Die Autoren dieses Buches erteilen keine medizinischen Ratschläge. Die vorgestellten Techniken verstehen sich nicht als Empfehlungen zur Behandlung körperlicher, seelischer oder medizinischer Erkrankungen im Sinne des Ersatzes einer medizinischen Therapie. Die Absicht der Autoren ist lediglich, Kenntnisse und Praktiken allgemeiner Natur weiterzugeben, die Sie auf Ihrem persönlichen Entwicklungsweg und in Ihrem Streben nach Wohlsein unterstützen können. Insoweit Sie die Übungen und Informationen für sich nutzen, übernehmen Autor und Verlag keine Haftung für Ihre Handlungen.
Deutsche Originalausgabe:
1. Auflage 2022
© Crotona Verlag GmbH & Co. KG
Kammer 11, D-83123 Amerang
www.crotona.de
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© Fotos der Übungen: Studio Seidel, München
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Umschlaggestaltung: Annette Wagner unter Verwendung von shutterstock.com (Master1305: 2073534200)
Druck: Finidr
ISBN 978-3-86191-253-8
Inhalt
Über dieses Buch
Teil I: Body Principles in der Theorie
Am Anfang war Bewegung
Die vier Grundprinzipien
Die Architektur unseres Körpers
Das autonome Nervensystem
Der Atem (von Ralph Skuban)
Weitere Prinzipen
Die mentale Ebene
Von der Theorie in die Praxis
Teil II: Body Principles in der Praxis
Grundbegriffe
Prinzip Schwingung/Vibration
Prinzip Kontraktion (Kräftigung)
Prinzip Expansion
Prinzip Kompression
SOS für spezifische Beschwerden
Teil III: Body Principles Übungssequenzen
Übersicht der Übungen
Weiterführende Literatur
Danksagung
Anmerkungen
Für Lilo
Wo kämen wir hin,
wenn alle sagten,
wo kämen wir hin,
und niemand ginge,
einmal zu schauen,
wohin man käme,
wenn man ginge.
– KURT MARTI –
Über dieses Buch
Bewegung begeistert mich. Das war schon immer so, deswegen ist es wohl nicht verwunderlich, dass mein Weg mich mit dem Zirkus um die Welt führte. Seit mehr als drei Jahrzehnten beschäftige ich mich nun intensiv mit Körperarbeit und habe dabei verschiedenste Formen wie Tanz, Akrobatik, Yoga, Thai Chi und anderes mehr kennengelernt und intensiv praktiziert. Vor diesem Hintergrund werde ich immer wieder gefragt, ob es eine Bewegungsform gibt, die meiner Meinung nach besonders gut und gesund sei. Der Markt hat ja so einiges zu bieten, und das Bewegungsangebot ist vielseitig. Sollte man also Yoga oder Pilates üben? Muskelaufbautraining, Faszien-Fitness, Zumba oder Boxen? Oder wäre es vielleicht doch besser, Atem- und Entspannungstechniken zu praktizieren, denn das soll ja mindestens genauso wichtig sein? Außerdem sollte man ja auch etwas für Herz-Kreislauf tun, sich ausgewogen ernähren, mentale Stärke üben und meditieren. Die berechtige Frage lautet dann oft: „Wie soll man das denn alles in einem normalen Alltag unterbringen!?“ Alles zu praktizieren, scheint zwar sinnvoll, zeitlich aber nicht umsetzbar zu sein. Ich selbst bin in meinem bewegten Leben schließlich beim Yoga gelandet, und es bereitet mir große Freude. Deshalb bin ich natürlich geneigt, diese Form der Bewegung auch weiterzuempfehlen. Dennoch muss ich ehrlicherweise sagen, dass Yoga nur ein Weg von vielen möglichen ist, und nur weil er für mich stimmig ist, muss das nicht für alle Menschen so sein. Die Frage lautet also: Ist es egal, welcher Bewegungsform wir nachgehen, oder gibt es neben dem reinen Spaßfaktor bestimmte Kriterien, die man berücksichtigen sollte?
