Telegraph Avenue

Inhaltsverzeichnis

Wahrscheinlich Ishmael Reed.

I

in weißer Junge stand breitbeinig auf einem Skateboard, die Hand auf der Schulter eines schwarzen Jungen, der in die Pedalen eines Fahrrads ohne Bremsen und Schaltung trat und ihn zog. Ein früher, noch dunkler Augustmorgen, tiefes kalifornisches Flachland. Sirrende Reifen. Körniges Knirschen von Skateboardrädern auf Asphalt. Das sommerliche Berkeley mit seinem Geruch nach alten Damen, neun verschiedenen Sorten Jasmin und einem Spritzer Katzenpisse.

Der schwarze Junge stellte sich auf, ließ den Lenker los. Der weiße Junge koppelte den Waggon des kurzen Zuggespanns ab. Mit gekreuzten Armen griff der schwarze zum Saum seines T-Shirts und zog es sich über den Kopf. Verharrte unter dem Stoff, ohne jede Eile, und die beiden rollten weiter zur nächsten Lache ersterbenden Laternenlichts. Vielleicht würde der schwarze Junge sein T-Shirt bald ganz ausziehen und es wie eine Flagge aus dem Hosenbund flattern lassen. Der weiße Junge würde Schwung holen und mit der Hand nach der blitzenden braunen Haut tasten. Doch fürs Erste glitt er auf dem Skateboard nur hinter dem blinden Draufgänger her, in seinem Windschatten.

Mondgesichtig, massig und mild bekifft stand Archy Stallings, ein Baby auf dem Arm, in einem rehbraunen Kordanzug und einem kürbisfarbenen Rollkragenpullover, der seine berüchtigte, aber nicht unvorteilhafte Ähnlichkeit mit Gamera betonte, der riesigen fliegenden Mutantenschildkröte aus dem japanischen

Die Kunst des einhändigen Katalogisierens: eine LP aus der Kiste zupfen, die Schutzhülle aus dem Cover kitzeln. Finger in die Hülle schieben. Die Platte mit den Fingerspitzen kellnergleich herausjonglieren, lediglich das Label berühren. Sie in einem bestimmten Winkel in das durchs Fenster fallende Morgenlicht halten. Dieses gleichmäßige, entlarvende East-Bay-Licht, streng und nachsichtig zugleich, das nur zu gerne die Wahrheit über den Zustand einer Platte verriet. (Obwohl Nat Jaffe behauptete, es liege nicht am Licht, sondern an der Fensterscheibe, einer großen, soliden Platte Pittsburgher Glases, die über einen Zeitraum von mehr als sechzig Jahren, in dem das aktuell Brokeland Records beherbergende Ladenlokal als Spencer’s Barber Shop firmierte, gelernt hatte, jede Form von Bullshit gnadenlos zu entlarven.)

Archy groovte mit geschlossenen Augen, wiegte sich zum Gewicht des Babys, zum fetten Duft von Ringo Thielmanns Bassline, zur Erinnerung an die himmelwärts verdrehten Augen von Elsabet Getachew, die ihm am Vortag im privaten Speiseraum

»Armer Bob Benezra«, sagte Archy zu dem fremden Baby. »Hab ihn zwar nicht gekannt, aber er tut mir leid, so viele schöne Platten, wie er zurückgelassen hat. Deshalb bin ich Atheist, Rolando, wenn ich das ganze schöne Vinyl sehe, das der arme Kerl zurücklassen musste.« Das Baby war nicht zu klein, um den Abgrund, die nackte Wahrheit, die harte Wirklichkeit von Leben und Tod kennenzulernen. »Was ist das für’n Himmel, wo man seine Platten nicht mitnehmen kann?«

Vielleicht wusste das Baby, dass die Frage rein rhetorisch gemeint war, denn es machte keinerlei Anstalten, sie zu beantworten.

Zur Arbeit erschien Nat Jaffe, wie vielleicht fünf von elf Mal oder, großzügig gerechnet, vier von neun Mal, unter einer dunklen Wolke. Seine schlechte Laune war ein Astronautenhelm, der ihm aufgesetzt wurde, und der arme Nat saß darunter fest, ohne dass ihm irgendein Sensor signalisiert hätte, ob man in der Atmosphäre draußen atmen konnte, ohne Anzeige, die ihn warnte, wann sein Sauerstoffvorrat zur Neige ging. Er zog den Sperrriegel zurück, seine Schlüssel rasselten gegen die Tür, und er stürzte herein, gesenkten Kopfes, einen Karton Schallplatten unterm Arm, leise vor sich hin summend; summte die interessanten Akkordwechsel eines ansonsten lahmarschigen modernen Popsongs, summte eine zornige Mitteilung an den verlotterten Vermieter des Nagelstudios zwei Häuserblocks weiter oder an den Herausgeber der Oakland Tribune, deren Leserbriefseite

Er schloss die Tür, verriegelte sie von innen, setzte den Karton auf der Theke ab und hängte seinen dunkelgrauen Filzhut mit den hellgrauen Nadelstreifen an einen von neun zweiarmigen Stahlhaken, die ebenfalls aus der Zeit von Spencer’s Barber Shop stammten. Mit einem Finger fuhr er sich durch das dunkle Haar, dichter gekraust als das von Archy, am Ansatz schütter. Er drehte sich um, rückte seine Krawatte zurecht – eine coole breite, schwarz mit silbernen Punkten – und registrierte den Zustand von Kiste Nummer acht. Ließ den Kopf mehrmals auf den Halswirbeln rotieren, als verspräche das Knacken der Knochen und angespannten Muskeln Hoffnung auf Erlösung von dem, was auch immer ihn summen ließ.

