Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2019
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Redaktion Evelin Schultheiß
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ISBN Printausgabe 978-3-499-63370-6 (1. Auflage 2019)
ISBN E-Book 978-3-644-40408-3
www.rowohlt.de
Hinweis: Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-40408-3
Für Stefanie und Patrick
Er gilt als der Superstar unter den Vögeln, zumindest in Europa: der Weißstorch – Ciconia ciconia. Und er muss für alles Mögliche und Unmögliche herhalten: Flaggschiff für den Naturschutz, Kinderbringer und Fruchtbarkeitssymbol, Frühlingsbote und Beschützer der Häuser, auf denen er brütet. Er hat sich dem Menschen enger angeschlossen als irgendein anderer Großvogel. Allein die vielen aus Märchen, Fabeln und Alltagssprache bekannten Namen – Klapperstorch, Adebar, Vetter Langbein, Stelzbein, Rotschnabel, Heilebart und Kalif Storch – geben Zeugnis für diese enge Bindung. Dort, wo der Weißstorch in Kultur und Volksglaube verankert ist, wird er verehrt und geliebt und ist oft auch Teil des lokalen Brauchtums. Es werden Storchenfeste gefeiert, Storchenprinzessinnen gekürt und Eheschließungen oder die Geburt eines Kindes mit Storchensymbolen verkündet. Jedes Jahr aufs Neue fiebern die Menschen den gefiederten Frühlingsboten entgegen. Kehrt dann der erste aus seinem Überwinterungsgebiet zurück und nimmt klappernd sein Nest in Besitz, bricht ein regelrechter «Storchenhype» aus.
Die Verehrung der Störche reicht zurück bis in die Antike. Für die alten Griechen und Römer war der Weißstorch ein tief im Glauben verwurzelter frommer Vogel, ein Sinnbild von Dankbarkeit und Fürsorge der Kinder für ihre Eltern, von denen sie aufopferungsvoll großgezogen wurden. In der Türkei gilt der Weißstorch bis heute als heiliger Pilgervogel Hadschi Leklek. Nicht nur wegen der angeblichen Pilgerreise, sondern auch, weil er in islamischen Ländern gerne auf den Dächern und Minaretten der Moscheen brütet. Unsere Tradition kennt die Störche als Glücksboten, sorgen sie doch dort, wo sie sich ansiedeln, für Kinderreichtum, Wohlstand und Sicherheit. Für diesen Mythos steht der Name Adebar, der sich ableitet vom althochdeutschen Ode Boro, was so viel bedeutete wie «Glücksträger». Über lange Zeit galt er als Sinnbild für eheliche Treue, und in volkstümlichen Reimen und Liedern gaben Kinder Bestellungen für neue Geschwisterchen auf: «Klapperstorch, du Guter, bring mir einen Bruder, Klapperstorch, du Bester, bring mir eine Schwester.» Um diesen Wunsch zu bekräftigen, wurde ein Stück Würfelzucker auf die Fensterbank gelegt, das bald darauf verschwunden war. Der Klapperstorch hatte es geholt, vielleicht als Anzahlung für die erbetene Leistung.
Nun könnte man meinen, dass für den Ornithologen, der die Biologie der Störche mit wissenschaftlichem Anspruch erkundet, solche Aspekte keine Rolle spielen. Aber ist es denn wirklich so? Tatsächlich war ich bei meiner Feldforschung mit der Rolle des Storchs als Mittler zwischen Natur und Kultur gelegentlich doch konfrontiert. Sei es in Afrika, wo sich in Gesprächen mit Hirten und Bauern letztlich nur die Idee vom «Kinderbringer» Storch als schlagendes Argument gegen die Bejagung erwies. Oder in Japan, wo ich mit Prinz Akishino, einem Sohn des Kaisers, den Schutz des Schwarzschnabelstorchs diskutierte. Sein Stammhalter sei genau an dem Tag zur Welt gekommen, erzählte er, an dem er als Schirmherr einen im Gehege aufgewachsenen Jungstorch ausgewildert habe. Seitdem sei ihm der Schutz der vom Aussterben bedrohten Störche eine Herzensangelegenheit.
Mehr als 30 Jahre lang habe ich mich als Biologe intensiv mit dem Weißstorch befasst. Von Anfang an war mir dabei bewusst: Wer das Verhalten der Störche wirklich verstehen will, wer wissen will, wie sie leben, wodurch sie gefährdet sind und welche Maßnahmen für ihren Schutz erforderlich sind, der muss sich mit ihnen auf Reisen begeben. Als Forscher habe ich die Vögel deshalb vor allem auf ihrem Zug begleitet, von Europa bis in die Südspitze Afrikas. Die wissenschaftlichen Daten aus dieser Feldforschung beantworteten viele offene Fragen und offenbarten manch spektakuläre Erkenntnis. Hunderte Tagebuchseiten füllte ich unterwegs, nicht nur mit biologischen Aufzeichnungen, sondern auch mit meinen persönlichen Erlebnissen auf der Spur der Störche. Grandiose Landschaften lernte ich kennen, faszinierende Menschen und fremde Kulturen. Und bald stellte ich fest, dass der Storch, allen Unterschieden zwischen den Völkern zum Trotz, immer wieder sympathisch wirkender Auslöser war für Verständnis und freundliche Begegnungen. Ob wagemutige Expeditionen fernab jeder Straße, wütende Sandstürme in der Wüste, funkensprühende Blitze in den Drakensbergen oder Autopannen in von Aufständischen bedrohten Gebieten in Westafrika – in meinen Gedanken sind all diese Abenteuer untrennbar mit der wissenschaftlichen Arbeit an den Störchen verbunden.
Über die Weißstörche wurde bereits viel geschrieben. Das meiste davon, auch das, was ich selbst zu Papier gebracht habe, ist Fachliteratur. Als der Rowohlt Verlag mich im Jahr 2017 fragte, ob ich meine Forschungsarbeit über den Weißstorch in einem neuen Buch vorstellen möchte, stand für mich außer Frage: Es sollte kein weiteres Fachbuch werden, sondern ein Buch über meinen langen Weg zu und mit den Störchen. Der begann bereits, als ich im zarten Alter von 16 Jahren auf dem Reetdach eines Hauses nahe der Ostseeküste hockte und einem Beringer, es war der bekannte Ornithologe Theodor Mebs, bei seiner Arbeit über die Schulter schaute. Und dieser Weg ist bis heute, nach etlichen Touren um die halbe Welt, nicht abgeschlossen. In diesem Buch nehme ich den Leser mit auf meine Reisen. Mit jeder meiner Begegnungen kommt er den Störchen näher, lernt sie und ihre Biologie kennen, erfährt, wie sie «funktionieren», und erlebt die Abenteuer der Feldforschung hautnah mit. Er begleitet mich auf einem «Roadtrip» mit den Störchen – durch Europa, Nahost und Afrika.
