Menschen im Hotel

Inhaltsverzeichnis

»Ja – sie haben die Frau plötzlich in die Klinik gebracht. Ich weiß gar nicht, was das heißen soll. Sie meint, es geht los. Aber es ist ja noch gar nicht so weit, Herrgott noch mal!«, sagte der Portier.

Der Telefonist hörte nur halb hin, denn er musste eine Verbindung herstellen. »Na, nur mit die Ruhe, Herr Senf«, sagte er dazwischen. »Schließlich haben Sie morgen früh Ihren Jungen –«

»Also schönen Dank auch, dass Sie mich hier ans Telefon geholt haben. Ich kann doch da vorne in der Loge nicht meine Privatgeschichten rumposaunen. Dienst ist Dienst.«

»Eben. Und wenn’s Kind da ist, ruf ich’s Ihnen durch«, sagte der Telefonist zerstreut und schaltete weiter. Der Portier nahm seine Mütze und ging auf den Zehenspitzen davon. Das tat er, ohne es zu wissen, weil seine Frau nun dalag und ein Kind bekommen sollte. Als er den Gang überquerte, an dem die Schreib- und Lesezimmer still mit halb abgedrehten Lampen lagen, schnaufte er tief aus sich heraus und fuhr sich durch die Haare. Er spürte erstaunt, dass seine Hand davon feucht wurde, aber er nahm sich nicht die Zeit, die Hände zu waschen. Schließlich konnte man nicht verlangen, dass der Hotelbetrieb aussetzte, weil der Portier Senf ein Kind

»All right!«, sagte der kleine Georgi, als Portier Senf mit einem Anschwung die Loge erreichte, wie einen Heimathafen. »Die Sieben-Uhr-Post. Achtundsechzig hat Krach gemacht, weil der Chauffeur nicht gleich zu finden war. Bisschen hysterische Dame, was?«

»Achtundsechzig – das ist die Grusinskaja«, sagte der Portier, und dabei begann er schon mit der rechten Hand die

In der Halle erhob sich ein Herr aus seinem Klubstuhl, ein langer Herr, dessen Beine wie ohne Gelenke waren, und kam gesenkten Kopfes zur Portierloge. Er trödelte eine Weile in der Halle umher, bevor er sich dem Vestibül näherte, er gab sich eine betonte Haltung der Erwartungslosigkeit und Langeweile, betrachtete die ausgelegten Magazine an dem kleinen Zeitungsstand, zündete eine Zigarette an, aber schließlich landete er doch beim Portier und fragte zerstreut: »Post für mich gekommen?«

Der Portier seinerseits fand sich auch zu einer kleinen Komödie bereit. Er schaute erst in das Fach Nr. 218, bevor er antwortete: »Diesmal leider nichts, Herr Doktor.« Worauf sich der lange Herr langsam wieder in Bewegung setzte, auf Umwegen zu seinem Klubstuhl gelangte, in den er sich steifbeinig niederließ, um dann mit blindem Gesicht in die Halle zu starren. Dieses Gesicht übrigens bestand nur aus einer Hälfte, einem jesuitenhaft verfeinerten und zugespitzten Profil, das mit einem außerordentlich schön gebauten Ohr unter dünngrauem Schläfenhaar abschloss. Die andere Gesichtshälfte war nicht vorhanden. Es gab da nur einen schiefen, ineinandergeflickten und zusammengelappten Wirrwarr, in dem zwischen Nähten und Narben ein Glasauge blickte. »Souvenir aus Flandern«, pflegte Doktor Otternschlag dieses sein Gesicht zu nennen, wenn er mit sich sprach …

Als er eine Weile so gesessen und die vergoldeten Gipskapitäle der Marmorsäulen betrachtet hatte, die er bis zum Ekel kannte, als er genügend mit seinen unsehenden Augen in die Halle gestiert hatte, die sich jetzt, vor Theaterbeginn, ziemlich rasch leerte, erhob er sich wieder und stelzte mit seinem Marionettengang zur Portierloge hinüber, in der Herr Senf nun eifrig und seinem Privatleben entrückt amtierte.

