Fair Play

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2021

Copyright © 2021 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Die Autorin dankt dem Förderkreis deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg e.V. für die Unterstützung mit einem Stipendium bei der Arbeit an diesem Buch.

 

Lektorat Christiane Steen

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock, Andriy Onufriyenko/Getty Images

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ISBN 978-3-644-00918-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00918-9

Opfer. Will man nicht bringen, will man nicht sein. Sofort denken wir an Blut auf steinernen Altären, an Ermordete, an Ausgeraubte, an Schwache. Du Opfer! Das will keiner hören auf dem Schulhof. Vielleicht denken wir auch an Edelmut und Entsagung. An Helden, an Märtyrer. An Ironman in Avengers Endgame. Aber die haben eines mit den anderen gemeinsam. Am Ende sind sie – Spoiler-Alert! – oft tot.

Trotzdem haben wir nach den Sommerferien beschlossen, etwas zu opfern: unsere Freiheit. Zumindest für drei Monate. Wir kriegen etwas Besseres für das, was wir aufgeben, dachten wir. Da war das große Ziel, klar, das offizielle: die Welt retten, wenigstens ein bisschen. Vielleicht wäre das Experiment nicht außer Kontrolle geraten, wenn es dabei geblieben wäre. Aber jeder von uns hatte auch einen persönlichen Grund mitzumachen … oder zu rebellieren: Status, Geld, Rache, Liebe. Und so verloren wir mehr, als wir einsetzen wollten. Einen von uns.

Heute ist der erste Januar. Wieder müssen wir eine Entscheidung treffen. Neujahr. Neuanfang? Wenn wir jetzt LAUNCH anklicken, dann musst du dir dieselbe Frage stellen wie wir: Was würdest du aufgeben und wofür? Wir stehen im Kreis und sehen uns in die Augen, drei der vier, die alles losgetreten haben. Würden wir es noch einmal tun, wenn wir wüssten, wie es

Was ich am wenigsten an der Schule mag, sind die Pausen. Längst hat es zur nächsten Stunde geklingelt, aber unsere Klassenlehrerin Frau Wenger ist wie üblich ein paar Minuten zu spät. Meine Mitschüler nutzen die Zeit, um sich von den Sommerferien zu erzählen. Neben meiner besten Freundin Cemine steht einer ihrer Verehrer und preist Fotos seiner Bali-Reise an.

«Das Himmelstor von Pura Lempuyang, dem ältesten buddhistischen Tempel der Insel.» Er zeigt Cemine ein Bild, auf dem er in einem nach oben offenen Torbogen steht, hinter dem sich spektakuläre Wolkenberge formen. Das Gemäuer und er spiegeln sich in etwas, das wie Wasser aussieht. «Dieser See davor! Unglaublich!»

Cemines Hände sind in ihren Ärmeln verschwunden. Sie ist angespannt, aber zu höflich, um den Typ vor den Kopf zu stoßen. Ich nicht:

«Pura Lempuyang ist ein Hindu-Tempel, kein buddhistischer. Und das ist kein See, sondern ein Spiegel, den der Fotograf unter deine Handykamera gehalten hat. Wahrscheinlich hat der das an Touristen vertickt.»

Mr. Lempuyang starrt auf sein Bild, als könne das nicht lügen, obwohl er es besser weiß. Ich sehe auch aufs Handy, aber

Endlich taucht Frau Wenger auf, und alle gehen auf ihre Plätze.

«Wie angekündigt: Brainstorming!», ruft sie freudestrahlend. «Hier die Eckdaten. Förderwettbewerb des Berliner Senats für die gymnasiale Oberstufe. Thema: ‹Dürresommer und Mikroplastik – sind wir noch zu retten?!› Alles geht: Forschungsprojekte, Experimente, Aktionen, Kampagnen, solange sie über drei Monate laufen und einen Beitrag zur Lösung der Umweltkrise leisten.»

Nicht das Thema! Eichner nutzt es immer noch für sich, wieder und wieder. Frau Wenger sieht mich an, um mir zu zeigen, dass sie auf meine Mitarbeit zählt. Das macht sie oft, aber ich habe nichts zu geben dieses Mal. Ich wünschte, ich könnte ihr irgendwie mitteilen, dass sie mich in Ruhe lassen soll, wobei das Frau Wenger wahrscheinlich nur angestachelt hätte. Ihr Motto ist «Magic happens outside of your comfort zone». Jedenfalls verkündet das der Aufkleber auf ihrem Auto. Ich bin

«Doch zuerst das», sagt sie noch freudestrahlender als zuvor und drückt die Return-Taste. «Zur Einstimmung.»

