Boris Meyn

Totenwall

Ein historischer Kriminalroman

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Boris Meyn

Boris Meyn, Jahrgang 1961, kennt sich als promovierter Kunst- und Bauhistoriker bestens in der Geschichte seiner Heimatstadt Hamburg aus. Sein erster historischer Roman, «Der Tote im Fleet», avancierte in kurzer Zeit zum Bestseller. Mit seiner Familie lebt der Autor im ländlichen Ostholstein.

 

Weitere Veröffentlichungen:

 

Die historischen Hamburg-Krimis:

Der Tote im Fleet

Der eiserne Wal

Die rote Stadt

Der blaue Tod

Die Schattenflotte

 

Die Lauenburg-Krimis:

Tod im Labyrinth

Der falsche Tod

Das Haus der Stille

Kontamination

 

sowie

Die Bilderjäger

Über dieses Buch

Die Verbrechen von Hamburg

 

Elbtunnel, Ringbahn, Mönckebergstraße: Im schwülen Frühsommer 1910 ist Hamburg eine einzige Baustelle. Auf den Straßen tuckern die ersten Automobile, und Rechtsanwalt Sören Bischop fährt jetzt ein Kraftrad der Marke Harley-Davidson. In der Hitze scheint auch das Verbrechen zu gedeihen: Die ganze Stadt spricht von dem Raubmord im Bankhaus Goldmann, bei dem der Seniorchef brutal erschlagen wurde. Kurze Zeit später meldet sich ein alter Kunde bei Sören, ein Panzerknacker. Er gesteht ohne Umschweife den Einbruch. Ein gut bezahlter Auftrag - aber Mord, damit habe er nichts zu tun. Dann spült ein heftiger Sommerregen eine kopflose Frauenleiche an einem Bahndamm frei. Und es wird nicht die letzte sein …

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Dezember 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Lektorat Werner Irro

Umschlaggestaltung any.way, Cathrin Günther

(Foto: Archiv der Hamburger Hochbahn AG)

Abbildungen im Innenteil: Staatsarchiv Hamburg, Opel Classic Archiv der Adam Opel AG und Harley-Davidson

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-25631-8 (1. Auflage 2011)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-45321-0

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-45321-0

Stadtplan von 1905

Die Männer arbeiteten im tranigen Licht ihrer Grubenlampen. Vor Staub war kaum etwas zu sehen. Immer wieder mussten sie pausieren und warten, bis sich der aufgewirbelte Dreck gelegt hatte. Die feuchten Taschentücher vor den Gesichtern waren genauso nass und verschmutzt wie ihre durchgeschwitzten Klamotten. Ein Stollen, ja. Aber nur wenige Meter unter der Erde gelegen. Aus der Ferne waren Dampframmen zu hören. Kumpel waren sie, jedoch nicht unter Tage. Keine Bergarbeiter. Kohle hatten sie dennoch vor Augen.

«Das geht mir alles zu glatt. Drei Tage buddeln wir hier nun schon, und keiner hat was gemerkt.»

«Ich sagte doch, das Ding ist sicher. Für den Gang interessiert sich keiner. Hier gibt es so viele Gänge, einer mehr oder weniger fällt da nicht auf.»

«Und du bist sicher, dass wir an der richtigen Stelle sind?»

«Absolut. Wie weit seid ihr?»

«Nur noch diese Steinreihe. Ich kann schon den Hohlraum ausmachen.»

Steine purzelten. Die Männer schreckten zurück und kauerten sich Schutz suchend an den Rand des Stollens. Stützwerk hatten sie keines ausgebracht, jetzt richteten sich ihre Blicke angstvoll nach oben. Nichts. Keine Risse. Nur ein schmales Rinnsal von Wasser. Die Decke hielt. Sie wischten sich den Schweiß von der Stirn und erhoben sich.

Der Mauerdurchbruch bot genügend Platz. Einer nach dem anderen schlüpften sie in den dahinter liegenden Kellerraum.

«Und jetzt?»

«Leuchte mal da rüber!»

Der Drehschalter ließ eine Glühbirne an der Decke aufflackern. Endlich Licht. Die Männer schauten sich um. Sie standen in einem Gewölberaum, der bis zu den Schultern mit hellem, glasiertem Steinzeug gekachelt war. Keine Bilder an den Wänden, keine Einrichtungsgegenstände, nur die Lampe an der Decke. Zur Linken zwei Türen, zur Rechten eine. Aus Eisen.

«Das ist die Tür. Dahinter wohnt das Glück.»

«Da kommen wir nie rein.»

«Red nicht. Reich mir den Kasten und hol die Flaschen.»

Die Männer wuchteten die schweren Eisenflaschen durch das Loch in der Wand. Der Holzkasten enthielt Schläuche und eine kunstvoll gebogene Apparatur aus messingfarbenen Rohren, vorne eine sich verjüngende Spitze dran. Wortlos wurden die Teile verbunden. Ein Streichholz entzündete erst eine Kerze, dann den Brenner. Ein Knall, dann ertönte ein zischendes Fauchen.

«Wozu die Kerze?»

«Wenn die Flamme erlischt, müssen wir hier raus und fofftein machen. Das Ding verbraucht Sauerstoff wie nichts Gutes.»

«Woher hast du das Teil?»

«Organisiert. Damit schneiden sie neuerdings Stahlplatten bei Blohm & Voss zurecht.»

«Und du kannst damit umgehen?»

«Ist selbsterklärend …»

Der Mann setzte eine dunkle Brille auf und regelte den Feuerstrahl aus dem Brenner mit einem kleinen Rändelrad, bis sich die Farbe der Flamme erst grünlich blau, dann weiß verfärbte. Behutsam richtete er den scharfen Strahl auf das Eisen der Tür. Es brutzelte, und Funken sprühten auf. Durch das getönte Brillenglas konnte er erkennen, wie sich die grelle Flamme durch das Eisen schnitt, als handle es sich um Butter. Die anderen hatten den Blick abgewandt und starrten auf die Kerze am Boden. Ein beißender Gestank erfüllte den Raum. Schnitt für Schnitt schälte der Brenner die eisernen Platten von der Tür. Der Mann wusste anscheinend genau, welchen Bereich er öffnen musste, um an den Schließmechanismus zu gelangen.