Er ging nach hinten und verschwand durch einen Perlenvorhang, den sein Sohn Julie aufwendig mit dem Konterfei von Miles Davis als mexikanischem Heiligen bemalt hatte, das schmerzende Herz von Sankt Miles umwoben von einem Stacheldraht aus Dornen. Sicherlich nicht gerade naturgetreu (für Archy sah der Musiker eher aus wie Mookie Wilson), aber es konnte nicht leicht gewesen sein, ein Porträt auf Tausende zentimetergroße Perlen zu malen, und nur wenige außer Julius Jaffe würden jemals auf die Idee kommen, von dem Versuch ganz zu schweigen. Eine Minute später hörte Archy die Toilettenspülung, gefolgt von einem wütenden Hustenanfall, dann kam Julies Vater zurück nach vorne, bereit, sich einen neuen Tag um die Ohren zu schlagen.

»Wem gehört das Kind?«, fragte er.

»Welches Kind?«, fragte Archy.

Nat öffnete die Eingangstür und drehte das Schild, um der Welt mitzuteilen, Brokeland sei nun geschäftsbereit. Er ließ seinen Schädel noch eine Runde auf der Wirbelsäule drehen,

»Wir sind gefickt«, sagte er.

»Statistisch gesehen ziemlich wahrscheinlich«, erwiderte Archy. »Was meinst du damit?«

»Ich komme gerade von Singletary.«

Ihr Vermieter, Mr. Garnet Singletary, der King of Bling, verkaufte drei Türen weiter Goldzähne, Ringe und Ketten am Meter. Ihm gehörte der gesamte Häuserblock, dazu mindestens ein Dutzend weiterer Grundstücke in West Oakland: Einzelhandel, Gewerbe. Singletary war ein Informations-Wal, der seine Bahnen durch das Viertel zog, jeglichen Tratsch aufsog und mit seinen rastlosen Barten auf Nährstoffe absuchte. Nicht ein einziges Mal hatte er einen Dollar zwischen den Plattenkisten von Brokeland springen lassen, und trotzdem war er ein Stammkunde, der alle paar Tage vorbeikam, nur zur Kontrolle. Zur Überwachung des Gleichgewichts von Wahrheit und Bullshit im örtlichen Gewässer.

»Ja?«, fragte Archy. »Was hat Singletary denn gesagt?«

»Er hat gesagt, wir seien am Arsch. Jetzt mal im Ernst, warum hast du ein Baby auf dem Arm?«

Archy schaute auf Rolando English hinab, ein rostbraunes Kerlchen mit süßem Schmollmund und weichen braunen Ringellocken, die ihm ganz verschwitzt am Kopf klebten. Es steckte in einem blauen Einteiler und war in eine gelbe Baumwolldecke gewickelt. Archy hob Rolando English hoch und vernahm ein zufriedenes Schwappen in dessen Bauch. Die Mutter von Rolando English, Aisha, war die Tochter des King of Bling. Archy hatte ihr angeboten, den Vormittag über auf Rolando aufzupassen, vielleicht ein paar Dinge für das Kind einzukaufen und so weiter. Archys Frau erwartete nämlich ihr erstes Kind, und Archy hatte das Gefühl, dass er angesichts der drohend bevorstehenden Vaterschaft am ersten Oktober, dem errechneten Termin, ein bisschen Übung gebrauchen könnte, um so den Schock abzufedern, im Alter von sechsunddreißig zum praktizierenden Vater zu

»Das ist Rolando«, sagte Archy. »Habe ich von Aisha English ausgeliehen. Bis jetzt kann er noch nicht viel, aber er ist süß. Also, Nat, ich schließe aus ein, zwei deiner Aussagen, dass wir irgendwie am Arsch sind.«

»Ich habe Singletary getroffen.«

»Und der hat dir zu dieser Erkenntnis verholfen.«

Nat drehte die Kiste mit Platten herum, die er mitgebracht hatte, rund fünfunddreißig, vierzig Scheiben in einem Chiquita-Karton, und begann lustlos, sie durchzusehen. Zuerst nahm Archy an, Nat hätte sie von zu Hause hergeschleppt, Teile seiner Privatsammlung, die er verkaufen wollte, oder LPs, die er zur genaueren Begutachtung zu sich genommen hatte, denn die Grenzen zwischen dem Privatbestand der beiden Besitzer und dem Inventar des Ladens waren fließend. Doch jetzt sah Archy, dass es sich lediglich um Spenden handelte. Eine Platte von Juice Newton, eine schlechte späte Aufnahme der Commodores, ein Weihnachtsalbum der Care Bears. Müll, Asphaltfrüchte, der kümmerliche Rest eines Garagenverkaufs. Ständig wurden die beiden Kollegen von verwaisten Plattensammlungen gerufen; wo auch immer das Schicksal sie vergessen hatte, sandten sie ein Notrufsignal aus, das nur Nat und Archy hören konnten. »Selbst wenn der Kerl in die Antarktis ginge«, hatte Aviva Roth-Jaffe einmal über ihren Mann gesagt, »würde er mit einer Kiste Schellackplatten zurückkommen.« Jetzt stöberte Nat in seinem

»Andy Gibb«, sagte Nat, ohne die beiden Worte überhaupt mit Verachtung zu befrachten, setzte nur geisterhafte Anführungsstriche um den Namen, als wäre er ein bekanntes Pseudonym. Er zog ein Exemplar von After Dark heraus (RSO, 1980) und hielt es Rolando English zur Begutachtung hin. »Magst du Andy Gibb, Rolando?«

Rolando English schien das letzte Album des jüngsten Gibb-Bruders mit größerer Aufgeschlossenheit zu betrachten als sein Gesprächspartner.