Unser Klassenzimmer füllt sich mit Leben. Nein, mit Tod. Mit Szenen vom Tod, die an die Wand geworfen werden. Der Ton passt zum Bild. Frau Wenger hat keine Musik dahinter gelegt, obwohl es das Ganze noch dramatischer gemacht hätte. Aber so wirkt der Film echter, bedrohlicher, als könne er jeden Moment in unsere Richtung wabern und uns in seine grausame Welt ziehen. In schneller Abfolge sehen wir Bilder, bei denen man normalerweise sofort weiterschaltet, weil man ja weiß, was so abgeht in der Welt, es aber nicht sehen kann und will. Doch hier hat keiner Zugriff auf die Fernbedienung. Keiner außer Frau Wenger. Und die will es anders. Also quälen wir uns durch Plastikstrände und Plastikmeere, durch Abfall in den Mägen gestrandeter Wale, durch Orang-Utan-Waisen, die sich an einsamen Bäumen festklammern, durch Dürrewüsten und Hurrikanzerstörung und Posttsunamileid, durch kranke Kinder aus der Krebsstraße neben der Sondermüllkippe, durch verhungernde Eisbären in schneeloser Landschaft. Der Film endet mit Flammen. Ein brennender Wald am Rande einer Küste. Langsam zoomt die Kamera auf ein Stück Land, das noch nicht Feuer gefangen hat. Braune Punkte schnellen durch den Rauch. Sie folgen einander. Hirsche. Die nahende Flammenhölle macht sie irre. Panisch rennen sie ein immer kleiner werdendes Dreieck zwischen dem Abgrund und den beiden Feuerwänden ab, die auf sie zukommen. Einmal, zweimal, dreimal hetzen sie zum Kliff, nur um dort umzudrehen. Dann beginnt

Etwas in meinem Bauch macht das Gleiche wie der kleine Hirsch, schwebt flau in der Mitte, bevor es gegen meine Magenwand kracht. Mir wird noch schlechter. Und das, obwohl ich das meiste Footage so oder so ähnlich schon gesehen habe. Vor zwei Jahren hatte ich eine grüne Phase. Eine Zeitlang bin ich auf Demos gegangen. Aber dann habe ich es gelassen. Es ist einfach nichts passiert. Viele Politiker diskutieren mit uns, vor allem er. Wie inspirierend wir sind, sagen sie. Unsere Fotos und Zitate sind in der Presse, so wie alles heute nur noch Show ist und Filter und Gesichter und Slogans. Und der Wald, der brennt einfach weiter. Irgendwann wollte ich da raus. Trotzdem: Bambi eben … das hat mich gepackt. Zurückgeholt. Das Hirschkalb sah so ruhig aus, selbst ohne Boden unter den Beinen als könne nichts schiefgehen, wenn es den Erwachsenen nur alles nachmacht.

Ich sehe in die Runde, will wissen, wie die anderen den Film fanden. Zuerst geht mein Blick zu Max, weil immer alles zu ihm will in letzter Zeit, auch wenn mir das nicht passt. Seine Reaktionen spiegeln sich meistens eins zu eins auf seinem Gesicht wider, aber er hat den Kopf weggedreht und sieht aus dem Fenster. Max trägt das ziegelrote Leinen-T-Shirt, das ich mag, weil sich seine schlanken Muskeln darunter abzeichnen, ohne dass der Stoff an der Haut klebt. So ist das immer bei Max: Alles gibt nach, während er durchs Leben schlendert, schmiegt

«Ihr seid dran!» Frau Wengers Aufforderung ist so laut, dass ich erschrecke. Max nicht, er starrt weiter nach draußen. «Vorschläge?», fragt Frau Wenger. Jeder Lehrer will, dass die Schüler mitmachen. Frau Wenger, seit den Sommerferien Co-Rektorin, toppt sie alle. «Go!»

Aber wir wollen nicht Go!-en. Nichts kommt zurück. Jemand gähnt. Mir ist es unangenehm, dass ich meine Lehrerin enttäuschen muss, aber wenn ich eine zündende Idee zu dem Thema in mir hätte, wäre die mir schon damals gekommen. Da habe ich mich mit nichts anderem beschäftigt. Frau Wenger sieht trotzdem gerade wieder zu mir, als ein dumpfes Geräusch ihre Aufmerksamkeit in eine andere Richtung lenkt. Eine Flasche ist umgefallen. Nagellack. Er gehört Elodie, Queen of Schokoladenseitenselfies.

Elodie ist seit vorletztem Jahr in meiner Klasse und eine Art Promi. Ich habe keine Ahnung, ab wie vielen Abonnenten man sich Influencer nennen darf, aber sie bekommt Werbeverträge. Elodie stellt die Flasche wieder hin. In der Pause hat sie ihre Nägel lackiert und mit Steinchen verziert. Sie ist eine dieser Hypergepflegten, die sich nie ungefärbt oder unmanikürt blickenlassen würden. Manchmal frage ich mich, ob sie so etwas wie Haarwurzeln und Nagelhaut besitzt, ob überhaupt was aus ihr herauswachsen darf, das nicht schon getrimmt und aufgerüscht ist. Vielleicht ist einfach alles von außen auf Elodie draufgepappt – Haut, Haare, Zähne, Nägel, auf die dann in zweiter Reihe noch die Glitzersteinchen –, und sie kann das Zeug jeden Moment von sich werfen.

«Ja? Elodie?»

