Für Brigitte und Rolf,
die mir das Leben auf der Welt schenkten.
Für Christine und Clive,
die mir ein Stück vom Mond schenkten.
Planet Earth is blue
[And there’s nothing I can do]
David Bowie
I want to wake up in a city that never sleeps –
Der gute alte Frankieboy. Unerschüttert vom urbanen Wandel, solange es nach dem Aufwachen nur einen zu kippen gab.
Vic Thorn rieb sich die Augen.
In 30 Minuten würde das automatische Wecksignal die Frühschicht aus den Betten treiben. Streng genommen konnte es ihm egal sein. Als Kurzzeitbesucher war er weitgehend frei in seiner Entscheidung, wie er den Tag verbringen wollte, nur dass sich auch Gäste einem gewissen formalen Rahmenwerk anzupassen hatten. Was nicht zwangsläufig bedeutete, früh aufstehen zu müssen, doch geweckt wurde man auf jeden Fall.
If I can make it there,
I’ll make it anywhere –
Thorn begann sich loszuschnallen. Weil er allzu ausgiebige Bettruhe als verwahrlosend empfand, vertraute er sich keinem anderen Automatismus an als dem eigenen, um möglichst wenig Zeit seines Lebens schlafend zu verbringen. Zumal er selbst entscheiden wollte, wer oder was ihn zurück in die Bewusstheit rief. Thorn liebte es, seine Systeme von Musik hochfahren zu lassen. Eine Aufgabe, die er vorzugsweise dem Rat Pack zukommen ließ, Frank Sinatra, Dean Martin, Joey Bishop, Sammy Davis junior, den räudigen Helden vergangener Epochen, zu denen er eine beinahe romantische Zuneigung pflegte. Dabei wäre nichts, aber auch gar nichts an diesem Ort den Gepflogenheiten des Rat Pack entgegengekommen. Selbst Dean Martins berühmt gewordene Feststellung Ein Mann ist so lange nicht betrunken, wie er auf dem Boden liegen und sich dabei irgendwo festhalten kann erlebte in der Schwerelosigkeit ihre physikalische Außerkraftsetzung, ganz zu schweigen davon, dass die Begeisterung des großen Trinkers, an einem Ort wie diesem nicht vom Barhocker fallen zu können, beim anschließenden Versuch, hinaus auf die Straße zu torkeln, schlagartig geendet hätte. 35786 Kilometer über dem Erdboden warteten keine Nutten vor der Tür, sondern nur todbringender, luftleerer Raum.
Top of the list, king of the hill –
Thorn summte die Melodie mit, nuschelte ein schief klingendes New York, New York. Mit kaum nennenswertem Muskelzucken stieß er sich ab, entschwebte seiner Koje, ließ sich zu dem kleinen, runden Sichtfenster seiner Kabine tragen und sah nach draußen.
In der Stadt, die niemals schlief, begab sich Huros-ED-4 auf den Weg zu seinem nächsten Einsatz.
Weder kümmerte ihn die Kälte des Weltraums noch das Fehlen jeglicher Atmosphäre. Tag und Nacht, deren Aufeinanderfolge sich in solch immenser Entfernung zur Erde ohnehin mehr auf Vereinbarungen gründete als auf sinnliches Erleben, besaßen für ihn keine Gültigkeit. Sein Weckruf erfolgte in der Sprache der Programmierer. Huros-ED stand für Humanoid Robotic System for Extravehicular Demands, die 4 reihte ihn ein in weitere 19 seiner Art – je zwei Meter groß, Oberkörper und Kopf durchaus menschenähnlich, während die überlangen Arme im Zustand der Ruhe an die zusammengelegten Greiforgane einer Gottesanbeterin erinnerten. Bei Bedarf entfalteten sie sich zu bewundernswerter Beweglichkeit, mit Händen, die äußerst diffizile Operationen durchführen konnten. Ein zweites, kleineres Paar Arme entsprang der breiten, mit Elektronik vollgestopften Brust und diente der Assistenz. Dafür fehlten die Beine völlig. Zwar verfügte der Huros-ED über Taille und Becken, doch wo beim Menschen die Oberschenkel begannen, sprossen flexible Greifer mit Ansaugvorrichtungen, sodass er sich Halt verschaffen konnte, wo immer er gerade gebraucht wurde. Während der Pausen suchte er eine geschützte Nische auf, koppelte seine Akkus an die Stromversorgung, füllte die Tanks seiner Navigationsdüsen mit Treibstoff und ergab sich der Kontemplation der Maschine.