»Süß ist er wirklich, da hast du recht«, sagte Nat in einem Ton, der spüren ließ, dass das Thema für ihn damit erledigt war, als hätte er sich mit Archy gestritten, was, soweit sich Archy erinnern konnte, nicht der Fall war. »Gib mal her.«

Archy reichte Nat den Kleinen und spürte den Krampf in der Schulter erst, als er das Kind losgelassen hatte. Nat fasste das Baby mit beiden Händen unter den Armen und hob es hoch, Auge in Auge, Rolando English konnte das Köpfchen schon sehr gut halten und erwiderte Nats Blick mit derselben Bereitwilligkeit, sein Gegenüber einen guten Mann sein zu lassen – Andy Gibb, Nat Jaffe, egal wen. Nats Summen wurde sanft und einschläfernd, als sich die beiden musterten. Klein Rolando fühlte sich angenehm fest an, ein Bündel aufgerollter Socken in einer großen Socke, dösig und schläfrig, nicht so ein zappeliges, dürres Hühnchen, wie man sie manchmal sah.

»Ich hatte auch mal ein Baby«, erinnerte sich Nat schwermütig.

»Ich weiß.« Das war ungefähr zu der Zeit, als Archy Nat kennenlernte, als sie auf einer Hochzeit im Naturfreunde-Club auf der Joaquin Miller Road spielten. Archy, gerade zurück vom Golf, tauchte in letzter Minute als Ersatzmann für Nats

»Babys sind cool«, sagte Nat. »Die können Eskimo-Küsse.« Nat und Rolando versuchten es, Nase an Nase, der Kleine hing in der Luft, ließ es sich gefallen. »Doch, Rolando ist in Ordnung.«

»Fand ich auch.«

»Hält das Köpfchen schon gut hoch.«

»Ja, nicht?«, sagte Archy.

»Deshalb nennt man ihn auch ›Köpfchen-Roli‹. Stimmt’s? Ja, klar! Köpfchen-Roli. Er ist zum Auffressen.«

»Wenn du meinst. Ich fresse eigentlich nicht so oft Babys.«

Nat musterte Archy so, wie Archy die A-Seite von Kulu Sé Mama (Impulse, 1967) des verstorbenen Bob Benezra musterte: auf der Suche nach Gründen, sie abzuwerten.

»So, und? Bist du am Üben? Ist das der Sinn?«

»Das sollte der Sinn sein.«

»Und, wie klappt es?«

Archy zuckte die Achseln, und die Geste geriet zu einem Ausdruck bescheidenen Heldenmuts, so wie man vielleicht mit den Achseln zucken würde, wenn man gefragt wurde, wie in Gottes Namen man es nur geschafft habe, hundert Waisenkinder in einer brennenden Frachtmaschine vor dem Zusammenstoß mit

Den Hintern abwischen, Nestlé-Milch durch einen Nuckel-Aufsatz drücken, mit einem Spucktuch das feuchte Bäuerchen aufwischen – das alles waren bloß Aufgaben und Abläufe, eine Aneinanderreihung von Schritten, genau wie im restlichen Leben. Zu erledigende Pflichten, auszuhaltende Langeweile, durchzustehende Schichten. Das Hirn einschalten und eine komplizierte Taktangabe auf On the Corner (Columbia, 1972) oder einen der obskureren Abschnitte der Meditationen begreifen (momentan las Archy zum 93. Mal Mark Aurel), sich einhändig durch eine Kiste mit interessanten Schallplatten kramen, und ehe man sich versah, war Schlafenszeit, Mami kam nach Hause, und man durfte wieder tun, was einem Spaß machte. Es war wie bei der Armee: vorsichtig sein, den eigenen Grips kühl und trocken zwischenlagern und durchhalten, bis es vorbei war. Nur dass es natürlich (und das erkannte Archy jetzt mit einer offensiv losstürmenden Panik, die ihm bereits seit Monaten schöne Augen machte, meistens um drei Uhr morgens, wenn das ruhelose Gewälze seiner schwangeren Frau ihn im Schlaf störte, einer Panik, die er durch die praktische Übung mit Rolando English hatte in den Griff bekommen wollen, umsonst, wie er nun merkte), dass es natürlich niemals vorbei sein würde. Niemals wäre man damit durch, Vater zu sein, egal wo man seinen Grips zwischenlagerte oder wie viele Schritte man tat. Nicht mal, wenn man starb. Lebendig oder tot oder tausend Meilen entfernt, nie verlor man die Verantwortung für dieses Werk, das weder eine Aufgabe noch eine Aneinanderreihung von Schritten war, sondern eher etwas, das die volle, ungeteilte

»Tja«, sagte Nat. Kurz verlor der Draht in ihm an Spannung. »Babys sind süß. Dann werden sie groß, hören auf zu duschen und wichsen in ihre Socken.«

Ein Schatten fiel auf die Türscheibe, und herein kam mit Trauermiene S. S. Mirchandani. Der Mann hatte wirklich ein Gesicht, das wie geschaffen fürs Trauern war: Tränensäcke, Hängebacken, einen Tintenfleck von Bart, in dem sich der Gram sammelte.

»Die Herren«, sagte er, immer ein wenig elegisch und korrekt in seiner Art, das Englisch der Queen zu sprechen, eingedenk einer besseren, zivilisierteren Zeit, »sind am Arsch.«

»Das habe ich jetzt schon öfter gehört«, sagte Archy. »Was ist passiert?«

»Dogpile«, erwiderte Mr. Mirchandani.

»Scheiß Dogpile«, bestätigte Nat und fing wieder an zu summen.

»In einem Monat soll es losgehen.«

»In einem Monat?«, fragte Archy.

»Nächsten Monat! Das habe ich zumindest mehrfach gehört.

»Scheiß Gibson Goode«, sagte Nat.