Elodie sieht Frau Wenger nur mit großen Augen an. Sie macht bei jeder Gelegenheit klar, dass sie die Schule absitzt und längst auf ihr Millionen-Imperium hinarbeitet. Mit Millionen meine ich Euro und Abonnenten. Ist austauschbar in ihrem Job.

«Haben Sie eine Idee? Für den Wettbewerb?» Frau Wenger gibt nicht auf.

«Nein. Ich verstehe auch nicht, was das soll. Es ist die Aufgabe der Politiker, das Klimaproblem zu lösen. Und jetzt spielen die uns den Ball zu?»

«Es spricht doch nichts dagegen, die Regierung bei ihren Bemühungen zu unterstützen. Was würden Sie denn tun, wenn Sie bei sich selbst ansetzen müssten?»

«Na ja, wir könnten uns alle einschränken. Weniger kaufen, weniger verbrauchen.»

«Das sagst ausgerechnet du, Elodie? Du lebst doch davon, dass du ständig irgendwas Neues anschaffst und deine Abonnenten dazu bringst, das auch zu tun.» Karl war das. Er sitzt

«Ich kann ja schlecht Fotos von nicht gemachten Reisen posten und von Klamotten, die gar nicht da sind», antwortet sie.

«Also ich würde dich gerne in Klamotten sehen, die gar nicht da sind.»

«So gar nicht da wie deine Intelligenz?»

Karl erstarrt. Keiner weiß, wie er reagieren wird, nicht einmal er selbst. Er ist dafür bekannt, auszurasten, und alle sind gespannt, ob es gleich passiert.

Max rettet die Situation. Er reißt seinen Blick vom Fenster los, legt seinem Freund kurz den Arm um die Schulter und sagt:

«Sie hat gewonnen. Trag’s mit Fassung.» Dann lacht er leise vor sich hin, und ich beobachte den Max-Effekt. Alle stimmen ein, selbst Frau Wenger, selbst Karl, bis Gelächter durch unser Klassenzimmer brandet. Alle außer mir. Ich lache nicht mit, weil in meinem Kopf «Ich kann nichts posten, was gar nicht da ist» in Dauerschleife dröhnt. Und dann passiert das, womit ich nicht mehr gerechnet habe. Während die anderen weiter diskutieren, drifte ich ab. Als wäre es mein persönliches Wiki, hüpft mein Gehirn von Wissenshappen zu Wissenshappen, verknüpft sie. Die Übelkeit, die die ganze Stunde über ein Wattebausch in meinem Bauch war, wird fester, bis sie reine Entschlossenheit ist. Das ist sie! Eine Idee, mit der ich Eichner in seinem eigenen Spiel schlagen kann, ein Gegenstück zu allem, für das er steht: Gemeinschaft statt Egoismus, Transparenz statt Show, Demokratie statt Machtspielchen, Gerechtigkeit

«Was, wenn man sie plötzlich sehen könnte, die nicht gemachten Reisen, die nicht gekauften Klamotten, von denen Elodie sprach?»

«Du, das war ironisch gemeint.» Ich ignoriere Elodies Einwurf.

«Das ist unser Experiment!», sage ich, und mein Herz schlägt immer schneller. «Wir machen sie sichtbar. Auf unseren Social-Media-Seiten. Wenn mit einem Blick zu erkennen ist, wie sehr jeder Einzelne von uns die Umwelt belastet … reißen wir uns dann zusammen?»

Es wird ruhig in der Klasse. Selbst die Geräusche, die immer da sind, Stiftkratzen, Stuhlknarzen, heimliches Touchscreentapsen, werden von der Stille verschluckt. Ich bin überrascht, dass ausgerechnet Leonard sie bricht, Einserschreiber, aber im Unterricht eher schüchtern.

«Klingt nach Zündstoff», sagt er.

«Ist Zündstoff», antworte ich. «Aber alle wären gleich. Keiner könnte sich verstellen. Es wäre das ultimative Fair Play.»

In dem Moment klingelt es zur Pause.

Unsere Schule sieht aus, als würde sie keine Luft kriegen. In den 80ern hatte sie das Problem noch nicht. Da lagen die Gebäude clean in der Sonne. Die Fotos kann man im Netz sehen. Doch dann kamen die Kletterpflanzen, vor allem Efeu. Das Grünzeug rankt sich jetzt um den Betonkasten, als wolle es ihn und alle darin ersticken. Überall dorthin kriecht es, wo Säulen, Wände und Dächer genügend Licht übrig lassen, schafft dunkle Nischen, schafft Verstecke. Ich kenne sie alle. Bis vor zwei Jahren war das lebenswichtig für mich. Dann wurde es besser. Irgendwann hat selbst Karl verstanden, dass es kein Zeichen von Stärke ist, andere fertigzumachen. Seitdem passiert es nur noch, wenn keiner hinsieht. Ich brauche die Verstecke seltener. Aber: heute schon. Ich muss eine Entscheidung treffen, muss nachdenken. Das geht am besten, wenn ich mich sicher fühle. Hier an der Schule fühle ich mich am sichersten, wenn ich den Brunnen sehen kann, ohne selbst gesehen zu werden, so wie jetzt, zwischen Säule und Wand, Blätter im Bild.