Inzwischen lag seine letzte Ruhephase acht Stunden zurück. Seitdem war Huros-ED-4 mit großem Roboterfleiß an den unterschiedlichsten Stellen der gigantischen Raumstation gewesen. In den Außenbezirken des Dachs, wie der dem Zenit zugewandte Teil genannt wurde, hatte er geholfen, in die Jahre gekommene Solarpaneele gegen neue auszutauschen, in der Werft Flutlichter für Dock 2 justiert, wo eines der Raumschiffe für die geplante Mars-Mission entstand. Danach hatte man ihn 100 Meter tiefer zu den wissenschaftlichen Nutzlasten beordert, die entlang der Mastausleger befestigt waren, mit der Aufgabe, die defekte Platine eines Messgeräts zur Oberflächenabtastung des Pazifischen Ozeans vor Ecuador zu entnehmen. Nach erfolgter Rekonditionierung lautete sein Auftrag nun, im Raumhafen einen der dortigen Manipulatorarme zu untersuchen, der aus unerfindlichen Gründen während eines Verladeprozesses den Dienst quittiert hatte.
Zum Raumhafen, das hieß, sich entlang der Station ein weiteres Stück abwärts sinken zu lassen, zu einem Ring von 180 Metern Durchmesser mit acht Liegeplätzen für an- und abfliegende Mondshuttles sowie acht weiteren für Evakuierungsgleiter. Vergaß man, dass die dort ankernden Schiffe Vakuum statt Wasser durchquerten, ging es auf dem Ring nicht anders zu als in Hamburg oder Rotterdam, den großen terranen Seehäfen, wozu ergo auch Kräne gehörten, riesige Roboterarme auf Schienen, Manipulatoren genannt. Einer davon hatte den Beladevorgang eines Fracht- und Personenshuttles, der in wenigen Stunden zum Mond starten sollte, mittendrin abgebrochen. Sämtliche Indikatoren sprachen gegen einen Ausfall. Der Arm hätte funktionieren müssen, blieb jedoch mit apparativer Sturheit jede Bewegung schuldig und hing stattdessen mit gespreizten Effektoren halb im Laderaum des Shuttles, halb draußen, was zur Folge hatte, dass sich der geöffnete Leib des Schiffs nicht mehr schließen ließ.
Auf vorgeschriebenen Flugbahnen bewegte sich Huros-ED-4 entlang angedockter Shuttles, Luftschleusen und Verbindungstunnel, Kugeltanks, Containern und Masten bis zu dem defekten Arm, der im ungefilterten Sonnenlicht kalt glänzte. Die Kameras hinter der Sichtblende seines Kopfes und an den Enden seiner Extremitäten schickten Bilder ins Innere der Kommandozentrale, als er dicht an die Konstruktion heranfuhr und jeden Quadratzentimeter einer eingehenden Analyse unterzog. Beständig glich er, was er sah, mit den Bildern ab, die ihm sein Datenspeicher zur Verfügung stellte, bis er den Grund für den Ausfall gefunden hatte.
Er stoppte. Jemand in seinem zentralen Steuermodul sagte »Verdammte Scheiße!«, was Huros-ED-4 zu einer raschen Rückfrage veranlasste. Obschon auf Abtastung der menschlichen Stimme programmiert, vermochte er in der Äußerung keinen sinnstiftenden Befehl zu erkennen. Die Zentrale verzichtete auf eine Wiederholung, also tat er vorerst nichts, als sich den Schaden zu besehen. In einem der Gelenke des Manipulators waren winzige Splitter verkeilt. Eine lange und tiefe Scharte verlief quer oberhalb der Gelenkstruktur, klaffend wie eine Wunde. Auf den ersten Blick schien die Elektronik intakt zu sein, ein reiner Materialschaden also, indes schwerwiegend genug, dass er den Manipulator veranlasst hatte, sich abzuschalten.
Die Zentrale wies ihn an, das Gelenk zu reinigen.
