Der Tote im Fleet
Ein historischer Kriminalroman
HAMBURG IM JAHRE 1847 – fünf Jahre nach dem großen Brand, dem ein Großteil der historischen Innenstadt zum Opfer fällt. Es ist die größte Katastrophe, welche die Stadt bis dahin erlebt hatte. Um einen raschen Wiederaufbau zu gewährleisten, wird eine Rat- und Bürgerdeputation sowie eine Technische Kommission eingesetzt, die bereits nach vier Monaten einen endgültigen Aufbauplan ausgearbeitet hat. Eine Voraussetzung für die Umsetzung dieses Wiederaufbauplans ist die Expropriation, die Enteignung der Bauflächen im Brandgebiet, weil die alte, teils mittelalterliche Parzellierung der innerstädtischen Grundstücke einer modernen Neustrukturierung im Wege steht. Ein großzügiges Straßennetz wird angelegt, Gasbeleuchtung und Kanalisation, Wasserversorgung und Feuerschutz halten Einzug in die Stadt. Die technische Modernisierung wird nach Plänen des englischen Ingenieurs William Lindley umgesetzt. 1845 werden Deputation und Kommission wieder aufgelöst; der Wiederaufbau aber ist erst 1848 so gut wie abgeschlossen.
HAMBURG 1847 – ein Jahr vor den März-Unruhen der bürgerlichen Revolution. Überall in Deutschland fordern aufgeklärte Bürger politische Mitbestimmung. In Hamburg steht diesem Mitspracherecht ein völlig veraltetes Regierungssystem im Weg, denn die Verfassung der Hansestadt stammt in ihren Grundzügen aus dem Jahre 1712. Seither wird die Staatsgewalt gemeinsam durch einen Rat (ab 1860 auch offiziell Senat genannt) und eine Erbgesessene Bürgerschaft getragen. An der Spitze steht der Rat als Kollegialorgan. Er wird aber (noch) nicht von der Bürgerschaft gewählt, sondern rekrutiert sich aus ratsfähigen, das heißt angesehenen Bürgerfamilien, meist Großkaufleuten, und ist mit einem lebenslänglichen Selbstergänzungsrecht ausgestattet. Die 32 Mitglieder stellen die 4 Bürgermeister, 24 Ratsherren (Senatoren) und 4 Syndici – der Großteil davon Juristen. Politische Mitbestimmung hat allein die Erbgesessene Bürgerschaft. Sie setzt sich aus den Gremien der 15 Oberalten, der 45 Diakone und 120 Bürgern zusammen. Als erbgesessener Bürger gilt, wer einen Grundbesitz vorweisen kann, der sich, nach Abzug aller Schulden, auf einen Wert von mehr als 3000 Mark beläuft. Diese Bedingung erfüllen ungefähr zwei Prozent der Bevölkerung. In den Mauern der Stadt leben schätzungsweise 100 000 erwachsene Menschen – sechzig Prozent davon am Rande des Existenzminimums.
Die Grundzüge der Verfassung von 1712 behalten auch für die verfassunggebenden Versammlungen zwischen 1848 und 1850 ihre Gültigkeit. Erst 1859/60 wird eine neue Verfassung verabschiedet, die ihrerseits bis 1918 in Kraft bleibt. Ebenfalls festgehalten wird an der bis 1860/61 geltenden Torsperre der Stadt – ein anachronistisches Überbleibsel, mit dem die handwerklichen Ämter und kaufmännischen Interessenverbände ihre Privilegien gegenüber dem Umland verteidigen. Einige Modernisierungen erfährt der Hamburger Staatsapparat nach der französischen Besatzung, die 1814 endet. Das betrifft etwa die Deputationen – sinngemäß Vorläufer heutiger Behörden. So löst etwa die Hafen- und Schifffahrt-Deputation die historische Hamburger Institution der Admiralität ab, der Polizeiapparat wird nach französischem Vorbild neu strukturiert und unter eine gemeinsame Verwaltung gestellt, wie auch andere Bereiche in übergeordneten Deputationen zusammengefasst werden. Es entstehen ein Gesundheitsrat und eine Baudeputation. In den Deputationen können Vorschläge ausgearbeitet werden, die dann dem Rat vorgelegt werden, der nach Zustimmung der Bürgerschaft das letzte Wort hat. Häufig sind die Vorsitzenden der Deputationen gleichzeitig Mitglieder des Rates oder der Bürgerschaft, so etwa in der Baudeputation, wo Senator Jenisch als Präses fungiert.