Der Brunnen ist schon lange keiner mehr. Vor ein paar Jahren hat irgendwer eingesehen, dass Metallgitter leicht zu durchtrennen sind und es keine gute Idee ist, ein zwölf Meter tiefes Loch mit einem Bodensatz aus übelriechendem Wasser direkt neben einer Schule zu haben. Der alte Brunnen wurde

Ich schüttle den Kopf, als könnte ich damit die Bilder rauskatapultieren. Ich muss an meine Zukunft denken. Stanford. Dann Silicon Valley. Dort werden Typen wie ich nicht gemobbt, sondern gefeiert. Keras Idee hat Potenzial. Das war mir sofort klar. Auch wie man sie umsetzen könnte. In zwei bis drei Wochen müsste ich die App dazu programmiert haben. Zur Not bitte ich meine Schwester um Hilfe. Die macht ihren PhD am MIT. Wenn ich auch in den USA studieren will, wäre es nicht schlecht, so einen Wettbewerb der Bundesregierung zu

«Spanner!» Bevor ich checke, was passiert, knallt meine Stirn gegen die Säule, eine eiserne Hand an meinem Hinterkopf. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich Karls Rücken weggehen, hinter dem er mir den Mittelfinger zeigt. Karl musste seinen Elodie-Frust wohl doch noch loswerden. Ich ziehe mich wieder ganz hinter die Säule zurück und lehne mich an die Wand, atme hart. Der kalte Beton fühlt sich gut an. Ich drehe mich um und drücke meine brennende Stirn dagegen. Der Schmerz lässt nach. Er macht Platz für eine Wut, die ich nicht kenne. Normalerweise prallen solche Angriffe an mir ab, immer das strahlende Leben im Kopf, das nur noch drei Jahre entfernt ist. Es hat mit der Hölle hier nichts zu tun. Mich lässt es im Chefsessel und Karl beim Arbeitsamt enden. Aber heute ist alles anders. Heute hält mich die Gegenwart davon ab, etwas für meine

Auf dem Weg zurück zum Klassenzimmer verhalte ich mich wie immer. Ich gehe aus dem Weg. Lautlos setze ich mich hin. Niemand merkt, dass es in mir drin anders aussieht als sonst. Nur ich weiß, dass Karl eben einen Schalter umgelegt hat. Wenn ich ein neues Leben haben möchte, muss ich mich ändern. Am besten fange ich gleich damit an.

Als Frau Wenger reinkommt, ungewohnt pünktlich, weiß ich, was ich zu tun habe. Meine Hände zittern, aber ich verschränke sie, und es geht vorüber. Frau Wenger beißt sich wieder an Keras Einfall fest. Die Diskussion läuft in die Richtung, die ich vorhergesehen habe. Nach so vielen Jahren kenne ich Keras Denke. Sie ist obsessiv. Die Pause hat Kera damit verbracht, ihre Idee auszuarbeiten.

«Öffentliche Klimakonten», sagt sie, «verlinkt mit unseren sozialen Medien. Jeder hat dasselbe Limit, das die Klimakrise stoppen würde, wenn sich die Menschen daran hielten. Überziehst du, dann kriegen das alle mit.»

Toller Einfall, Kera, gewagt und außergewöhnlich, da sind sich die meisten einig. Nur Elodie hält weiterhin dagegen, unterstützt von ihren Anhängern:

«Weltfremd ist das. Nicht praktikabel.»

Aber die Idee ist doch so gut, kommt als Antwort aus vielen Ecken. Die meisten wollen nicht, dass Frau Wenger das Brainstorming von vorne beginnen lässt. Sie zermartern sich den Kopf, wie man solche elektronischen Konten umsetzen

«Das kriegen wir doch nicht hin. Wer soll so etwas denn programmieren?» Absurd, dass ausgerechnet Karl mir mein Stichwort gibt. Ich stehe auf, ohne mich vorher zu melden. Meine Stimme erreicht die anderen klar und deutlich:

«Ich.»

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Hey, hey, hey, meine Lieben! Neuer Nachmittag, neue Nägel! DIY mit Nagellacken und Ziersteinchen von @lackaeffchen in #sternschnuppenstaub und #blumenbluetenblatt. Viel Spaß beim Nachmachen!

So, online gestellt. Ich mache das jetzt meistens in den Pausen. Posten passt zur Schule. Beides ein Muss. Außerdem spare ich mir so die Suche nach einer Alibi-Location für die Fotos. Zu Hause geht ja nicht …

Ich lehne mich zurück und atme durch. Obwohl es nur ein paar Zeilen und ein Bild sind, bin ich ausgelaugt. Allein die Einleitung: Hey, hey, hey, meine Lieben! Jedes Mal, wenn ich das schreibe, zieht sich alles in mir zusammen. Das bin nicht mehr ich. Aber ich habe irgendwann damit angefangen, aus einer Laune heraus, und jetzt ist es mein Markenzeichen. Während die Likes eintrudeln, schaue ich immer wieder vom Bild auf die Real-Life-Version. Ich kann nicht anders, einfach, weil ich mich vergewissern muss, dass da wirklich meine Hand in der Gegend rumglitzert. Wer bitte klebt sich denn noch Steinchen

@Cemine_Ciçek: In letzter Zeit postest du fast nur noch Werbung. Das nervt!