Huros-ED-4 verharrte.
Wäre er ein Mensch gewesen, hätte man sein Verhalten als unschlüssig bezeichnen können. Schließlich bat er um weitere Informationen, womit er auf seine eigene, vage Weise zum Ausdruck brachte, dass ihn die Sache überforderte. So revolutionär die Baureihe sein mochte – sensorbasierte Steuerung, Rückkopplung von Sinneseindrücken, flexibles und autonomes Handeln –, änderte sie doch nichts daran, dass Roboter Maschinen waren, die in Schablonen dachten. Er sah die Splitter und sah sie doch nicht. Wohl wusste er, dass sie da waren, nicht aber, was sie waren. Ebenso registrierte er den Riss, vermochte ihn allerdings mit keiner ihm bekannten Information in Übereinstimmung zu bringen. Damit existierten die defekten Stellen für ihn nicht. Als Folge war ihm schleierhaft, was genau er eigentlich reinigen sollte, also reinigte er gar nichts.
Ein Hauch Bewusstsein, und Roboter hätten ihre Existenz als wirklich sorgenfrei empfunden.
Andere sorgten sich umso mehr. Vic Thorn hatte ausgiebig geduscht, My Way gehört, T-Shirt, Turnschuhe und Shorts angezogen und soeben beschlossen, den Tag im Fitnessstudio zu beginnen, als ihn der Anruf aus der Zentrale erreichte.
»Sie könnten uns bei der Lösung eines Problems behilflich sein«, sagte Ed Haskin, in dessen Zuständigkeit der Raumhafen und die daran gekoppelten Systeme fielen.
»Jetzt gleich?« Thorn zögerte. »Ich wollte kurz aufs Laufband.«
»Besser gleich.«
»Was ist los?«
»Sieht so aus, als gäbe es Schwierigkeiten mit Ihrem Raumschiff.«
Thorn nagte an seiner Unterlippe. Bei der Vorstellung, sein Abflug könne sich verzögern, schrillten tausend Alarmglocken in seinem Kopf. Schlecht, ganz schlecht! Das Schiff sollte den Hafen um die Mittagszeit verlassen, mit ihm und sieben weiteren Astronauten an Bord, um die Besatzung der amerikanischen Mondbasis abzulösen, die nach sechs Monaten Trabantenexil Fieberträume von asphaltierten Straßen, tapezierten Wohnungen, Würsten, Wiesen und einem Himmel voller Farbe, Wolken und Regen heimsuchten. Obendrein war Thorn als einer der beiden Piloten für den zweieinhalbtägigen Flug vorgesehen, als Crewchef zu allem Überfluss, was erklärte, dass man ausgerechnet ihn ansprach. Und noch einen Grund gab es, warum ihm jede Verzögerung mehr als ungelegen kam –
»Was ist denn los mit der Kiste?«, fragte er betont gleichgültig. »Will sie nicht fliegen?«
»Oh, fliegen will sie schon, aber sie kann nicht. Es hat eine Panne beim Beladen gegeben. Der Manipulator ist ausgefallen und blockiert die Luken. Wir können den Frachtraum nicht schließen.«
»Ach so.« Erleichterung durchströmte Thorn. Mit einem defekten Manipulator ließ sich fertigwerden. »Und kennt ihr den Grund für den Ausfall?«
»Debris. Scharfer Beschuss.«
Thorn seufzte. Space debris! Weltraumschrott, dessen unliebsame Allgegenwart sich einer beispiellosen orbitalen Rushhour verdankte, eingeleitet in den fünfziger Jahren von den Sowjets mit ihren Sputniks. Seither zirkulierten in jeglicher Höhe die Überbleibsel Tausender Missionen: leer gebrannte Raketenstufen, ausgemusterte und vergessene Satelliten, Trümmer zahlloser Explosionen und Zusammenstöße, vom kompletten Reaktor bis hin zu winzigen Schlackebröckchen, Tröpfchen gefrorenen Kühlmittels, Schrauben und Drähtchen, Kunststoff- und Metallteilchen, Fetzen von Goldfolie und Rudimenten abgeblätterter Farbe. Die ständige Frakturierung der Bruchstücke durch immer neue Kollisionen zog deren nagetierhafte Vermehrung nach sich. Inzwischen wurde alleine das Vorhandensein von Objekten, die größer als ein Zentimeter waren, auf 900000 geschätzt. Kaum drei Prozent davon unterlagen ständiger Beobachtung, der ominöse Rest, zuzüglich Milliarden kleinerer Partikel und Mikrometeoriten, war irgendwohin unterwegs – im Zweifel, mit der Unvermeidbarkeit, mit der Insekten an Windschutzscheiben endeten, auf einen zu.