IM HAMBURG DES JAHRES 1847 gibt es ein demokratisches Mitspracherecht in der Bevölkerung also nicht. Die Bürger dürfen sich politisch nicht formieren oder Versammlungen abhalten. Parteien existieren ebenso wenig wie öffentliche Gremien. Die Presse unterliegt einer scharfen Zensur. Die einzige Möglichkeit, Reformansätze zu diskutieren und die politischen Interessen aller Bevölkerungsschichten zu kanalisieren, bietet die Mitgliedschaft in einem der zahllosen Vereine, die dadurch zu einem entscheidenden politischen Faktor und zur Keimzelle gesellschaftlicher Reformen werden. Reformbestreben geht auch von der Patriotischen Gesellschaft aus. 1765 wird sie von Hamburger Kaufleuten, Juristen und Wissenschaftlern als Hamburgische Gesellschaft zur Beförderung der Künste und des nützlichen Gewerbes gegründet. Bereits 1843 legt sie einen Bericht der von ihr eingesetzten Kommission zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Schulreform vor. Die darin aufgestellten Forderungen werden vom Senat als «Anmaßung» abgelehnt. In der Satzung der «Gesellschaft» wird verankert, «das Gemeinwohl zu fördern und Industrie und Gewerbe der Vaterstadt zu heben». So gehen unter anderem die erste Gewerbeschule, die erste Lebensversicherung und die erste Sparkasse in Europa auf Initiative und Bestreben der «Gesellschaft» zurück. Auch hinsichtlich funktionaler Gestaltungsabsichten will man Zeichen setzen. So wird der 1847 eingeweihte Neubau der «Gesellschaft», in dem 1848 auch die verfassunggebende Versammlung der Bürgerschaft stattfindet, aus echtem, handwerklichem Material gebaut: Backstein. Bereits 1843, ein Jahr nach dem großen Brand, schreibt die Gesellschaft einen Wettbewerb zur Fabrizierung und Lieferung von Ziegelsteinen vorzüglicher Güte und Schönheit aus. Backstein gilt – zumindest einer Gruppe von Patrioten – als zeitgemäßer Baustoff.
HAMBURG 1847 – Im nächtlichen Schatten der Patriotischen Gesellschaft, deren Neubau an der Trostbrücke kurz vor der Einweihung steht, geschieht ein Verbrechen …
Hendrik Bischop ging zügigen Schrittes über die alte Graskellerbrücke, bog links zum Rödingsmarkt ein und überquerte das enge Fleet der Görttwiete im nächtlichen Schatten der Kirchenbaustelle von St. Nicolai. Jenseits der Fleetbebauung zog es ihn hinab zu den steilen Ufertreppen, deren moderige Holzdalben an manchen Stellen nur knapp über dem Wasserspiegel lagen. Überspülungen zwangen ihn immer wieder hinauf zu den Deichwegen. Nur wenige Handbreit neben ihm neigten sich die hohen Giebel der alten Fachwerkhäuser wie gespenstische Riesen zur gegenüberliegenden Fleetseite. Ihre Fassaden wirkten noch unheimlicher, seit die Fensterhöhlen nur noch als schwarze Löcher im rissigen Mauerwerk klafften. Auch das Mondlicht, das im Brackwasser der Fleete tanzte, konnte sich darin nicht mehr spiegeln. Stattdessen gewährten sie nun Einblicke in die tote Kulisse der Fachwerkgerüste, die sich vor dem nächtlichen Himmel abzeichnete. Der Anblick dieser Gemäuer, die den Straßenzügen einst den Charakter bürgerlicher Selbstgewissheit verliehen hatten, erschien dem Commissarius wie ein Sinnbild der Vergänglichkeit. Noch nie war er sich dessen so bewusst gewesen wie an diesem Abend. Fröstelnd zog er seinen Mantel enger um die Schultern. Ein eisiger Wind kündigte den nahen Winter an.