Zu einer Pressekonferenz an der Seite des Bürgermeisters sechs Monate vor diesem Vormittag war Gibson »G Bad« Goode, ehemaliger Quarterback der Pittsburgh Steelers, Geschäftsführer und Vorsitzender von Dogpile Recordings und Dogpile Films, Präsident der Goode Foundation und fünftreichster Schwarzer in Amerika, in einem nach seinen Wünschen gebauten schwarz-roten Luftschiff nach Oakland geflogen und hatte nur so gesprudelt vor Plänen, auf dem seit Langem brachliegenden Grundstück des ehemaligen Golden State Market an der Telegraph Avenue einen zweiten »Thang« seiner Dogpile-Kette zu eröffnen, zwei Querstraßen südlich von Brokeland Records. Der »Thang« in Oakland sollte noch größer als die riesige Filiale in der Nähe von Culver City werden, sollte ein Multiplex-Kino mit zehn Sälen, eine Fressmeile, eine Spielhalle und eine Ladengalerie mit zwanzig Geschäften beherbergen, die sich um den dreistöckigen Dogpile-Medienmarkt mit jeweils einer Etage für Musik, Videos und Diverses (hauptsächlich Bücher) gruppierten. Wie der Dogpile in Fox Hills sollte der Flagshipstore in Oakland ein solides Medienangebot für das breite Publikum bereithalten, würde sich aber auf afroamerikanische Kultur spezialisieren, »in ihrem mannigfaltigen Reichtum«, wie Goode sich auf der Pressekonferenz ausgedrückt hatte. Goode hatte tiefe Taschen, und seine Großmachtpläne paarten sich mit einem Gespür für soziale Zwecke; die eigentliche Idee hinter dem Dogpile-Komplex sei es nicht, Geld zu verdienen, sondern mit einem Streich das gewerbliche Kernstück eines schwarzen Viertels zurückzuerobern, das in den glorreichen Tagen des kalifornischen Highwaybaus abgetrennt worden war. Unausgesprochen auf der Pressekonferenz, aber abzuleiten aus der Vorgehensweise des Komplexes in L. A. war die Absicht des Medienriesen, CDs nicht nur zu günstigen Preisen zu verkaufen, sondern auch eine breite Palette seltener Secondhandware anzubieten, zum Beispiel alte

»Aber ihm fehlen noch die ganzen Genehmigungen und so«, gab Archy zu bedenken. »Mein Kumpel, Chan Flowers, hat ihn richtig am Arsch wegen Umweltschutz, Verkehrsaufkommen und so ’m Kram.«

Der Inhaber und Direktor des Bestattungsinstituts Flowers & Sons, direkt gegenüber dem zukünftigen Dogpile-Grundstück an der Telegraph Avenue gelegen, war Stadtrat in Oakland. Anders als Singletary war Stadtrat Chandler B. Flowers ein Plattensammler, ein spendabler Fanatiker, und auch ohne seine Gründe für die angekündigte Ablehnung des Dogpile-Antrags richtig zu verstehen, hatten die beiden Inhaber von Brokeland sich auf sein mehrfach erneuertes Versprechen verlassen.

»Aus irgendeinem Grund hat der Stadtrat wohl seine Meinung geändert«, sagte S. S. Mirchandani mit bester James-Mason-Stimme: elegant-verschlagen und menschenmüde, bitte ohne Wermut.

»Hm«, machte Archy.

Es gab niemanden in West Oakland, der abgewichster gewesen wäre oder mehr Einfluss gehabt hätte als Chandler Flowers; Einschüchterung konnte also kaum der Grund sein, wenn er seine Meinung änderte.

»Ich weiß nicht, Mr. Mirchandani. Dem Kollegen steht ’ne Wahl ins Haus«, sagte Archy. »Die Vorwahlen hat er so gerade überstanden. Kann sein, dass er versucht, die Basis zu mobilisieren, die Leute ein bisschen aufzurütteln. Mehr Leben ins Viertel zu bringen. Ein bisschen Glanz von Gibson Goode abzubekommen.«

»Bestimmt«, sagte Mr. Mirchandani, doch seine Augen sagten: nie und nimmer. »Es gibt bestimmt eine ganz einfache Erklärung.«

Er meinte natürlich Bestechung. Schmiergeld. Jeder, dem es wie Mr. Mirchandani gelang, für einen steten Zustrom von Cousins, Neffen und Nichten aus dem Punjab zu sorgen, die in amerikanischen Motels Betten machten oder an Tankstellen Autos

»Jedenfalls ist es zu spät, oder?«, sagte Archy. »Der Deal ist doch angeblich geplatzt. Die Bank hat kalte Füße bekommen. Die Finanzierung wäre nicht mehr gesichert, oder so ähnlich.«

»Ich verstehe ja nicht viel von Football«, sagte S. S. Mirchandani. »Aber ich habe gehört, dass Gibson Goode zu seiner Zeit als Quarterback recht berühmt dafür war, die Tackler der Verteidigung auszuspielen.«

»Sein legendäres Option Play«, sagte Nat. »’ne Zeit lang war er damit so gut wie nicht zu kriegen.«

Archy nahm Nat Jaffe das Baby wieder ab.

»G Bad war ein schlüpfriger Wichser«, stimmte er ihm zu.

Mr. Nostalgia, vierundvierzig, Walrossschnauzer, Opabrille, XXL-Hawaiihemd (Muster: Palmen, Strandgras, Oldtimer mit Surfbrettern), stand hinter dem Day-Glo-Patchwork seines Fünfhundert-Dollar-Ausstellungstisches an einem Gang mit poliertem Betonboden, drei Plätze entfernt von der Autogrammecke. Über ihm hing ein zwei Meter fünfzig langes Banner mit der Aufschrift MR. NOSTALGIAS REFUGIUM, er kaute einen schwedischen Fisch und traute seinen Augen nicht.