Vieles hat sich seit meinen ersten Gehversuchen auf der Spur der Störche verändert. Während ich dieses Buch schreibe, führen meine alten Notizen es mir wieder vor Augen: Anfangs, in den 1980er Jahren, stand zu befürchten, der Weißstorch könne bis zur Jahrtausendwende ausgestorben sein, zumindest im Westen Deutschlands. Damals ging es um den Schutz jedes einzelnen Vogels. Zehn Jahre später drehte sich das Blatt, und heute haben die Bestände sich vielerorts erholt. Auch die Herausforderungen an die Feldforschung haben sich seit den ersten Expeditionen dramatisch verändert. Vor 30 Jahren war ein Telefonat vom Sudan nach Deutschland nur mit viel Glück im Postamt der Hauptstadt möglich. Ganz selten mal boten mir Entwicklungshelfer ihr Funkgerät an, damit ich mit meiner Familie ein paar Worte wechseln konnte. Heute ist es selbstverständlich, in den abgelegensten Ecken der Welt per Handy, Satellitentelefon oder E-Mail zu kommunizieren. Es gab keinen Laptop, keine digitalen Karten, kein Google Earth und vor allem kein GPS für die Navigation. Wer sich in fremdem Gelände zurechtfinden wollte, war auf ortskundige Führer angewiesen. Auch viele Straßenverbindungen wurden verbessert. Noch im Jahr 2001, auf unserer Expedition in den westafrikanischen Sahel, quälten wir uns Hunderte Kilometer über sandige Pisten und mussten am Spülsaum des Atlantiks die Sahara umfahren. Inzwischen führt eine durchgehend asphaltierte Straße von Marokko bis nach Senegal. Andererseits wären manche der im Buch geschilderten Expeditionen heute nicht mehr möglich. Aufgrund politischer Wirren und islamistischen Terrors müssen Forscher auf Reisen durch Krisenregionen verzichten, zum Beispiel in Mali. Selbst die Bundeswehr bezeichnet ihren Einsatz dort als den gefährlichsten der Welt. Vielleicht war meine Feldforschung in manchen Ländern Afrikas die letzte Chance, vor Ort Näheres über den Zug und die Biologie der Störche zu erfahren.
Mehr als 30 Jahre Arbeit an den Störchen – über einen Zeitraum, in dem die rasante Entwicklung der neuen Technologien die Welt verändert hat. Wie kommt man dazu? Wurde ich danach gefragt, dann lautete meine Antwort stets: «Es hat sich einfach so ergeben.» Während der Recherchen für dieses Buch wurde mir bewusst, dass es mehr war als das: Viele Umstände und Personen haben meinen Weg maßgeblich mitbestimmt. Eltern, Familie und Freunde, die an mich glaubten, aber auch Bücher, Erlebnisse und die Freude daran, Unbekanntes und Neues zu erkunden. In diesem Buch beschreibe ich deshalb auch meinen ganz persönlichen Weg zur Natur und letztlich zu den Störchen. Und meine Forschung? Sie war niemals nur Selbstzweck. Die Motivation, über Jahre hinweg und vielen Widrigkeiten zum Trotz beharrlich beim Thema zu bleiben, entsprang immer vor allem einem Ziel: die Weißstörche, diese faszinierenden Vögel, auch den kommenden Generationen zu erhalten. Mit unserer Forschung, davon bin ich überzeugt, haben wir Weichen gestellt für ein besseres Verständnis ihrer Biologie und für ihren erfolgreichen Schutz. Gemeinsam mit vielen Kollegen in ganz Europa haben wir unseren Beitrag geleistet, dass es dem Weißstorch als Art wieder ein bisschen besser geht.
Meine Forschung am Weißstorch und damit auch dieses Buch wären ohne die tatkräftige Unterstützung zahlreicher Kollegen und Freunde nicht möglich gewesen. Vielen von ihnen begegnet der Leser in diesem Buch. Aber nicht allen konnte ich den gebührenden Platz einräumen: Ich danke dem gesamten Vorstand und den Mitarbeitern der Gesellschaft Storch Schweiz, die die Forschungen auf der Westroute initiierte und finanzierte. Neben Peter Enggist, dem Geschäftsführer, und seiner Frau Margrith möchte ich den Präsidenten Tobias Salathé nennen sowie Daniel Schedler, Robert Schoop, Ruggero Ponzio und Olivier Biber, denen ich mich besonders verbunden fühle. Die Mitarbeiter bei der Begleitung des Storchenzuges durch den Süden Europas im Jahr 2001 konnte ich im Rahmen dieses Buches leider nicht angemessen würdigen, trotz der großartigen Arbeit, die sie geleistet haben: Fabian Bindrich, Jan Bonse, Gudrun Hofmann, Alexander Müller, Stefan Schindler und Ulrike Toelke. Während der Forschungen in Spanien unterstützten mich vor allem Javier de la Puente von der spanischen Ornithologengesellschaft SEO, die Tierärztin Ursula Höfle Hansen von der Universität Castilla-La Mancha und Carmen Dominguez Pedrera von der Gemeinde Malpartida de Cáceres. Viele Weißstorch-Experten haben meine Arbeit mit intensiven Gesprächen und Diskussionen beflügelt, vor allem Hartmut Heckenroth und Reinhard Löhmer aus Hannover, Kai-Michael Thomsen aus Bergenhusen und Christoph Kaatz aus Loburg. Dem Rowohlt Verlag, insbesondere der Redaktionsleiterin Johanna Langmaack und der Lektorin Evelin Schultheiß, danke ich für die vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der Entstehung dieses Buches. Maria, meine liebe Frau, hat immer Verständnis gezeigt für meinen Weg mit den Störchen und meine oft monatelange Abwesenheit während der Expeditionen geduldig ertragen. Sie war und ist meine wichtigste Stütze.