Endlich Stille. Mit einem Brecheisen hebelte er die letzte Platte aus der Tür, deren Ränder immer noch glühten, als sie zu Boden fiel. Nach einer Andachtssekunde griff er nach einer Stange im Hohlraum der Tür. Ein sattes Schnappen ertönte, und sie sprang auf.

«Und … offen!» Der Blick, den er den anderen zuwarf, war von Stolz erfüllt.

«Unglaublich.»

Ehrfurchtsvoll blickten die Männer in den Tresorraum. Auf den Regalen stapelten sich gebündelte Geldscheine.

«Wahnsinn! Wie viel mag das sein?»

«Frag nicht, greif zu! Zählen kannst du später.»

«Leuchte mal hier rüber. Ich brauch noch was anderes.»

«Psst! – Hast du das gehört?»

«Was?»

«Das Geräusch. Als wenn eine Tür klappt.» Die Männer verharrten regungslos. Keiner gab einen Mucks von sich.

Dem Lauschen folgte ein Flüstern. «Ich hör nichts.»

«Dann hab ich mich wohl getäuscht. Los, an die Arbeit. Einsacken, und dann nix wie raus hier.»

Kapitel 1

Der Blick vom Schweinemarkt aus war überwältigend und beängstigend zugleich. Im Wald hätte man von einer Lichtung gesprochen, einer Lichtung, durch Menschenhand geschaffen, von der aus eine künstliche Schneise in leichtem Schwung das gewachsene Grün durchschnitt. Aber Sören Bischop stand in keinem Wald. Er stand inmitten der Hamburger Altstadt, und es waren keine Bäume, sondern Steine, die man gerodet hatte. Bis auf die Hauptkirchen St. Jacobi und St. Petri, deren Türme die Schneise flankierten, hatte man nichts stehen gelassen. Von keinem Punkt der Stadt aus hatte man die beiden Kirchen bislang zugleich sehen können. Nun wetteiferten sie in ihrer vollen Größe mit Turm und Fassade des neuen Hamburger Rathauses, das sich am Ende der Straße erhob. Alles andere hatte man niedergelegt – kein Gebäude war den Abrissbaggern entkommen. Die alten Gemäuer und Höfe der Hamburger Gänge, der Gassen und Twieten waren verschwunden. Letzte Reste der ursprünglichen Bebauung standen noch diesseits der Steinstraße, aber auch sie würden in den nächsten Wochen den Abrissbirnen und Spitzhacken zum Opfer fallen. Hier gab es keine Zukunft mehr für die windschiefen Buden, die sich im Wildwuchs über die Jahre immer mehr verdichtet hatten. Die Höfe und Wohnstätten der Kirchspiele waren verschwunden.

Eigentlich hätte man die Kirchen gleich mit abreißen können, sinnierte Sören. Das waren keine ketzerischen Gedanken. Letztendlich hatten die Gotteshäuser an dieser Stelle der Stadt ihre Daseinsberechtigung verloren, denn in unmittelbarer Umgebung wohnten keine Schäfchen mehr, die man hätte betreuen können. So etwas traute man sich natürlich nicht auszusprechen. Aber es war die Realität. Hamburg war dabei, Metropole zu werden. Man wollte in direkte städtebauliche Konkurrenz zu London und Paris treten, mit Berlin galt es mindestens gleichzuziehen. Die Aufforstung dazu hatte bereits begonnen. Allerdings nicht in Form kleiner, zarter Setzlinge, deren Wuchs sich über Jahrzehnte hinziehen würde. Nein, was entlang der Lichtung gebaut wurde, waren riesige Klötze, deren hohe Fassaden – hätte man die Schneise nicht über dreißig Meter breit angelegt – die Straße zur Schlucht gemacht hätten. In Bau und in Planung befanden sich ausnahmslos Geschäftshäuser, Hotels, Kontor- und Warenhäuser, und legte man Gestalt und Höhe der bereits fertiggestellten Bauten an Spitalerstraße, Pferdemarkt und Bergstraße zugrunde, dann würden in absehbarer Zeit nur noch die Turmspitzen der Kirchen von hier aus zu sehen sein. Die Klosterburg am Glockengießerwall, das Semperhaus und auch das Commeterhaus deuteten an anderer Stelle bereits an, was auch hier entstehen würde. Nur sollten Größe und Pracht an der zukünftigen Mönckebergstraße, wie der große Durchbruch zu Ehren von Senator Mönckeberg genannt worden war, eine nochmalige Steigerung erfahren.

Sören schlenderte in Richtung Rathaus. An den Seiten tat sich eine Baugrube neben der anderen auf. Auf Höhe des Barkhofs ragten bereits die unteren Geschosse der Neubauten aus dem Boden. Wohin er auch blickte, die Stadt war eine einzige Baustelle. Nicht nur hier. Überall in Hamburg wurde gebuddelt, abgerissen, gebaut. Höher, größer, schneller … spektakulärer. Vor allem die Bauten des Verkehrswesens beherrschten die Stadt und schienen sich gegenseitig übertrumpfen zu wollen. Der Bau des neuen Zentralbahnhofs vor vier Jahren war der Anfang gewesen. Danach hatten die Landungsbrücken in St. Pauli ein neues Gesicht erhalten, und im letzten Jahr hatte man mit dem Tunnelbau unter der Elbe begonnen. Viel imposanter als diese spektakulären Einzelbauten aber waren die über hundert Baustellen der zukünftigen Ringlinie, die sich wie riesige Maulwurfshügel über die ganze Stadt verteilten. Sören fühlte sich vom Baulärm umzingelt. Dazu kamen die Zahnschmerzen, die ihn seit Tagen plagten. Und dann noch diese außerordentliche Schwüle. Es war kaum zu ertragen.