Nicht das, was ich und meine Sponsoren unter meinem Bild stehen haben wollen. Die Kommentarfunktion fand ich schon immer lästig. Am liebsten würde ich alles kontrollieren, was auf meiner Seite erscheint.

Ich sehe zu Cemine rüber, die mit Kera redet und ihr Handy auf dem Tisch dreht wie ein Kind, das mit einem Kreisel spielt. Das hier riecht nach Payback, weil ich gegen die Idee ihrer Freundin war. Eigentlich sollte ich Cemine antworten: Du hättest die paar Meter auch zurücklegen und mir das persönlich sagen können. Dann hätte nicht die ganze Welt deine Kritik mitgekriegt. Es verletzt mich, dass das von Cemine kam. Sie ist immer zu allen und jedem nett. Selbst zu Leonard. Wahrscheinlich hat er sich deswegen dieses Schuljahr an den Tisch neben ihr gesetzt. Er tippt auf seinem Handy rum. Bestimmt macht er etwas Sinnvolles damit, Apps programmieren beispielsweise. Alles an Leonard ist beige, Hemd, Hose, Haut,

Ich seufze und checke wieder meinen Post. Cemines Das nervt! hält einsam die Stellung. Keine Ahnung, warum sie sich gerade auf mich einschießt. Aber vielleicht ist es ganz gut so. Wake-up call, einer, den ich brauche. Seit einer Weile verliere ich Abonnenten. Nicht viele, noch nicht. Die Neuzugänge gleichen das mehr als aus. Aber so etwas kann sich schnell in die Höhe schrauben. Zu viel Konkurrenz, zu viel Auswahl im Netz. Cemines Kommentar hat jetzt schon 50 … 53 … Likes. Schnell schreibe ich zurück.

@elodies_melodie: Ich gelobe Besserung!

Das Handy ist schwer in meiner Hand. Ich lege es ab, schiebe es von mir weg und beobachte, wie sich das Display schwarz färbt. Ohne Follower keine Sponsoren. Ohne Sponsoren kein Geld. Und ohne Geld … ich kralle mich an der Tischplatte fest, als ich an die Katastrophe denke, die das in Gang setzen würde. Wieder summt mein Handy. Bzzzzz! Ich lasse den Tisch los und nehme es in die Hand. Cemine gefällt meine Antwort. Nach und nach kommen andere Likes dazu. Ich scrolle durch. Meine Nägel funkeln mit der Bewegung. Jetzt finde ich die Steinchen nicht mehr hässlich. Ihr Glanz beruhigt mich. Wenn ich meinen Leuten weiterhin die gesponserten Posts vorsetze, müssen die Sachen dazwischen einfach so gut sein, so originell, dass sie trotzdem dabeibleiben. Ehrgeiz blubbert in mir hoch, der

FANGFRAGEN-ALARM!

«Was ist das?»

Als die Wenger meinte, sie will mich sprechen, war ich mir sicher, dass es um meine Noten geht. Meistens geht es um meine Noten. Sind nicht die besten. Okay, wenn ich ehrlich bin, sind sie miserabel. Obwohl das Schuljahr erst angefangen hat, habe ich schon zweimal vier Punkte und viermal zwei Punkte eingefahren. Einmal null. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich zur Versetzung schleppen soll. Und sitzenbleiben … daran will ich nicht einmal denken. Nicht weil ich mich dafür schämen würde oder so. Die Schule und wie sie mich bewertet, ist mir egal – das ist wahrscheinlich das Problem. Aber es wäre verlorene Zeit. Noch ein Jahr, das mich davon abhält zu tun, was ich eigentlich will. Zeichnen. Entwerfen. Kreativ sein. Ich will Graphikdesigner werden. An meiner Mappe arbeite ich schon seit einem halben Jahr. Sie ist gut, ziemlich gut sogar. Jede bekannte Design-Uni würde mich nehmen. Bei unserer Klassenfahrt nach London in eineinhalb Monaten will ich mich abseilen und mir das Royal College of Art ansehen. Neben London überlege ich mir noch Bozen. Aber ohne Abi – nix, nada, nüscht. Das Abitur ist wie ein fieser Türsteher, der mich nicht reinlässt, weil ich die falschen Turnschuhe anhabe,

Ich fixiere die Wenger, will das hier hinter mich bringen. Sie hat mein Klassenarbeitsheft vor sich auf dem Tisch liegen. Ihr Zeigefinger stochert drauf rum, als ob er es aufspießen wollte. Ich warte darauf, dass sie weiterspricht, aber sie sagt nur noch einmal:

«Was ist das?»

«Mein Aufsatz über die Frauenquote. War er nicht in Ordnung?»

