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Übersetzerin und Verlag danken Frau Prof. Dr. Marion Aptroot von der Abteilung für Jiddische Kultur, Sprache und Literatur der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf für ihre fachkundige Hilfe in allen Fragen der jiddischen Sprache und Kultur.

baschert

Und sie schuggelten auf dem Sieb.

– Edward Lear –

Seit neun Monaten haust Landsman nun im Hotel Zamenhof, ohne dass es einem seiner Mitbewohner gelungen wäre, sich umbringen zu lassen. Jetzt hat jemand dem Gast von Zimmer 208 eine Kugel in den Kopf gejagt, einem Jid, der sich Emanuel Lasker nannte.

»Er ist nicht ans Telefon gegangen, er hat die Tür nicht aufgemacht«, sagt Tenenboym, der Nachtportier, als er Landsman aus den Federn holt. Landsman wohnt in Zimmer 505 mit Blick auf die Neonreklame des Hotels auf der anderen Seite der Max Nordau Street. Es heißt Blackpool, ein Wort, das in Landsmans Albträumen eine Rolle spielt. »Ich musste mir Zugang zu seinem Zimmer verschaffen.«

Der Nachtportier ist ein ehemaliger Marine und selbst einmal heroinabhängig gewesen, damals in den Sechzigern, als er vom Schlachtfeld des Kubakrieges zurückkehrte. Mütterlich kümmert er sich um die süchtigen Bewohner des Zamenhof. Er gewährt ihnen Kredite und sorgt dafür, dass sie ihre Ruhe haben, wenn es nötig ist.

»Haben Sie irgendwas in dem Zimmer angefasst?«, fragt Landsman.

»Nur Bargeld und Schmuck«, sagt Tenenboym.

Landsman schlüpft in Hose und Schuhe und zieht die Hosenträger hoch. Dann dreht er sich zusammen mit Tenenboym zum Türknauf um, an dem seine Krawatte hängt, rot mit einem dicken braunen Streifen, bereits zeitsparend vorgeknotet. Landsman bleiben noch acht Stunden bis zur nächsten Schicht. Acht verdammte Ratten-Stunden, in denen er in seinem mit Holzspänen gefüllten Glaskasten sitzt und an seiner Flasche nuckelt. Seufzend greift Landsman nach seiner Krawatte. Er schlüpft mit dem Kopf hindurch und schiebt den Knoten zum Kragen hoch. Dann

»Ich wecke Sie nur ungern, Detective«, sagt Tenenboym. »Hab bloß gemerkt, dass Sie nicht richtig schlafen.«

»Ich schlafe«, sagt Landsman. Er greift zu dem Schnapsglas, mit dem er momentan liiert ist, ein Souvenir von der Weltausstellung 1977. »Allerdings in Hemd und Unterhose.« Landsman hebt das Glas und stößt auf die dreißig Jahre an, die seit der Weltausstellung in Sitka vergangen sind. Ein Höhepunkt der jüdischen Zivilisation im Norden sei sie gewesen, heißt es, und warum sollte er da widersprechen? In jenem Sommer war Meyer Landsman vierzehn und entdeckte die Herrlichkeit jüdischer Frauen, für die 1977 auch eine Art Höhepunkt gewesen sein muss. »Im Sessel.« Er leert das Glas. »Mit meiner Scholem.«

Nach Ansicht von Ärzten, Therapeuten und seiner Exfrau ist Landsmans Trinkerei eine Selbstmedikation, bei der die Röhren und Kristalle seiner Launen von hochprozentigem Zwetschgenbrand justiert werden, eine Pferdekur. Doch in Wahrheit kennt Landsman nur zwei Zustände: arbeitend oder tot. Meyer Landsman ist der am höchsten ausgezeichnete Schammes im Distrikt Sitka, er ist der Mann, der die Ermordung der schönen Froma Lefkowitz durch ihren Gatten, einen Kürschner, aufklärte und der den Krankenhausmörder Podolsky fasste. Es war Landsmans Aussage, die Hyman Tsharny lebenslänglich hinter Gitter brachte, das erste und einzige Mal, dass die Anklage gegen einen Verbover Mafioso auch aufrechterhalten werden konnte. Landsman hat das Gedächtnis eines Verurteilten, den Mut eines Feuerwehrmannes und die scharfen Augen eines Einbrechers. Gibt es ein Verbrechen zu bekämpfen, rast Landsman durch Sitka wie ein Mann, in dessen Hose ein Feuerwerkskörper steckt. Als würde im Hintergrund ein Soundtrack laufen, mit besonders vielen Kastagnetten. Das Problem sind die Stunden, in denen er nicht arbeitet und seine Gedanken durch das offene Fenster seines Hirns

»Ich mache Ihnen ungern noch mehr Arbeit«, sagt Tenenboym.

Als er noch bei der Drogenfahndung war, verhaftete Landsman Tenenboym fünf Mal. Das ist die alleinige Grundlage ihrer sogenannten Freundschaft. Fast ist es genug.

»Das ist keine Arbeit, Tenenboym«, sagt Landsman. »Das mache ich aus Liebe.«

»Geht mir genauso«, sagt der Nachtportier. »Ich meine, Nachtportier in so einem beschissenen Hotel zu sein.«

Landsman legt Tenenboym die Hand auf die Schulter, und die beiden Männer gehen nach unten, um sich ein Bild vom Verstorbenen zu machen, sie drücken sich in den einzigen Aufzug des Zamenhof beziehungsweise in den ELEVATORO, wie ihn ein kleines Messingschild über der Tür bezeichnet. Beim Bau des Hotels vor fünfzig Jahren wurden alle Hinweise, Warnungen und Beschilderungen in Esperanto auf Messingtäfelchen verfasst. Die meisten davon sind längst verschwunden, sind Nachlässigkeit, Vandalismus oder Brandvorschriften zum Opfer gefallen.

Tür und Türrahmen von 208 weisen keine Spuren gewaltsamen Eindringens auf. Landsman legt sein Taschentuch um den Knauf und stupst die Tür mit der Pantoffelspitze auf.