»Yo!«, rief er, als sich der Gorillatrupp seinem Tisch näherte: zwei muskelbepackte weiße Securitytypen in blauen Polyester-Blazern, dazu ein schwarzer Koloss, Gibson Goodes persönlicher Leibwächter, dessen Oberarmumfang den Stoff seines

»Klar«, sagte der Mann, den sie aus der Halle eskortierten. Als sie näher kamen, sah Mr. Nostalgia, dass er es wirklich war: dreißig Jahre älter, zehn Kilo leichter, vierzig Watt trüber vielleicht, aber er war es. Der rote Trainingsanzug eine Nummer zu klein, schien der Mann nur aus Handgelenken und Knöcheln zu bestehen. Jackenbund hinten hochgewandert, darüber ein aufgeflocktes Logo in Gelb, zwei geballte Fäuste, umkreist von den Worten BRUCE-LEE-INSTITUT OAKLAND. Groß und breitschultrig, federnder Gang, hoch und runter. Zur Schau gestellte Würde, die Mr. Nostalgia rührend, wenn nicht gar überzeugend fand. Alle starrten den Mann an, all die Typen mit Bierbäuchen, Rückenbehaarung und teigig weichen Gesichtern, schütterem Haar, Herbstlaub in den Herzen. Schauten hoch von den Kisten mit alten Ausgaben der Inside Sports, von gerahmten »Terrible Towels« der Pittsburgh Steelers, unter denen Bronzeplaketten die schwarzen Filzstift-Krakel auf gelbem Nicki als Unterschriften ihrer Helden auswiesen. Die Leute hoben den Blick von den Tischen, auf denen die ersten Footballkarten von den Idolen ihrer Jugend (Pete Marvich, Robin Yount, Bobby Orr) lagen oder ungeöffnete Päckchen von 1971er Topps-Baseballkarten, deren zarte schwarze Kanten makellos wie die Erinnerung waren, oder ’86er Fleer-Basketballkarten, die einen potenziellen neuen Michael Jordan präsentieren mochten. Alle Besucher sahen zu, wie dieser große grauhaarige Schwarze, an den sie sich noch schwach erinnerten, ein Gesicht aus ihrer Jugend, achtkantig aus der Halle geworfen wurde. Der Typ hatte sich in der Autogrammecke angestellt. Hat eben mit Gibson Goode gesprochen, wurde etwas lauter. Ach, ja, das ist doch der Dingsbums. Muss man schon sagen, das arme Schwein hat sich nicht unterkriegen lassen. Immer erhobenen Hauptes unterwegs. Und dieses Kinn – doch, das ist er – mit dem Kirk-Douglas-Grübchen. Die hellen Augen. Die Hände, Herrgott, wie zwei entwurzelte Bäume.

»Die Herren können sich glücklich schätzen«, rief Mr. 

»Wahnsinn«, sagte der jüngere der beiden Gorillas, dessen Kopf so glatt rasiert war wie die Eier eines Pornostars. »’ne Eintrittskarte braucht er trotzdem.«

Mr. Nostalgia war kein Unruhestifter. Er rauchte gerne verschreibungspflichtiges Indica-Cannabis, sah sich Fernsehsendungen über den Zweiten Weltkrieg an, mochte schwedischen Fisch und hörte The Grateful Dead, das alles in jedmöglicher Kombination. Zweifellos hatte er Probleme mit Autoritäten, sicher, sein Vater hatte zwei Lager überlebt, seine Mutter am Marsch auf Washington teilgenommen, auch war Mr. Nostalgia nicht in der Lage, dauerhaft eine Position zu besetzen, in der es einen Chef über ihm gab. So gewaltig sein Körperumfang auch sein mochte, Mr. Nostalgia brachte es in seinen Huaraches doch nur auf einen Meter achtundsechzig und war nicht unbedingt in kampfbereiter Verfassung. Seine einzige verlässlich funktionierende Technik, wollte man daraus einen Kung-Fu-Stil entwickeln, wäre wahrscheinlich der zusammengerollte Igel. Mr. Nostalgia mied Auseinandersetzungen, Streitigkeiten, Kneipenschlägereien und außerwie innerhäusiges Kräftemessen. Er verurteilte Gewalt, außer die 1944er Schwarz-Weiß-Version im Fernsehen. Er war ein Geschäftsmann mit tadellosem Leumund und langer Tradition und hatte bei den Organisatoren der »East Bay Sports and Card Show« eine saftige Gebühr berappt, die zum Teil in das Sicherheitsgefühl und den Seelenfrieden floss, den diese Gorillas im blauen Sakko zumindest theoretisch gewährleisten sollten. Denn Seelenfrieden, nun mal ehrlich, war nicht einfach nur ein schönes Wort, sondern ein würdevolles Streben, das Ziel von Religionen, das Versprechen von Versicherungen. Aber Mr. Nostalgia war, wie er später seiner Frau erklären sollte (die lieber eine ganze Schüssel Ebolakeime essen würde, als noch mal eine Kartenmesse zu besuchen), höchst empört über den groben Umgang, den ein Held seiner Jugend

Er kam hinter dem Schutzwall seines Refugiums hervor – wie ein Buffet in Las Vegas üppig bestückt mit erstklassigen Angeboten im Non-Sports-Bereich, die er zu seiner Spezialität gemacht hatte, darunter die komplette Serie der 1971er Getting-Together-Karten von Bobby Sherman mit der sehr schwer erhältlichen Nr. 54. Mr. Nostalgia schob sich gleitend auf eine behäbige Art voran, die im Laufe der Jahre mindestens einen hartherzigen Beobachter zu der Bemerkung verleitet hatte, bei dem Rosenfestival in Pasadena fehle offenbar ein Motivwagen.

»Moment, ich besorge dem Mann eine Eintrittskarte«, rief er den sich entfernenden Wachleuten nach.

Gibson Goodes Leibwächter sah sich eine halbe Sekunde lang über die Schulter um, als wollte er sich überzeugen, doch nicht in Hundescheiße getreten zu sein. Die Gorillas in den blauen Sakkos gingen weiter.

»Hey, yo!«, rief Mr. Nostalgia. »Kommt schon, Jungs! Das ist Luther Stallings!«

Es war Stallings, der als Erster stehen blieb, die Fersen in den Boden stemmte, sich seinen Häschern widersetzte und zu seinem Retter umdrehte. Sein berühmtes Lächeln – jetzt löchrig und fleckig und durch Drogen oder Gefängnisärzte oder vielleicht auch nur durch die Sorte Armut, bei der man die Eintrittsgebühr von acht Dollar zu umgehen sucht, fast völlig seines Charmes beraubt – versetzte Mr. Nostalgia einen Stich hinterm Brustbein.