»Niemand, Herr Doktor.«

»Depesche?«, fragte Doktor Otternschlag nach einer Weile. Herr Senf war so freundlich, wieder das Fach Nr. 218 zu untersuchen, obwohl er wusste, dass nichts darinnen lag.

»Heute nicht, Herr Doktor«, sagte er. Menschenfreundlich fügte er hinzu: »Vielleicht wollen Herr Doktor ins Theater gehen? Ich habe da noch eine Loge zur Grusinskaja, Theater des Westens –«

»Grusinskaja? Nee«, sagte Doktor Otternschlag, stand noch einen Augenblick und wanderte dann durch das Vestibül und rund um die Halle zu seinem Stuhl zurück, jetzt hat nicht einmal die Grusinskaja mehr ausverkauft, dachte er dabei. Nun natürlich. Ich selbst will sie ja nicht mehr sehen. Gramvoll sackte er in den Klubstuhl zurück.

»Der Mensch kann einen schwächen«, sagte der Portier zum kleinen Georgi. »Ewig das Gefrage wegen der Post. Seit zehn Jahren wohnt er jedes Jahr ein paar Monate bei uns, und noch nie ist ein Brief gekommen, und kein Hund hat nach ihm gefragt. Da sitzt so ein Mensch nun egal da herum und wartet –«

»Wer wartet?«, fragte nebenan in der Rezeption der Empfangschef Rohna und steckte seinen hellrötlichen Schädel über die niedrige Glaswand. Aber der Portier gab nicht gleich Antwort; es war ihm gerade so, als wenn er eben seine Frau schreien gehört hätte – er horchte aus sich heraus. Gleich darauf versank das Private in ihm, denn er musste dem kleinen Georgi helfen, dem mexikanischen Herrn von 117 auf Spanisch eine komplizierte Zugverbindung zu erklären. Der Page Nr. 24 schoss rotwangig und wassergekämmt vom Lift herüber und rief – zu laut für die vornehme Halle – freudig erregt: »Der Chauffeur von Herrn Baron Gaigern soll

Als dieser Herr, dieser Mensch, dieser hübsche Baron

Der kleine Georgi nickte zur Drehtür hin und sagte: »Der ist gut. Der kann so bleiben.« Der Portier zuckte die Schultern des Menschenkenners. »Ob der gut ist, das ist noch die Frage. Der hat so was – ich weiß nicht. Der ist mir zu flott. Wie der auftritt und die großen Trinkgelder – das hat so was von Kintopp. Wer reist denn heutzutage mit so einem Aufwand – wenn’s nicht ein Hochstapler ist? Wenn ich Pilzheim wäre, ich täte die Augen aufmachen.«

Rohna, der Empfangschef, der seine Ohren überall hatte, streckte wieder den Kopf über die Glasbarriere; unter dem dünnen rötlichen Haar schimmerte die blauweiße Kopfhaut. »Lassen Sie nur, Senf«, sagte er. »Der Gaigern ist gut; den kenne ich. Der ist mit meinem Bruder in Feldkirch erzogen worden. Für den brauchen wir Pilzheim nicht bemühen.« Pilzheim war der Detektiv des Grand Hôtels.

Senf salutierte und schwieg respektvoll. Rohna wusste Bescheid. Rohna war selber Graf, einer von den schlesischen Rohnas, ein umgestellter Offizier, ein tüchtiger Kerl. Senf salutierte noch einmal, während Rohnas Windhundgestalt sich zurückzog und nur mehr als Schatten hinter der Milchglaswand ihr Wesen trieb.

Doktor Otternschlag in seinem Winkel da rückwärts hatte

»Zigaretten, Zeitungen«, sagte er eingerostet. Der Page flitzte zu dem kataleptischen Fräulein am Zeitungsstand – Rohna besah missbilligend diese lebhafte Jungenschlaksigkeit – und dann nahm Otternschlag die Zeitungen und die Zigarettensorte entgegen, die der Page ihm