»Ich hatte so ein komisches Gefühl«, sagt Tenenboym, als er Landsman ins Zimmer folgt. »Schon als ich den Typ zum ersten Mal gesehen hab. Kennen Sie den Ausdruck ›ein gebrochener Mann‹?«

Landsman gibt zu, dass ihm die Redewendung bekannt vorkommt.

»Die meisten, die so bezeichnet werden, verdienen es gar nicht«, sagt Tenenboym. »Bei den meisten Männern gibt es meiner Meinung nach überhaupt nichts zu brechen. Aber dieser Lasker, der war wie ein Stab, der aufleuchtet, wenn man ihn zerbricht. Kennen Sie die? Leuchten nur ein paar Stunden. Und wenn man

»Momentan hat jeder ein komisches Gefühl«, sagt Landsman und notiert auf seinem kleinen schwarzen Block einiges über den Tatort, auch wenn solche Notizen überflüssig sind, weil er nur selten ein Detail vergisst. Der lockere Zusammenschluss von Ärzten, Psychologen und seiner ehemaligen Gattin prophezeite Landsman, der Alkohol würde sein Erinnerungsvermögen abtöten, doch bisher hat sich diese Behauptung – zu seinem Bedauern – als falsch erwiesen. Sein Blick in die Vergangenheit bleibt unbeeinträchtigt. »Wir mussten eine separate Leitung einrichten, um all die Anrufe entgegennehmen zu können.«

»Es sind seltsame Zeiten für Juden«, stimmt Tenenboym zu. »Ohne Zweifel.«

Auf der furnierten Kommode liegt ein kleiner Stapel Taschenbücher. Auf Laskers Nachttisch steht ein Schachbrett. Es sieht aus, als sei er mitten in einer Partie gewesen, ein chaotisches Endspiel, in dem der schwarze König in der Brettmitte angegriffen wird und Weiß mit einigen Figuren im Vorteil ist. Es ist ein billiges Set, das Brett ein in der Mitte faltbares Pappquadrat, die Figuren sind hohl und haben Nähte, wo sie ausgestanzt wurden.

In der dreistrahligen Stehlampe neben dem Fernseher funktioniert nur noch eine Birne. Abgesehen von der Lampe im Badezimmer ist jede andere Birne im Zimmer herausgedreht oder durchgebrannt. Auf der Fensterbank liegt eine Packung frei verkäuflichen Abführmittels einer beliebten Marke. Das Fenster ist die maximal möglichen zwei Zentimeter hochgekurbelt, und alle paar Sekunden rasseln die Metalllamellen in der vom Golf von Alaska hereinwehenden steifen Brise. Der Wind trägt den säuerlich-scharfen Geruch von Holzpulpe, den Gestank von Schiffsdiesel, das Aroma von geschlachteten und konservierten Lachsen heran. Wie es in »Noch amol« heißt, einem Lied, das Landsman und die übrigen Juden seiner Generation in der Grundschule in Alaska lernten, erfüllt der Wind vom Golf die jüdische Nase

»Hab ’ne Menge jüdischer Schachspieler gekannt, die Smack genommen haben«, sagt Tenenboym.

»Dito«, sagt Landsman und schaut auf den Verstorbenen hinab. Er stellt fest, dass er den Jid schon mal im Zamenhof gesehen hat. Ein Vögelchen von einem Mann. Waches Auge, kurzer Schnabel. Wangen und Hals leicht gerötet, könnte Kupferrose sein. Kein richtig harter Bursche, kein Schuft, keine völlig verlorene Seele. Ein Jid, vielleicht gar nicht so anders als Landsman selbst, abgesehen von der Wahl der Droge. Saubere Fingernägel. Immer mit Krawatte und Hut. Las einmal ein Buch mit Fußnoten. Jetzt liegt Lasker mit dem Gesicht zur Wand bäuchlings auf dem Schrankbett, lediglich mit der obligaten weißen Unterhose bekleidet. Rotes Haar, rote Sommersprossen und auf den Wangen ein goldener Dreitagebart. Der Anflug eines Doppelkinns, das Landsman auf ein Leben als dickes Kind zurückführt. In blutdunklen Höhlen geschwollene Augen. Auf dem Hinterkopf ein kleines verbranntes Loch, ein Blutstropfen. Keine Anzeichen eines Kampfes. Nichts weist darauf hin, dass Lasker es kommen sah oder es zumindest erkannte, als es so weit war. Dem Bett, stellt Landsman fest, fehlt das Kopfkissen. »Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich ihm vielleicht mal die ein oder andere Partie vorgeschlagen.«

»Ich wusste nicht, dass Sie Schach spielen.«

»Nicht sehr gut«, sagt Landsman. Auf dem Veloursteppich vom medizinischen Gelbgrün einer Halspastille entdeckt er eine einsame, winzige weiße Feder vor dem Einbauschrank. Landsman reißt die Schranktür auf, und darin liegt das Kopfkissen, durchschossen, um das Geräusch explodierender Gase in einer Patrone zu dämpfen. »Ich habe kein Gespür fürs Mittelspiel.«

»Da sagen Sie was«, erwidert Landsman.

Er weckt seinen Kollegen, Berko Shemets.

»Detective Shemets«, spricht Landsman in sein Handy, ein polizeieigenes Shoyfer AT. »Ich bin’s, dein Kollege.«

»Ich habe dich doch gebeten, damit aufzuhören, Meyer«, sagt Berko. Versteht sich von selbst, dass auch ihm noch acht Stunden bis zur nächsten Schicht bleiben.

»Du hast allen Grund, sauer zu sein«, sagt Landsman. »Ich dachte nur, du bist vielleicht noch wach.«

»Ich war wach.«

Anders als Landsman hat Berko Shemets seine Ehe und sein Privatleben nicht in den Sand gesetzt. Jede Nacht schläft er in den Armen seiner wunderbaren Angetrauten, deren Liebe er sich verdient hat und die von ihm vergolten und gewürdigt wird – ein unerschütterlicher Mann, der seiner Frau niemals Anlass zu Kummer oder Besorgnis gibt.