Im Café Liebmann hatte Sören Glück. Er ergatterte einen der begehrten Fensterplätze. Von hier aus hatte man freien Blick auf den scheinbar unaufhaltsamen Strom der Großstadt. Flanierende Menschen auf den Bürgersteigen, dazwischen hektisch laufende Boten, Händler, die ihre Handwagen und Karren schoben, überladene Pferdefuhrwerke, vereinzelt Automobile, die sich im Schritttempo durch das Chaos auf den verstopften Straßen bewegten, dahinter vorbeiratternde Straßenbahnwaggons, teils im Minutenabstand, teils dicht auf dicht folgend, bis sich der Tross der einzelnen Linien hinter dem Rathausmarkt auflöste und die Wagen ihren Zielpunkten entsprechend in alle Himmelsrichtungen entschwanden.

Sören orderte ein Kännchen Kaffee und ein Glas Zitronenwasser – der Renner der Saison. Die hohe Luftfeuchtigkeit machte allen zu schaffen. In den letzten Tagen hatten sich Gewitter und Regengüsse ungewöhnlich heftig über der Stadt entladen. Sören konnte sich nicht erinnern, so etwas jemals erlebt zu haben. Dabei war Hamburg noch relativ glimpflich davongekommen. Die Wetterlage schien über ganz Deutschland Kapriolen zu schlagen. In Süddeutschland hatte es massenhaft Überschwemmungen gegeben, und am Rand der Alpen waren ganze Häuser von Schlammlawinen überspült und fortgerissen worden. Dagegen waren die paar vollgelaufenen Kellerräume in der Stadt nur von lokaler Bedeutung. Auch den Blitzschlägen und Bränden im Hamburger Umland widmete die Tagespresse nur beiläufige Aufmerksamkeit. Der Raubmord im Bankhaus Goldmann & Cie. beherrschte immer noch die Schlagzeilen. Auch hier im Café war das Thema in aller Munde, wie Sören den Gesprächen an den Nachbartischen entnehmen konnte. Vielleicht auch, weil Elias Goldmann in diesem Etablissement ein häufig anzutreffender Gast gewesen war. Aber die ganze Stadt sprach eigentlich von nichts anderem. Vom Wetter einmal abgesehen.

Das eiskalte Zitronenwasser betäubte den pulsierenden Schmerz in Sörens Kiefer. Langsam, als könnte der Zustand auf diese Weise unbegrenzt andauern, blätterte er durch das Fremdenblatt, dann durch den Anzeiger. Selbst die Berichte über den bislang unsichtbaren Kometen waren angesichts des Raubmordes in den Hintergrund gerückt. Dabei gab es offenbar keine wirklich neuen Erkenntnisse. Man zerriss sich den Mund mit Spekulationen. Die Täter waren über einen der Ringbahnschächte von außen in das Bankgebäude eingedrungen. Sie waren direkt im Tresorraum im Keller gelandet. Der als einbruchsicher geltende Panzerschrank war fachmännisch aufgeschweißt worden, doch bei dieser Arbeit mussten die Täter überrascht worden sein. Im Vorraum zur Tresorkammer hatte man den Seniorchef des Bankhauses gefunden. Tot. Mit eingeschlagenem Schädel. Über die Höhe der Beute gab es nur Vermutungen. In der Tresorkammer, immerhin ein Raum von über zwanzig Quadratfuß, konnte alles Mögliche gelagert worden sein. Man munkelte etwas von einem Millionenraub, dreist und brutal. Andere tuschelten, es handle sich um den größten Raub, der je in der Stadt geschehen sei. Die Polizei hielt sich unterdessen bedeckt. Für sie war es unvorstellbar, wie sich die Täter in das Gebäude hatten graben können, ohne von den Arbeitern im Bahnschacht bemerkt zu werden. Man ging von einer Komplizenschaft aus.

Die andere Schreckensmeldung ging im Tumult der Spekulationen fast unter. In einem Erdwall in Barmbeck war die Leiche einer Frau gefunden worden, ohne Kopf. Zufällig, da das Erdreich des zukünftigen Bahndamms durch die Regengüsse aufgeweicht und abgerutscht war. Ein Kapitalverbrechen, ohne Frage. Ohne die heftigen Unwetter wäre die Tat wahrscheinlich nie entdeckt worden. Das war natürlich auch schrecklich, aber bei weitem nicht so spektakulär wie der Raubmord in der Stadt; den Zeitungen war der Vorfall daher nur eine Randnotiz wert. «Scheint ja ein mordsmäßiger Sommer zu werden», spöttelte Frederik Liebmann mit dem ihm eigenen Sarkasmus, als Sören die Rechnung beglich. Das «Passen Sie auf sich auf», das Liebmann zur Verabschiedung hinterherschob, ging in der Geräuschkulisse des Cafés unter.

Die Straße empfing Sören, als würde er ein Dampfbad betreten. Der Himmel war immer noch bedeckt, und die schwüle Luft gierte förmlich nach einem Hauch Wind. Trotz der Baumwollkleidung lief Sören schon nach wenigen Metern der Schweiß herunter. Die Krempe des neuen Panamahuts rutschte auf der Stirn. Am liebsten wäre er umgekehrt und hätte sich noch ein Zitronenwasser gegönnt. Die Zahnschmerzen machten sich wieder bemerkbar. Direkt neben ihm wischte sich ein beleibter Mann mit einem schmutzigen Taschentuch das Gesicht trocken. Alles ächzte und stöhnte unter der feuchten Wärme. Die zierlichen Sonnenschirme, unverzichtbares Accessoire der Damenwelt auf dem Trottoir, blieben zusammengeklappt und dienten als Stütze, nicht als Schutz.