Wenn man einige grundsätzliche Dinge über den Körper weiß und versteht, welche Art von Bewegung zu welchen Ergebnissen führt, dann lässt sich diese Frage leichter beantworten und das Angebot besser einordnen. In meiner langjährigen Beschäftigung mit verschiedensten Arten von Körperarbeit bin ich immer wieder auf vier grundlegende Wirkungsprinzipien gestoßen, die – unabhängig vor der Methode – wichtig sind, um den Körper in seinen vielfältigen Aspekten gesund und im Gleichgewicht zu halten. Sie sind sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner für alle Bewegungsformen. Bei diesen vier Prinzipien, auf die wir im Verlauf dieses Buches genauer eingehen werden, handelt es sich um:
1. Vibration/Schwingung (Lockerung/Loslassen)
2. Kontraktion (Anspannung/Kraft)
3. Expansion (Dehnung/Weitung)
4. Kompression (Druck/Massage)
Da ich in meinem Beruf sowohl mit Spitzensportlern als auch mit Menschen arbeite, die noch keinerlei Erfahrung mit Körperpraxis haben (und natürlich mit allen Abstufungen dazwischen), ist es mir ein Anliegen, eine Methode weiterzugeben, mit der alle arbeiten können. Sie soll einfach und undogmatisch sein, gleichzeitig aber alles Wichtige enthalten. Mithilfe der vier Grundprinzipien ist das möglich; denn sie wirken auf unterschiedliche Weise immer und überall dort, wo Bewegung stattfindet. Ich verstehe die vier Prinzipien als eine Art Leitfaden, denn sie schaffen einerseits Klarheit, was für ein vielseitiges Bewegungsprogramm grundsätzlich wichtig ist, andererseits lassen sie große Freiheit bei der individuellen Ausgestaltung. Das heißt, ganz egal ob Sie bereits intensiv Ausdauersport treiben, Yoga, Pilates, Faszien-Fitness oder Entspannungsübungen praktizieren oder noch gar keiner speziellen Bewegungsform nachgehen: Sie können die vier Prinzipien wie eine Schablone über Ihr bereits bestehendes Bewegungsprogramm legen und feststellen, ob und wo es eventuell Ergänzungsbedarf gibt. Sie fügen also einfach hinzu, was Ihnen fehlt, und reduzieren, wovon Sie zu viel haben. Wenn Sie unter Beschwerden oder Schmerzen im Bewegungsapparat leiden, kann Ihnen diese Herangehensweise sogar dabei helfen, die Ursache des Problems herauszufinden.
In diesem Buch fasse ich in kompakter Form meine Erkenntnisse aus mehr als drei Jahrzehnten intensiver Körperarbeit zusammen. Die hier vorgestellten theoretischen und praktischen Inhalte haben nicht zum Ziel, Ihr bereits bestehendes Training zu ersetzen, sondern können eine einfache und sinnvolle Ergänzung dazu sein. Falls Sie noch keiner Körperpraxis nachgehen, können Sie über den umfassenden Praxisteil einen einfachen Einstieg dazu finden.
Im Kern soll es in diesem Buch darum gehen, wie wir eine persönliche und stimmige Körperpraxis aufbauen können, die uns gesund hält und wohltuend ist für Körper, Atem und Geist. Sie soll uns Freude bereiten und einfach in den Alltag zu integrieren sein. Die vier Prinzipien sind mein Weg dazu. In den folgenden Kapiteln möchte ich Sie auf eine Reise mitnehmen, um dieser Idee anhand verschiedener Aspekte unseres Körpers auf den Grund zu gehen. Ich würde mich freuen, wenn Ihnen dieses Buch Inspiration und Werkzeug sein könnte, sich mit Neugierde und Lust auf Bewegung einzulassen und sich etwas näher mit Ihrem Körper zu beschäftigen. Ich wünsche mir, dass es unerfahrenen Menschen einen verständlichen Einstieg in gesunde Körperarbeit geben kann und dabei hilft, körperliche Beschwerden zu lindern oder sogar ganz loszuwerden. Für Lehrende oder Therapeuten mag es eine andere Perspektive aufzeigen und eine Ergänzung zu ihrem eigenen Schaffen sein.