«Doch, doch. Sechs Punkte. Wie üblich.» Ich bin erleichtert. Alles über fünf ist super. Der Zeigefinger hört auf zu piksen und zieht stattdessen Kreise auf der Ecke des Hefteinbands, rechts unten.

«Nicht da drin, da drauf! Was ist das?»

Sie steht auf und zeigt auf den Stuhl vor dem Lehrertisch. Ich setze mich – schlechtes Zeichen: ich UNTEN, sie OBEN. Die Wenger wirft mein Heft in meinen Schoß. Ich betrachte den Einband aus der Nähe. Endlich verstehe ich, was sie meint. Es ist nichts. Nichts Besonderes. Nur was, das ich hingekritzelt habe, als alle letzte Woche ewig über Klimakonten geredet haben.

«Das Logo?»

«Logo? Wofür?»

«Während der Diskussion über die App für den Wettbewerb habe ich mir überlegt, wie sie heißen könnte. ‹Fair Play› fand ich passend, hat Kera ja aufgebracht. Und so könnte das

Die Wenger sieht mich an. Kann ihren Ausdruck nicht deuten. Skeptisch? Ungeduldig? Plötzlich kriege ich es mit der Angst. Sie ist eine der wenigen Lehrerinnen, die mich nicht als völlig hoffnungslosen Fall abtut. Aber was diesen Wettbewerb angeht, ist sie sensibel. Vor allem, weil sich keiner meldet für das Experiment. Vorgestern wurde groß verkündet, dass unsere Schule teilnimmt und jeder mitmachen kann. Bislang wollen außer Kera und Leonard nur eine Handvoll Leute die App downloaden und die meisten davon, um sich darüber lustig zu machen. Hilft nicht wirklich, dass Leonard sie programmiert. Da könnte man genauso gut jedem, der sie runterlädt, einen Stempel auf die Stirn drücken, auf dem in dicken, fetten Buchstaben UNCOOL steht. Nur für Kera tut es mir leid. Obwohl wir seit sieben Jahren in die gleiche Klasse gehen, haben wir kaum ein paar Sätze gewechselt. Dabei respektiere ich Kera. Am Anfang habe ich sie beneidet um ihr Interesse an dem, was da vorne an der Tafel vor sich geht. War mir völlig fremd, und ich dachte: Poserin! Aber irgendwann wurde mir klar, dass nichts davon aufgesetzt ist. Seitdem bin ich froh, dass es Kera gibt, weil mich dann keiner aufruft. Über was ich mit ihr reden sollte, weiß ich trotzdem nicht. Ich glaube, unsere Welten liegen so weit auseinander, dass keiner von uns ein Visum für die andere bekommt. Egal. Jedenfalls hat die Wenger Schiss, dass sie sich vor dem Bildungssenator blamiert, wenn keiner mitmacht. Hoffentlich habe ich sie mit meiner Zeichnung nicht verärgert. Immerhin habe ich damit zugegeben, dass ich nicht

«Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Max.»

«Oooookaaaaayyyy.» Ich dehne das Wort, so weit es geht, weil ich wirklich nicht wissen will, was jetzt kommt. Wenn die mich überreden will, diese komische App runterzuladen, bin ich raus. Die Schule nimmt schon mehr Platz in meinem Leben ein, als mir lieb ist. Werde sicher nicht einen Teil davon mit nach Hause nehmen und auf meinem Handy spazieren tragen.

«Ich muss der Senatsverwaltung für Bildung vier Schüler nennen, die unser Projekt beim Wettbewerb vertreten», sagt die Wenger.

«Die Fair Play Four, hm?» Ich lache.

«Fair Play Four. Das gefällt mir», antwortet die Wenger. Weiß nicht, ob sie die Ironie nicht verstanden hat oder einfach ignoriert. «Sehen Sie, Max, deswegen brauchen wir Sie.»

Es ist das erste Mal, dass jemand so tut, als wäre ich wichtig für was Schulisches.

«Leonard ist dabei, natürlich Kera. Zwei Plätze sind noch frei. Wie würden Sie es finden, einer der» – die Wenger leckt sich die Lippen – «Fair Play Four zu sein?»

«Ich werde auf gar keinen Fall so ein blödes Konto führen.» Der Satz ist raus, bevor ich was dagegen tun kann, aber die Wenger bleibt erstaunlich ruhig.

«Das ist keine Voraussetzung. Im Gegenteil», sagt sie. «Die Hauptaufgabe besteht darin, dass Sie Ihre Erfahrungen mit dem Experiment dokumentieren. Sie könnten aus der

«Sollte ich mich nicht lieber darauf konzentrieren, meine Noten zu verbessern?»

«Max, lassen Sie mich ganz offen sein: Es sieht düster aus. Ich sehe nicht, wie Sie auf normalem Wege die Versetzung schaffen können. Aber wenn Sie sich beim Wettbewerb engagieren, könnte ich das in Ihre Politikwissenschaftsnote einfließen lassen, vielleicht sogar in Ihre Deutschnote. Sie produzieren ja immerhin einen Text. Zusammen mit Ihren fünfzehn Punkten in Kunst könnte Ihnen das – mit Verlaub – den Arsch retten.»

