Volker Ebersbach
Zwei blutige Erlöser – Dionysos und Christus
Ein Essay
ISBN 978-3-96521-638-9 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Das Buch erschien 2000 als Sonderdruck aus
Glaube und Mythos
Herausgegeben von Georg Schuppener und Reiner Tetzner
Arbeitskreis für Vergleichende Mythologie e.V. Leipzig
© 2022 EDITION digital
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So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben - die allein genügende Theodizee!
Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
Blut weckt sowohl Schrecken als auch Ehrfurcht. Blut gilt immer als das wertvollste Zeugnis. Nichts ist unter den Lebenden so verlässlich besiegelt wie durch Blut. Man vergießt sein Blut für die Liebe oder das Vaterland oder andere große Dinge. Christus opferte sein Blut für die Sünder. Die christlichen Märtyrer taten es ihm nach. Sogar der Teufel lässt sich nur durch eine Unterschrift mit Blut gewinnen: Blut sei ein ganz besonderer Saft, sagt Mephistopheles in Goethes „Faust“. Blut ist das Kostbarste von allem, was man opfern kann. Es ist das Elixier des Lebens, das warme, feuchte, süßliche Symbol völliger Hingabe. Hingabe verlangt nach religiöser Weihe.
Alle Religionen kennen blutige Gottheiten. Bei den Indern ist es Kali, bei den Azteken Vitzliputzli oder Huitzlipochtli. Blutdunst, wie ihn keltische und germanische Menschenopfer mit den Nebeln des Nordens mischten, schwebte auch über den archaischen Altären der sonnenklaren mittelmeerischen Welt, über denen des Vorderen Orient oder Altägyptens. Der Gott Abrahams verlangt das Blut Isaaks nur mehr zum Schein, als Treueprobe, und Agamemnon, der vor dem Krieg der Griechen gegen Troja bereit ist, für günstigen Segelwind seine Tochter Iphigenie zu opfern, wird von Artemis, der göttlichen Empfängerin, mit einer Hirschkuh getäuscht. Sei es nun der „Sündenbock“ der Juden oder jede andere Art von Tieropfer – der Mythos hielt lange das Bewusstsein dafür wach, dass es ein gnädig angenommener Ersatz sei.
Bluttaten, die Menschen einander antun können, suchen immer wieder rechtfertigende Entsprechungen in ihren Götterwelten. Ares, dem Kriegsgott der Griechen, entsprach bei den Römern Mars, der noch eine Bellona zur Seite hatte. Dass die griechisch-römische Götterwelt keineswegs so marmorn schimmerte, wie Winckelmann meinte, wussten schon Goethe und Nietzsche. Das Blut, das in den Adern der olympischen Götter pulste, blieb warm und edel in ihren mit Sterblichen gezeugten heldischen Nachkommen, die es im Kampf mit Sterblichen für Sterbliche hingaben. Das Blut, das Götter und Helden vergossen, nicht nur das ihrer Opfer, sondern auch ihr eigenes, behielt lange den Geruch barbarischer Vorzeit. Es mischte sich, noch ehe Papst Bonifatius IV. die Götterbilder des Pantheons zu Rom aus ihren Nischen holen und mit Eisenhämmern zertrümmern ließ, mit dem des jüdischen Schmerzensmannes, des einzigen Gottessohnes aus dem Schoß des alleinigen Gottes, des Gekreuzigten, zu höchster Sublimation. Der Wein des Abendmahls wächst mit dem des Dionysos an derselben Rebe.
Die Völker der Antike sind verwandelt, verstreut, verschollen. Von ihren Städten blieben Ruinen, ihre Bildwerke wurden verstümmelt, ihre Bibliotheken wurden ein Raub der Flammen oder zerfielen zu Staub. Ihre Traumwelten sind nicht untergegangen. Wer einmal mit diesen Traumwelten in Berührung gekommen ist, den lassen sie nicht wieder los. Gewiss, auch sie scheinen zunächst gealtert und ruinös. Die Menschen der Neuzeit haben sich aus ihnen bedient wie aus den Fundstätten gemeißelter, gegossener oder in Metall getriebener Altertümer. Die Renaissance bewunderte sie, versagte ihnen aber die Ehrfurcht, die – inzwischen und noch immer – keiner anderen als der Kirche und ihrer allein seligmachenden Religion gebührte. Die Heutigen sind es gewohnt, die Götter, Helden und Unholde der Griechen und Römer samt ihren Schicksalen unter die Sagen und Märchen einzureihen und die Menagerie der Fabelwesen mit ihnen zu bereichern. Kaum jemand denkt noch daran, dass die antiken Mythen ehrfurchtgebietende Grundpfeiler einer Religion waren.
Sie mögen gealtert erscheinen. Sie sind nicht veraltet. Sie bleiben unsterblich wie die Götter selbst. Darin liegt das Geheimnis ihrer Anziehungskraft. Ein Träumer fügt bei Nacht unwillkürlich die Wirklichkeiten seines Tages neu zusammen und gestaltet sie zu einem von jedem Abbild oder Spiegelbild verschiedenen, scheinbar völlig eigenständigen Gebilde, das er ohne Erstaunen oder Befremden durchlebt, dem er ausgeliefert ist wie der Wirklichkeit selbst. Sich erinnernd, im Widerspiel zwischen Geträumtem und Wirklichem, erschließt er sich ein tieferes Wissen über sich und seine Umwelt. Ebenso kamen jene verschollenen Völker auf der Schwelle zu geschichtlicher Zeit über religiöse Vorstellungen und Erlebnisse allmählich zu einem gesellschaftlichen Bewusstsein ihrer selbst. Dieses Hineinwachsen ganzer Völker in die Geschichtlichkeit, deren Wesen die Gesetzgebung ist, vollzieht jeder einzelne Mensch während seiner Kindheit und Jugend nach. Wer sich nicht verhärtet, wer im Umgang mit anderen Menschen lernfähig bleibt, wem die Persönlichkeit nicht eher erstarrt als der Körper, der wird ein Leben lang nicht damit fertig.
Es ist ein Wiedererkennen eigener verborgener Triebe und Wünsche, ein Wiedererleben ihres Zusammenpralls mit der Welt und dem Handeln anderer, das die Traumwelten der Griechen so anziehend macht. Nicht zufällig beziehen moderne Strömungen der Psychologie ihre Fachbegriffe aus diesen Mythen: Psychologeme erkennen sich in Mythologemen wieder.
In allem, was Mythen erzählen, stecken Modelle des menschlichen Erlebens. So manche Gemütsregung, manche Seelenfalte, manche Triebkonstellation scheint unter mythischen Gestalten ihre Entsprechung zu finden, als hätten unsere fernsten Vorfahren schon von dem geträumt, was wir heute erleben. Ödipus steht für den unbewussten Hass des Sohnes auf den Vater, den Nebenbuhler bei der Mutter, Narziss für das unbewusste Verliebtsein in ein Spiegelbild, Phaethon, der den Sonnenwagen des Helios zuschandenfährt, für eine Verwüstung der Welt durch anmaßenden Umgang mit Technik. Die göttlichen Gestalten, die den Menschen zum Schicksal werden, sind Projektionen menschlicher Selbsterfahrung. Aus den Hemmnissen, die seinem Willen entgegenstehen, aus den eigenen Schwächen, die seine Absichten durchkreuzen, aus seiner Unvollkommenheit leitet der Mensch die Vorstellung von Wesen ab, die vollkommen sind und uneingeschränkt walten. Auf die Erfahrung des unwiderruflichen Todes antwortet er trotzig mit Wiedergeburtsfantasien und Unsterblichkeitsträumen.