Wie Sie mit diesem Buch arbeiten können
Das Buch besteht aus drei Teilen. Der erste Teil beschäftigt sich mit den theoretischen Hintergründen von Körperarbeit und Bewegung. Wir werden uns ansehen, worauf sich die vier Grundprinzipien gründen und wie sie ein Leitfaden zu einem vielfältigen Bewegungsprogramm sein können. Dazu tauchen wir zunächst in die Welt der Faszien, beziehungsweise des Bindegewebes ein. Die Faszien sind für uns in der Körperarbeit von besonderem Interesse, denn unter Experten etabliert sich zunehmend die Meinung, dass in ihnen sehr häufig die Ursachen für unspezifische und chronische Schmerzen des Bewegungsapparates liegen. Da sich die Faszien wie ein Netzwerk kontinuierlich durch den gesamten Körper ziehen, eignen sie sich für die Betrachtung besonders gut, wenn es darum geht, Zusammenhänge im Körper zu verstehen und zu veranschaulichen. Neueste Erkenntnisse der Faszien-Forschung fließen hier genauso mit ein wie meine persönlichen Erfahrungen aus vielen Jahren Körperarbeit.
Darüber hinaus werden wir uns im ersten Teil etwas näher mit dem Phänomen der Eigenwahrnehmung beschäftigen sowie mit dem autonomen Nervensystem, was uns in der Folge von selbst zum Thema Atem führen wird; denn durch nichts können wir unser Nervensystem direkter und schneller beeinflussen als durch unsere Atmung! Beide Themen spielen also auch bei jeder Form von Bewegung eine wichtige Rolle. Ich freue mich sehr, dass mein Mann Ralph Skuban, der als Atemexperte mehrere Fachbücher zu diesem Thema geschrieben hat und verschiedenste Menschen wie Fachärzte, Therapeuten, Opernsänger und Spitzensportler coacht, ein spannendes und wertvolles Kapitel zu diesem Buch beigesteuert hat!
Am Ende des ersten Teils wenden wir uns noch der psychologischen Komponente von Bewegung und Haltung zu und werden erfahren, wie sie unser Denken und Handeln beeinflusst. Auch hier gibt es interessante Erkenntnisse für die praktische Körperarbeit, sei es am eigenen Leib oder in der Arbeit mit Klienten. Unsere Reise wird uns also sozusagen vom Grobstofflichen (Körper) zum Feinstofflichen (Atem und Geist) führen. Auch wenn wir hier naturgemäß nur einen kleinen Ausschnitt unseres komplexen Organismus betrachten können, so möchte ich dennoch versuchen, einige wichtige Zusammenhänge darzustellen und Ihnen eine möglichst holistische Sicht auf den Körper zu vermitteln.
Es ist hilfreich, diesen theoretischen Teil des Buches zuerst zu lesen, denn dadurch wird die Systematik der Praxis verständlicher. Das ermöglicht es Ihnen, die Übungen im praktischen Teil besser einzuordnen und mit der Zeit eigenständig zu erweitern. Wenn Sie gleich mit der Praxis beginnen wollen, sollten Sie diese Lektüre zu einem späteren Zeitpunkt nachholen.
Im zweiten Teil werden die einzelnen Übungen, die nach den vier Grundprinzipien angeordnet sind, ausführlich erklärt. Hier fließen immer wieder kurze anatomische Anmerkungen mit ein, die für die jeweilige Übung von Bedeutung sind. Insgesamt werden nur Übungen vorgestellt, die ich am eigenen Leib als hilfreich und heilsam erfahren habe. Die Zusammenstellung ist eine kompakte Auswahl, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern anhand der vier Grundprinzipien einen Überblick verschaffen soll, was grundsätzlich wichtig und zu beachten ist. Sie kann dementsprechend ergänzt und erweitert werden. Die Übungen dienen vor allem der Prävention. Wenn Sie unter Schmerzen im Bewegungsapparat leiden, finden Sie im letzten Kapitel des zweiten Teils unter SOS Selbsthilfe bei spezifischen Beschwerden einige Übungen, die sich bei speziellen Problemen als hilfreich erwiesen haben. Wenn Sie unsicher sind, ob eine Übung für Sie geeignet ist oder nicht, sprechen Sie bitte vorher mit ihrem Arzt!
Der dritte Teil widmet sich ganz den Übungssequenzen. Bevor Sie damit beginnen, sollten Sie die Anleitungen zu den einzelnen Übungen im zweiten Teil genau durchgelesen haben und so gut damit vertraut sein, dass Sie beim Üben der Abfolgen nicht parallel ständig ins Buch blicken müssen.