Das Problem war, dass eine Wespe, die mit dem Impuls eines gleich großen Stückchens Space Debris in eine Luxuslimousine gesaust wäre, die kinetische Energie einer Handgranate entwickelt und einen Totalschaden verursacht hätte. Geschwindigkeiten gegenläufiger Objekte addierten sich im All auf vernichtende Weise. Selbst Partikel im Mikrometerbereich wirkten sich auf Dauer zerstörerisch aus, schliffen Solarpaneele blind, zersetzten die Oberflächen von Satelliten und rauten die Außenhüllen von Raumschiffen auf. Erdnaher Schrott verglühte über kurz oder lang in den oberen Schichten der Atmosphäre, allerdings nur, um durch neuen ersetzt zu werden. Mit zunehmender Höhe verlängerte sich seine Lebensdauer, und im Orbit der Raumstation verblieb er theoretisch bis in alle Ewigkeit. Einzig, dass man mehrere der gefährlichen Objekte kannte und ihre Flugbahnen Wochen und Monate im Voraus berechnen konnte, verhieß einen gewissen Trost, weil es die Astronauten befähigte, die komplette Station einfach aus dem Weg zu steuern. Das Ding, das in den Manipulator gekracht war, hatte offenbar nicht dazugehört.
»Und was kann ich tun?«, fragte Thorn.
»Na ja, Crewzeit.« Haskin lachte genervt. »Sie wissen schon, knappe Ressource. Der Roboter kriegt das alleine nicht auf die Reihe. Wir müssten zu zweit raus, aber im Augenblick hab ich nur eine Kraft verfügbar. Würden Sie einspringen?«
Thorn überlegte nicht lange. Es war von epochaler Wichtigkeit, dass er pünktlich hier wegkam, außerdem mochte er Weltraumspaziergänge.
»Alles klar«, sagte er.
»Sie gehen mit Karina Spektor raus.«
Noch besser. Er hatte Spektor am Abend zuvor im Crew-Restaurant kennengelernt, eine russischstämmige Expertin für Robotik mit hohen Wangenknochen und katzengrünen Augen, die auf seine Flirtversuche mit erfreulicher Bereitschaft zur Völkerverständigung reagiert hatte.
»Bin unterwegs!«, sagte er.
– in a city that never sleeps –
Städte pflegten Lärm zu erzeugen. Straßen, in denen die Luft von Akustik kochte. Menschen, die sich bemerkbar machten, indem sie hupten, riefen, pfiffen, schwatzten, lachten, jammerten, schrien. Geräusch als sozialer Kitt, codiert zur Kakophonie. Gitarristen, Sänger, Saxofonspieler in Hauseingängen und U-Bahn-Schächten. Krähen, Missmut äußernd, blaffende Hunde. Das Widerhallen von Baumaschinen, dröhnende Presslufthämmer, Metall auf Metall. Unerwartete, vertraute, schmeichelnde, schrille, spitze, dunkle, rätselhafte, an- und abschwellende, herannahende und entfliehende Geräusche, solche, die aufstiegen wie Gas, andere Volltreffer in Magengrube und Gehörgang. Verkehrsgrundrauschen. Der protzige Bassbariton schwerer Limousinen im Disput mit mäkeligen Mopeds, mit dem Schnurren von Elektromobilen, der Herrschsucht von Sportwagen, aufgemotzten Motorrädern, dem pumpernden Geh-mal-zur-Seite der Busse. Musik aus Boutiquen. Schrittkonzerte in Fußgängerzonen, Schlendern, Schlurfen, Stolzieren, Dahineilen, der Himmel schwingend vom Donner ferner Flugzeugturbinen, die ganze Stadt eine einzige Glocke.
Außerhalb der Weltraumstadt:
Nichts davon.