Ein Bote hatte ihn zu fast nächtlicher Stunde über den Fund informiert, und augenblicklich war er aufgebrochen. Nun zog es ihn auf kürzestem Wege zum Fundort, vorbei an den Rudimenten des städtischen Bürgerstolzes, den verkohlten Resten der Speicher und Kaufmannshäuser zwischen Spital und Holzhafen. Der erdige Brandgeruch war immer noch gegenwärtig. Hendrik Bischop hatte sich schon so daran gewöhnt, dass seine Nase die morastartigen Ausdünstungen des brachliegenden und mit Kot und Abfällen vermengten Fleetschlicks und jenen süßlichen Geruch verbrannter Kultur nicht mehr auseinander halten konnte. Tagsüber fiel es dagegen leicht, die verbliebenen Reste städtischer Tradition von den Wahrzeichen des Wiederaufbaus zu unterscheiden; der Glanz des Neuen verbot, über die Lethargie der letzten Jahre zu berichten. Es sollte nichts bleiben, wie es gewesen war. Man hatte einen Engländer geholt, der die Stadt quasi aus ihrem Inneren heraus umkrempeln sollte. Als der Commissarius die Trostbrücke erreichte, hatte der nächste Tag bereits begonnen.
Man hatte dem Toten einen Strick um das Fußgelenk gebunden und versucht, ihn über die Brüstung hinaufzuziehen. Nun hing er kopfüber zwischen Brückenbogen und Fleet. Der herabgerutschte Gehrock verdeckte Kopf und Schultern, und die Aufschläge berührten die Wasseroberfläche, sodass die menschliche Silhouette zur Hälfte verborgen blieb. Gut ein Dutzend Schaulustiger hatte sich im Licht der Laternen versammelt und beobachtete die Szene in stummem Entsetzen. Erst die schaukelnden Boote der Fleetenkieker, die sich zwischen den ausgestellten Staken aneinander rieben, brachte wieder Leben in die Menge. Ruhig und konzentriert arbeiteten die Männer, bis der leblose Körper auf das Straßenpflaster der Brücke fiel. Im flackernden Licht der Fackeln und Laternen schien er sich noch zu bewegen.
«Ertrunken?», fragte der Commissarius und beendete das neugierige Schweigen der Umherstehenden.
Man befreite den leblosen Körper von seinem nun vollends verknoteten Gehrock und reinigte sein Gesicht vom klebrigen Dreck der städtischen Abfallstraße, um zumindest einen flüchtigen Blick auf den Unglücklichen werfen zu können.
«Wohl mehr ein bisschen ertränkt», präzisierte Conrad Roever, zerrte zwei große Mauersteine aus den Taschen des Toten und sah Hendrik bedeutungsvoll an. Amtsmedicus Roever war als Erster am Tatort zugegen gewesen. «Oder erschlagen», korrigierte er.
Dunkles Blut quoll zwischen den verklebten Haaren des Toten hervor, als er von kräftig zupackenden Händen auf den Leiterwagen gezogen wurde.
«Fahrt den Karren in die Leichenhalle; bei Tage werden wir sehen.» Medicus Roever vermied es, seinem Freund Hendrik Bischop im Rahmen dieser Amtshandlung die Hand zu reichen. «Der Dritte diese Woche. Aber er sieht anders aus, kein Vagabund. Die Kleidung ist vornehm.»
«Hat er irgendwelche Papiere bei sich?», fragte Bischop.
«Nein, Geldstücke, nicht sehr viele, und ein Messer. Aber schaut die Hände», erwiderte der Mediziner und deutete auf die prankengroßen und mit kräftiger Hornhaut überzogenen Handflächen, die in augenfälligem Kontrast zu dem feinen Tuch der nun schlammgetränkten Kleidung standen.
Bischop beugte sich auffordernd über die Brüstung und rief nach unten: «Wer hat ihn gefunden?»
«Ich habe ihn mit einer Stake getroffen! Er steckte im Schlick», rief ein junger Fleetenkieker zurück und zuckte mit den Schultern, als wenn ihn der Vorfall gänzlich unberührt ließe.
«Irgendwelche Schweinereien finden sie immer», murmelte der Nachtwächter, der gespannt zugeschaut hatte. «Manchmal fällt es schwer, Tier und Mensch auseinander zu halten.»
«Können wir weiter?», rief einer der Fleetenkieker. «Die Kähne sitzen sonst fest! Das Niedrigwasser setzt schon ein.»
Der Commissarius nickte. «Aber findet euch mittags auf der Station ein!», rief er. «Wegen dem Protokoll!» Dann sah er auf die entfernt aufragende Turmuhr von St. Catharinen, notierte die Uhrzeit und steckte den Zettel in sein Notizbuch. «Und stellen Sie bitte fest, ob die Wunde an seinem Kopf von der Stake stammt», bat er Roever, wobei seine Amtsmiene augenblicklich einem freundschaftlichen Ausdruck wich.