Die Sequenzen sind in sich geschlossene, kurze Abfolgen von 15 – 30 Minuten Länge mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die Idee ist, dass Sie sie regelmäßig und abwechselnd üben, denn erst in ihrer Gänze ergeben sie ein vollständiges Übungsprogramm, das alle im ersten Teil vorgestellten Prinzipien berücksichtigt. Suchen Sie sich aus dem Programm also bitte nicht Ihre Lieblingssequenz heraus und üben nur noch diese, sondern variieren Sie Ihre Praxis! Falls Sie noch keiner bestimmten Bewegungsform nachgehen, können Sie mithilfe dieser Abfolgen alle wichtigen Aspekte der Körperarbeit abdecken. Falls Sie bereits einer Körperpraxis nachgehen, lassen sich die Sequenzen ergänzend darin einbinden, je nachdem welches Prinzip Sie für sich verstärken möchten.
Da mich von jeher die Synthese verschiedener Herangehensweisen interessierte, ist meine Auswahl eine Mischung von Übungen aus dem Yoga, der Faszien-Fitness, der Manuellen Therapie und weiteren, die ich selbst regelmäßig praktiziere und mit der Zeit erweitert habe. Ich selbst hatte von Kindheit an mit einigen anatomischen Herausforderungen wie Hüftdysplasie und Skoliose zu tun, zudem brachte meine Tätigkeit als Artistin immer wieder Verletzungen mit sich. Manuelle Therapie war also mein ständiger Wegbegleiter, bis ich lernte, meinen Körper besser zu verstehen. Diese „Hindernisse“ standen meinem Werdegang jedoch nicht im Weg, ganz im Gegenteil, sie haben mein Interesse an Bewegung noch befeuert und meinen Unterricht bereichert. Ganz nach dem Motto: Wir lehren, was wir selber lernen müssen…
Meiner Meinung nach sollte Körperarbeit immer individuell gestaltet sein, denn wir alle haben eine Geschichte, die in unserem Körper Ausdruck findet und eine entsprechende Betrachtung braucht. Die vier Grundprinzipien sind ein Werkzeug, mit dessen Hilfe Sie Ihren Körper besser verstehen lernen und sich gleichzeitig ein vielseitiges und persönliches Bewegungsrepertoire aufbauen können. Sie bieten eine einfache und undogmatische Herangehensweise an die Körper- und Atemarbeit, was meines Erachtens eine Grundvoraussetzung für eine gesunde Entwicklung ist – sei sie nun physisch oder mental.
Teil I: Body Principles in der Theorie
Am Anfang war Bewegung
Sich zu bewegen, ist ein natürlicher innerer Antrieb des Menschen. Lange Zeit war Bewegung überlebenswichtig für alle grundlegenden Anforderungen, die das Leben an uns stellte: Zur Essensbeschaffung, für die Suche nach einem Partner oder die Flucht vor dem Feind, um nur einige zu nennen. Heute ist das anders: Wir fahren mit dem Auto zum Supermarkt, die Partnersuche läuft über ein Online-Portal und der Feind sitzt, wenn überhaupt, vor allem in unserem eigenen Kopf. Derweil verfügen wir als aufrecht gehende Wesen sogar über ein besonders großes Repertoire an Bewegungsmöglichkeiten! Das ist ein Geschenk, das uns von der Natur als intrinsische Bewegungsintelligenz mitgegeben wurde, denn als wir auf die Welt kamen, brauchten wir ja keine Anleitung, wie wir uns richtig bewegen – wir haben es ganz einfach und intuitiv richtig gemacht. Wir rollten, krochen, krabbelten und hockten, und irgendwann taten wir unsere ersten Schritte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir uns jedoch eine Welt geschaffen, aus der wir das natürliche Spektrum vielseitiger Bewegungen verbannt haben. Während noch im vergangenen Jahrhundert die meisten Menschen täglich die unterschiedlichsten Bewegungen ausführten, leben wir heute im digitalen Zeitalter mit einem sehr reduzierten Bewegungsrepertoire. Wir verbringen einen Großteil des Tages sitzend: Im Auto, bei der Arbeit am Computer, vor dem Fernseher oder auf der Couch. Technische Errungenschaften machen uns an jeder Stelle das Leben ein bisschen bequemer. Um rückwärts einzuparken, müssen wir uns nicht mehr umdrehen, sondern starren auf den Bordcomputer, der das für uns richtet. Wir tragen Uhren an den Handgelenken, die uns sagen, wie viele Schritte wir am Tag gehen sollen und wie viele Kalorien wir dabei verbrauchen, und erst kürzlich erzählte mir jemand von einer höher gelegten Spülmaschine, so dass man sich beim Ein- und Ausräumen nicht mehr bücken muss!