In den Zeitungen fand er nichts, das ihn sättigte. Ein Taifun, ein Erdbeben, ein mittelgroßer Krieg zwischen Schwarzen und Weißen. Brände, Morde, politische Kämpfe. Nichts. Zu wenig. Skandale, Panik an der Börse, Verluste von Riesenvermögen. Was ging es ihn an? Was spürte er davon? Ozeanflug, Schnelligkeitsrekorde, zollgroße Sensationstitel. Ein Blatt schrie lauter als das andere, und zuletzt hörte man kein einziges mehr, wurde blind und taub und fühllos durch den lauten Betrieb des Jahrhunderts. Bilder von nackten Frauen, Schenkel, Brüste, Hände, Zähne, sie boten sich an in hellen Haufen. Doktor Otternschlag hatte früher auch Frauen gehabt, er erinnerte sich noch daran, ohne Gefühl, mit einer leisen, kriechenden Kühle im Rückenmark. Er ließ die Blätter einfach aus der gelb gerauchten Hand auf den Ananasteppich fallen,

Gerade als er in einigen Bogenlinien auf die Portierloge zusteuerte, stieß die Drehtür ein merkwürdiges Individuum in die Vorhalle.

»Herr du mein Gott, da ist der Mann schon wieder!«, sagte der Portier zum kleinen Georgi und schaute mit seinem strammen Feldwebelblick dem Individuum entgegen. Dieses Individuum, dieser Mann, dieser Mensch passte schlecht genug in die Halle des Grand Hôtels. Er trug einen billigen, neuen runden Filzhut, der ihm etwas zu weit war und durch abstehende Ohren gehindert wurde, noch tiefer ins Gesicht zu rutschen. Er hatte ein gelbliches Gesicht, eine dünne und schüchterne Nase, die kompensiert wurde durch einen Schnurrbart von jener forschen Form, wie Vereinsvorstände sie lieben. Er war bekleidet mit einem engen grüngrauen, alten und traurig unmodernen Überzieher, schwarz gewichsten Stiefeln, die zu groß für seine kleine Gestalt schienen und deren Schäfte unter zu kurzen schwarzen Hosenbeinen hervorsahen. An den Händen trug der Mann graue Zwirnhandschuhe, mit denen er einen Koffergriff umklammerte. Er hielt seinen Koffer, der viel zu schwer für ihn schien, wunderlich in beiden Fäusten vor den Magen gepresst, und unter dem Arm hatte er überdies ein fettiges Paket in braunem Papier eingeklemmt. Als Ganzes sah dieser Mann komisch, armselig und überanstrengt in hohem Grade aus. Zwar machte der Page 24 den Versuch, ihm den Koffer abzunehmen, aber der Mann gab sein Gepäck nicht her, sondern schien durch diese Boy-Höflichkeit in neue Verlegenheit gebracht. Erst vor Herrn Senfs Vorschlag setzte

»Bitte sich nebenan zu bemühen; ich glaube allerdings nicht, dass inzwischen etwas frei geworden ist«, sagte der Portier und machte eine korrekte Handbewegung zu Rohna hin. »Der Herr wartet seit zwei Tagen auf ein freies Zimmer bei uns«, sagte er erklärend über die Glasbarriere hinüber. Rohna, der die ganze Erscheinung erfasst hatte, ohne hinzusehen, tat höflichkeitshalber flüchtig so, als blättere er sein Buch durch, und sagte: »Leider ist momentan alles besetzt. Bedauere außerordentlich –«

»Noch immer besetzt, so. Ja, wo soll ich denn wohnen?«, frage das Individuum.

»Vielleicht sehen Sie in der Nähe von Bahnhof Friedrichstraße zu, da gibt es eine Menge Hotels –«

»Nee, danke«, sagte das Individuum, holte sein Taschentuch aus dem Überzieher und fuhr sich rasch über die verschwitzte Stirn. »Ich bin in so einem Hotel abgestiegen; das gefällt mir nicht. Ich will vornehm wohnen.« Er holte unter dem linken Arm einen feuchten Regenschirm hervor, wobei ihm das fette Paket unter dem rechten Arm entglitt, herunterfiel und ein paar Butterstullen – krumm vor Trockenheit – enthüllte. Graf Rohna vermied es zu lächeln; der Volontär Georgi drehte sich zum Schlüsselbrett. Der Page 17 sammelte in tadelloser Haltung die verdorrten Stullen auf, die der Mann mit zitternden Fingern in die Tasche stopfte. Er nahm den Hut ab und legte ihn vor Rohna hin auf die Tischplatte. Er hatte eine hohe runzlige Stirn mit eingedrückten Schläfen. Er schielte ein wenig mit blauen, sehr hellen Augen hinter einem Kneifer hervor, der die Tendenz zeigte, die dünne Nase hinunterzurutschen. »Ich möchte hier wohnen. Mal muss doch hier auch was frei werden. Ich bitte, mich für das nächste freie