»Vielen Dank, guter Mann«, sagte Stallings mit Nachdruck, um die Gorillas zu beschämen. »Mein lieber Freund …«

Mr. Nostalgia nannte seinen richtigen Familiennamen, der lang, jüdisch und komisch war, die Bezeichnung einer Käsesorte oder von gesäuertem Brot. Stallings wiederholte ihn fehlerfrei

»Mein Freund hier«, erklärte Stallings und befreite sich von den Gorillas, wie ein Entfesslungskünstler sich aus einer Zwangsjacke wand, »hat sich freundlicherweise erboten, mir den Eintritt vorzustrecken.«

Leicht ansteigende Betonung, fast ein Fragezeichen am Ende. Um sicherzugehen, richtig verstanden zu haben.

»Allerdings«, sagte Mr. Nostalgia. Er erinnerte sich daran, wie er im Carson-Twin-Kino an einem Samstagnachmittag vor dreißig Jahren tief in einen speckigen Polstersitz gesunken war, auf seiner Brust ein großer Elephant of Joy, und sich einen Film namens Night Man angesehen hatte, der fast ausschließlich schwarz besetzt gewesen war (auch das Publikum bestand fast ausschließlich aus Schwarzen). Wie er sich noch in das kleinste Detail des Films verliebt hatte. Das Mädchen mit dem silbernen Afro. Die handfesten Schlägereien. Die funkige Filmmusik. Die Verfolgungsjagd mit dem grünen 1972er Saab Sonett, der in Höchstgeschwindigkeit durch Straßen raste, in denen man Carson in Kalifornien erkannte. Die Aufmachung, Ausrüstung und Sprengstoffe der Bankräuber. Und, eindrucksvoller als alles andere, der Star des Films, schlaksig, still und verwegen wie ein von McQueen gespielter Held, mit derselben Bereitschaft, sich lächerlich zu machen, was dasselbe war wie Charme. 1973 unbestritten ein Meister des Kung-Fu. »Es ist mir wahrlich eine Ehre.«

Die Gorillas umringten Mr. Nostalgia, richteten ihre Sucher auf ihn, scannten den grünen Ausstellerpass, der an einem Band um den Hals des Kartenhändlers hing. Die Mienen wurden dumpf, verloren etwas von ihrer gelangweilten Großkotzigkeit, während sie sich zu erinnern versuchten, was im offiziellen Handbuch für Gorillas über diese Situation stand.

»Er hat Mr. Goode belästigt.« Goodes Leibwächter trat vor, um die Moral an der Gorilla-Front zu stärken. »Wenn Sie dem ’ne Eintrittskarte kaufen«, erklärte er Mr. Nostalgia, »dreht er sofort um und belästigt ihn wieder.«

»Belästigt?«, sagte Luther Stallings, fast verzweifelt vor

»Ein persönliches Autogramm von Mr. Goode kostet fünfundvierzig Dollar«, erklärte der Leibwächter. Trotz seines Körperumfangs, seiner Größe und allgemeinen Monstrosität hatte er eine sanfte, geduldige Stimme, denn er wurde letztlich dafür bezahlt, Spinner zu ertragen. Für eine spinnerfreie Zone rund um G Bad zu sorgen, ohne dass sein Arbeitgeber wie ein Arschloch wirkte. »Wie wollen Sie das zahlen, wenn Sie nicht mal acht haben?«

»He, yo, Kumpel«, sagte Stallings und sprach den Namen von Mr. Nostalgia erneut korrekt aus, abermals begleitet von einem schmerzenden Aufblitzen – jedenfalls für Mr. Nostalgia – seines verunstalteten Lächelns. Was auch immer dieser Mann getan hatte, abgesehen vom schlichten Älterwerden, um im Vergleich zu seiner Glanzzeit so radikal geschwunden, so ausgezehrt zu wirken – es schien sein Gedächtnis nicht zu beeinträchtigen. »Ich hoffe, ähm, ich frage mich«, jetzt ging er mit dem Fragezeichen aufs Ganze, »ob ich Sie vielleicht überzeugen könnte, mir da auszuhelfen?«

Mr. Nostalgia machte einen Schritt nach hinten, eine unwillkürliche Bewegung, tief verankert durch jahrelanges Gefeilsche mit den Zockern und Gaunern, den Schnorrern und Hartgeldkünstlern, die die Welt der Kartenbörsen bevölkerten wie Rüsselkäfer das Mehl. Es gab doch einen Unterschied von mehr als nur 37 Dollar zwischen der Übernahme des Eintrittsgeldes, einer Geste des Respekts, und der Bereitschaft, dem Mann das Geld für ein Autogramm ausgerechnet von Gibson Goode vorzustrecken. Mr. Nostalgia versuchte sich zu erinnern, ob er jemals gesehen oder auch nur gehört hatte, dass ein Prominenter (wie vergessen auch immer) gewillt war, Schlange zu stehen, um Bargeld für die Unterschrift eines anderen Prominenten

»Vielleicht habe ich noch etwas Besseres«, sagte Mr. Nostalgia.

Er griff in die Gesäßtasche seiner kurzen Jeans und zog einen gefalteten, verschwitzten Umschlag hervor. Darin befanden sich die beiden anderen grünen Ausweise zum Umhängen, zu denen ihn seine Teilnehmergebühr berechtigte. Er fischte einen Ausweis heraus und drängte sich durch die Wand aus Gorillas. Luther Stallings neigte den Kopf, offenbarte dabei eine beginnende kahle Stelle wie die von Nelson Mandela, und Mr. Nostalgia verlieh ihm den Ausweis – der Zauberer von Oz schenkte dem Löwen Mut.

»Mr. Stallings ist heute mein Mitarbeiter«, sagte er.