»Einen Fluch auf deinen Kopf, Meyer«, sagt Berko; und dann auf Englisch: »God damn it.«

»Ich habe anscheinend einen Mord hier bei mir im Hotel«, sagt Landsman. »Ein Gast. Schuss in den Hinterkopf. Kopfkissen als Schalldämpfer. Sehr sauber.«

»Ein Auftragsmord.«

»Nur deshalb störe ich dich überhaupt. Wegen der ungewöhnlichen Vorgehensweise.«

Sitka mit seinen 3,2 Millionen Einwohnern kommt im langen, zerklüfteten Streifen des Großstadtbereichs auf ein Jahresmittel von fünfundsiebzig Morden. Einige sind auf Bandenkriminalität zurückzuführen: russische Schtarker, die sich gegenseitig im Freistil erledigen. Die übrigen Morde in Sitka sind sogenannte Verbrechen aus Leidenschaft, die stenografierte Kurzfassung für das mathematische Produkt aus Alkohol und Schusswaffen. Kaltblütige Exekutionen sind ebenso selten wie mühselig von der großen Weißwandtafel im

»Du bist nicht im Dienst, Meyer. Ruf auf dem Revier an! Gib die Sache an Tabatchnik und Karpas weiter.«

Tabatchnik und Karpas, die anderen beiden Kollegen, bilden die B-Mannschaft bei der Mordkommission der Distriktpolizei, Präsidium Sitka. Sie haben in diesem Monat Nachtschicht. Landsman muss zugeben, dass die Vorstellung einen gewissen Reiz hat, diese Taube auf ihre Filzhüte scheißen zu lassen.

»Würde ich ja machen«, sagt Landsman. »Nur ist das hier mein Wohnsitz.«

»Hast du ihn gekannt?«, fragt Berko, und sein Ton wird ein wenig weicher.

»Nein«, sagt Landsman. »Ich habe den Jid nicht gekannt.«

Er wendet den Blick von der blassen, sommersprossigen Gestalt des Toten ab, der ausgestreckt auf dem Schrankbett liegt. Manchmal kann Landsman nicht anders, als Mitleid für das Opfer zu empfinden, auch wenn es besser wäre, sich das nicht anzugewöhnen.

»Hör mal«, sagt Landsman, »geh einfach wieder ins Bett. Wir können morgen drüber sprechen. Tut mir leid, dass ich dich belästigt habe. Gute Nacht. Sag Ester-Malke, dass es mir leidtut.«

»Du hörst dich an, als wärst du ein bisschen neben der Kappe, Meyer«, sagt Berko. »Ist alles in Ordnung?«

In den vergangenen Monaten hat Landsman des Öfteren zu fragwürdigen Nachtstunden Anrufe bei seinem Kollegen getätigt und dann im alkoholischen Dialekt des Grams geschwafelt und schwadroniert. Zwei Jahre zuvor entließ sich Landsman selbst aus seiner Ehe, und im vergangenen April flog seine kleine Schwester mit ihrer Piper Super Cub in die Flanke von Mount Dunkelblum, oben in der Wildnis. Doch jetzt denkt Landsman weder an Naomis Tod noch an seine schmachvolle Scheidung. Gerade trifft ihn eine Vision wie ein Sandsack: Er sitzt in der schmutzigen Lobby des Hotels Zamenhof auf einer ehemals weißen Couch und spielt Schach mit Emanuel Lasker oder wie auch immer der

»Der Typ hat Schach gespielt, Berko. Das hab ich nicht gewusst. Das ist alles.«

»Bitte«, sagt Berko, »bitte, Meyer, ich flehe dich an, fang nicht wieder an zu heulen.«

»Mir geht’s gut«, sagt Landsman. »Gute Nacht.«

Landsman ruft die Leitstelle an, um sich selbst zum obersten Ermittler im Lasker-Fall zu machen. So ein beschissener Mord kann seiner Aufklärungsquote nicht sonderlich schaden. Nicht dass es etwas ändern würde. Am ersten Januar wird die Landeshoheit über den gesamten föderalen Distrikt Sitka, eine gekrümmte Klammer felsiger Küste am Westufer von Baranof und Chichagof Island, an den Bundesstaat Alaska zurückfallen. Die Distriktpolizei, der Landsman sich seit zwanzig Jahren mit Haut, Haar und Seele verschrieben hat, wird aufgelöst werden. Es ist alles andere als klar, ob Landsman, Berko Shemets oder sonst jemand seine Stellung behalten wird. Überhaupt nichts ist klar, was die bevorstehende Reversion angeht, und aus diesem Grund sind es seltsame Zeiten für Juden.

Während Landsman darauf wartet, dass der Latke von der Streife auftaucht, klopft er an Türen. Die meisten Bewohner des Zamenhof sind körperlich oder geistig nicht zugegen, und nach dem, was er aus den übrigen herausbekommt, hätte er genauso gut an die Türen der Taubstummenschule Hirshkovits klopfen können. Es ist ein unruhiger, halb verwirrter, widerlich-wunderlicher Haufen Jids, die Bewohner des Hotels Zamenhof, aber keiner von ihnen scheint sich in dieser Nacht über Gebühr gestört zu fühlen. Und keiner von ihnen kommt Landsman wie der Typ vor, der einem Mann eine großkalibrige Handfeuerwaffe an die Schädelbasis hält und kaltblütig abdrückt.

»Ich verschwende nur meine Zeit mit diesen Büffeln«, sagt Landsman zu Tenenboym. »Und Sie, Tenenboym, haben Sie auch wirklich nichts außer der Reihe gesehen oder gehört?«

»Tut mir leid, Detective.«

»Sie sind auch ein Büffel, Tenenboym.«

»Dagegen habe ich nichts einzuwenden.«

»Was ist mit dem Dienstboteneingang?«

»Wurde von Dealern benutzt«, sagt Tenenboym. »Wir mussten eine Alarmanlage einbauen. Hätte ich gehört.«

Landsman weist Tenenboym an, den Tages- und den Wochenendportier anzurufen, die gemütlich zu Hause im Bett liegen. Die Herren pflichten Tenenboym bei, ihres Wissens habe nie jemand den Toten besucht oder nach ihm gefragt. Niemals. Während der gesamten Dauer seines Aufenthalts im Zamenhof. Keine Besucher, keine Freunde, nicht mal der Lieferservice von Pearl of Manila. Dann gibt es doch einen Unterschied zwischen ihm und Lasker, denkt Landsman: Er bekommt nämlich gelegentlich Besuch vom Botenjungen Romel, der ihm eine braune Papiertüte mit Lumpia bringt.