Rohna zuckte bedauernd die Achseln. Einen Augenblick schwiegen alle, und man hörte die Musik aus dem roten Speisesaal und die Jazzband, die jetzt im gelben Pavillon platziert war. Es saßen auch schon wieder ein paar Herrschaften in der Halle, und einige schauten halb amüsiert und halb verwundert zu dem Individuum herüber.

»Kennen Sie Herrn Generaldirektor Preysing? Der wohnt doch auch immer bei Ihnen, wenn er nach Berlin kommt, nicht wahr? Nun sehen Sie. Ich will auch hier wohnen. Ich habe etwas Wichtiges – eine wichtige Unterredung mit – mit Preysing. Er hat mich hierherbestellt, jawohl. Er hat mir ausdrücklich empfohlen, hier zu wohnen. Ich soll mich auf ihn berufen. Ich berufe mich auf Herrn Generaldirektor Preysing. Also bitte. Wann wird ein Zimmer frei?«

»Preysing? Generaldirektor Preysing?«, fragte Rohna zu Senf hinüber.

»Aus Fredersdorf; von der Saxonia Baumwoll A.-G. Ich bin auch aus Fredersdorf«, sagte das Individuum.

»Jawohl«, erinnerte sich der Portier, »ein Herr Preysing ist schon ein paarmal hier gewesen.«

»Ich glaube, es ist ein Zimmer für ihn bestellt worden, zu morgen oder übermorgen«, flüsterte Georgi strebsam.

»Vielleicht bemühen Sie sich morgen nochmals her, wenn Herr Preysing hier ist. Er kommt heute noch an«, sagte Rohna, nachdem er seine Bücher durchgeblättert und die Vormerkung gefunden hatte.

Sonderbarerweise schien diese Auskunft den Mann zu erschrecken.

»Kommt an?«, sagte er, er stieß es hervor in Angst und schielte stärker. »Schön – kommt also schon heute an. Gut. Und der bekommt ein Zimmer? Also sind Zimmer frei? Ja,

Plötzlich mischte sich Herr Doktor Otternschlag in das Gespräch, der während der ganzen Unterredung dagestanden hatte, seinen Zimmerschlüssel mit der großen Holzkugel in der Hand und die spitzen Ellbogen in die Tischplatte der Portierloge gebohrt.

»Wenn dem Herrn so viel dran liegt, kann er mein Zimmer haben«, sagte Otternschlag. »Mir ist es völlig gleich, wo ich wohne. Lassen Sie doch sein Gepäck heraufschaffen. Ich kann ausziehen. Meine Koffer sind gepackt. Meine Koffer sind immer gepackt. Bitte, man sieht doch, dass der Mann erschöpft ist, leidend –«, setzte er hinzu und schnitt einen Einwand ab, den Graf Rohna, mit beredten Dirigentenhänden beschwichtigend, vorbringen wollte.

»Aber, Herr Doktor«, sagte Rohna schnell, »es kann nicht die Rede davon sein, dass Sie Ihr Zimmer aufgeben. Wir werden versuchen – wir wollen sehen. Wenn der Herr freundlichst seinen Namen eintragen will – so, danke sehr – also Nr. 216 –«, sagte Rohna zum Portier. Der Portier gab dem Pagen Nr. 11 den Schlüssel von 216, das Individuum ergriff den Tintenstift, der ihm hingehalten wurde, und schrieb mit auffallend zügiger Schrift seinen Namen ins Anmeldebuch.

»So«, sagte er hernach aufatmend, drehte sich um und schielte mit weit aufgeschlagenen Augen in die Halle hinein.