Conrad Roever nickte knapp. Ihrer beider Arbeitstag hatte früh begonnen.
Die eisenbeschlagenen Holzräder des schmalen Karrens, auf dem die Leiche lag, setzten sich in Bewegung, und mit dem schmirgelnden Geräusch aufgeriebener Pflastersteine löste sich auch die Menschenmenge im Schein ihrer Laternen auf.
Hendrik Bischop hätte sich auf den Heimweg machen sollen, doch die Stimmung der nun einsetzenden Morgendämmerung hatte ihn schon immer magisch angezogen. Er hasste die Nacht, denn er kannte alle ihre Nuancen nur zu gut. Wenn er gerufen wurde, war es stets Nacht. Nachdenklich stützte er sich auf das Brückengeländer. Gerade an diesem Ort war der Wechsel von Alt und Neu wie an keiner anderen Stelle erfahrbar. Er blickte auf das fast fertig gestellte Haus der «Gesellschaft», dessen Mauern dicht neben ihm in den morgendlichen Himmel ragten. Es fehlte der Glanz des Neuen, und doch mochte er die düstere Form, die ihn an das in weiten Bereichen noch nachvollziehbare mittelalterliche Stadtgefüge erinnerte. Seine Hand zeichnete die burgartigen Formen der hohen Mauerflächen nach. Gleichsam trat er in einen stillen Dialog mit einem steinernen Zeugen.
Die ganze Stadt erneuerte sich. Überall lagen zwischen den spärlichen Resten der alten Gebäude jetzt große brachliegende Flächen – Bauland, in das neue, gerade Straßenzüge eingezeichnet waren. Allenortes entstanden strahlende Neubauten, die das düstere, natürlich gewachsene Viertel der Gänge und Gassen nach und nach verdrängten. Ebenso Reinheit, Sauberkeit und Glanz. Trotzdem wünschte sich Hendrik Bischop seine alte Stadt zurück, seine ihm bekannten Wege und Abkürzungen, die Pinten und Spelunken, vor deren Türen und Fenstern er stets versucht hatte, das aufgebrachte Kauderwelsch fremder Handelsfahrer den Nationalitäten der im Hafenbecken verweilenden Schiffe zuzuordnen. Alles sollte sich ändern. Er blickte noch einmal zum Gebäude der «Gesellschaft» auf; es hatte etwas, nach dem er sich sehnte.
Als die ersten schwachen Sonnenstrahlen den verbliebenen Rest des verkohlten Turmschaftes von St. Petri erreichten, schwenkte der Commissarius um das kleine Alsterbecken in Richtung Arkaden. Sein Blick fiel auf den gewaltigen Neubau der Stadtpost. Noch standen sie still, die Zeiger des Telegrafen hoch oben an der vermeintlichen Turmuhr, aber bald würden sie dem gemächlichen Treiben auf den Straßen ein Ende bereiten; die neue Zeit erfasste auch den Rhythmus des täglichen Lebens. Hendrik Bischop flüchtete in den Tag und ging raschen Schrittes nach Hause.
Seine Schwester Amalie hatte ihm Kaffee und Milch aufgesetzt. Ihre Garderobe verriet ihm, dass sie auf ihn gewartet hatte – wie eine besorgte Mutter auf ihren Sohn. Ihr Gesichtsausdruck ließ auf den ersten Blick keine Sorgen erkennen, dennoch wusste Hendrik, dass sie nach seinem nächtlichen Aufbruch keinen Augenblick Schlaf gefunden hatte. Die Wohnung war bis in den letzten Winkel aufgeräumt. Sein achtlos beiseite gelegter Nachtrock war liebevoll zusammengefaltet und über das frisch bezogene Bett in seiner Schlafkammer drapiert. Selbst die Fransen des Teppichs in der Diele waren gekämmt, als stünde ein sonntäglicher Empfang bevor. Natürlich war ihm der pedantische Ordnungssinn seiner um drei Jahre älteren Schwester durch das gemeinsame Zusammenleben bestens vertraut, aber wenn sie begann, zu nächtlicher Stunde bei Kerzenschein die Wohnung zu putzen, empfand er ihn doch als zwanghaft.