Sören blickte zur Uhr. Es war kurz nach vier. Eine knappe Stunde blieb ihm noch. In die Kanzlei zurückzukehren machte da kaum Sinn. Er hatte Tilda versprochen, sie von der Probe abzuholen. Am frühen Abend waren sie bei David eingeladen, der etwas mit ihnen feiern wollte. Was, das hatte ihm sein Adoptivsohn nicht sagen wollen. Dann wäre es ja keine Überraschung mehr. Er hatte geheimnisvoll geklungen. Häufig sahen sie sich nicht. Mit seinen zweiunddreißig Jahren stand David längst auf eigenen Beinen, und Sören war stolz auf seine beruflichen Erfolge. Seit sechs Jahren arbeitete David als Chefzeichner bei der Altonaer Architektengemeinschaft von Ludwig Raabe und Otto Wöhlecke.

Mit gemächlichem Schritt schlenderte Sören über den Jungfernstieg. Er ging natürlich auf der Wasserseite, aber die erhoffte Kühle im Schatten der Bäume wollte sich nicht einstellen. Am Rand der Uferpromenade ließen ein paar Kinder ihre Füße ins Wasser des Sees baumeln. Er beneidete sie. Am liebsten hätte er es ihnen gleichgetan. Als er den Alsterpavillon passierte, konnte er dem Wunsch nach einem kühlenden Eiskaffee nur schwer widerstehen. An zierlichen Tischen erholten sich die Damen der Gesellschaft von ihren anstrengenden Einkäufen bei Eiscreme und Mokka. In ihrer modischen Staffage wirkten die Grüppchen wie pittoreske Gebinde aus farblich aufeinander abgestimmter Spitze, Satin und Mousseline. Sören überquerte den Gänsemarkt und schritt den Valentinskamp in Richtung Holstenplatz hinauf. Er kreuzte die Caffamacherreihe, warf einen Blick auf die alten Gemäuer der noch nicht abgerissenen Gänge zwischen Speckstraße und Bäckerbreitergang, fragte sich, wann man hier wohl beginnen würde, das alte Hamburg niederzulegen, dann schwenkte er hinüber zum Dragonerstall, wo der Bühneneingang der Laeiszhalle lag. Ein Arbeitsplatz, wie er schöner kaum sein konnte. Seit zwei Jahren hatte Mathilda die Stelle der Ersten Violine im Ensemble der städtischen Symphoniker inne, dem Residenzorchester der Laeiszhalle. Damals war das vom Reeder Laeisz gestiftete Konzerthaus gerade eingeweiht worden. Sören war ein Stein vom Herzen gefallen, als Tilda die Stelle bekommen hatte, denn jahrelang hatte sie damit geliebäugelt, gegebenenfalls nach Berlin zu gehen, wo man sehr um die begabte Violinistin gebuhlt hatte. Zunächst hatten die Kinder dieses Vorhaben verhindert, aber Ilka war inzwischen siebzehn, und auch Robert war mit seinen sieben Jahren nicht mehr auf die tägliche Fürsorge von Mathilda angewiesen.

Unter der cremefarbenen Leinenjacke trug Mathilda ein eng anliegendes Batistkleid, das ihre zierliche Figur betonte. Die Haare hatte sie hochgesteckt, mit ihrem schelmischen Lächeln und der kleinen, von Sommersprossen umgebenen Stupsnase wirkte sie immer noch wie eine junge Frau. Keine Spur von ihrem wahren Alter. Wenn man einmal davon absah, dass sie sich die Haare tönte, wäre niemand auf die Idee gekommen, dass Tilda in diesem Jahr ihren 44. Geburtstag feierte. Den Geigenkasten unterm Arm, lächelte sie ihm entgegen, und wie immer wurde es Sören warm ums Herz. Auch nach so vielen Jahren der Vertrautheit war ein Funken Verliebtheit erhalten geblieben.

Eine flüchtige Umarmung, ihre übliche Begrüßung in der Öffentlichkeit. «Hast du inzwischen eine Ahnung, was David mit uns feiern möchte?», fragte sie auf dem Weg zum Droschkenstand.

«Vielleicht hat er sich verlobt», witzelte Sören. «Alt genug ist er ja. Ich frage mich schon seit langem, warum er uns nie eine richtige Freundin vorgestellt hat.» Ein wenig plagte ihn die Sorge, sein Zieh- und Adoptivsohn könnte einer ähnlichen Veranlagung erliegen wie sein bester Freund Martin. Martin Hellwege zog es bis ins hohe Alter vor, allein zu leben. Nicht aus Prinzip, sondern weil er sich eben nicht zum anderen Geschlecht hingezogen fühlte. Er gab der Gesellschaft von Männern den Vorzug, insbesondere von jüngeren Männern. Unwillkürlich musste Sören schmunzeln. Er hatte seinem Freund soeben ein hohes Alter attestiert, aber Martin war sein Jahrgang, und mit zweiundsechzig fühlte er sich noch nicht wirklich alt.

«Dann hätte er bestimmt etwas durchsickern lassen», bemerkte Mathilda. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, und eigentlich hätten sie auch zu Fuß gehen können, aber Sören zog es vor, die Stätten der Gerichtsbarkeit im Wagen zu passieren. Auf dem Justizforum zwischen den Gebäuden von Oberlandes-, Straf- und Ziviljustizgericht begegnete ihm immer jemand, der ihn oder den er kannte, und Mathilda hatte eine Abneigung gegen die belanglosen Förmlichkeiten, die zwischen Vertretern der Jurisprudenz auch in beiläufigen Situationen den Regelfall darstellten.

Die Droschke ratterte über das Holstenthor auf die Schanze. Seit einigen Jahren bewohnte David eine Souterrainwohnung in der Glashüttenstraße zwischen Schlachthof und Karoline. Auch hier waren die Bauarbeiten der zukünftigen Ringbahn allgegenwärtig. Da die Glashüttenstraße wegen Pflasterungsarbeiten gesperrt war, konnten sie nicht bis vor die Tür fahren. Der Kutscher bot an, die Adresse von der anderen Seite aus anzufahren, aber das hätte einen riesigen Umweg bedeutet, und so legten sie den kurzen Rest der Strecke zu Fuß zurück.