So vertraut es im Innern der Wohnmodule, Labors, Kontrollräume, Verbindungstunnel, Freizeitzonen und Restaurants lärmte, die sich auf einer Gesamthöhe von 280 Metern verteilten, so gespenstisch mutete es an, wenn man die Station erstmals zur EVA verließ, zur Extravehicular Activity, dem Außeneinsatz. Übergangslos war man draußen, wirklich draußen, so was von draußen wie sonst nirgendwo. Jenseits der Luftschleusen endete alle Akustik. Natürlich ertaubte man nicht zur Gänze. Sich selbst vernahm man sehr wohl, außerdem das Rauschen der im Anzug eingebauten Klimaanlage und natürlich den Sprechfunk, doch spielte sich all das im Innern des tragbaren Raumschiffs ab, in dem man steckte.
Drum herum, im Vakuum, herrschte perfekte Stille. Man erblickte die gewaltige Struktur der Station, schaute in erleuchtete Fenster, sah das eisige Strahlen der Flutlichtbatterien hoch oben, wo riesige Raumschiffe zusammengebaut wurden, die nie auf einem Planeten landen würden und nur in der Schwerelosigkeit Bestand hatten, gewahrte industrielle Betriebsamkeit, das Umherfahren und Recken der Kräne auf dem äußeren Ring und den Zubringern zum Innenbereich, beobachtete Roboter im freien Fall, lebendigen Wesen ähnlich genug, dass man geneigt war, sie nach dem Weg zu fragen – und intuitiv, überwältigt von der Schönheit der Architektur, der fernen Erde und der kalt starrenden Sterne, deren Licht von keiner Atmosphäre gestreut wurde, erwartete man eine geheimnisvolle oder pathetische Musik zu hören. Doch der Weltraum blieb stumm, seine Erhabenheit fand ihre Orchestrierung einzig im eigenen Atem.
In Gesellschaft Karina Spektors schwebte Thorn durch die Leere und Stille auf den defekten Manipulator zu. Ihre Anzüge, mit Steuerdüsen ausgestattet, ermöglichten ihnen, präzise zu navigieren. Sie glitten über die Docks des riesigen Raumhafens hinweg, der die turmartige Konstruktion der Station umspannte, breit wie eine Autobahn. Drei Mondshuttles ankerten zurzeit am Ring, zwei an Luftschleusen, Thorns Raumschiff auf Parkposition, außerdem die acht flugzeugähnlichen Evakuierungsgleiter. Im Grunde war der gesamte Ring ein einziger Rangierbahnhof, über den die Raumfahrzeuge ständig ihren Standort wechseln konnten, um die symmetrisch aufgebaute Station im Gleichgewicht zu halten.
Thorn und Spektor hatten sich vom Torus-2, dem Verteilermodul im Zentrum des Hafens, zu einer der Außenschleusen begeben, von wo es nicht weit bis zum Shuttle war. Weiß und massig, mit geöffneten Ladeluken, ruhte es im Sonnenlicht. Der erstarrte Arm des Manipulators ragte hoch darüber empor, knickte am Ellbogen jäh ab und verschwand im Frachtraum. Unmittelbar vor seiner Ankerplattform hing reglos Huros-ED-4. Den Blick unverwandt auf das blockierte Gelenk gerichtet, haftete seiner Haltung etwas Missbilligendes an. Erst im letzten Moment rückte er ein Stück beiseite, damit sie den Schaden in Augenschein nehmen konnten. Natürlich resultierte sein Verhalten nicht aus kybernetischer Verschnupftheit, da ein Huros nicht einmal ansatzweise eine Vorstellung seiner selbst hatte, nur waren seine Bilder nicht mehr gefragt. Ab jetzt zählten die Eindrücke, welche die Helmkameras in die Zentrale schickten.
»Und?«, wollte Haskin wissen. »Was meint ihr?«
»Übel.« Spektor umfasste das Gestänge des Manipulators und zog sich näher heran. Thorn folgte ihr.
»Komisch«, sagte er. »Für mich sieht es so aus, als hätte irgendwas den Arm gestreift und diese Furche gerissen, aber die Elektronik scheint unbeschädigt zu sein.«
»Dann müsste er sich bewegen«, wandte Haskin ein.