Amalie hatte ihm eine Schüssel und einen Krug mit heißem Wasser ins Zimmer gestellt. Im Spiegel beobachtete er, wie seine markanten Gesichtszüge langsam bis auf die spitze Nase und die stets wachen hellgrauen Augen unter dem weißen Schaum der Seife verschwanden. Aber so sehr er auch versuchte, sich zu entspannen, die tiefen Falten auf seiner Stirn wollten nicht verschwinden. Es waren nicht nur Zeugen einer langen Nacht, sondern die Spuren von 25 Jahren Polizeidienst. Mit jedem Messerzug näherte Hendrik sich der Erkenntnis, es müsse sich etwas ändern, aber eine rechte Perspektive wollte sich ihm nicht auftun. Seit fünf Jahren war Helena tot. Fünf Jahre schon lebte er nun mit seiner Schwester zusammen, die ihn bemutterte wie ein unselbständiges Kind; dabei hatte er vor einem Monat seinen 45. Geburtstag gefeiert.
Wortlos verbrachte er die wenigen Stunden ohne Schlaf, bis er sich eine frische Dienstuniform anzog und das Haus verließ. Seine Schwester wusste, dass es wenig Sinn hatte, ihn nach den Geschehnissen der Nacht auszufragen. Er ordne seine Gedanken, war seine immer währende Antwort. Sie ertrug es und hatte aufgehört zu fragen, wiewohl sie wusste, dass jeder seiner nächtlichen Gänge durch die Reste der verbrannten Stadt die Wunden stets von neuem aufriss und den Schmerz über Helenas Tod neu belebte. Erst wenn die Überreste der alten Stadt abgetragen waren, glaubte sie, würde er die Geschehnisse jener Nacht akzeptieren und zu sich zurückfinden.
Es war weniger das dienstliche Pflichtbewusstsein des Polizisten als vielmehr die Suche nach dem Warum, was ihn trieb. Als die Flammen sich gelegt hatten, war er tagelang durch die Trümmer geirrt und hatte seine Frau gesucht. Bis zum heutigen Tag hatte er nicht herausfinden können, was mit Helena geschehen war. Das Feuer war in der Nacht vom 5. Mai 1842 irgendwo in der Deichstraße ausgebrochen und hatte sich, angefacht von starkem Wind, durch die Hamburger Altstadt gefressen, dann entlang der Alster und immer weiter bis zum östlichen Wallring. Insgesamt war ein Viertel der Stadt den Flammen zum Opfer gefallen. Über 2000 Häuser und Buden, Sähle und Speicher, zudem die alten Kirchspiele St. Petri, St. Nikolai und die St.-Gertruden-Kapelle wurden vernichtet. Das alte Zentrum der Stadt, rund um die Trostbrücke, existierte nicht mehr. Mehr als 20 000 Menschen waren obdachlos geworden. Es war die schlimmste Katastrophe, welche die Stadt jemals heimgesucht hatte.
«Habt ihr schon etwas herausgefunden?», war die erste Frage des Commissarius an die ihm zugeteilten Inspektoren, noch bevor er sein Dienstzimmer in der Polizeistation betrat. Flur und Vorzimmer waren, wie jeden Morgen, von einer bunten Menschenansammlung blockiert. Alles redete durcheinander. Hier und dort versuchte ein Amtmann, mit autoritärer Miene für Ruhe zu sorgen, was aufgrund der vielfältigen Anliegen und ihrer vermeintlichen Dringlichkeit aber immer nur für kurze Momente gelang. Dabei hatte die Polizei so schon genug zu tun. Vor wenigen Tagen erst waren zwei Vagabunden erschlagen worden, und die beiden Inspektoren hatten mit der Untersuchung der Todesumstände alle Hände voll zu tun, denn Commissarius Bischop hatte sich beharrlich geweigert, die Abschlussprotokolle zu unterschreiben.
Hartnäckig war er. Sein resolutes Auftreten und die erfolgreiche Bilanz der letzten Jahre sicherten ihm den Respekt seiner Vorgesetzten. Ausdauer und Erfolg waren ihm eigen. Er weigerte sich, einen Fall unaufgeklärt zu den Akten zu legen, auch wenn ihm, wie bei den offensichtlich ermordeten Vagabunden, nahe gelegt wurde, den Fall mangels öffentlichen Interesses möglichst rasch abzuschließen.
«Sie möchten bitte Medicus Roever aufsuchen», entgegnete ihm Johannes Schütz.