Ich weiß, dass die Wenger recht hat. Und dass sie mir gerade entgegenkommt. So einen läppischen Bericht schreiben und dafür am Jahresende versetzt werden – da würde ziemlich viel rumkommen für ziemlich wenig Arbeit. Warum also habe ich trotzdem ein ungutes Gefühl bei der Sache?

«Kann ich mir das überlegen?»

«Sicher. Erstes Treffen hier, nächsten Dienstag um zwei.» Sie wirft mir einen aufmunternden Blick zu, bevor sie den Raum verlässt. Ich folge ihr kurze Zeit später und setze mich im Gang auf die Fensterbank.

LIEBLINGSPLATZ! Von hier aus überblicke ich den ganzen Schulhof. Trotz Nieselregen laufen viele über das Pflaster. Ich stelle mir vor, wie sie plötzlich im Schnelldurchlauf durcheinanderwuseln, Tag, Nacht, Tag, Nacht, im Millisekundentakt durch Vogelgezwitscher, Sonnenschein, Laub und Schnee waten. Als die Kamera zurück auf mich schwenkt, bin ich zweieinhalb Jahre älter und habe das Abi in der Tasche. Endlich raus hier. Aber dann platzt meine Träumerei. Statt mir kommt die

Das hier ist der merkwürdigste Mix aller Zeiten an Leuten, die sich absolut nichts zu sagen haben. Und Frau Wenger mittendrin, so aufgeregt, als wäre ihr die Reunion von One Direction gelungen. Das erste Treffen der – wie sie verkündet – «Fair Play Four». Noch sind wir nur zu dritt.

«Vorläufig», sagt Frau Wenger. «Nummer vier muss noch kurz etwas erledigen – in unser aller Interesse. Gleich müssten Sie komplett sein.»

Bis es so weit ist, habe ich Zeit, die erste personelle Überraschung zu verdauen: Max. Als er reinkam, dachte ich, das sei ein Scherz. Oder dass er sich verlaufen hat. Aber, nein, er kommt zielstrebig auf uns zu, wirft seinen Rucksack auf den nächstbesten Tisch und einmal sein Lächeln in die Runde, komplett mit diesen Grübchen, die mich so faszinieren, dass ich am liebsten eine Abhandlung darüber verfassen würde, weil ich finde, dass das von großer Bedeutung für den Fortbestand der Menschheit ist. Mindestens. Frau Wenger reagiert mit einem unbekümmerten «Ah, Max, schön, da sind Sie ja». Leonards Gesicht dabei! Irgendwo zwischen Abscheu, Ungläubigkeit und Ärger, das komplette Gegenteil zu Max. Den scheint das nicht zu stören. Er zieht mehrere Ausdrucke und einen Stick aus seinem Rucksack und übergibt alles Frau Wenger.

«Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Sie schaffen das. Und ich bin ja nicht aus der Welt.» Frau Wenger zwinkert uns zu. «Vergessen Sie nie, warum Sie das hier machen! Vielleicht können Sie ein kleines bisschen die Welt verändern – zum Besseren.» Und damit lässt sie uns allein.

Leonard, Max und ich sehen uns an. Stumm. Keiner von uns ist der geborene Anführer. Ich bin zu verkopft, Leonard zu schüchtern. Und was Max tut, hat zwar Gewicht an der Schule, aber gerade deswegen, weil er es nicht darauf anlegt. Trotzdem ist er der Erste, der spricht.

«Okay, dann macht ihr mal», sagt er, schnappt sich seinen Rucksack und geht zur Tür.

«Hey, wo willst du hin?» Leonard stellt sich ihm in den Weg. Das ist eine so ungewohnte Szene – wo Max ist, ist Karl meistens nicht weit –, dass ich kurz die Luft anhalte. Es dauert einen Moment, bis es auch Leonard auffällt. Schnell macht er einen Schritt zur Seite. An Max ist das alles vorübergegangen.

«Nach Hause», sagt er. «Meinen Teil habe ich erfüllt.» Er deutet auf Frau Wengers Tisch. «Das, was ich kann. Ihr braucht mich doch sonst nicht.»

«Willst du gar nicht mitbestimmen, wie es weitergeht mit der App?», frage ich Max. «Immerhin musst du die nächsten Monate dein Leben danach richten.»

«Du willst das Experiment dokumentieren und machst noch nicht mal mit? What the fuck?» Leonard stellt sich wieder vor Max. Wieder macht er gleich danach einen Schritt zurück. Es ist, als habe er seit dem Wettbewerb eine zweite, mutigere Persönlichkeit entwickelt, die sich zurückzieht, sobald sie merkt, dass sie da ist. Wenn das die nächsten Wochen so weitergeht … puh!

«Ich bringe eine andere Perspektive rein. Von außen. Die Wenger meint, das ist okay», sagt Max, jetzt doch etwas irritiert.

«Frau Wenger mischt sich aber nicht mehr ein. Hat sie selbst gesagt.»