Als David die Tür öffnete, wurde Sören bewusst, dass sie sich wirklich schon länger nicht mehr gesehen hatten. Auf der Straße wäre er glatt an seinem Sohn vorbeigelaufen, ohne ihn zu erkennen. Schuld daran war der Bart, den er nun trug. Kein majestätischer Zwirbelschnauzer, der sich für einen strammen Sozialdemokraten wie David natürlich verboten hätte, sondern ein kurz geschnittener Vollbart, der ihn merkwürdig alt aussehen ließ. Sören selbst hatte das Tragen eines Barts bis auf wenige Versuche stets abgelehnt, und den Versuchen hatte dann Tilda eine Absage erteilt.

David begrüßte ihn mit jovialem Schulterschlag, Mathilda mit liebevoller Umarmung. Sie verschwand buchstäblich zwischen Davids kräftigen Armen. Betrachtete man seine Statur, erkannte man spätestens dann, dass kein gemeinsames Blut in ihren Adern floss. David war fast einen Kopf größer als Sören, hatte breite Schultern und auch sonst athletische Maße. Er füllte den Türrahmen fast vollständig aus. Sein krauses Haar trug er mittellang, vereinzelt fielen ihm Strähnen in die Stirn.

Sören und Mathilda bemerkten, dass sie nicht die einzigen Gäste waren. David stellte ihnen seinen Freund und Parteigenossen Erwin Schmalfeld sowie die Genossin Rosa Wimmer vor. Rosa hatte eine ähnliche Statur wie David, dazu Hände, die nach Arbeit aussahen, und Sören spekulierte sofort, ob sie Davids Freundin war. Ihr Verhalten gab darüber keine Auskunft. Er warf Tilda einen fragenden Blick zu, ob sie einen der beiden aus der Partei kannte, aber anscheinend waren sie ihr unbekannt. Rosa hatte die Küche in Beschlag genommen, und alle mussten zum Schälen antreten. Erst die Kartoffen, dann den Spargel. Irgendwie hatte sich Sören eine Einladung zum Essen anders vorgestellt, aber als Tilda sich wie selbstverständlich mit einem Messer bewaffnet an den Küchentisch setzte, gab er klein bei und gesellte sich dazu.

Stolz präsentierte David einen Schinken, von dem er fingerdicke Scheiben abschnitt. «Nur mit ausgelassener Butter und Petersilie. Rosa besteht darauf.» Er warf ihr einen eindringlichen Blick zu, den sie mit einem wissenden Lächeln quittierte: «Man muss sich entscheiden, ob der Schinken oder der Spargel die Hauptrolle spielt.»

Sören schätzte Rosa auf Anfang dreißig, so alt wie David. Vergeblich suchte er nach Gesten, ob sie David oder doch Erwin näherstand, aber es gab keine Hinweise, weder eine flüchtige Berührung noch ein verräterisches Wort. In dem Raum neben der Küche hatte David provisorisch zwei Tische zusammengestellt. Er drückte Sören Geschirr und Besteck für sechs Personen in die Hand.

«Wir warten noch auf eine Freundin. Liane Kronau. Die unerschrockene Aeronautin. Du wirst sicher von ihr gehört oder gelesen haben …» Sören verneinte entschuldigend. «Über ihre spektakulären Ballonaufstiege berichtet bereits die Presse», erklärte David seinem Vater. «Sie lässt sich auf einem Fahrrad sitzend in schwindelerregende Höhen tragen.»

«Ich habe von ihr gelesen», mischte sich Tilda ein. «Sie tritt im Varieté am Alten Schützenhof auf. Eine Freiluftartistin, nicht wahr?»

David nickte. «Ja, zurzeit. Eigentlich ist sie Tänzerin und Künstlerin, aber das Spektakuläre liegt ihr, und damit lässt sich momentan gutes Geld verdienen. Ihr werdet sie mögen.»

Also doch. Davids letzter Satz war nur in eine Richtung zu interpretieren. Er hatte also ein Mädchen – und das war nicht die grobschlächtige Rosa, wie Sören befriedigt zur Kenntnis nahm. Er versuchte, sich eine tänzerische Aeronautin vorzustellen, was ihm beim besten Willen nicht gelingen wollte, weil für ihn die Eleganz einer Tänzerin und die burschikose Tollkühnheit einer Aeronautin einfach nicht zusammenpassen wollten.

Als Liane Kronau dann etwas verspätet eintrudelte, musste sich Sören eingestehen, dass seine wildesten Phantasien nicht ausgereicht hätten, sich dieses Wesen auch nur annähernd auszumalen. Liane, wie sie von David vorgestellt wurde, war fast so groß wie David, hatte die Statur eines hageren Mannes, einen Hals, der selbst Tildas filigranen Schwanenhals noch an Länge übertraf, darüber ein kantiges, scharf geschnittenes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer römischen Nase. Das dunkelbraune, fast schwarze Haar trug sie mit geflochtenen, hochgesteckten Zöpfen eng am Kopf anliegend, sodass ihre Frisur an eine eiförmige Kappe erinnerte. Unter ihren buschigen Augenbrauen stach ein Blick hervor, der einem den Atem nahm. Fasziniert und ebenso irritiert stellte Sören fest, dass er noch nie zuvor einem so durchdringenden Blick begegnet war. Es kam ihm vor, als würde Liane Kronau durch seine Augen hindurch seine Gedanken lesen können. Entweder war ihre Iris von fast schwarzer Farbe, oder ihre Pupillen waren so sehr geweitet, dass sie die Iris verdrängt hatten. Verunsichert wandte er sich Tilda zu. Ihr schien es ähnlich zu gehen. Auch sie schien von Lianes Ausstrahlung fasziniert zu sein, sie begegnete ihr mit einem anmutigen Lächeln. Die anderen kannten Liane offenbar, es herrschte ein vertrauter Umgangston.