Mit dem Elevatoro fährt Landsman in den sechsten Stock und poltert eine mit Stahlkanten versehene Betontreppe zum Dach des Zamenhof empor. Er läuft am Rand entlang und schaut über die Max Nordau Street auf das Dach des Blackpool. Er späht über das nördliche, östliche und südliche Gesims auf die niedrigeren Gebäude der Umgebung, fünf oder sechs Stockwerke tiefer. Die Nacht über Sitka ist ein orangefarbener Schmierfleck, eine Mischung aus Nebel und dem Licht der Natriumdampflampen in den Straßenlaternen. Sie ist so lichtdurchlässig wie in Hühnerfett gedünstete Zwiebeln. Die Lichter der Juden erstrecken sich vom Hang des Mount Edgecumbe im Westen über die zweiundsiebzig Inseln im Sund, über Shvartser-Yam, Halibut Point, Süd-Sitka und das Nachtasyl, über Harkavy und die Untershtot, ehe sie im Osten von der Baranof-Kette gelöscht werden. Auf Oysshtelung Island blinkt das Leuchtfeuer oben auf dem Safety Pin – das einzige Relikt der Weltausstellung – seine Warnung an Flugzeuge oder Jids. Landsman riecht den Fischabfall der Konservenfabriken, das Fett in den Frittierwannen von Pearl of Manila, er riecht den Auswurf von Taxen und das betörende Aroma frischer Hüte aus Grinspoons Filzfabrik zwei Querstraßen weiter.

»Schön da oben«, sagt Landsman, als er zurückkehrt in die Lobby mit ihrem Aschenbechercharme, den vergilbenden Sofas, vernarbten Sesseln und Tischen, an denen hin und wieder ein paar Hotelgäste mit einem Spiel Binokel eine Stunde totschlagen. »Sollte öfter mal hochgehen.«

»Was ist mit dem Keller?«, fragt Tenenboym. »Sehen Sie da auch nach?«

»Im Keller«, sagt Landsman, und das Herz in seiner Brust macht einen unvorhergesehenen Rösselsprung. »Ist wohl besser.«

Landsman ist ein harter Kerl, auf seine Weise, er neigt dazu, es einfach drauf ankommen zu lassen. Er wurde schon abgebrüht und tollkühn genannt, ein Mamser, ein verrückter Hurensohn. Er

»Soll ich mitkommen?«, fragt Tenenboym, und es klingt beiläufig, aber bei so einem feinfühligen alten Fischweib wie Tenenboym weiß man nie.

Landsman tut, als verschmähe er das Angebot.

»Geben Sie mir einfach eine Taschenlampe!«, sagt er.

Der Keller verströmt den Odem von Kampfer, Heizöl und kaltem Staub. Landsman zerrt an einer Kordel, die eine nackte Glühbirne zum Leuchten bringt, hält die Luft an und verschwindet in der Versenkung.

Vom Fuße der Treppe aus durchquert er den Raum mit den Fundsachen, gesäumt von Stecktafeln und möbliert mit Regalen und Fächern, die Tausende von verlassenen oder vergessenen Gegenständen beherbergen. Einzelne Schuhe, Pelzhüte, eine Trompete, ein Zeppelin zum Aufziehen. Eine Sammlung wächserner Grammofonwalzen mit der gesamten aufgezeichneten Produktion des Orfeon-Orchesters aus Istanbul. Eine Holzfälleraxt, zwei Fahrräder, ein Gebiss in einem Hotelglas. Perücken, Gehstöcke, ein Glasauge, von einem Schaufensterpuppenvertreter zurückgelassene Handmodelle. Gebetbücher, Gebetsschals in ihren samtenen Reißverschlusshüllen, ein fremdartiger Götze mit dem Körper eines dicken Kindes und dem Kopf eines Elefanten. Es gibt einen hölzernen Limonadenkasten voller Schlüssel und einen anderen mit dem gesamten Sortiment von Friseurutensilien, vom Glätteisen bis zur Wimpernzange. Gerahmte

Mit einem Stift stochert Landsman im Schlüsselkasten herum. Er schaut in jeden Hut, tastet die Regale hinter den verlassenen Taschenbüchern ab. Er kann sein eigenes Herz hören und seinen Aldehyd-Atem riechen, und nach einigen Minuten in der Stille erinnert ihn das Rauschen des Blutes in seinen Ohren an jemanden, der spricht. Er sieht hinter den Warmwassertanks nach, die mit Stahlbändern aneinandergekettet sind wie Gefährten in einem verhängnisvollen Abenteuer.

Als Nächstes ist der Waschkeller an der Reihe. Landsman zieht an der Lampenschnur, doch es tut sich nichts. Es ist hier noch zehnmal dunkler, aber es gibt nichts zu sehen außer leeren Wänden, gekappten Anschlüssen und Abflüssen im Boden. Seit Jahren macht das Zamenhof die Wäsche nicht mehr selbst. Landsman schaut in die Abflüsse, in die schwere ölige Dunkelheit. Er verspürt ein Krümmen, einen Wurm in seinem Bauch. Er spreizt die Hände und knackt mit den Halswirbeln. Am hinteren Ende des Waschkellers ist eine niedrige Öffnung, verschlossen von einer aus drei Brettern bestehenden Tür, die diagonal durch ein viertes zusammengenagelt ist. Als Riegel hat die Holztür eine Seilschlaufe, die über einem Haken liegt.

Ein Kriechkeller. Schon das Wort allein macht Landsman Angst.

Er berechnet die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Sorte Mörder, kein Profi, kein blutiger Anfänger, schon gar kein normaler Irrer, sich in dem Kriechkeller verstecken könnte. Möglich, aber reichlich schwierig für den Freak, von innen die Schlaufe über den Haken zu legen. Eigentlich reicht Landsman schon diese Logik, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass er sich nicht um den Kriechkeller kümmern muss. Schließlich geht er zurück in den Raum mit den Fundsachen und treibt eine kleine

»Komm raus!«, sagt er mit trockenen Lippen und keucht wie ein schissiger alter Knacker.