«Mann, Leonard, es ist doch egal, was ich tue. Ihr seid die Köpfe der Operation.» Max macht sich wieder Richtung Tür auf. Dann dreht er sich noch einmal um. «Auf dem Stick sind verschiedene Versionen des Logos. Falls ich die Farben ändern soll, ihr was für die Website braucht oder ein anderes Format, sagt einfach Bescheid.»

Ich sehe mir den Stapel Blätter an, den Max Frau Wenger gegeben hat. Darauf sind ein F und ein P, die sich aneinanderlehnen. Einfach, aber effektiv.

«Du bist auf den Namen gekommen, oder? Nicht Frau Wenger. Fair Play?» Ich erwarte nicht, dass Max reagiert, doch er bleibt stehen. Eines der Blätter in der Hand, gehe ich zu ihm.

«Ziemlich gut.»

«Findest du?» Max sieht aus, als würde ihn das freuen. Aber wahrscheinlich bilde ich mir das ein. Dennoch sage ich:

«Ja. Sicher, dass wir dich hier nicht gebrauchen können?»

«Wenn ich das jetzt schon verrate, macht es ja nur halb so viel Spaß.» Ich freue mich, dass mir das so schnell eingefallen ist, als ein stechender Schmerz alle Gedanken auf meine Wirbelsäule zieht. Jemand hat die Tür geöffnet und mir die Klinke in den Rücken gerammt. Ich krümme mich, fasse nach hinten.

«Huch!?! Sorry!» Samtige Stimme, trotzdem Fingernägel auf Tafel in meinen Ohren. Fingernägel mit Glitzersteinchen.

Ich lese den Text, den ich eben gepostet habe, noch mal durch. Als Beweis dafür, dass ich ein Recht habe, hier zu sein, und weil ich dann nicht in Max’, Leonards und Keras Gesichter sehen muss. Deren Ausdruck reicht von ratlos bis angepisst. Nicht nur deswegen bin ich wahnsinnig nervös. Wird Fair Play gut bei meinen Leuten ankommen? Bislang nur ein paar Likes.

Als Frau Wenger mich gefragt hat, ob ich mitmache, «weil du doch Kera den Anstoß gabst, Elodie», war mir klar, was der eigentliche Grund dafür war. Im Gegensatz zu den meisten Lehrern hat Frau Wenger ein Gespür dafür, wer welche Rolle einnimmt an der Schule. Max ist beliebt. Er bringt dem Experiment Aufmerksamkeit, wird aber niemanden dazu inspirieren, ein Konto zu führen, weil er es selbst nicht tut. Also will Frau Wenger sich meinen Einfluss zunutze machen. Trotzdem habe ich zugesagt. In Frau Wengers Worten schien das Experiment innovativ, nicht dröge. Wenn die Klimakonten schon kommen, dann kann ich sie auch dafür einsetzen, um spannende Inhalte für meine Leute zu kreieren und damit mein Problem zu lösen. Außerdem hat dieses vierköpfige Komitee was von VIP, das kommt immer gut. Bzzzzz! Karl hat kommentiert.

@_KARL_DER_GROSSE_: Echt jetzt, Elodie??????????

«Kannst du das Handychecken bitte lassen, während wir uns unterhalten?» Kera rollt mit den Augen. Aber beim nächsten

@Cemine_Ciçek: Freue mich, dass du auch dabei bist!

Mein Herz hüpft heftiger, als es sollte, wegen eines einzigen positiven Kommentars. Weil er von Cemine kommt, stelle ich fest, und kann das nicht ganz einordnen. Trotzdem gibt mir ihr unerwarteter Zuspruch Mut. Ich werde mich nicht verstecken. Mein Handy schalte ich stumm und lege es zur Seite, bevor ich Max seine Antwort gebe.

«Ganz einfach! Ich möchte die App ausprobieren, um auf meinen Kanälen darüber zu berichten.»

«Du stehst also nicht wirklich hinter dem Projekt. Fair Play soll deiner Selbstdarstellung dienen – wie alles. Und du willst, dass es Teil deiner Mammonmaschinerie wird.» Kera rollt erneut mit den Augen, aber dieses Mal macht es mich nicht unsicher. Es macht mich wütend. Keras Eltern sind Inhaber eines großen Architekturbüros. Nie wird sie Geldsorgen haben. Von so jemandem lasse ich mir nicht meinen Geschäftssinn vorwerfen, auch wenn ich am liebsten «So bin ich doch gar nicht!» rufen und ihr all das erzählen würde, was ich niemandem erzählen darf.

«Ist es nicht egal, warum ich mitmache?» Ich klinge patzig, und das gefällt mir. «Ihr braucht mich. Ich gebe eurem Projekt eine Bühne. Fair Play profitiert von mir. Ich profitiere von Fair Play. Win-win.»

«Finde ich gut, dass du das Experiment kommentierst, während es läuft. So kriegen möglichst viele Leute, die nicht an unserer Schule sind, mit, wie es sich mit der App lebt. Danke, dass du mitmachst.»

«Keine Ursache. Ich danke dir. Euch, meine ich.»