»Das stimmt«, sagte Stallings sofort, und es klang nicht nur aufrichtig, sondern eifrig, so als freute er sich schon seit Tagen darauf, an Mr. Nostalgias Stand auszuhelfen. Flüchtig war sein Blick über den Ausweis gehuscht, als Mr. Nostalgia ihn umhängte, sodass er jetzt geistesgegenwärtig ergänzte: »In Mr. Nostalgias Refugium.«

»Als was?«, fragte der ältere der beiden Gorillas.

»Er hat heute eine Autogrammstunde an meinem Stand«, erklärte Mr. Nostalgia. »Ich habe eine komplette und eine nicht komplette Serie, ohne Bruce Lee, von den Masters of Kung Fu, dazu noch ein paar andere Sachen, die zu signieren sich Mr. Stallings freundlicherweise bereit erklärt hat. Eine Filmkarte von Black Eye, meine ich.«

»Masters of Kung Fu.« Stallings bekam es noch gerade hin, nicht so zu klingen, als hätte er absolut keine Ahnung, wovon Mr. Nostalgia sprach.

»1976, von Donruss. Schwer zu kriegen.«

Vier ahnungslose Blicke suchten Erhellung bei Mr. Nostalgia.

»Hallo, Leute!«, sagte Mr. Nostalgia mit einer kreisförmigen Handbewegung, die den hallenden Raum um ihn herum einbezog. »Sammelkarten! Kleine Pappvierecke! Kaugummi draufkleben, zwischen die Speichen vom Rad schieben, dann hört es sich wie eine Harley Davidson an – kennt ihr nicht?«

»Scheiße, echt?« Stallings konnte den Mund nicht halten. »Bei Masters of Kung Fu ist echt ein Luther Stallings dabei?«

»Natürlich«, erwiderte Mr. Nostalgia.

»Luther Stallings.« Der ältere der beiden blauen Sakkos hatte strähniges dunkles Haar und den Blumentopfschädel sowie das dreieckige Kinn eines Russen oder Polen und war ungefähr so alt wie Mr. Nostalgia. Er ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. Verzog eine Seite des Gesichts, als schraubte er sich eine Lupe in die Augenhöhle. »Ah, ja. Wie hieß der noch mal? Strutter. Im Ernst, das sind Sie?«

»Meine erste Rolle.« Sofort ergriff Stallings die unerwartete Gelegenheit zum Prahlen. Genoss es. Legte seine riesige

»Was für ein Titel? In Kung-Fu?«

»Den gab’s damals noch nicht. Nein, in Karate. In Manila. Weltmeister.«

»Weltmeister im Scheißeerzählen«, sagte Goodes Bodyguard. »Das glaube ich sofort.«

Stallings ignorierte den Riesen einfach. Mr. Nostalgia, inzwischen so was von selbstzufrieden, versuchte, es ihm gleichzutun.

»Sind wir hier fertig, die Herren?«, fragte Stallings die blauen Sakkos.

Die Security-Typen in den blauen Jacken rückversicherten sich beim Leibwächter, der angewidert den Kopf schüttelte.

»Ich sag Ihnen was, Luther«, sagte der Bodyguard. »Wenn Sie auch nur ’nen Popel in die grobe Richtung von Mr. Goode schnipsen, mach ich Sie fertig, Sie Scheißkerl. Und dann kenn ich keine Gnade.«

Er wandte sich ab und begab sich mit duldsam wiegendem Schritt zurück an den Signiertisch, wo sein Chef saß, den Schädel zu Stoppeln rasiert. Gibson Goode trug ein schwarzes Polo mit einem roten Pfotenabdruck an der Stelle, wo sonst der Alligator prangte, und arbeitete sich mit nichts als einem silbernen Marker und einem kostspieligen Lächeln durch eine eindrucksvoll lange Schlange von Autogrammjägern. Verschlissene Trikots, abgewetzte Footbälle, Karten, Baseballkappen, heute würde er neun- bis zehntausend machen.

»Ja, klar«, sagte Stallings, als wäre ihm Gibson Goode so was von egal.

Mit einem überraschenden Maß an Stolz folgte er Mr. Nostalgia an den Stand. Man hätte meinen können, der Mann hätte sich gerade selbst davor bewahrt, von den Gorillas aus der Halle geworfen zu werden. Nüchtern erkannte Mr. Nostalgia, dass er sich darüber ärgern sollte, doch irgendwie tat ihm Stallings

»Wow, guck dir das an!«

Stallings’ Blick wanderte über den Tisch, registrierte die versiegelten Päckchen mit Bildern der Garbage Pail Kids und von Saturday Night Fever, das ungeöffnete Kästchen mit Sammelkarten von Der Wüstenplanet, die Gesellschaftsspiele von Daktari, Mein Freund Ben und Mork vom Ork, den sprechenden Batman-Wecker, die Aurora-Actionfiguren von Spindrift und Seaview in der Original-Blisterpackung.

»Es gibt sogar Karten von diesem ALF?«, sagte er.

In den Ohren von Mr. Nostalgia klang Stallings’ Stimme bei dieser Feststellung wie sein Gesichtsausdruck: unglücklich, ja verloren. Es war nicht die Verachtung, die seine Frau gegenüber seinem Warenbestand an den Tag legte, sondern eher so etwas wie Enttäuschung.

»War früher ganz normal für ’ne beliebte Serie«, erklärte Mr. Nostalgia und fragte sich, wann Stallings ihn auf die 45 Dollar ansprechen würde. »Ist nicht viel Interessantes drin.«

Mr. Nostalgia liebte die Dinge, die er verkaufte, aber er machte sich keine Illusionen, was ihren Wert betraf. Sie waren nur das wert, was man für sie bezahlte; wie viel man verloren zu haben meinte, das sie wiederzubringen versprachen. Ihr Wert war an die persönliche Empfindung von Vollständigkeit, von seelischer Vollkommenheit gekoppelt, die einen überflutete, wenn man endlich die letzte Lücke auf der Liste abhakte. Aber Mr. Nostalgia hatte noch nie gesehen, dass seine Non-Sports-Karten einen Menschen so abgrundtief enttäuschten.