 

Da stand er nun in der Halle des Grand Hôtels, der Buchhalter Otto Kringelein, geboren in Fredersdorf, wohnhaft in Fredersdorf, da stand er in seinem alten Überzieher, und die hungrigen Gläser seines Kneifers schluckten alles auf einmal. Er war erschöpft wie ein Läufer, dessen Brust das weiße Band berührt (und mit dieser Erschöpfung hatte es seine besondere Bewandtnis), aber er sah: die Marmorsäulen mit den Gipsornamenten, die illuminierten Springbrunnen, die Klubstühle. Er sah Herren in Fräcken, Herren in Smokings, elegante, weitläufige Herren. Damen mit nackten Armen, mit Glitzerkleidern, mit Schmuck, Pelz, ausnehmend schöne und kunstvolle Damen. Er hörte entfernte Musik. Er roch Kaffee, Zigaretten, Parfüme, Spargelduft vom Speisesaal und Blumen, die an einem Tisch zum Verkauf aus Vasen strotzten. Er spürte den dicken roten Teppich unter seinen gewichsten Stiefeln, und dieser Teppich machte ihm zunächst den stärksten Eindruck. Kringelein schliff vorsichtig mit der Sohle über diesen Teppich und blinzelte. Es war sehr hell in der Halle, angenehm gelblich hell, dazu brannten hellrote beschirmte Lämpchen an den Wänden, dazu strahlten grüne Fontänen in das venezianische Becken. Ein Kellner flitzte vorbei, trug ein silbernes Tablett, darauf standen breite, flache Gläser, in jedem Glas war nur ein bisschen goldbrauner Kognak, in dem Kognak schwamm Eis – aber warum wurden im besten Hotel Berlins die Gläser nicht voll gefüllt?

Der Hausdiener mit dem Jammerkoffer weckte den schielenden, blinzelnden, halb schlafwandelnden Kringelein, der Page Nr. 11 brachte ihn an dem mürrischen Einarmigen, der den Lift bediente, vorbei und transportierte ihn aufwärts.

Das Zimmer war lang, schmal, hatte ein Fenster, roch nach kalter Zigarre und feucht ausgewischten Schränken. Der Teppich war dünn und abgenutzt. Die Möbel – Kringelein befühlte sie – waren aus poliertem Nussholz. Solche Möbel gab es in Fredersdorf auch. Ein Bismarckbild hing über dem Bett. Kringelein schüttelte den Kopf. Er hatte nichts gegen Bismarck, aber der hing auch zu Hause. Dunkel erwartete er im Grand Hôtel andere Bilder über den Betten, üppige, bunte, außergewöhnliche Bilder, die Vergnügen machten. Kringelein ging ans Fenster und sah hinaus. Unten war es ganz hell, das beleuchtete Glasdach des Wintergartens überspannte den Hof. Gegenüber stand nackt und ohne Ende eine Feuermauer. Es roch nach Küche, lau und unerfreulich dampfte es herauf. Kringelein spürte dabei eine heftige Übelkeit und stützte sich auf die Waschtischplatte. Ich bin eben nicht ganz gesund, dachte er traurig.

Er setzte sich wieder auf die verwelkte Bettdecke, und sein Kummer wuchs von Sekunde zu Sekunde. Hier bleibe ich nicht, dachte er. Nein, hier bleibe ich keinesfalls. Dazu bin ich

Kringelein schloss seine Gedanken ab. Er sammelte sich. Er brauchte ein paar Minuten, und dann klingelte er das Stubenmädchen herbei und machte Krach.