Fliegen, frei wie ein Vogel. Segeln im Aufwind mit ziehenden Weißstörchen. Lange hatte ich davon geträumt. Jetzt sollte es endlich wahr werden. Mit kräftigem Schwung zieht Ariel die Plexiglaskuppel über das Cockpit. «Auf geht’s», nickt der Pilot mir zu und startet den kleinen Motor. Langsam nimmt das filigrane Flugzeug Fahrt auf. Es holpert über die schmale Piste und erhebt sich schließlich in die Luft. Zügig gewinnen wir an Höhe und lassen die weite Kulturlandschaft mit Olivenhainen, Feldern und bewaldeten Hügeln unter uns. Im Osten streift der Blick über die Golanhöhen nach Syrien. Am Horizont im Westen leuchtet das Mittelmeer. Hier, auf der Höhe von Nazareth, misst Israel in der Breite gerade mal 60 Kilometer. Millionen Zugvögel – Störche, Pelikane, Adler und Geier – nutzen den schmalen Streifen grünen Landes als Korridor für den Zug nach Süden.
Aufmerksam beobachtet Ariel den Himmel. «Wir haben sie», ruft er, zeigt nach rechts und zieht den Motorsegler in eine Kurve. Weit entfernt erscheinen ein paar weiße Punkte. Das sollen Störche sein? Der Mann muss Adleraugen haben. Schnell kommen wir näher, und dann kann auch ich sie erkennen. Weit über 1000 Vögel sind es, die sich dort in einer Thermik in die Höhe schrauben. Mit ausgebreiteten Flügeln, bewegungslos, getragen nur von der Kraft der aufsteigenden Luft.
«Genau hier habe ich sie erwartet», meint Ariel, «der Radar in Latrun hatte recht.» Er wendet den Kopf und fragt wie nebenbei: «Do you want to ride a mustang?» Einen Mustang reiten? Ariel nimmt mein etwas ratloses Zögern als Zustimmung und drückt mir noch eben eine Papiertüte in die Hand. «Okay, dann geht’s los», sagt er und schaltet den Motor aus. Nur das Pfeifen des Windes dringt durch die Kuppel. Das kleine Flugzeug legt sich in eine Kurve, und bevor ich noch irgendetwas sagen kann, trifft sie uns – unvermittelt, wie ein Faustschlag in den Bauch. In rasendem Tempo steigt das Flugzeug in der Thermik nach oben. Die Schwerkraft presst mich hart in den Sitz. Eine weitere Kurve, raus aus der Thermik, und der Flieger sackt wieder ab. Wie ein ungebremster Fahrstuhl, der dem untersten Stockwerk entgegenrast. Das üppige Frühstück, das ich vor wenigen Stunden zu mir genommen habe, drängt in die verkehrte Richtung. Deswegen Ariels Tüte. Ein paarmal noch wiederholt sich dieser wilde Ritt. Ariel zeigt auf das Variometer, das unsere vertikale Geschwindigkeit misst. Hektisch pendelt der Zeiger nach oben und unten. «Es reicht», gebe ich ihm zu verstehen. Daumen hoch – und ein paar Sekunden später segeln wir wie die Störche, gleiten sanft Schwinge an Schwinge zwischen ihnen, nutzen exakt die Kräfte wie sie und folgen den gleichen physikalischen Regeln. Die meisten Vögel huschen an uns vorbei, andere blicken gelangweilt herüber. Einer gar biegt den Kopf in den Nacken und klappert mit dem Schnabel. Angst gibt es hier nicht und auch keine Scheu. Wir sind wie in einer anderen Welt. Die tierischen Segler sind unter uns, links und rechts von uns oder ziehen schräg über uns hinweg. Zu keiner Sekunde droht die Gefahr einer Kollision. So vornehm grazil uns die Störche am Boden erscheinen – hier oben erst kommt ihre wahre Eleganz zur Geltung.
Der Höhenmesser im Motorsegler zeigt inzwischen weit über 1000 Meter an. Die ersten Störche verlassen die Thermik. Aus dem kreiselnden Flug heraus ziehen sie zielstrebig gen Süden. Noch immer getragen von der Luft unter ihren Schwingen, werden sie zunehmend schneller. Die Thermik ist gut, um Höhe zu machen. Entfernungen dagegen werden im Gleitflug überwunden. Mehr als 100 Stundenkilometer erreichen die Störche dabei und sinken stetig ab. An der Basis des nächsten Aufwinds beginnt das Spiel von vorne. Rauf und runter, wie in einer Achterbahn, und alles ohne Flügelschlag. Bis zum Niltal in Ägypten gelangen sie so und weiter in den Osten und Süden Afrikas. Ariel reißt mich aus meinen Gedanken. «Das war’s für heute», quakt es aus meinem Kopfhörer. Per Funk gibt er dem Bodenteam Höhe und Richtung der segelnden Störche durch und startet den Motor. Das laute Dröhnen katapultiert mich zurück in die Realität. Die schwerelose Begegnung mit den segelnden Störchen hoch oben über der Erde hat mir vor Augen geführt, dass wir Menschen zwar die Technik zum Fliegen beherrschen, die Zugvögel aber die wahren Meister der Flugkunst sind. Nach der Landung, zurück am Boden, will ich Ariel die Papiertüte zurückgeben. Er lacht und schüttelt den Kopf. «Behalt sie als Andenken, vielleicht brauchst du sie ja beim nächsten Mal.» Ich habe zwar immer noch weiche Knie, durfte dafür aber am eigenen Leib die Kraft einer Thermik erfahren, der gewaltigen Energie, die den Störchen ihre weite Reise überhaupt erst ermöglicht.
Inzwischen sind die Störche längst weitergezogen. Im Geländewagen machen wir uns auf die Suche. Endlich, nach vielen Kilometern, bei brütender Hitze und auf staubigen Pisten, haben wir die Vögel wieder im Blick. Wie in einer gewaltigen lebenden Säule kreiseln die schwarz-weißen Körper aufwärts. Damit solche Thermikschläuche entstehen, muss die Sonne den Boden aufheizen. Zunehmend erwärmen sich dann die unteren Luftmassen, steigen nach oben, während vom Boden kontinuierlich weitere Luft nachströmt. Am stärksten ausgeprägt sind die Aufwinde über trockenem Boden, bei intensiver Sonneneinstrahlung während der heißesten Stunden des Tages. Auch an nach Süden geneigten Hängen ist die Chance auf gute Thermik besonders groß. Bergketten, die sich in Zugrichtung erstrecken, sind deshalb wichtige Leitlinien für die segelfliegenden Vögel. Am kühlen Morgen dagegen und vor Sonnenuntergang fehlt die Thermik. Dann fliegen die Störche nur ungern und, wenn es denn unbedingt sein muss – zum Beispiel, um einen Schlafplatz aufzusuchen –, im kräftezehrenden Ruderflug. Ausgedehnte Wassermassen wie große Seen und erst recht das Meer kann auch die stärkste Sonneneinstrahlung im Tageslauf kaum erwärmen. Die Chance, dort eine Thermik zu finden, ist für die Störche gleich null.