«Was ist aus eurem Kometenclub geworden?», fragte Liane an David gewandt. Sie hatte eine heisere, belegte Stimme. «Habt ihr’s gemacht?»

«Es war lustig, aber eigentlich hatten wir uns mehr versprochen. Halley hat sich nicht blickenlassen. Wir sind trotzdem mit einem Einspänner durch die Stadt», erklärte David seinem Vater und Tilda, die nicht wussten, wovon die Rede war. «Mit Frack, Zylinderhüten und weißen Handschuhen. Auf dem Wagen hatten wir ein mordsmäßig großes Fernrohr aus Pappe montiert, in den Händen hielten wir aus leeren Weinflaschen gebaute Krimstecher. Den Blick immer in Richtung schwarzes Firmament.» Er lachte. «Das sah bestimmt hochoffiziell aus. Alle Leute fragten dann auch neugierig, was es zu sehen gebe. Und wir haben immer nur geheimnisvoll geantwortet: Wir dürfen nichts verraten …»

«Ich wäre so gerne dabei gewesen», sagte Liane Kronau. «Ihr seid mir schon ein paar schräge Vögel. Für jeden Blödsinn zu haben. Seid froh, dass man euch nicht verhaftet hat.»

David grinste. «Für solche Fälle gibt es ja meinen Vater.»

Erst jetzt wandte sie sich Sören zu und schenkte ihm ein Lächeln. Zwischen ihren Lippen blitzten makellose weiße Zähne. «David hat mir bereits viel von Ihnen erzählt.»

Sören hätte gerne etwas erwidert, aber in dem Moment kam Rosa aus der Küche und stellte den Topf Kartoffeln auf den Tisch. Die Schale mit Spargel und ein Tiegel Butter folgten. Alles geriet in Bewegung, und jeder nahm Platz. Sie hatten die Wahl zwischen Schaumwein und Köstritzer Schwarzbier – die Flasche zu 20 Pfennig, wie David betonte. Sören wusste nicht, ob es somit ein Schnäppchen gewesen war oder ob er es als etwas Besonderes ansehen musste. Da niemand den Schaumwein wählte, nahm auch er ein Bier. Getrunken wurde aus der Flasche. Mathilda zögerte nur kurz, bevor sie die Flasche an den Mund setzte. Sören beobachtete seine Frau, die den anderen vom Alter her deutlich näher war als ihm. In Liane hatte sie sofort eine interessierte Gesprächspartnerin gefunden. Da war es wieder, das Gefühl, langsam alt zu werden.

«Wenn der Spargel bissfester als der Schinken ist, ist beides gut», betonte Rosa. «Für die Butter kann ich nichts, die hat David organisiert.»

«Den Schinken auch», protestierte David. «Der Rest kommt aus Rosas Heimat.» Wie verabredet stimmte Erwin mit ein, und gemeinsam brachten sie ein schalkhaft singendes Finkenwäärder über die Lippen. Es klang wie ein Trinkspruch, den alle anderen Anwesenden kannten.

Rosa lachte. «Die Kartoffeln ja, den Spargel habe ich aus Bardowick.»

«Kann nicht sein», erwiderte Erwin. «Ich schmecke einen Hauch von Scholle.» Alles lachte, dann verstummten die Stimmen. Das Essen war ausgezeichnet.

 

Wie sich herausstellte, war Rosa eine früh verwitwete Fischersfrau aus Finkenwerder. Das Boot ihres Mannes galt nach einem Sturm im letzten Jahr als verschollen. Nicht einmal Wrackteile hatte man gefunden. Sie war neunundzwanzig und hatte zwei Kinder. Das Überleben sicherte die Sammlung des Hamburgischen Haupt-Fischerei-Vereins für Hinterbliebene, für alles andere arbeitete sie hart: vormittags in einer Jutespinnerei, jeden zweiten Tag bis in den Abend auf einem Obsthof im Alten Land. Weitere Unterstützung erhielt sie von den Parteigenossen. Vor allem wohl von Erwin, der ganz offensichtlich ein Auge auf sie geworfen hatte. Aber eine nochmalige Hochzeit kam für Rosa nicht in Frage. Nicht, solange die Kinder noch nicht flügge seien, wie sie betonte. Danach könne man sehen. Wenn sich dann noch jemand für den Drachen interessiere. Trotz ihrer einfach gestrickten Art hatten ihre Äußerungen nichts Vulgäres. Es schien, als versuche sie, ihrem Schicksal mit Humor zu trotzen.

Danach beherrschte politischer Gesprächsstoff die Runde. Aber nicht Parteipolitik, wie Sören befürchtet hatte, sondern Themen von internationalem Belang. Man diskutierte über die Kretafrage und was mit der muslimischen Minderheit auf der Insel geschehen solle, nachdem die Union mit Griechenland angestrebt worden war. Von hier aus ging es zur Entwicklung in Persien und der seit fünf Jahren dauernden konstitutionellen Revolution und ihren Folgen. Sören hatte nichts dazu beizutragen. Er langweilte sich. Insgeheim fragte er sich, ob es denn überhaupt etwas zu feiern gebe oder ob das nur ein Vorwand von David gewesen war, um sie hier in diese Runde zu locken. Aber er musste zugeben, die Erscheinung von Liane Kronau, egal, ob sie ihre zukünftige Schwiegertochter werden würde oder nicht, faszinierte ihn, und allein sie lohnte den Abend.

Auch Liane war während der politischen Diskussion eher zurückhaltend, wobei «Diskussion» das falsche Wort war, da sich alle Anwesenden einig zu sein schienen und die Themen dementsprechend schnell fallengelassen wurden. Den Paradiesvogel gab sie allerdings nur aufgrund ihrer äußeren Erscheinung. Was sie beschäftigte und worüber sie sprach, waren eher die Belanglosigkeiten, die der Alltag mit sich brachte. Erst als sie von der weiblichen Leiche berichtete, die man unweit ihrer Wohnstätte in einem Bahndamm entdeckt hatte, erwachte Sören aus seiner Lethargie.