Wenn man in Betracht zieht, dass Kringelein zum ersten Male in seinem Leben Krach machte, so kann man zugeben, dass es nicht ganz so übel ausfiel. Das Stubenmädchen in der weißen Schürze holte erschreckt eine Würdenträgerin ohne Schürze; der Hausdiener zeigte sich von Weitem, der Zimmerkellner, eine kalte Platte auf der Handfläche schwingend, blieb vor 216 horchend stehen. Man telefonierte Rohna an; Rohna ließ Herrn Kringelein in ein kleines Kontor bitten; man musste den Hoteldirektor, einen der vier Direktoren, holen. Kringelein, hartnäckig wie ein Amokläufer, bestand darauf, dass er ein schönes, vornehmes, teures Zimmer haben wolle, mindestens ein Zimmer wie Preysing. Er schien den Namen Preysing für ein magisches Wort zu halten. Er hatte seinen Überzieher noch nicht ausgezogen, er hielt die bebenden Hände in den Taschen über den alten zerbröckelnden Butterstullen geballt, schielte und verlangte ein teures Zimmer. Ihm war müde und schlecht bis zum Weinen. Er weinte sehr leicht in den letzten Wochen, aus ganz bestimmten Gründen, die seine Gesundheit betrafen. Plötzlich, gerade als er es aufgeben wollte, hatte er gesiegt. Er bekam Nr. 70, einen Salon mit Alkoven und Bad, fünfzig Mark täglich. Er blinzelte ein wenig, als er den Preis vernahm. Aber er sagte: »Gut. Mit Bad? Heißt das – kann ich da

Zimmer Nr. 70 war richtig. Hier gab es Mahagonimöbel. Ankleidespiegel, Seidenstühle und geschnitzten Schreibtisch, Spitzengardinen, Stilleben mit toten Fasanen an der Wand, eine seidene Daunendecke im Bett – Kringelein befühlte dreimal hintereinander ungläubig ihre leichte Wärme und Glätte. Auf dem Schreibtisch stand ein imponierendes Schreibzeug aus Bronze, einen Adler darstellend, der mit zackig ausgebreiteten Flügeln zwei leere Tintenfässer beschützte.

Vor dem Fenster war kühler Märzregen, Benzinluft, Autoschrei, gegenüber rannte eine Laufreklame mit roten, blauen, weißen Lettern eine Häuserfront entlang; wenn sie hinten zu Ende war, fing sie· vorn wieder an: Kringelein schaute sechs Minuten lang zu. Unten wimmelten schwarze Regenschirme und helle Frauenbeine, gelbe Autobusse, Bogenlampen. Sogar ein Baum war da, er streckte Zweige, nicht allzu weit vom Hotel, andere Zweige als die Bäume in Fredersdorf. Er hatte ein Inselchen von Erde mitten im Asphalt, dieser Berliner Baum, und rund um die Erde einen Zaun, ein Gitter, als müsse er gegen die Stadt geschützt werden. Kringelein, von so viel Fremdem und Überwältigendem umgeben, freundete sich ein wenig mit diesem Baum an. Hernach stand er eine Weile verwirrt und ohne Rat vor dem unbekannten Nickelmechanismus der Badewanne, aber auf einmal klappte es, warmes Wasser schoss ihm über die Hände, und er zog sich aus. Es war ihm etwas peinlich, seinen zierlichen, abgezehrten Körper in dem hellen Kachelraum nackt zu machen. Aber zuletzt saß er länger als eine Viertelstunde im Wasser und hatte keine Schmerzen, nein, die Schmerzen, mit denen er seit Wochen umging, hatten ihn plötzlich verlassen. Und er wollte ja auch in der nächsten

Gegen zehn Uhr abends irrte Kringelein in der Halle umher, hübsch angetan mit einem Schwalbenschwanz, hohem steifem Kragen und schwarzer genähter Krawatte. Er war jetzt gar nicht müde, im Gegenteil, eine fieberhafte Aufgekratztheit und Ungeduld hatte sich seiner bemächtigt. Jetzt fängt es an, dachte er immerfort, und seine mageren Schultern zitterten dazu wie bei einem nervösen Hund. Er kaufte eine Blume und steckte sie ins Knopfloch, schleifte genussvoll über den Himbeerroten, beklagte sich beim Portier, dass keine Tinte in seinem Zimmer sei. Ein Page transportierte ihn in den Schreibraum. Kaum befand Kringelein sich vor den vielen leeren Schreibpulten, im vertrauten Licht der grünen Lampenschirme, da verschwand seine sichere Haltung, er nahm die Hand aus der Hosentasche und sah geduckt aus. Er schob seine weißen Manschetten mit einer Gewohnheitsbewegung in den Rockärmel, bevor er sich niedersetzte, und dann begann er mit den großen Schlingen seiner Buchhalterschrift zu schreiben:

»An die Personalverwaltung der Saxonia Baumwoll A.-G. in Fredersdorf. Sehr geehrte Herren«, schrieb Kringelein. »Unterzeichneter gestattet sich, ergebenst mitzuteilen, dass er laut beigefügtem ärztlichem Attest (Beilage A) für vorläufig vier Wochen dienstunfähig ist. Das am Ultimo fällig gewesene Monatsgehalt für März bittet Unterzeichneter laut Vollmacht (Beilage B) an Frau Anna Kringelein, Bahnstraße 4, auszahlen zu wollen. Sollte es dem Unterzeichneten nicht möglich sein, seinen Dienst nach vier Wochen wieder aufzunehmen, erfolgt weitere Nachricht. Hochachtungsvoll ergebenst Otto Kringelein.«

»An Frau Anna Kringelein, Fredersdorf in Sachsen, Bahnstraße 4.

Liebe Anna«, schrieb Kringelein ferner (und das A hatte einen großen, runden Anschwung). »Liebe Anna, teile Dir mit, dass die Untersuchung durch Herrn Professor Salzmann

»Herrn Notar Kampmann, Fredersdorf in Sachsen, Villa Rosenheim, Mauerstraße.

Lieber Freund und Sangesbruder«, schrieb Kringelein als Drittes in seiner sauberen Schrift und leise, auf die Federspitze schielend, »Du wirst Dich wundern, aus Berlin ein längeres Schreiben von mir zu erhalten, doch muss ich Dir wichtige Veränderungen mitteilen und zähle auf Dein Verständnis und Deine berufliche Verschwiegenheit. Es fällt mir leider schwer, mich schriftlich auszudrücken, doch hoffe ich, bei Deiner umfassenden Bildung und Menschenkenntnis, dass Du meinen Brief richtig auffassen wirst. Wie Du weißt, habe ich mich nach der Operation im letzten Sommer nie mehr richtig gut gefühlt, und traute ich unserm Krankenhaus und Doktor gleich nicht viel zu. Habe deshalb die Gelegenheit der Erbschaft von meinem Vater benützt und bin mit dem Geld hierher gefahren, um untersuchen zu lassen, was los ist. Leider, lieber Freund, ist nichts Gutes los, und habe ich nach Meinung des Professors nur noch kurze Zeit zu leben.«

Kringelein hielt die Feder in die Luft, vielleicht eine Minute lang; er vergaß, einen Punkt zu machen nach dem Satz. Sein Schnurrbart, der stattliche Schnurrbart eines Vereinsvorstandes, zitterte leicht, aber er fuhr tapfer fort zu schreiben:

»Es geht einem natürlich bei solcher Mitteilung manches durch den Kopf, und ich habe mehrere Nächte nicht geschlafen, nur nachgedacht. Bin dabei zu dem Entschluss

Es grüßt Dich innig Dein getreuer Moribundus Otto

PS. Sage dem Vereinsvorstand nur, dass ich in ein Beamten-Erholungsheim musste.«

Kringelein überlas die Briefe, deren Wortlaut er in zwei verwachten Nächten zusammengestellt hatte – er war nicht ganz zufrieden; es schien ihm in dem Brief an den Notar etwas Wesentliches ungesagt, aber er fand nicht heraus, woran das lag. Kringelein, obwohl unbeholfener und bescheidener Natur, war nicht eben dumm, er besaß Idealismus und Bildungsstreben. Dass er sich selber scherzhaft als Moribundus bezeichnete, bezog sich beispielsweise auf einen Ausdruck, der ihm in einem Buch aus der Leihbibliothek begegnet war, das er unter ziemlichen Mühen gelesen und in schwierigen Gesprächen mit dem Notar durchgekaut hatte. Kringelein hatte von Geburt an das normale Leben des Kleinbürgers geführt, das etwas verdrossene, aufschwunglose und verzettelte Leben des kleinen Beamten in der kleinen Stadt. Er hatte früh und ohne starken Antrieb geheiratet, ein Fräulein Anna Sauerkatz, Tochter des Kolonialwarenladens Sauerkatz, eine Person, die ihm von der Verlobung bis zur Hochzeit sehr hübsch vorkam, aber kurz nach der Heirat hässlich wurde, unfreundlich, geizig und voll kleinlich-wichtiger Schwierigkeiten. Kringelein bezog ein fixes Gehalt, das von fünf zu fünf Jahren ein wenig aufgebessert wurde, und da seine Gesundheit nicht die beste war, verhielt ihn Ehefrau und Familie vom ersten Tag an zu gepresster Sparsamkeit, in Rücksicht auf ein nebelhaftes »Versorgtsein« späterhin. Ein Klavier, das er sich zeitlebens heftig wünschte, blieb ihm beispielsweise versagt; auch den kleinen Teckel namens Zipfel musste er verkaufen, als die Hundesteuer heraufgesetzt wurde. Am Hals hatte er immer eine wunde Stelle, weil seine dünne, blutarme Haut die aufgerauten Ränder der alten, abgetragenen Hemdkragen nicht vertrug. Zuweilen schien diesem Kringelein etwas mit seinem Leben nicht ganz richtig zu sein, aber er fand nicht,