»Nicht unbedingt«, sagte Spektor. Sie sprach ein slawisch aufgerautes Englisch, ziemlich erotisch, wie Thorn fand. Eigentlich schade, dass er keinen weiteren Tag bleiben konnte. »Beim Aufprall dürfte eine Menge Mikroschrott freigesetzt worden sein. Vielleicht leidet unser Freund an Verstopfung. Hat der Huros eine Umgebungsanalyse durchgeführt?«
»Leichte Kontamination. Was ist mit den Splittern? Könnten sie die Blockade ausgelöst haben?«
»Möglich. Stammen wahrscheinlich vom Arm selbst. Vielleicht hat sich auch was verzogen, und er steht unter Spannung.« Die Astronautin studierte eingehend das Gelenk. »Andererseits, das ist ein Manipulator, keine Kuchengabel. Das Objekt wird höchstens sieben oder acht Millimeter groß gewesen sein. Ich meine, es war nicht mal ein richtiger Impact, so was muss er eigentlich wegstecken können.«
»Du kennst dich ja mächtig gut aus«, meinte Thorn anerkennend.
»Kunststück«, lachte sie. »Ich beschäftige mich kaum noch mit was anderem. Space debris ist unser größtes Problem hier oben.«
»Und das da?« Er beugte sich vor und zeigte auf eine Stelle, wo ein winziges, helles Bröckchen herausstach: »Könnte das von einem Meteoriten stammen?«
Spektor folgte seinem ausgestreckten Zeigefinger.
»Auf jeden Fall stammt es von dem Ding, das den Arm getroffen hat. Näheres werden die Analysen ergeben.«
»Eben«, sagte Haskin. »Also beeilt euch. Ich schlage vor, ihr holt das Zeug mit dem Ethanolgebläse raus.«
»Haben wir so was denn?«, fragte Thorn.
»Der Huros hat so was«, erwiderte Spektor. »Wir können seinen linken Arm dafür benutzen, im Innern sind Tanks und an den Effektoren Düsen. Aber das müssen wir zu zweit machen, Vic. Schon mal mit einem Huros gearbeitet?«
»Nicht direkt.«
»Ich zeig’s dir. Wir müssen ihn teilabschalten, um ihn als Werkzeug benutzen zu können. Das heißt, einer von uns muss helfen, ihn zu stabilisieren, während der andere –«
Im selben Moment erwachte der Manipulator zum Leben.
Der riesige Arm reckte sich aus dem Laderaum, stieß zurück, vollführte einen Schwenk, erfasste den Huros-ED und versetzte ihm einen Stoß, als sei er seiner Gesellschaft überdrüssig. Reflexartig drückte Thorn die Astronautin nach unten und aus der Kollisionszone heraus, konnte jedoch nicht verhindern, dass der Roboter ihre Schulter streifte und sie herumwirbelte. In letzter Sekunde gelang es Spektor, sich im Gestänge festzukrallen, dann prallte der Manipulator gegen Thorn, riss ihn weg von ihr und vom Ring und katapultierte ihn in den Weltraum.
Zurück! Er musste zurück!
Mit fliegenden Fingern versuchte er die Kontrolle über seine Steuerdüsen zu erlangen, gefolgt vom pirouettierenden Torso des Huros-ED, der näher und näher kam, Haskins und Spektors Schreie im Ohr. Der Unterleib des Roboters traf seinen Helm. Thorn überschlug sich und geriet in hilflose Kreiselbewegung, während er über den Rand der Ringebene geschleudert wurde und sich fürchterlich schnell von der Raumstation entfernte. Entsetzt begriff er, dass er im Bemühen, die Astronautin zu schützen, seine einzige Chance vertan hatte, sich selbst zu retten. In wilder Panik tastete er umher, fand endlich die Bedienelemente für die Steuerdüsen, zündete sie, um seine Flugbahn mit kurzen Stößen zu stabilisieren, den Kreiselkurs zu beruhigen, bekam keine Luft mehr, begriff, dass der Anzug Schaden genommen hatte, dass es aus war, schlug um sich, wollte schreien –
Sein Schrei gefror.
Vic Thorns Körper wurde hinausgetragen in die stille, endlose Nacht, und alles änderte sich in den Sekunden seines Sterbens, alles.