Schütz war einer von Bischops Zöglingen. Bereits als Anwärter hatte er ihn unter seine Fittiche genommen und ihm zu einer raschen Karriere innerhalb des Commissariats verholfen. Umso mehr freute es Bischop, dass ihm Schütz nun als Inspektor zur Seite gestellt worden war. Johannes Schütz war weniger ein rein «geistiger Arbeiter», wie der Commissarius unter seinen Kollegen genannt wurde. Sein Vorzug lag vielmehr darin, dass seine Erscheinung ein effizientes Arbeiten vor Ort ermöglichte. Allein schon seine körperlichen Ausmaße erleichterten ihm das Recherchieren im Milieu. Dabei mangelte es ihm keineswegs an geistigen Qualitäten. Auf die ihm eigene Art ermittelte er ganz im Sinne Bischops, ohne dass dieser ihn in besonderer Weise dazu anhalten musste.
Im Vorzimmer saßen die für das Protokoll vorgeladenen Fleetenkieker. Sie hatten versucht, ihre Kleidung der offiziellen Vorladung anzupassen. Hier auf der Polizeistation wirkten sie nun inmitten der bunten Mischung aus Dirnen, Tagelöhnern, Seeleuten und all denen, die während der letzten Nacht auf die eine oder andere Weise mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren, wie sonntägliche Kirchgänger. Hendrik Bischop sah nicht die geringste Notwendigkeit, Personalien und Aussagen dieser armseligen, im Angesicht der staatlichen Obrigkeit verängstigten Gestalten aufzunehmen. Er blickte auf die Wartenden, die wie versteinert auf der hölzernen Bank saßen. Ihre Silhouette zeichnete eine exakte Schattenlinie auf die unverputzte Wand des Vorzimmers.
Noch einmal kamen dem Commissarius für Sekunden die Bilder der letzten Nacht vor Augen, als ihm die Fleetenkieker in ihrer sicheren Distanz zum Geschehen wie anteilnahmslose Zeugen vorgekommen waren, und plötzlich verfinsterte sich seine Miene, denn eines hätte ihm bereits nachts auffallen müssen. Die Mauersteine im Gehrock des Toten waren nicht rußgeschwärzt. Sie hatten noch die scharfen Kanten unverbauter Ziegel. Als Medicus Roever die Steine herausgezogen hatte, war der Rock sogar eingerissen. Wo waren die Steine jetzt?
Mit einer abrupten Bewegung kehrte der Commissarius wieder in die Gegenwart zurück und beauftragte Polizeiinspektor Voss mit der Vernehmung der Zeugen.
Ganz im Gegensatz zu Bischop empfand Henning Voss die tägliche Schreibarbeit nicht als notwendiges Übel des Polizeidienstes. Mit amtlicher Miene streifte er die Ärmelschoner über, schnitt eine Kielfeder an und war während der Protokollarbeit ganz Secretarius, wie er es von seinem Vater, einem Buchhalter in der städtischen Finanzdeputation, gelernt hatte. Mit jedem Eintauchen der Feder in das Tintenfass erhob er wie beiläufig den Kopf, und mit einem herablassenden «So, so» versuchte er, sich mehr als den nötigen Respekt zu verschaffen.
Hendrik Bischop wusste nicht viel mit Voss anzufangen, aber zumindest hielt Voss die lästige Verwaltungsarbeit von ihm fern. Für das Protokoll hatte ihm Bischop, bevor er das Commissariat verließ, den entsprechenden Ordner überreicht. Voss ließ die Fleetenkieker in seine Amtsstube hereinbitten und schlug, ohne den Blick auf die Zeugen zu richten, den Ordner auf. Darin befand sich zu seiner Verwunderung nur ein kleiner Zettel mit der Notiz: 28. Oktober 1847, St. Catharinen, vier Uhr in der Früh.
Als Hendrik Bischop die städtische Leichenhalle erreichte, war es bereits später Mittag. Im Keller hatte Conrad Roever seine Untersuchungsräume: zwei weiß gekalkte, im unteren Viertel gekachelte Zimmer von der Größe eines bürgerlichen Speiseraumes, «meine Kannibalenküche», wie der Amtsmedicus sie scherzhaft nannte. In der Mitte stand der große Untersuchungstisch, eisenbeschlagen mit einer Ablaufrinne; ringsherum Regale mit martialischen Werkzeugen unterschiedlichster Art, dazu unzählige Flaschen und Behältnisse mit geheimnisvollem Inhalt hinter lateinisch beschrifteten Etiketten: Kostproben menschlicher Überreste, mit denen der Arzt die Ursachen des Ablebens näher zu ergründen versuchte.
