich inzwischen bereue. Ich versuche es nun so gut es geht nachzuholen, auch weil ich inzwischen weiß, wie wenig selbstverständlich es ist, dass das Gespräch zwischen den Generationen am Lebensende glückt. Das gilt zumal für diese Elterngeneration, die als Jugendliche seelisch verwüstet aus dem Krieg herausgekommen sind, gewissermaßen unschuldig schuldig, und deren Lippen so lange fest versiegelt waren. Nicht selten für immer. Wie oft habe ich von Gleichaltrigen und erst recht von Angehörigen der 68er-Generation gehört, dass ihre Eltern bis zuletzt geschwiegen und ihre düsteren Geheimnisse mit ins Grab genommen haben. Und wir Nachgeborenen haben im Gegenzug den psychoanalytischen Begriff der »Verdrängung« trivialisiert und aus ihm einen pauschalen Vorwurf gemacht und nicht selten versäumt, genauer nachzufragen, was gewesen ist. Und wenn doch, dann häufig anklagend, unerbittlich, selbstgerecht. Als ob man sich als Jüngerer sicher sein könnte, in vergleichbarer Situation ganz anders gehandelt zu haben. Aber ich habe den Eindruck, dass sich in dieser Hinsicht momentan etwas dreht. Unter den jetzt noch lebenden Zeitzeugen gibt es nicht wenige, die doch noch auf der letzten Wegstrecke

Alles aufzuschreiben, scheint mir auch deshalb so wichtig, weil der Abtritt der Generation meiner Eltern zeitlich zusammenfällt mit der Wiederkehr der Hassbereiten und Geschichtsrevisionisten. Es ist natürlich kein Zufall, dass diese Stimmen jetzt erst lauter werden. Sie mussten warten, bis die historische Lektion derer, die genug Blut im Leben gesehen hatten, allmählich verblasst. Ein »Vogelschiss« soll die NS-Zeit gewesen sein in einer tausendjährigen Erfolgsgeschichte der Deutschen, heißt es jetzt. Die Deutschen könnten stolz sein auf die Leistungen von Wehrmachtssoldaten im Zweiten Weltkrieg. Noch vor wenigen Jahren wären solche Aussagen aus dem Munde eines Vorsitzenden einer im Bundestag vertretenen Partei undenkbar gewesen. Hier wird ein Konsens aufgekündigt, der bislang tragend war für die demokratische Kultur im Land. Schwindet das Bewusstsein dafür, wie total der moralische Bankrott war? Regt sich da wieder die uralte Lust an der Aggression?