Die Hochstimmung, die er auf dem Dach empfand, ist abgekühlt wie ein gerissener Glühfaden. Landsmans Nächte verstreichen ungenutzt, sein Privatleben und sein Beruf sind eine Aneinanderreihung von Fehlern, seine Stadt selbst ist eine Glühbirne, die in Kürze erlöschen wird.

Er schiebt seinen Oberkörper in den Kriechkeller. Die Luft ist kalt und hat den bitteren Geruch von Mausekötteln. Der Strahl der Taschenlampe tröpfelt über alles, verbirgt ebenso viel, wie er offenbart. Wände aus Löschbeton, ein gestampfter Erdboden, die Decke ein widerliches Gewirr aus Drähten und Isolierschaum. Weiter hinten in der Mitte liegt eine Platte aus grobem Sperrholz in einem runden, im Boden eingelassenen Metallrahmen. Landsman hält den Atem an und schwimmt durch seine Panik zum Loch im Boden, fest entschlossen, so lange wie möglich unten zu bleiben. Die Erde um den Rahmen ist unberührt. Eine gleichmäßige Staubschicht liegt über Holz und Metall, keine Abdrücke, keine Spuren. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht haben könnte. Landsman schiebt die Fingernägel zwischen Sperrholz und Rahmen und hievt die schlichte Klappe heraus. Die Taschenlampe beleuchtet ein gewundenes, in die Erde geschraubtes Aluminiumrohr mit Stahlklampen als Stufen. Landsman sieht, dass der Rand des Rohres selbst den Rahmen bildet. Gerade breit genug für einen ausgewachsenen Psychopathen. Oder einen jüdischen Polizisten mit weniger Phobien als Landsman. Er klammert sich an seine

Die Dunkelheit folgt ihm den ganzen Weg zurück die Treppe hinauf bis in die Lobby, greift nach seinem Kragen, zupft an seinem Ärmel.

»Nichts«, sagt er mit großer Selbstbeherrschung zu Tenenboym. Er sagt es betont fröhlich. Es könnte eine Prophezeiung dessen sein, was seine Ermittlung im Mordfall Emanuel Lasker zwangsläufig hervorbringen wird, eine Feststellung, wofür Lasker seiner Meinung nach lebte und starb, eine Erkenntnis, was nach der Reversion von Landsmans Heimatstadt zurückbleiben wird. »Nichts.«

»Sie wissen ja, was Kohn meint«, sagt Tenenboym. »Kohn meint, wir hätten einen Hausgeist.« Kohn ist der Tagesportier. »Der Sachen entwendet oder umstellt. Kohn glaubt, es ist der Geist von Professor Zamenhof.«

»Wenn so eine Absteige nach mir benannt würde«, sagt Landsman, »würde ich da auch rumspuken.«

»Man kann nie wissen«, bemerkt Tenenboym. »Besonders heutzutage.«

Heutzutage weiß man nie. Draußen in Povorotny paarte sich eine Katze mit einem Kaninchen und brachte entzückende Missgeburten zur Welt, deren Fotos das Titelblatt der Sitka Tog zierten. Im vergangenen Februar schworen fünfhundert Zeugen quer durch den ganzen Distrikt, dass sie zwei Nächte in Folge im Schimmer des Nordlichts den Umriss eines Gesichts mit Bart und Schläfenlocken erkannt hätten. Heftige Dispute über die Identität des bärtigen Weisen am Himmel brachen aus, ob das Gesicht gelächelt habe oder nicht (oder lediglich unter leichten Blähungen litt), sowie über die Bedeutung der sonderbaren Erscheinung. Und just in der letzten Woche wehrte sich im koscheren Schlachthaus auf der Zhitlovsky Avenue inmitten des panischen Federgeflatters ein Huhn gegen den Schochet, als der

Auf der Straße fegt der Wind den Regen von den Mantelaufschlägen. Landsman duckt sich in den Hoteleingang. Zwei Männer, einer mit einem auf den Rücken geschnallten Cellokasten, der andere mit einer Geige oder Bratsche im Arm, kämpfen sich durch das Wetter zur Tür von Pearl of Manila auf der anderen Straßenseite. Die Konzerthalle ist zehn Häuserblocks und eine ganze Welt entfernt von diesem Ende der Max Nordau Street, doch das Verlangen eines Juden nach Schweinefleisch, insbesondere frittiertem, ist stärker als die Nacht oder die Entfernung oder der kalte Wind vom Golf von Alaska. Landsman selbst kämpft gegen den Drang, zu seiner Flasche Sliwowitz und seinem Souvenirglas von der Weltausstellung in Zimmer 505 zurückzukehren.

Stattdessen zündet er sich eine Papiros an. Nach einem Jahrzehnt der Enthaltsamkeit hat Landsman vor knapp drei Jahren erneut mit dem Rauchen begonnen. Seine Exfrau war damals schwanger. Es war eine kontrovers diskutierte und in manchen Stadtteilen heiß ersehnte Schwangerschaft – ihre erste –, aber keine geplante. Wie bei vielen Schwangerschaften, die zu lange diskutiert werden, hatte der zukünftige Vater zuvor eine zwiespältige Einstellung gehabt. Nach siebzehn Wochen und einem Tag – der Tag, an dem Landsman nach zehn Jahren seine erste Schachtel Broadways kaufte – bekamen sie ein schlechtes Testergebnis. Viele, wenn auch nicht alle Zellen, aus denen der Fötus mit Decknamen Django bestand, besaßen ein zusätzliches Chromosom auf dem zwanzigsten Paar. Mosaizismus nennt man das. Es kann schwere Anomalien hervorrufen. Oder überhaupt keine Folgen haben. In der verfügbaren Literatur mochte ein gläubiger Mensch Zuspruch finden, ein ungläubiger reichlich Grund zur Verzweiflung. Landsmans Sicht der Dinge – zwiegespalten, verzweifelt