Commissarius Bischop hatte aufgrund eines zwei Jahre zurückliegenden Giftmordes für die versuchsweise Einrichtung einer solchen Institution gekämpft, nachdem ihn der Freund von der Notwendigkeit kriminalmedizinischer Aufklärung überzeugt hatte. Mit einem kleinen Pulverfläschchen war Bischop damals zu ihm gekommen und hatte ihn um Amtshilfe gebeten. Über die Jahre der Zusammenarbeit verfestigte sich ihre Freundschaft ebenso wie das kriminalistische Gespür, welches den beiden eigen war. Dabei ergänzten sich Rationalismus des einen und Humanismus des anderen als konstruktive Antipoden im Dienste der Aufklärung.
«Guten Tag, Conrad!» Hendrik Bischop ließ die Kellertür ins Schloss fallen und ging zügigen Schrittes und ganz außer Atem auf Roever zu.
Jener stand mit einer schweren, grauen Schürze bekleidet inmitten des Raumes. Unter einer Gaslaterne bildete sich ein kreisrunder Lichtkegel, in dessen Aura sich die Gestalt des Arztes Ehrfurcht gebietend abzeichnete.
«Guten Tag, Hendrik. Hast du schlafen können? Du siehst müde aus.»
Der Blick des Commissarius wanderte suchend durch die Regale und Ablagen. «Nein, geschlafen habe ich nicht. Die Steine gingen mir nicht aus dem Kopf. Was hast du herausgefunden?»
«Die Wunde im Nacken stammt nicht von der Stake», stellte der Arzt fest.
«Und die Steine?»
«Sie liegen dort in der Kiste. Falls jemand die Absicht hatte, die Leiche damit zu beschweren, muss er ein ziemlicher Dummkopf gewesen sein, denn sie reichen natürlich nicht aus, um einen schweren Körper unter Wasser zu halten.»
Hendrik Bischop griff zu den Ziegeln. Es waren schwere, gepresste Steine mit scharfen Gratresten.
«Die Verletzung ist sehr untypisch. Wie von einem stumpfen Messer; aber es ist nicht bis zum Halswirbel eingedrungen. Daneben ist ein spitzer Einstich auszumachen, der …»
«Conrad, hör mir bitte zu! Die Steine weisen keinerlei Putz- oder Mörtelreste auf. Schau sie dir an! Sie sind wie neu. Und sie dienten nicht zum Beschweren der Leiche. Aber warum trägt jemand zwei Ziegelsteine in seinem Rock?» Er reichte dem Freund die Steine.
«Ach Hendrik, wie viele Ziegelsteine hast du in den letzten Jahren in der Stadt gefunden, sie umgedreht und nach Hinweisen abgesucht? Die ganze Stadt ist doch voll mit Ziegeln!»
«Trotzdem! Diese Steine sind neu. Schau dir die Farbe an!»
Conrad Roever nahm die Ziegelsteine und betrachtete sie unter der Laterne. Dann löschte er die Gaslaterne und trat an das Kellerfenster, durch das ein dünner Strahl vom Tageslicht hereindrang. Er drehte die Steine. Sie leuchteten in einem dunklen Rostbraun.
«Wo kommen die her? Ich habe Derartiges noch nicht gesehen. An einigen Stellen glänzt die Oberfläche wie Eisenerz.»
«Auch das Format ist anders als das in Hamburg übliche», fügte Hendrik der Feststellung des Freundes hinzu.
«Ich habe mich nie eingehend mit Mineralien beschäftigt, Hendrik. Wenn du willst, kann ich Clara die Steine zur Untersuchung in die Apotheke mitgeben. Sie freut sich sicher, wenn sie helfen kann. Aber was versprichst du dir davon?»
«Weiß ich noch nicht. Grundsätzlich kann jeder das in seinen Taschen haben, was er will», sagte Hendrik. «Wenn es ihm gehört», ergänzte er nach einer kurzen Pause. «Aber wenn er tot ist, sehe ich die Sache mit anderen Augen. Ich finde es einfach sonderbar, dass jemand Ziegelsteine in seinem Rock herumträgt.»