«Da gruselt’s einen schon. Auch ich bin ja zeitweise berufsbedingt zur dunklen Tageszeit auf der Straße, und mir begegnen manchmal unheimliche Typen. Im nächsten Monat habe ich eine Statistenrolle bei den Indianertänzen im Hagenbeck’schen Tierpark in Stellingen. Die Vorführungen finden bis in die Dämmerung statt – und bis ich dann in Barmbeck bin, ist es stockfinster. Ich kann mir nicht jeden Tag eine Droschke leisten.»

David legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. «Ich denke, ich werde dich nach jeder Vorstellung abholen und begleiten müssen.» Er fing an, diabolisch zu grinsen, als wäre er vom Wahnsinn heimgesucht worden. Dann fuhr seine Hand ihren Hals entlang. «Ich überlege schon, auf welcher Höhe ich dir den Kopf abschneiden werde …»

«Lass das!» Sie schob ihn beiseite. Die anderen konnten ihr Lachen nur schwer zurückhalten. «Sie war nackt und ohne Kopf. Ich konnte den Menschenauflauf von meinem Fenster aus beobachten. Ich habe mich gar nicht auf die Straße getraut.»

«Weiß man denn schon Näheres?», fragte Sören interessiert.

«In der Nachbarschaft munkelte man etwas von einer jungen Frau. Warum hat man ihr bloß den Kopf abgetrennt?»

«Dafür kann es mehrere Gründe geben», mischte sich Erwin ein. «Entweder man wollte verhindern, dass die Identität der Person bekannt wird, oder aber sie ist einem Pygmäen zum Opfer gefallen …»

«Aber der hätte den Rest des Körpers verspeist und den Kopf übrig gelassen», entgegnete Mathilda.

Sören wusste nicht, ob sie diese Äußerung wirklich ernst meinte. Es klang mehr amüsiert als besserwisserisch.

«Ich meine so einen rituellen Mord. Es soll ja so Verrückte geben», korrigierte Erwin.

«Wo wir bei so blutrünstigen Dingen sind, kann ich dann ja auch den farblich passenden Nachtisch auftragen», bemerkte Rosa und stellte eine Schüssel mit roter Grütze auf den Tisch. «Dazu gibt’s natürlich …»

«Vanillesauce!», antworteten David und Erwin im Chor.

«Selbst gemacht?»

«Nein.» Rosa schüttelte den Kopf.

«Von Dr. Oetker!», stimmten David und sein Freund ein, als wenn es einstudiert wäre.

Als der Nachtisch verspeist war, kam David endlich zur Sache. Bevor er begann, stellte Rosa mehrere Gläser auf den Tisch. Die Zeit des Schaumweins schien gekommen. «Wir … also Erwin und ich … haben letzte Woche einen Verein gegründet», verkündete er stolz. «Den Fußballclub St. Pauli. Offiziell handelt es sich dabei um die Spiel- und Sportabteilung des Hamburg-St. Pauli Turnvereins, aber das soll die Sache nicht schmälern. Und darauf wollen wir mit euch anstoßen!»

«Na, herzlichen Glückwunsch», gratulierte Sören etwas gedämpft und hob sein Glas. Irgendwie hatte er etwas anderes erwartet, etwas Bedeutungsvolleres. Aber David war schon immer vom Fußballspiel besessen gewesen. Kein Wochenende, an dem er nicht irgendwo dem runden Leder nachlief. Für ihn war es wahrscheinlich etwas sehr Bedeutendes. Er versuchte, sich seine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Den Frauen schien es ähnlich zu gehen, aber alle prosteten den Vereinsgründern zu.

«Ja, und dann gibt es noch etwas …»

Sören rechnete damit, dass David nun bekannt geben würde, er und Liane Kronau hätten sich verlobt, erwarteten Nachwuchs oder etwas Gleichrangiges – sofern es das überhaupt gab.

«Mein Entwurf für die zukünftige Hochbahnhaltestelle in Mundsburg ist angenommen worden», erklärte David.

Wie es aussah, legte Sören einfach eine falsche Erwartungshaltung an den Tag, auch wenn er sich sehr für David freute. So etwas musste für einen Architekten etwa so viel bedeuten wie ein gewonnener Prozess für einen Anwalt. Dennoch war Sören skeptisch. Er kannte den Rang, in dem David stand. «Trägt der Entwurf deinen Namen oder den der Architekten, für die du arbeitest?»

«Letzteres», antwortete David beiläufig. «Aber dennoch habe ich nun etwas, was ich vorweisen kann. Es geht mir nicht darum, unter den Blicken der Öffentlichkeit zu glänzen, sondern um die Anerkennung meiner Arbeit unter den Sachverständigen. Und so ganz liege ich mit dieser Einschätzung wohl nicht daneben …» Er grinste. «Ich hatte letzte Woche ein Gespräch mit dem neuen Leiter des Hochbauamtes, Schumacher. Er war sehr angetan von meinen bisherigen Arbeiten und meinte, dass ich im Hochbauamt gut aufgehoben wäre.»

«Du willst in den städtischen Dienst eintreten?»

«Wie es aussieht, gibt es zumindest die Option», erklärte David. «Professor Schumacher plant für die nächsten Jahre eine Reihe monumentaler Staatsbauten. Er sagte, er könne sich gut vorstellen, dass meine Arbeit eine Bereicherung für seinen Stab darstellt. Es ist ja so, dass ich bei den Herren Raabe und Wöhlecke immer in deren Schatten stehen werde. Wie du schon richtig angemerkt hast, tragen meine Entwürfe ihre Namen.»

«Das wird aber bei Professor Schumacher nicht anders sein, oder?»

«Am Anfang sicher nicht. Dennoch erwarte ich allein aufgrund der Bauaufgaben einen deutlichen Zuwachs meiner Kompetenzen. Nicht zu vergessen, dass ich fast doppelt so viel verdienen werde.»