Eigentlich ein ganz einfaches Prinzip, ein Phänomen, so effizient, dass es die Störche und andere segelfliegende Vögel geradezu in ihre spezifischen Zugwege zwingt. Den genauen Verlauf des Zugs bestimmen – neben den Nahrungsgründen – Topographie und Wetter, also die Faktoren, die für den Thermikflug entscheidend sind. Ganz anders die meisten Singvögel: Mit ihren kleinen Flügeln kämen sie als Thermiksegler nicht weit. Die Langstreckenzieher unter ihnen bewältigen Tausende von Kilometern im energieintensiven Ruderflug. Vor allem nachts, mit ununterbrochenen Flügelschlägen. Abermillionen Singvögel aus Europa folgen stur ihrer vorgegebenen Flugrichtung und ziehen nonstop über das Mittelmeer. Als Treibstoff für diesen unfassbaren Kraftakt fressen sie sich in den Wochen vor Beginn des Zuges große Fettreserven an. Für Segelflieger wie Störche wären solche Fettdepots nur unnötiger Ballast. Vom Aufwind getragen, müssen sie Kraft lediglich dafür aufwenden, die Flügel waagrecht zu halten. Alles Weitere erledigt die Thermik. Aber wie immer im Leben hat auch dieser Energiesparmodus seinen Preis. Er verwehrt es den Störchen, den kürzesten Weg in ihre afrikanischen Winterquartiere zu nehmen. Mangels Thermik ist das Mittelmeer für sie eine unüberwindbare Barriere, weshalb sie es auf verschiedenen Routen umfliegen müssen. Die sogenannten Westzieher, Brutstörche aus Deutschland, Frankreich und anderen westeuropäischen Ländern, gelangen über Frankreich und Spanien an die Meerenge von Gibraltar. Nach Marokko ist es von dort aus nur ein Katzensprung, gerade mal 14 Kilometer trennen Europa hier von Afrika. Abertausende Störche treffen sich an diesem Flaschenhals und warten auf günstiges Wetter. Stimmt dann endlich die Windrichtung, schrauben sie sich in Thermiken empor und segeln im Gleitflug über die Meerenge. Die wichtigste Hürde ist genommen, aber das Ziel noch nicht erreicht. Von ihren Überwinterungsgebieten, gelegen im Sahel zwischen Mauretanien und dem Niger, trennt sie die lebensfeindliche Sahara. Fast 2000 Kilometer über die größte Wüste der Welt – aber mit perfekten Voraussetzungen für den Thermikflug.
Die Ostzieher, Brutstörche aus Mittel- und Osteuropa, fliegen über den Balkan und Bulgarien in die Türkei. Auch sie vermeiden größere Strecken über offenem Wasser. Dort, wo die Landmassen der Kontinente am engsten zusammenrücken, am Bosporus bei Istanbul oder am Marmarameer, gelangen sie nach Kleinasien. Im Thermikflug queren sie Anatolien in südöstlicher Richtung, erreichen den Golf von Iskenderun und folgen von dort aus der Küstenlinie nach Süden. Über Syrien, den Libanon und Israel gelangen die Störche in den Osten Ägyptens, wo ihnen das grüne Band des Niltals die weitere Zugrichtung weist. Ihre Überwinterungsgebiete liegen irgendwo zwischen dem östlichen und südlichen Afrika. Nur wenige Störche versuchen, das Mittelmeer von Sardinien, Sizilien oder Griechenland aus nach Nordafrika zu überfliegen. Ohne Thermik und Rastplätze über die offene See. Viele stürzen bei diesem Wagnis erschöpft ins Meer und ertrinken.
Den west- und ostziehenden Weißstörchen ist ihre jeweilige grobe Zugrichtung «einprogrammiert». Während seiner Tätigkeit an der Vogelwarte Rossitten in den 1930er Jahren hat Ernst Schüz, ein renommierter Ornithologe und der «Altvater» der deutschen Weißstorch-Forschung, dies mit seinen berühmten «Verfrachtungsversuchen» nachgewiesen. Er hat mehrere hundert in Ostpreußen geschlüpfte Jungstörche, also typische Ostzieher, an verschiedenen Orten in Westdeutschland und somit im Bereich der Westzieher aufgezogen. Die Versuchsvögel, die er so früh fliegen ließ, dass sie sich den einheimischen Westziehern anschließen konnten, zogen mit diesen in südwestlicher Richtung ab. Die anderen jedoch, die er erst nach Abzug aller einheimischen Westzieher freiließ, zogen in südöstlicher Richtung ab. Die Versuche bewiesen, dass Weißstörche zwar eine genetisch fixierte Zugrichtung besitzen, die allerdings von einer sozialen Komponente überlagert wird: Die «Fremdstörche» schließen sich den einheimischen Störchen auf deren «korrekter» Zugroute an.
Vor einem Technik-Container in Latrun, auf dessen Dach eine kugelförmige Radarkuppel thront, treffe ich Yossi Leshem. Groß, mit freundlichem Lächeln, energischem Auftreten, kräftiger Stimme und der Kippa auf dem krausen Haar. Eine beeindruckende Persönlichkeit. Ein Mann, der weiß, was er will und schnell zur Sache kommt. Mit seiner spektakulären Forschung sorgt der israelische Ornithologe längst über die Grenzen seines Landes hinaus für Aufsehen: Die enorme Anzahl ziehender Störche, Pelikane und Adler im engen Luftraum über Israel hatte sich zu einem ernsthaften Problem für die Luftwaffe entwickelt. Immer wieder kam es zu folgenschweren Kollisionen von Kampfjets mit den Großvögeln. Von 1972 bis 1983 wurden Hunderte solcher Vorfälle registriert, die meisten während der Zugzeit der Störche. Etliche Flugzeuge stürzten ab, Piloten verunglückten tödlich, der finanzielle Schaden war enorm. Eine Lösung musste dringend her. Yossi Leshem hatte den Vogelzug über viele Jahre eingehend studiert. Er war fest überzeugt, dass ein sicheres Miteinander im israelischen Luftraum möglich sein müsste. Hätte man eine Chance, die Zugrouten und die Auswirkungen des Wetters auf ihren Verlauf exakt vorherzusagen, dann wären Verluste weitgehend vermeidbar. Im Rahmen seiner Promotion machte sich Yossi in Zusammenarbeit mit der Luftwaffe in den 1980er Jahren an diese Aufgabe. Seitdem werden während der Zugzeit der Störche täglich Tausende Daten erhoben und der Armee in Echtzeit verfügbar gemacht, gewissermaßen als «Storchenzug-Vorhersage». In kurzer Zeit gingen die Unfälle auf weniger als ein Viertel zurück. In Sachen Vogelschlag ist Yossi Leshem seitdem ein international gefragter Experte.