Ein alter Mann, der sich selbst voranschiebt wie einen klapprigen Handkarren, kommt in Zickzacklinie auf den Hoteleingang zu. Er ist ein kleiner Mann, keine eins fünfzig, und zieht einen großen Koffer hinter sich her. Landsman mustert den offenen, langen weißen Mantel über dem weißen Anzug mit Weste und den tief in die Stirn gezogenen, breitkrempigen weißen Hut. Weißer Bart und weiße Schläfenlocken, fedrig und schwer zugleich. Der Koffer – ein altes Monstrum aus fleckigem Brokat und zerkratztem Leder. Die rechte Körperhälfte des kleinen Mannes ist um fünf Grad tiefer als die linke, hinabgezogen vom Koffer, der offenbar die komplette Bleibarrensammlung des alten Herrn enthält. Das Kerlchen hält inne und hebt einen Finger, als habe es Landsman eine Frage zu stellen. Der Wind spielt mit seinem Barthaar und der Hutkrempe. Von seinem Bart, seinen Achselhöhlen, seinem Atem und seiner Haut weht der Wind den schweren Geruch von altem Tabak, feuchtem Flanell und vom Schweiß eines auf der Straße lebenden Mannes herüber. Landsman fällt die Farbe der spitzen antiquierten Stiefel ins Auge: Sie sind gelblich elfenbeinfarben wie der Bart des Alten und werden seitlich geknöpft.

Landsman erinnert sich, dass er diesen komischen Kauz früher öfter gesehen hat, als er Tenenboym mehrfach wegen leichten Diebstahls und Drogenbesitzes verhaftete. Damals war der Jid nicht jünger, jetzt ist er nicht älter. Er wurde Elija genannt, weil er an allen unmöglichen Orten mit seiner Puschke und dieser unerklärlichen Art auftauchte, als habe er etwas Wichtiges zu sagen.

»Liebchen«, sagt er zu Landsman. »Das ist das Hotel Zamenhof, nein?«

»Genau.« Landsman bietet dem Propheten Elija eine Broadway an, und der kleine Mann nimmt zwei, von denen er eine in den dunklen Reliquienschrein seiner Brusttasche schiebt. »Kaltes und warmes Wasser. Schammes mit Dienstmarke direkt im Haus.«

»Sind Sie der Manager, mein Schejner

Darüber muss Landsman lächeln. Er tritt zur Seite und weist auf den Eingang.

»Der Manager ist dadrin«, sagt er.

Aber der kleine alte Mann bleibt einfach stehen und lässt sich beregnen. Sein Bart flattert wie ein Waffenstillstandsangebot. Er schaut an der gesichtslosen Fassade des Zamenhofs empor, grau im trüben Laternenschein. Das Gebäude, ein schmaler Turm schmutzig weißer Ziegel mit Fensterschlitzen, drei oder vier Häuserblocks vom geschmacklosesten Abschnitt der Monastir Street entfernt, besitzt die Attraktivität eines Luftentfeuchters. Sein blinkendes Neonschild quält die Träume der Verlierer im Blackpool auf der anderen Straßenseite.

»Das Zamenhof«, sagt der alte Mann und blinzelt wie die Leuchtröhren der Neonreklame. »Nicht das Zamenhof. Das Zamenhof.«

Da kommt der Latke angelaufen, ein Neuling namens Netsky, eine Hand auf seiner flachen, runden, breitkrempigen Streifendienstmütze.

»Detective«, sagt der Latke atemlos, blinzelt dem Alten zu und nickt. »’n Abend, Väterchen. Also, ähm, Detective, tut mir leid, ich habe den Anruf gerade erst erhalten, bin kurz aufgehalten worden.« Netsky hat Kaffee im Atem und Puderzucker auf dem

»In zwei null acht«, sagt Landsman und öffnet dem Latke die Tür. Dann wendet er sich wieder dem Alten zu. »Auch hinein, Väterchen?«

»Nein«, sagt der kleine Mann mit dem Anflug einer Gemütsregung, die Landsman nicht recht deuten kann. Es könnte Bedauern oder Erleichterung sein oder aber die grimmige Genugtuung eines Mannes, der eine Schwäche für Enttäuschungen hat. Das Flackern in seinen Augen ist einem Tränenfilm gewichen. »Ich war nur neugierig. Danke, Officer Landsman.«

»Ich bin jetzt Detective«, sagt Landsman, überrascht, woher der Alte seinen Namen kennt. »Können Sie sich an mich erinnern, Väterchen?«

»Ich erinnere mich an alles, Liebchen.« Dann greift Elija in eine Tasche seines bleichgelben Mantels und holt seine Puschke hervor, ein schwarz angemaltes Holzkästchen, ungefähr von der Größe eines Karteikartenkastens. Darauf steht in hebräischen Buchstaben geschrieben: L’ERETZ JISROEL. Im Deckel ist ein schmaler Schlitz für Münzen und gefaltete Dollarnoten.

»Eine kleine Gabe?«, fragt Elija.

Noch nie war das Heilige Land jemandem ferner und unerreichbarer als einem Juden aus Sitka. Es liegt auf der anderen Seite des Planeten, ein elender Ort, regiert von Menschen, die lediglich ihre Entschlossenheit eint, außer einer erschöpften, unbedeutenden Handvoll alle anderen Juden auszuschließen. Ein halbes Jahrhundert haben arabische Potentaten und muslimische Partisanen, Perser und Ägypter, Sozialisten, Nationalisten und Monarchisten, Panarabisten und Panislamisten, Traditionalisten und Schiiten, haben sie alle ihre Zähne in Eretz Jisroel geschlagen und es bis auf Knochen und Knorpel abgenagt. Jerusalem ist eine Stadt des Bluts, der Parolen an Hauswänden, eine Stadt der abgetrennten Köpfe auf Telefonmasten. Gläubige Juden auf der ganzen Welt haben die Hoffnung noch nicht aufgegeben, eines Tages im Lande Zion zu leben. Aber bisher sind die

Landsman holt seine Brieftasche hervor und steckt einen gefalteten Zwanziger in Elijas Puschke.

»Viel Glück«, sagt Landsman.

Der kleine Mann hievt seinen schweren Koffer hoch und will davonschlurfen. Landsman hält ihn am Ärmel fest, eine Frage formt sich in seinem Herzen, eine Kinderfrage über den alten Wunsch seines Volks nach einer Heimat. Mit geübt wachsamem Blick dreht sich Elija um. Vielleicht ist Landsman ja irgendein Aufwiegler. Landsman spürt, dass die Frage abebbt wie das Nikotin in seinem Blut.