«Das ist natürlich ein Argument.»

«Ich habe mir bis Ende des Monats Bedenkzeit erbeten. Aber eigentlich steht mein Entschluss bereits fest.»

«Na dann!» Sören hob erneut sein Glas. «Auf den zukünftigen Stadtbaumeister.»

Kapitel 2

Gegen zehn Uhr bog Sören mit seinem knatternden Gefährt von der Pelzerstraße in die Schauenburgerstraße ein. Fast wäre er auf ein Pferdefuhrwerk aufgefahren, das direkt hinter der Kreuzung abgestellt war. Einer Kollision mit der herannahenden Straßenbahn konnte er nur durch einen beherzten Griff zum Gaszug entgehen. Er beschleunigte. Die Leute auf dem Bürgersteig gafften ihm hinterher.

Es kam nur selten vor, dass er so spät in der Kanzlei auftauchte. Heute war einer dieser Tage. Nichts wollte klappen. Erst der unnötige Streit mit Tilda am Frühstückstisch, er wusste nicht einmal mehr, worum es ursprünglich eigentlich gegangen war, dann der platte Vorderreifen, den es noch schnell zu flicken galt, und schließlich die schier endlosen Startversuche, bis der Motor endlich angesprungen war. Hinzu kamen die Zahnschmerzen. Es wurde von Tag zu Tag schlimmer.

Innerlich verfluchte er seinen Entschluss, das Fahrrad gegen diese launische Höllenmaschine eingetauscht zu haben, andererseits bot ihm das Motorfahrrad, so es denn anspringen wollte, doch gehörigen Komfort. Auf die Dauer war ihm die tägliche Strampelei einigermaßen mühsam vorgekommen, und nachdem sich selbst Martin im letzten Jahr eins der neumodischen Automobile zugelegt hatte und pausenlos davon schwärmte, hatte sich Sören dazu durchgerungen, mit der Zeit zu gehen und seine täglichen Fahrten motorisiert zurückzulegen. Ein Automobil war nicht in Frage gekommen. Zum einen waren die Wagen sehr teuer, und in der Schauenburgerstraße war keine Abstellmöglichkeit vorhanden, und zum anderen ließ die Verkehrssituation der Stadt für ein breites Automobil im Allgemeinen kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit zu. Und so, wie derzeitig gebaut wurde, ohnehin nicht.

Dennoch war es mehr oder weniger Zufall gewesen, wie er an das motorisierte Fahrrad gekommen war. Ein transatlantischer Zufall, anders konnte man es nicht nennen. Warum die Familie Amsinck gerade ihn mit der Nachlassabwicklung des in New York verstorbenen Familienmitglieds beauftragt hatte, war ihm bis heute ein Rätsel. Als Anwalt hatte er sich in der Stadt eher mit der Verteidigung von Menschen aus der Arbeiterklasse oder aus dem Milieu einen Namen gemacht. Aber die in Amerika lebende Witwe des Verstorbenen hatte darauf bestanden, dass er alles Erforderliche in die Wege leiten solle, hatte ihm ein stattliches Salär zukommen lassen und dazu noch alle Auslagen, darunter die Überfahrt nach New York, seine erste große Schiffsfahrt überhaupt, ohne Murren erstattet. Ein gutes Geschäft war es gewesen, zur Zufriedenheit aller Beteiligten.

Und da ein solches Geschäft in seinem beruflichen Alltag die Ausnahme darstellte und wohl auch ein Einzelfall bleiben würde, hatte er der Versuchung nicht widerstehen können, im Gepäck aus Amerika ebenjenes motorisierte Zweirad als Mitbringsel zu verschiffen. Eine Gray Fellow Twin des Herstellers Harley-Davidson. Das Modernste vom Modernen. Der Motor hatte über 800 ccm und leistete sagenhafte sieben Pferdestärken. Die Maschine gab einen höllischen Lärm von sich, vor allem bei Höchstgeschwindigkeit. Angeblich sollte das Gefährt über 90 Kilometer in der Stunde laufen, aber das hatte Sören noch nicht ausprobiert. Vor allem deshalb, weil man immer Gefahr lief, dass die Pferde auf den Straßen scheuten, wenn man knatternd herannahte. Sören schob das schwere Ungetüm durch die schmale Hofdurchfahrt, durch die gerade ein Handkarren passte, bockte es mit Schwung auf den Ständer am Hinterrad auf, entledigte sich der Kappe und der Brille und steuerte mit dem verwegenen Blick eines in die Jahre gekommenen Abenteurers auf den Eingang seiner Kanzlei zu.

Frau Völckert, wie Fräulein Paulina nach ihrer späten Heirat nun hieß, erwartete ihn bereits dringlich. Über die vielen Jahre, die sie ihm schon als Vorzimmerdame zur Seite stand, war sie den Umgang mit den teils schwierigen Mandanten gewohnt, aber heute war sie ganz aus dem Häuschen. Sie war untröstlich, dass sie einen Klienten nicht hatte abwimmeln können. «Er ließ überhaupt nicht mit sich reden», entschuldigte sie sich, «und wartet seit über einer Stunde in Ihrem Zimmer.»

Armin Brunckhorst, genannt Armin der Schränker. Klient mit Abonnement, wie Sören es ausdrückte. Bereits zweimal hatte er Brunckhorst vor Gericht vertreten, beide Male mit nur mäßigem Erfolg. Das letzte Mal hatte man ihm fünf Jahre aufgebrummt. Er konnte noch nicht so lange wieder auf freiem Fuß sein. Sören blieben wenige Sekunden, um sich auf diesen unangekündigten Gast vorzubereiten. Als er seinen Arbeitsraum betrat, tat er gelassen.

«Armin Brunckhorst. Was für eine Überraschung! Kaum entlassen, und schon steht ein Ehrenbesuch an, oder wo drückt der Schuh?»