«Welcome», ruft er mir entgegen und öffnet die schwere Eisentür. Drinnen erwartet uns grünliches Dämmerlicht. Im Halbdunkel sitzen zwei Mitarbeiter seines Teams vor flimmernden Radarmonitoren. Auf den Bildschirmen erkenne ich als helle Linie die Umrisse Israels, daneben Wolken weißer Punkte, die sich bei jedem Umlauf des Radars verändern. Das ist er also, der Leitstand, von dem aus Ariel, unser Pilot, am Vormittag die Positionen der Störche erhalten hatte. Yossi zeigt auf eine geschwungene Reihe von Radarsignalen: «Hier passierten 35000 Störche heute Vormittag Tel Aviv. Und dort …», sein Finger wandert auf einen Bereich des Monitors, auf dem die Punkte über die Küstenlinie verschoben sind, «… dort siehst du, was danach geschah. Der Ostwind hat die Vögel übers Mittelmeer verdriftet.» Jede Zugbewegung kann man hier exakt verfolgen, Richtung, Geschwindigkeit und Flughöhe der Schwärme. Sogar die Vogelarten erkennen Experten anhand des Musters der Radarsignale. «Und wo ist unser Storchentrupp jetzt?», will ich wissen. «Genau dort, in der Negev», erklärt Yossi und tippt auf den südlichsten Punkt in der langen Reihe, «und dort werden sie heute wohl auch die Nacht verbringen.» Aber nicht jede Fragestellung lässt sich mit dem Radar allein beantworten. Von 25 übers ganze Land verteilten Positionen aus beobachten seine Teams deshalb den Zug der Störche. Auch die Erkenntnisse der Zugbegleitung mit Leichtflugzeugen, mit dem Motorsegler und gelegentlich sogar mit unbemannten Drohnen fließen in die Auswertung ein. Ein gewaltiger Aufwand, der sich auszahlt. Dank zuverlässiger Vorhersagen kann die Luftwaffe sichere Flugkorridore ausweisen. In keinem anderen Land der Welt wird der Zug der Störche ähnlich gründlich überwacht.
«Biologe wollen Sie werden? Mit einer Vier in Mathe? Vergessen Sie’s.» Abweisend blickte der «Berater» mich an. «Sonst noch was? Ich habe zu tun», knurrte er schnippisch. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das nennt sich also Berufsberatung? Mit meinen 15 Jahren hatte ich Träume. Draußen sein in der Natur, Tiere beobachten, Pflanzen sammeln, Vögel fotografieren. So wie man sich eben als junger Waldläufer ein zünftiges Forscherleben vorstellt. Und jetzt sollte auf einen Schlag alles kaputt sein? Mein Vater, der mich begleitete, rückte unruhig seinen Stuhl und stand auf. Er hatte längst erkannt, dass es in mir mächtig brodelte. Wir waren keinesfalls immer der gleichen Meinung. Eines jedoch hatte er immer unterstützt: meine Leidenschaft für die Natur. «Dummes Zeug», schimpfte er vor sich hin, während wir die Schule verließen, «du suchst dir deinen Beruf selbst aus.» Bis heute rechne ich ihm hoch an, dass er an mich glaubte.
In der hintersten Ecke eines Regals entdeckte ich erst kürzlich wieder ein Büchlein, das mir ganz besonders ans Herz gewachsen war. Was fliegt denn da? steht auf der abgegriffenen Titelseite. Mein allererstes Vogelbestimmungsbuch. In krakeliger Schülerschrift hatte ich auf der Umschlaginnenseite meinen Namen und das Jahr 1967 vermerkt. Damals, vor nunmehr über 50 Jahren, hatten meine Eltern es mir zu meinem 13. Geburtstag geschenkt. Dass ich das Buch intensiv und gewissenhaft benutzt hatte, war nicht zu übersehen. Nicht nur war es hundertfach mit inzwischen längst vergilbtem Tesafilm repariert, die Buchseiten waren auch übervoll mit meinen handschriftlichen Anmerkungen. Das Bändchen war für die damalige Zeit sehr schön gestaltet: Auf jeder Doppelseite waren zwölf Vogelarten in farbigen Zeichnungen abgebildet, jeweils versehen mit einer Beschreibung besonderer Kennzeichen, Größe und Verbreitung. Hunderte dieser Vögel habe ich abgehakt, als gesehen markiert, mal mit rotem, mal mit blauem Schreibstift. Und bei vielen finden sich Notizen über die Orte, wo ich sie erstmals beobachten konnte.
Als Lehrer konnte mein Vater es sich erlauben, mehrmals im Jahr Ferien zu machen. Und die wurden stets für ausgedehnte Reisen genutzt. Immer die ganze Familie gemeinsam, die Eltern und drei, später vier Kinder. Geschlafen wurde im Auto und im Zelt. Unsere Mahlzeiten haben wir auf einem Trockenspirituskocher der Bundeswehr zubereitet. Selbst die Babynahrung musste meine Mutter über der kläglichen Flamme erhitzen. Viel kosten durften diese Urlaube nicht. Mein Vater war stolz darauf, dass wir unterwegs mit weniger Geld über die Runden kamen als zu Hause. Schon als Kinder haben wir bei diesen Marathontouren ganz Europa kennengelernt, von Gibraltar bis zum Nordkap, von Irland bis ans Schwarze Meer. Und immer und überall war mein kleiner Vogelführer dabei, weil es immer und überall neue Vogelarten für mich zu entdecken gab. Selbst als kurze Zeit später der berühmte «Peterson» herauskam, ein auch von Profis benutztes Bestimmungsbuch, habe ich meine Neuentdeckungen weiter in dem zerfledderten Büchlein notiert.
Die Begeisterung für die Natur hat mich in frühester Jugend gepackt. In den üppigen Wäldern und Wiesen des Rheintals rund um das Städtchen Groß-Gerau unternahm ich mit Freunden die ersten Fahrradausflüge. Aus alten Brettern und rostigen Nägeln zimmerten wir Verstecke und beobachteten Hasen, Rehe und Rebhühner. Am Niederwaldsee wurden wir beim Schwarzfischen erwischt. Gefangen haben wir zwar nichts. Aber der alte Wildhüter konfiszierte die vorsintflutliche Angel, die ich aus unserem Schuppen stibitzt hatte. Zu Hause gab es deswegen natürlich heftigen Ärger. Auf einer anderen «Expedition» fingen wir Kaulquappen in einem Tümpel. Wir wollten beobachten, wie sie zu Fröschen heranwachsen. Leider fand meine Oma die Tierchen eklig, und sie schüttete Salz in das improvisierte Becken, sodass die armen Kreaturen kläglich verendeten. Wochenlang habe ich nicht mit ihr gesprochen.