»Was haben Sie da in der Tasche, Väterchen?«, sagt er. »Sieht schwer aus.«

»Ein Buch.«

»Ein einziges?«

»Es ist sehr groß.«

»Lange Geschichte?«

»Sehr lang.«

»Wovon handelt sie?«

»Von Messias«, sagt der kleine Mann. »Und jetzt nehmen Sie bitte Ihre Hand fort.«

Landsman lässt los. Der Alte drückt den Rücken durch und hebt den Kopf. Auf seiner Stirn ziehen schwere Wolken auf, und er sieht zornig aus, hochmütig und nicht im Geringsten alt.

»Messias kommt«, sagt er. Es ist keine richtige Warnung, doch als Erlösungsversprechen fehlt es dem Satz an der gewissen Wärme.

»Das trifft sich gut«, sagt Landsman und weist mit dem Daumen in Richtung Hotellobby. »Seit heute haben wir nämlich ein Zimmer frei.«

Elija ist verletzt, vielleicht auch nur empört. Er öffnet das

Landsman zerknüllt den Zwanziger und lässt ihn in seine Gesäßtasche gleiten. Er tritt die Papiros unter dem Schuh aus und geht ins Hotel.

»Was war denn das für ein Spinner?«, fragt Netsky.

»Wird Elija genannt. Harmlos«, sagt Tenenboym hinter dem Metallgeflecht des Rezeptionsfensters. »Früher hat man ihn öfter mal gesehen. Immer schick gemacht für Messias.« Tenenboym klackert mit einem goldenen Zahnstocher gegen seine Backenzähne. »Hören Sie, Detective, eigentlich muss ich ja nichts sagen. Aber ich kann’s Ihnen genauso gut erzählen. Morgen kommt ein Brief vom Hotel.«

»Da bin ich aber gespannt«, sagt Landsman.

»Es wurde an einen Konzern aus Kansas City verkauft.«

»Wir werden rausgeworfen.«

»Kann sein«, sagt Tenenboym. »Kann auch nicht sein. Bei keinem hier ist der Status klar. Aber möglich ist es schon, dass Sie eventuell ausziehen müssen.«

»Und das steht in diesem Brief?«

Tenenboym zuckt mit den Achseln. »Der Brief ist in Fachchinesisch geschrieben.«

Landsman stellt Netsky, den Latke, am Eingang ab.

»Erzählen Sie den Leuten nicht, was sie gehört oder gesehen haben«, schärft er ihm ein. »Und setzen Sie ihnen nicht so stark zu, auch wenn sie aussehen, als könnten sie es gebrauchen.«

Vom prasselnden Regen wird Menashe Shpringer, der Ermittler aus der Nachtschicht, in die Lobby geweht. Er trägt einen schwarzen Mantel und eine Pelzmütze, in einer Hand hält er einen tropfenden Regenschirm. Mit der anderen zieht er einen Chromcaddy hinter sich her, auf den mit einer Gummistrippe sein schwarzer Kunststoffwerkzeugkasten und ein Plastikeimer mit Löchern zum Hineingreifen gezurrt sind. Shpringer ist ein

»Verlassen Sie die Stadt?«, fragt Shpringer. Das ist in diesen Tagen keine ungewöhnliche Begrüßung. In den vergangenen zwei Jahren haben viele Menschen die Stadt verlassen, sind aus dem Distrikt zu den wenigen Orten geflohen, wo sie freundlich empfangen werden oder wo man es satthat, nur aus zweiter Hand von Pogromen zu hören, und hofft, selbst mal eins zu veranstalten. Landsman sagt, soweit er wisse, gehe er nirgends hin. Die meisten Städte, die Juden aufnehmen, machen zur Bedingung, dass schon ein naher Verwandter dort lebt. Alle nahen Verwandten von Landsman sind entweder tot oder selbst von der Reversion betroffen.

»Dann möchte ich mich jetzt für immer von Ihnen verabschieden«, sagt Shpringer. »Morgen Abend um diese Zeit schwitze ich schon in der warmen Sonne von Saskatchewan.«

»In Saskatoon?«, rät Landsman.

»Null Grad waren es da heute«, sagt Shpringer. »Tageshöchsttemperatur.«

»Sehen Sie es mal anders«, sagt Landsman. »Sie könnten auch in diesem Rattenloch leben.«

»Im Zamenhof.« Shpringer zieht in Gedanken Landsmans Akte hervor und runzelt die Stirn ob ihres Inhalts. »Stimmt. Home sweet home, was?«

»Passt zu meinem gegenwärtigen Lebensstil.«

Shpringer zeigt ein schmales Lächeln, das so gut wie frei von Mitleid ist.

»Wo geht’s zu dem Toten?«, fragt er.

Als Erstes dreht Shpringer alle Birnen herein, die Lasker herausgeschraubt hat. Dann klappt er seine Sicherheitsbrille herunter und macht sich an die Arbeit. Er verpasst Lasker eine Maniküre und eine Pediküre und sucht in seinem Mund nach einem abgetrennten Finger oder einer Bronzedublone. Mit Kohlenstaub und Pinsel nimmt er Fingerabdrücke. Er macht dreihundertsiebzehn Polaroidfotos. Er macht Aufnahmen von der Leiche, dem Zimmer, dem perforierten Kopfkissen, den abgenommenen Fingerabdrücken. Er macht ein Bild vom Schachbrett.

»Noch eins für mich«, sagt Landsman. Shpringer schießt ein zweites Foto von dem Spiel, das der Mörder Lasker nicht zu Ende spielen ließ. Mit erhobener Augenbraue reicht er es Landsman.

»Wichtiges Indiz«, sagt Landsman.

Stück für Stück löst Shpringer die nimzokroatische Verteidigung des Toten auf oder was auch immer er gerade spielte. Jede Figur kommt in ein kleines Tütchen.

»Warum sind Sie so schmutzig?«, fragt er, ohne Landsman anzusehen.

Landsman registriert den hellbraunen Staub, der an seinen Schuhspitzen, an den Aufschlägen und Knien seiner Hose haftet.