Als Kringelein sich etwas taumelig erhob und mit seinen drei Briefkuverts den Weg durch das Lesezimmer nahm, traf er auf Herrn Doktor Otternschlag, der ihm die zerschossene Seite seines Gesichtes fragend zuwandte und Kringelein dadurch heftig erschreckte.

»Nun? Untergebracht?«, fragte Otternschlag träge, er war jetzt im Smoking und schaute seine lackierten Schuhspitzen an.

»Ja, jawohl. Prima«, antwortete Kringelein befangen. »Danke. Ich muss dem Herrn vielmals danken. Der Herr waren so gütig zu mir –«

»Gütig? Ich? Gar nicht. Ach so, wegen des Zimmers? Nee. Sehense, ich wollte schon längst hier ausziehen, bin nur zu faul. Ist ja ein miserables Kaff, das Hotel hier. Hättense mein Zimmer genommen, säße ich jetzt im FD-Zug nach Mailand oder so – wäre nett gewesen. Na, ist gleich. Im März ist auf der

»Der Herr reist wohl viel?«, fragte Kringelein schüchtern; er war geneigt, jeden Insassen dieses Hotels für einen Geldmagnaten oder Adeligen zu halten. »Gestatten: Kringelein –«, fügte er bescheiden hinzu, mit einer Verbeugung von Fredersdorfer Eleganz. »Der Herr kennen die große Welt –«

Otternschlag verzog das »Souvenir aus Flandern«. »Es geht«, sagte er. »Das Übliche kenne ich, so die Allerweltsroute. Indien und dann drüben einiges.« Er lächelte schwach über den ungeheuren Hunger, der in Kringeleins blau schielenden Kneiferaugen aufstand. »Ich beabsichtige auch zu reisen«, sagte Kringelein. »Unser Generaldirektor Preysing zum Beispiel reist jedes Jahr. Erst vor Kurzem war er in Sankt Moritz. Vorige Ostern war er mit seiner ganzen Familie in Capri. So etwas denke ich mir wundervoll –«

»Haben Sie Familie?«, fragte Doktor Otternschlag und legte seine Zeitung beiseite. Kringelein überlegte fünf Sekunden, bevor er antwortete:

»Nein.«

»Nein«, wiederholte Otternschlag, und in seinem Mund nahm das Wort etwas Unwiderrufliches an.

»Ich möchte zuerst nach Paris reisen«, sagte Kringelein, »Paris soll sehr schön sein?«

Doktor Otternschlag, der eben noch einen Schimmer von Wärme und Interesse gezeigt hatte, schien am Einschlafen zu sein. Er hatte mehrmals am Tag solche Zustände des Erschlaffens, denen er nur auf verheimlichte und bösartige Weise Abhilfe schaffen konnte. »Nach Paris müssen Sie im Mai«, murmelte er. Kringelein sagte schnell: »So viel Zeit habe ich nicht …«

Plötzlich ließ Doktor Otternschlag ihn stehen. »Ich gehe mal auf mein Zimmer, muss mich mal hinlegen«, sagte er, zu