In der Grundschule faszinierte mich vor allem das Fach Heimatkunde. Viele Unterrichtsstunden verbrachte unser Lehrer mit uns außerhalb der Stadt, bewaffnet mit Lupe und Schmetterlingsnetz. Wir haben Maikäfer und Heuschrecken gefangen, durften Blindschleichen und Frösche streicheln, in Vogelnestern die Küken bestaunen und konnten bald auch so manches Blümchen bestimmen. Später, als meine Eltern ein Haus in Berkach, einem verschlafenen Dorf außerhalb von Groß-Gerau, gebaut hatten, musste ich etwa 20 Minuten mit dem Fahrrad zur neuen Schule – jetzt das Gymnasium – fahren. Trotzdem verließ ich das Haus oft zwei bis drei Stunden vor Unterrichtsbeginn. Ich nahm dann den kleinen Umweg durch den Mischwald der Fasanerie, dessen dichtes Unterholz, Lichtungen und sumpfige Ecken ich als den reinsten Dschungel empfand. Im Frühjahr beeindruckte mich vor allem das vielstimmige Vogelkonzert: Pirol, Singdrossel, Nachtigall, Zilpzalp, Fitis und viele andere. Ich lauschte den Stimmen, prägte sie mir ein, beobachtete die Sänger und bestimmte sie. Nach etlichen Wochen schon kam ich ganz gut auch ohne Fernglas zurecht. Welch ein Glücksgefühl, allein mit dem Gehör zu erkennen, welche Vogelart im dichten Gebüsch verborgen war. Nicht nur einmal vergaß ich die Zeit und kam mit einiger Verspätung zum Unterricht.
In der Fasanerie traf ich eines frühen Morgens einen Bekannten meiner Eltern im grünen Jagdoutfit, von dem ich wusste, dass er seine gesamte Freizeit der Tierfotografie widmete. Um seinen Hals baumelte ein verschrammtes Fernglas, und an seinem Fahrrad war ein voll beladener Anhänger angekuppelt. Wir kamen ins Gespräch, und er lud mich ein, ihn bei einem seiner Fotoausflüge zu begleiten. Schon drei Tage später waren wir gemeinsam unterwegs. Günter Hüg, so hieß der vogelverrückte Fotograf, baute vor einem Nistkasten, in dem ein Trauerschnäpper brütete, sein Stativ mit Kamera und Blitzgerät auf und schraubte einen Fernauslöser ein. Wir selbst hockten uns im Unterholz auf den Boden und warteten geduldig. Plötzlich erschien der Vogel am Einflugloch. Ein Druck auf den Auslöser, ein Klick und ein heller Blitz – der Trauerschnäpper ließ sich nicht stören. Ob das Foto gelungen war, der Vogel vielleicht im entscheidenden Augenblick eine falsche Bewegung gemacht hatte, das wussten wir nicht. Das Zeitalter der digitalen Fotografie lag noch in weiter Ferne. Stundenlang lauerten wir in unserem Versteck, bevor wir, mit Beginn der Dämmerung, den Rückweg antraten. Von da an hing ich rettungslos am Haken. Das Jagdfieber hatte mich gepackt. Tierfotografie, das wollte auch ich lernen. Dass während der endlosen Warterei etliche Zecken den Weg unter meine Klamotten gefunden und sich festgebissen hatten, tat meiner Begeisterung keinen Abbruch. Es dauerte nicht lange, bis ich selbst eine gebrauchte Spiegelreflexkamera besaß. Mit Ferienjobs verdiente ich das Geld für ein einfaches Teleobjektiv, und zu Weihnachten gab es ein Stativ. Was ich sonst noch brauchte, bastelte ich mir selbst, aus Bohnenstangen, Stahldrähten und Resten eines alten Märklin-Baukastens. Viele Tage verbrachte ich von da an in Wald und Feld mit meiner improvisierten Kameraausrüstung, immer auf der «Jagd» nach Vögeln, Damhirschen und Füchsen.
Mit meinen Eltern zusammen war ich regelmäßiger Gast bei Dia- und Filmvorträgen zu Naturthemen, die vom Deutschen Bund für Vogelschutz oder der Volkshochschule organisiert wurden. Zum Beispiel auch bei einem Vortrag von Eugen Schumacher. Er war einer der wenigen damals bekannten Tierfilmer und zeigte einen Dokumentarfilm über eine Expedition in der Arktis. Gebannt lauschte ich den Erzählungen dieses Weitgereisten und sog die faszinierenden Bilder geradezu in mich auf: Mit dem Hundeschlitten ging es hinaus in die weiße Wildnis, über Eis und im tiefen Schnee, auf der Spur von Eisbären und anderen arktischen Tieren. Entscheidend für mich war gar nicht mal so sehr das Thema; was mich faszinierte, waren die geschilderten Abenteuer. Eugen Schumacher weckte in mir den Traum, irgendwann selbst solche fremde Welten zu erkunden und über meine Erlebnisse zu berichten.
Als in einem Vortrag das Naturschutzgebiet Kühkopf-Knoblochsaue – ein großes Auwaldgebiet am Rhein nicht weit entfernt von meinem Zuhause – erwähnt wurde, machte ich mich gleich am Wochenende darauf mit dem Fahrrad auf den Weg. Im Gepäck: Fernglas, Fotoapparat, zerknitterte Landkarte, eben alles, was ich brauchte. Über schmale Pfade, zwischen Wiesen und Feldern, gelangte ich an den Altrhein, von wo eine Fußgängerbrücke hinüber ins Schutzgebiet führte. Als ich von der Brücke über den träge fließenden Altarm schaute, hörte ich das Sirren zahlloser Insekten. Wenige Minuten später bereute ich bitter, meine Expedition in kurzen Hosen angetreten zu haben. Myriaden von Stechmücken fielen über mich her, selbst durch den Stoff meiner robusten Bekleidung bohrten sie ihre Stechrüssel. Aber aufgeben und umkehren kam nicht in Frage, also: Augen zu und durch. Erstaunlich, wie schnell man sich eine gewisse Leidensfähigkeit antrainieren kann. Irgendwann spürte ich die Mückenstiche fast nicht mehr und ignorierte das Jucken.