»Ich war im Keller. Da unten ist eine große… keine Ahnung… eine Art Versorgungsrohr.« Er spürt, wie das Blut in seine Wangen schießt. »Musste ich überprüfen.«

»Ein Warschauer Tunnel«, sagt Shpringer. »Die ziehen sich überall durch diesen Teil der Untershtot.«

»Das glauben Sie doch selbst nicht!«

»Als die Grünlinge herkamen, nach dem Krieg. Die im Warschauer Getto gewesen waren. Oder in Bialystok. Die Widerstandskämpfer. Ich glaube, manche trauten den Amerikanern

»Ein Gerücht, Shpringer. Ein Großstadtmythos. Das da unten ist bloß ein Versorgungsrohr.«

Shpringer brummt. Er tütet Badelaken, Handtuch und ein abgenutztes Stück Seife ein. Er zählt die auf der Toilettenbrille klebenden rotblonden Schamhaare und verpackt jedes einzeln.

»Apropos Gerücht«, sagt er. »Haben Sie was von Felsenfeld gehört?«

»Was soll das heißen, ob ich was von ihm gehört habe?« Gemeint ist Inspector Felsenfeld, der Leiter des Dezernats. »Ich hab ihn heute Nachmittag noch gesehen«, sagt Landsman. »Gehört habe ich nichts von ihm. Der Mann hat seit zehn Jahren keine drei zusammenhängenden Wörter rausgebracht. Was ist das für eine Frage? Was für ein Gerücht?«

»Ich meinte nur.«

Shpringer fährt mit seinen latexbehandschuhten Fingern über die sommersprossige Haut von Laskers linkem Arm. Er sieht Einstichwunden und die schwachen Abdrücke der Aderpresse, mit der sich der Verstorbene abband.

»Felsenfeld lief den ganzen Tag mit der Hand auf dem Bauch herum«, sagt Landsman nachdenklich. »Ich meine, gehört zu haben, dass er ›Sodbrennen‹ sagte.« Dann: »Was sehen Sie?«

Mit gerunzelter Stirn betrachtet Shpringer die Haut über Laskers Ellenbogen, wo sich die Abdrücke der Aderpresse mehren.

»Sieht aus, als hätte er einen Gürtel benutzt«, sagt Shpringer. »Nur ist sein Gürtel zu breit für diese Abdrücke.«

Laskers Gürtel hat er bereits in eine braune Papiertüte gesteckt, genauso wie zwei graue Hosen und zwei blaue Sakkos.

»Sein Besteck ist in der Schublade, in einem schwarzen Etui«, sagt Landsman. »Ich hab nicht so genau hingeguckt.«

Shpringer öffnet die Lade von Laskers Nachttisch und holt eine schwarze Kulturtasche hervor. Er zieht den Reißverschluss auf und gibt einen seltsam kehligen Laut von sich. Zuerst kann

»Was wissen Sie über diesen Lasker?«, fragt Shpringer.

»Ich wage die Vermutung, dass er gelegentlich Schach gespielt hat«, sagt Landsman. Eins der drei Bücher im Zimmer ist eine abgegriffene Taschenbuchausgabe mit brüchigem Rücken von Siegbert Tarraschs 300 Schachpartien. Innen auf dem hinteren Umschlag klebt eine Papiertasche mit einer Karte, der zu entnehmen ist, dass es in der Öffentlichen Zentralbibliothek von Sitka letztmals im Juli 1986 ausgeliehen wurde. Landsman muss daran denken, dass er im Juli 1986 zum ersten Mal mit seiner damals zukünftigen Exfrau schlief. Bina war zwanzig, Landsman dreiundzwanzig, es war der Höhepunkt des nordischen Sommers. Juli 1986 ist ein Datum, das auf die Karte in der Tasche von Landsmans Illusionen gedruckt ist. Die anderen beiden Bücher sind billige jiddische Thriller. »Davon abgesehen weiß ich Ziegendreck.«

Wie Shpringer aus den Abdrücken auf Laskers Arm folgert, war die vom Verstorbenen gewählte Aderpresse offenbar ein schwarzer Lederriemen, ungefähr anderthalb Zentimeter breit. Shpringer zieht ihn aus der Kulturtasche und hält ihn mit zwei Fingern hoch, als könnte er beißen. In der Mitte des Riemens befindet sich eine kleine Lederkapsel für das Pergament, auf das ein Schriftgelehrter mit Tinte und Feder vier Abschnitte der Thora geschrieben hat. Jeden Morgen wickelt sich ein frommer Jude so ein Ding um den linken Arm, ein zweites hält er sich an die Stirn und bittet dann darum, diesen Gott zu verstehen, der Menschen zwingt, so etwas an jedem verdammten Tag ihres Lebens zu tun. Doch die kleine Kapsel von Emanuel Laskers Gebetsriemen ist leer. Er war lediglich das Instrument seiner Wahl, um die Venen in seinem Arm zu erweitern.

»Das ist mal was Neues«, sagt Shpringer. »Sich mit Tefillin abbinden.«

»Jetzt, wo ich drüber nachdenke«, sagt Landsman. »Er hatte so was. Als wäre er früher vielleicht mal ein Schwarzhut gewesen.

Landsman zieht einen Handschuh über, umfasst Laskers Kinn und dreht den Kopf des Toten, diese geschwollene Maske von Blutgefäßen, von einer Seite zur anderen.

»Falls er mal einen Bart getragen hat, muss das länger her sein«, sagt Landsman. »Seine Gesichtsfarbe ist gleichmäßig.«

Er lässt Laskers Kopf los und tritt von der Leiche zurück. Es wäre nicht ganz zutreffend zu behaupten, dass er Lasker für einen ehemaligen Schwarzhut hält. Doch Landsman meint, dass Lasker mit seinem pummeligen Kinn und seiner selbstzerstörerischen Aura einmal mehr gewesen sein muss als ein strumpfloser Junkie in einer billigen Absteige. Er seufzt.

»Was würde ich dafür geben«, sagt Landsman, »jetzt am sonnigen Strand von Saskatoon zu liegen.«

Auf dem Flur tut sich etwas, Metall und Gurte klirren, kurz darauf kommen zwei Mitarbeiter des Leichenschauhauses mit einer Klapptrage herein. Shpringer weist sie an, ihm den Eimer mit den Beweismitteln und die von ihm gefüllten Tüten anzureichen, dann rumpelt er nach draußen. Ein Reifen seiner kleinen Sackkarre quietscht.