Conrad Roever musterte den Freund – und schwieg. Er wusste, dass es wenig Sinn hatte, Hendriks Gedankengänge erforschen zu wollen, wenn er an einem Fall arbeitete. Insbesondere dann nicht, wenn dieser Fall noch keinen Tag alt war. «Wie geht es deiner Schwester?», fragte er schließlich.
Hendrik streifte seine Dienstjacke ab, legte sie zusammengefaltet über den einzigen Stuhl im Raum und lehnte sich an eines der hohen Regale.
«Sie macht viel für mich. Aber ich werde den Eindruck nicht los, sie tut es nur aus Mitgefühl. Wir reden nicht viel.»
Conrad legte die Schürze ab und stellte sich mit verschränkten Armen vor den Freund.
«Hör auf, dich zu bemitleiden, Hendrik! Du kannst die Zeit nicht aufhalten. Helena ist seit fünf Jahren tot, und seit fünf Jahren entsteht ein neues Hamburg. Finde dich endlich damit ab, dass es ‹deine Stadt›, wie du sie immer genannt hast, nicht mehr gibt. Akzeptiere das Neue, es ist so schlecht nicht.»
In der Dunkelheit konnte Hendrik Conrads Gesicht nicht erkennen, aber er ahnte, dass der Blick des Freundes auf ihn gerichtet war. Langsam drehte er den Kopf zur Seite.
«Die neue Ordnung ist nur eine äußere. Im Herzen der Stadt und seiner Bürger hat sich nur wenig verändert.»
«Das Elend wird abnehmen.»
«Nein, es wird verdrängt!»
«So willst du es sehen.»
Hendrik drehte dem Medicus den Rücken zu und stützte sich auf das Regal.
«Du gehst durch die Straßen mit einer Perspektive des Gestrigen; so siehst du nur, was fehlt, nicht was entstanden ist», sagte Conrad.
«Ich sehe nicht, was fehlt», entgegnete Hendrik. «Ich frage mich, wo es geblieben ist, wohin es verdrängt wird. Die Menschen und Schicksale werden ja nicht neu gebaut. Es sind bloß Fassaden, die entstehen.»
Conrad zückte ein Streichholz und hielt es an den Docht einer kleinen Petroleumlampe. Der kurz auflodernden Flamme folgten dunkle Rußpartikel, die im flackernden Schein der Lampe zur Decke emporstiegen, dort ihre Richtung änderten und sich im Raum verteilten, um nach einer Weile als hauchdünner, ölig-klebriger Film an den Oberflächen aller Gegenstände im Raum haften zu bleiben.
«Und hinter den Fassaden», betonte Conrad, der das Flackern mit dem Aufstecken des Glaskolbens beruhigte, «entsteht ein bisschen mehr Lebensqualität.»
Hendrik kannte Conrads Gabe, gedankliche Zusammenhänge mit Hilfe anscheinend nebensächlicher Demonstrationen zu veranschaulichen. Nun aber war er sich nicht im Klaren, worauf Conrad es anlegte. Natürlich zog mit dem Neubau des abgebrannten Stadtteils ein Großteil moderner Errungenschaften zur Erleichterung des täglichen Lebens in die Häuser und Wohnungen ein: fließend Wasser, Abwasserentsorgung, Toiletten auf den Etagen, und eben auch Gasbeleuchtung, deren Vorzüge Conrad mit dem Entzünden einer alten Petroleumlampe soeben demonstriert hatte.
‹Und wer wird in dem Stadtteil wohnen›?, hätte Hendrik fragen können, aber er hatte seiner Skepsis schon deutlich genug Ausdruck verliehen. Vielmehr beschäftigte ihn, wie Conrad der lodernden Flamme mit dem Überstülpen des Kolbens eine Richtung gegeben hatte, sie kontrollieren und nach Bedarf regulieren konnte.
«Wann wirst du die Steine deiner Tochter mitgeben?», fragte Hendrik, griff nach seiner Jacke und wendete sich der Tür zu.
«Brauchst du einen Bericht? Sonst mach ich mich gleich auf den Weg», entgegnete der Mediziner.
«Voss wird darauf bestehen, du kennst ihn ja, ‹der Ordnung halber›.»
«Dann geh übermorgen zu ihr. Sie wird sich freuen, wenn du sie in der Apotheke besuchst. Grüße deine liebe Schwester von mir.»
Der Commissarius schloss die schwere Kellertür und entstieg dem Gewölbe. Das Tageslicht blendete ihn.