Ich tauchte ein in den dichten Wald – und fühlte mich wie verzaubert. Von der unfassbar üppigen Vegetation, den Schlingpflanzen, die sich an Bäumen emporrankten, und dem ohrenbetäubenden Quaken unzähliger Frösche. Eine Ringelnatter, gut einen Meter lang, huschte vor mir über den Pfad. In den Baumwipfeln sang der Pirol sein kurzes Lied, die Nachtigall schmetterte ihre Strophen im dichten Gestrüpp. Durch die Schilfhalme kletterte geschickt eine Beutelmeise. Noch nie zuvor hatte ich diesen hübschen Vogel gesehen. Wenig später entdeckte ich ihr Nest. Ein filigranes Gebilde aus verwobenen Pflanzenfasern und Spinnweben, so baumelte es am Ast einer Weide. Als überraschend ein warmer Landregen einsetzte, fand ich Schutz in einer Beobachtungshütte. Freier Blick auf den Altrhein, den Schlick am Ufer und die wuchernde Vegetation. Genau so war auch die tropische Wildnis des Amazonas – zumindest in meiner Phantasie. Träge fließendes Wasser, bedeckt von Seerosen und Entengrütze, große Weiden, deren hängende Äste bis ans Wasser reichten, Libellen, die im rasenden Flug vorbeihuschten. Am Ufer lauerte reglos ein Graureiher und schnappte sich Sekunden später mit kräftigem Schnabelhieb einen Fisch. Ein Schwarzstorch landete im feuchten Gras vor der Hütte. Kaum wagte ich noch zu atmen, vor Angst, ihn zu erschrecken. Und dann der Schwarzmilan mit seinem gekerbten Schwanz, das Symboltier des Kühkopfs schlechthin. Ich war wie in Trance, zutiefst beeindruckt von der vielfältigen Vogelwelt. Fast hätte ich mal wieder die Zeit vergessen. Als ich mich eilig auf den Rückweg begab, dämmerte es bereits. Dann hörte ich im Wald, ganz in der Nähe, hektisches Grunzen und Quieken. Eine Rotte Wildsauen rumorte dort in der Suhle. Würden sie mich vielleicht angreifen? Mit weichen Knien schlich ich vorbei und konnte die wehrhaften Vierbeiner regelrecht riechen. Und natürlich kam ich zu spät nach Hause. Meine Mutter war erleichtert und verzichtete auf eine Standpauke.
Eigentlich waren meine Eltern mit meiner ungewöhnlichen Freizeitgestaltung einverstanden. Der Knackpunkt war jedoch, dass meine «Expeditionen ins Tierreich» ziemlich zeitintensiv waren. Die Schule kam folglich häufig zu kurz, was sich am Jahresende nicht mehr verbergen ließ. Die Zeugnisse belegten es schwarz auf weiß. Die Konsequenz war Hausarrest, bis ich irgendwann kapiert habe, dass es eine intelligentere Lösung geben muss. Es ist mir gelungen, mein Hobby und die Schule zumindest einigermaßen ins Gleichgewicht zu bringen.
Es gab damals noch die sogenannten «Kurzschulen» als Angebot der Deutschen Gesellschaft für Europäische Erziehung. Im Rahmen eines erlebnispädagogischen Konzepts ging es darum, in jungen Menschen die «Leidenschaft des Rettens» zu wecken. Einen Monat lang, meist während der Sommerferien, konnten ganze Schulklassen bei Feuerwehr, Erster Hilfe, Bergwacht oder Seenotrettungsdienst lernen, aktiv Verantwortung zu übernehmen. Meine Klasse entschied sich für die Kurzschule Weissenhaus an der Ostsee, die in einem herrlichen Gutshaus mit großem Park untergebracht war. Jeweils zwölf Schüler wurden zu einer «Wachgemeinschaft» zusammengewürfelt, übernachteten im gleichen Raum und leisteten die täglichen Dienste gemeinsam. Kein schlechtes Konzept, das in der Praxis aber dennoch manchmal befremdlich wirkte. Schon am ersten Morgen wurden wir von unserem «Wachführer» geweckt, indem er die Tür aufriss und aus vollem Hals brüllte: «Auf, auf, reckt eure müden Leiber, die ganze Pier steht voller nackter Weiber.» Damals fanden wir pubertierenden Jungs das cool, heute würde ein solcher Auftritt den meisten dann doch einen Touch zu militärisch erscheinen.
Mich begeisterten vor allem die freiwilligen zusätzlichen Aktivitäten. Schon am ersten Tag hatte ich mich für die «biologische Arbeitsgemeinschaft» und für das Fach «Vogelkunde» angemeldet. Auf zahlreichen Wanderungen erkundeten wir die Ostküste Schleswig-Holsteins. Der zuständige Lehrer, Theodor Mebs, war ein bekannter Ornithologe, von dem ich in den folgenden Wochen sehr viel gelernt habe. Nicht nur fachlich, auch seine persönliche Begeisterung hat mich angesteckt. Als Spezialist für Greifvögel und Eulen hielt er unter anderem einen Uhu. Gebannt beobachtete ich, wie die Singvögel als Reaktion auf den Greif regelrecht aus dem Häuschen gerieten und ihn heftig attackierten. Auch meinen ersten Kontakt mit Weißstörchen habe ich Theodor Mebs zu verdanken. Auf den Exkursionen mit ihm erfuhr ich eine Menge über Biologie und Verhalten der Störche, war neben ihm, als er auf einem Dach die Jungstörche beringte und staunte über den Totstellreflex, der die Vögel für Angreifer unattraktiv macht. Viel hat Theodor Mebs mir damals auch über den Zug der Störche nach Afrika erzählt, über die Leistungen, die die weißen Segler auf ihrer langen Reise vollbringen. Damals habe ich nicht im Entferntesten geahnt, dass gerade der Storchenzug einmal mein berufliches Leben entscheidend bestimmen würde.