»ALF, ja, den kenne ich noch«, sagte Stallings. »Nett. Unser lautes Heim, Mork vom Ork, aha. Wo sind die Masters of Kung Fu?«

Mr. Nostalgia ging herum zu einer Kiste, die er nach dem Aufbauen am Morgen unter dem Tisch verstaut hatte, und wühlte darin herum. Nach einer Minute holte er eine unvollständige Serie hervor, es fehlten die Karten von Lee und Norris.

»Die Serie hat 52 Karten«, sagte er. »Sie sind Nummer, keine

Stallings blätterte durch die Karten, deren Abbildungen, eingerahmt von Comic-Bambuswedeln und bedruckt in fiktiver chinesischer Schrift wie die Speisekarte vom Lieferdienst, eine ziemlich willkürliche Auswahl echter und fiktiver Meister von einem Dutzend Kampfsportarten zeigten (Tak Kubota, Shang Chi), dazu die namensgebende Kunst inklusive Bartitsu (Sherlock Holmes) und Savate (Graf Baruzy). Schließlich entdeckte Stallings seine Karte. Betrachtete das Bild, gab einen Laut von sich, ein Schnauben, durch die Nase. Es war ein Szenenfoto aus einem seiner Filme, in Farbe, schlecht wiedergegeben. Ein junger Luther Stallings flog in rotem Kung-Fu-Anzug quer durch das Bild auf eine Reihe chinesischer Schwertkämpfer zu, Füße voran, fast waagerecht.

»Verdammt«, sagte Stallings. »Ich weiß nicht mal mehr, aus welchem Film das ist.«

»Nehmen Sie’s mit«, sagte Mr. Nostalgia. »Nehmen Sie die ganze Serie. Schenke ich Ihnen, für die große Freude, die Ihre Arbeit mir im Laufe der Jahre bereitet hat.«

»Wie viel bekommen Sie dafür?«

»Also, die Serie ist, wie gesagt, schwer zu kriegen. Ich verlange fünf, aber bekomme wahrscheinlich nur drei. Mit Bruce Lee und Chuck Norris könnte ich bis sieben fünfzig gehen.«

»Chuck Norris? Tja, gegen den Schweinehund bin ich angetreten. Dreimal.«

»Ohne Scheiß?«

»Hab ihn durch ganz Taipeh geprügelt.«

Mr. Nostalgia dachte kurz darüber nach, das zu prüfen, beschloss dann aber, jenen bislang unangetasteten, kostbaren Ort in seinem laubverdeckten Herzen unberührt zu lassen.

»Bitte«, sagte er. »Sie gehört Ihnen.«

»Hey, super, danke. Echt nett von Ihnen. Aber nehmen Sie’s mir nicht übel, ich hab schon so viel, ähm, Gepäck dabei, wissen Sie, den ganzen Kram von früher, den ich mit mir rumschleppe.«

»Oh, ja, sicher …«

»Ich will einfach nicht noch mehr rumschleppen.«

»Das verstehe ich absolut.«

»Muss flexibel bleiben.«

»Ja, sicher.«

»Mit wenig Gepäck reisen.«

»Auf jeden Fall.«

»Wie viel …«, Luther Stallings senkte die Stimme fast zu einem Flüstern. Schluckte, begann von Neuem, nun lauter. »Wie viel bekommen Sie für meine Karte allein?«

»Oh, ah«, sagte Mr. Nostalgia und erkannte ein oder zwei Mikrosekunden zu spät, dass er würde lügen müssen. »Hundert. Neunzig, hundert Dollar.«

»Ohne Scheiß?«

»So um die neunzig.«

»Aha. Ich sag Ihnen was. Sie schenken mir nur diese eine Karte. Luther Stallings in – ich rate mal einfach drauflos und sage, es war in Der lautlose Panther.«

»Muss daraus sein.«

Mr. Nostalgia spürte, dass es wieder losging, dieses Spiel, das Luther Stallings mit ihm zu spielen versuchte und irgendwie auch mit Gibson Goode.

»Und ich unterschreib sie Ihnen, ja?« Jetzt kam es. »Dann tausche ich sie zurück, für fünfundvierzig Dollar.«

»Gut«, sagte Mr. Nostalgia, unerklärlich traurig, zermalmt vom Gewicht eines Dickhäuters der Trauer, der ihn und Stallings und jeden anderen Mann unter sich begrub, der in dieser Halle seinen einsamen Weg inmitten vom Moder und Staub der Kisten ging. Die Welt der Kartenbörsen war für Mr. Nostalgia immer wie eine echte Kameradschaft gewesen, eine Liga einsamer Männer, vereint in ihrem Streben nach dem verlorenen Glanz einer vergangenen Welt. Jetzt erschien ihm diese Vorstellung bestenfalls eine Einbildung, schlimmstenfalls eine Lüge zu sein. Die Vergangenheit war unwiederbringlich fort, die Liga der einsamen Männer eine Fiktion, das Streben nach der Vergangenheit ein verzweifelter Versuch, der Sterblichkeit ein

»Wenn Sie es so wollen«, sagte er. Er hatte prinzipiell nichts dagegen, den Fünf-Dollar-Wert von Stallings’ Karte um den Faktor drei oder vier zu steigern. Aber als er Stallings den Stift mit goldener Tinte reichte, ein Geschenk seiner Großeltern zur BarMizwa, den er gerne benutzte, wenn er etwas für seine eigene Sammlung signieren ließ, da wünschte er sich, nie hinter seinem Tisch hervorgekommen zu sein, sondern Luther Stallings einfach von den Wachleuten an Mr. Nostalgias Refugium vorbeischleppen und aus dem Kaiser Center entfernen lassen zu haben.