Von meinem ersten Tag an im Gymnasium hatte ich, über die Schule und mit Unterstützung meiner Eltern, die Zeitschrift Der kleine Tierfreund abonniert. Ein dünnes Heftchen, das monatlich erschien, mit tollen Geschichten und Fotos aus der Tierwelt. Ich habe jeden einzelnen Artikel, ob über Libellen, Fischadler, Geparden oder Elefanten, Satz für Satz verschlungen. Einmal, ich war gerade 17 geworden, blieb ich beim schnellen Durchblättern an einem Gewinnspiel hängen: Um teilzunehmen, musste man eine selbstgeschriebene Tiergeschichte einreichen, die mit Skizzen und Fotos versehen sein sollte. Eine Flugreise nach Afrika mit dreiwöchiger Safari in Kenia und Tansania lockte als Preis. Dafür lohnte jeder Aufwand. Tagelang habe ich an meinem Artikel über den Kiebitz gefeilt und sah mich schon im Jeep durch die Savanne brettern. Leider kam es dann doch anders. Keine Afrikareise zwar, aber immerhin hatte mein kleiner Aufsatz für einen Trostpreis gereicht: Knaurs Kontinente in Farben – Afrika. Ein beeindruckendes Buch im Großformat, mit vielen Details über den Kontinent. Als ich begann, das Vorwort zu lesen, blieb ich bei einem einzigen Satz hängen: «Ein beträchtlicher Teil dieses Buches wurde – wie es vielleicht auch sein sollte – auf der Ladeklappe meines Safari-Landrovers geschrieben, nach harter Tagesfahrt auf miserablen Wegen.» Das war wie ein Schuss mitten ins Herz. Blitzartig wurde mir klar: Genau das ist mein Ding. Dieser Trostpreis hat in meinem Hirn einen Schalter umgelegt. Bis heute halte ich das Buch in Ehren – und finde den schicksalhaften Satz noch immer auf Anhieb.
Naiv, wie ich damals war, schwebte mir also ein Leben als eine Art Safari-Schriftsteller vor. Als tollkühner Forscher, der seine Erlebnisse in der Wildnis in Fotos, Filmen und Büchern festhält und damit die Menschen für den Naturschutz gewinnt. Um diesen Traum in die Praxis umzusetzen, brauchte ich Erfahrung und Handwerkszeug. Für die folgenden Ferien bewarb ich mich deshalb bei der örtlichen Heimat-Zeitung um einen Job als Urlaubsvertretung. Ich drückte dem Chefredakteur ein paar meiner Texte in die Hand, die er mit gerunzelter Stirn las, mich dann prüfend anschaute, weiterlas – und schließlich zusagte. Fast ständig war ich in den nächsten Wochen mit Notizblock und Kamera unterwegs. Ich berichtete über Verkehrsunfälle, goldene Hochzeiten und Dorffeste – und konnte endlich auch ein paar Tiergeschichten unterbringen.
In den letzten Monaten vor dem Abitur fing ich an, intensiv darüber nachzudenken, welches Studium ich angehen sollte. Biologie? Oder doch Journalismus? Kurzzeitig stand sogar Musik im Raum, schließlich hatte ich jahrelang Klavier und Orgel gespielt. Aber bei der Abwägung zwischen dem Orchestergraben und der afrikanischen Savanne hatte die Musik keine Chance. Während ich meine Zukunft plante und mich eher schlecht als recht auf die Abschlussprüfungen vorbereitete, flatterte der Einberufungsbescheid für die Bundeswehr ins Haus. Um keine Zeit zu verlieren, meldete ich mich als «Vorzeitig Dienender». Die nach der Schule folgenden 15 Monate bei der Bundeswehr, zuerst im Saarland, danach in Koblenz, waren für meinen Geschmack vergeudete Zeit. Die Orientierung im Gelände und der sichere Umgang mit Karte und Kompass – das waren die einzigen nennenswerten Lerneffekte. Viel Zeit für wenig Resultat.
Nach Abschluss der Bundeswehrzeit konnte ich endlich wieder meine berufliche Zukunft planen. Die Entscheidung für ein Studium hatte ich inzwischen getroffen. Biologie sollte es sein, mit den Schwerpunkten Zoologie und Ökologie. Doch mit meinem Notendurchschnitt im «Zeugnis der Reife» hatte ich die Hoffnung auf meinen Wunschstudienplatz zwar nicht aufgegeben, aber sehr zurückgeschraubt. Tatsächlich erhielt ich auf Anhieb auch keinen Studienplatz, schrieb mich aber übergangsweise in Agrarbiologie an der Universität Hohenheim bei Stuttgart ein. Und schon ein Jahr später war es dann so weit, und ich konnte ins Biologiestudium wechseln. Nach den eher langweiligen ersten Semestern ging es endlich an praktische Übungen, Bestimmungskurse, Exkursionen und zoologische Vorlesungen – sie erst gaben mir das gute Gefühl, tatsächlich für meine Zukunft zu lernen. Manche Dozenten verstanden es besonders gut, uns für ihre Themen zu begeistern. So wie der schrullige Zoologe Paul Bühler mit seinen Bestimmungskursen und zoologischen Exkursionen. Es gab kaum ein Tier, ob Vogel, Säugetier oder Insekt, über das er keine interessanten Details erzählen konnte. Seine winterlichen Fahrten zum Bodensee, wo wir mit Ferngläsern und Spektiven Wasservögel bestimmten, ließ ich mir nie entgehen. Übernachtet haben wir in einer Jugendherberge im Allgäu, wo beim Abendessen unsere Beobachtungen diskutiert wurden. Auf einer Insekten-Exkursion fing Paul Bühler mit der bloßen Hand eine Hornisse. Ehrfürchtig bestaunten wir seinen Mut – bis er uns am Abend erzählte, es habe sich um eine Drohne, eine männliche Hornisse, gehandelt. Die lasse sich leicht an ihren vergrößerten Fühlern erkennen und habe, im Gegensatz zu den Weibchen, keinen Stachel. Auch der Dozent Heinz Streble konnte als Spezialist für die mikroskopisch kleinen Tiere und Pflanzen im Süßwasser seine Studenten in eine ganz andere Welt entführen. Sein Bestimmungsbuch Das Leben im Wassertropfen, mit unzähligen von ihm selbst gezeichneten Abbildungen, gilt noch immer als Standardwerk. Mit Heinz – er war der einzige Dozent, mit dem wir uns duzten – haben wir an den oberschwäbischen Mooren unsere Campingtische aufgebaut, mit Planktonnetzen die Tümpel abgefischt und im Mikroskop die winzigen Lebewesen bestimmt. Er zeigte uns Kreaturen mit so unglaublichen Namen wie Grüne Moorkugel, Zierliche Sichelhaufenalge, Trompeten-Rädertier, Waffentierchen und Sigma-Kieselalge. Nach getaner Arbeit wurden an der Feuerstelle ein paar Würstchen gegrillt, dann krochen alle in ihre Schlafsäcke. Heinz hatte, wie immer, sein Zelt möglichst weit entfernt von den Studenten aufgebaut. Trotzdem brachte sein dröhnendes Schnarchen so manchen von uns um den Schlaf.