Der digitale Fortschritt hat uns eine Menge an Bequemlichkeiten gebracht. Einige sind zugegebenermaßen fantastisch, und man möchte sie nicht missen, andere dagegen sind durchaus fragwürdig. Dass das in in vielerlei Hinsicht seinen Preis hat und auf Kosten der Umwelt und unserer Gesundheit geht, ist keine neue Erkenntnis. Jeder weiß, dass mangelnde Bewegung zu bedenklichen Folgeerscheinungen führt, körperlich wie mental. Laut der WHO ist ein großer Teil der Menschen übergewichtig und leidet an Bewegungsmangel. Entsprechend wächst auch das Angebot der Fitness- und Lifestyle-Industrie, alle paar Jahre kommt ein neuer Trend hinzu, der diesem gesellschaftlichen Bewegungsmangel etwas entgegenzusetzen verspricht. Während sich die einen kaum noch bewegen, machen die anderen ihre Freizeit, ganz im Geist der Zeit, zu einem körperlichen Optimierungsprogramm, das häufig genauso extrem ist, nur in die andere Richtung: Einen Halbmarathon zu laufen oder sechs Mal in der Woche im Yoga-Studio athletische Sequenzen zu üben, gehört mancherorts zum Lifestyle dazu. Doch auch das ist kein gesundes und vielseitiges Bewegungsprogramm und kann genauso zu Schäden des Bewegungsapparates führen wie zu wenig Bewegung. Bestätigt wird das durch die Tatsache, dass häufig gerade extrem sportliche Menschen regelmäßig einen Physiotherapeuten oder Osteopathen aufsuchen müssen, da sie unter Schmerzen und chronischen Verletzungen leiden. Etwas scheint also in unserem Bewegungsprogramm nicht so ganz rund zu laufen, selbst dann, wenn wir uns viel bewegen.
Die Mischung macht’s
Die Welt wird krankhaft sesshaft, so der Titel eines 2018 in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikels, in dem es um eine Studie der WHO ging, laut derer sich ein großer Teil der Weltbevölkerung zu wenig bewegt. Gerade weil mangelnde oder einseitige Bewegung und die daraus resultierenden Folgen zunehmend ein Problem für unsere Gesellschaft sind, müssen wir uns jetzt zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit überhaupt systematisch Gedanken darüber machen, wie richtige und gesunde Bewegung aussieht und wie wir sie in unseren Alltag integrieren können. Wir müssen in Bewegung kommen, aber nicht irgendwie, sondern so, dass es dem natürlichen Bewegungsspektrum möglichst nahekommt. Im Fitnessstudio Hanteln zu stemmen oder ausschließlich Joggen zu gehen, ist zwar besser, als sich gar nicht zu bewegen, dennoch deckt es nur einen kleinen Teil unseres Bewegungspotenzials ab und berücksichtigt nicht die vielseitigen Bedürfnisse unserer verschiedenen Körperstrukturen, auf die wir in den folgenden Kapiteln genauer eingehen werden. In der Folge kommt es zu einem Ungleichgewicht und zu Problemen im Bewegungsapparat.
Um mit den einseitigen und eingeschränkten Bewegungen unseres modernen Alltags richtig umzugehen, brauchen wir also keinen Leistungssport, sondern ein abwechslungsreiches Bewegungsprogramm, wie es im Leben unserer Vorfahren natürlicherweise vorkam. Laufen, Springen, Hangeln, Hocken, Kriechen, Krabbeln, Balancieren, Werfen oder Graben sind natürliche Formen der Bewegung. Diese Liste beinhaltet eigentlich all das, was man auf einem guten Spielplatz machen kann. Vielleicht schmunzeln Sie jetzt, da Sie sich selbst gerade auf einem solchen vorzustellen versuchen. Das ist kein abwegiger Gedanke! Als ich 2005 auf einer längeren Tournee in China war, habe ich zum ersten Mal eine Art Spielplatz für Erwachsene gesehen. Nach dem langen Flug mit Jetlag in den Gliedern spazierten wir in der Nähe des Hotels zufälligerweise an einem solchen vorbei. Das kam uns nach dem stundenlangen eingeengten Sitzen im Flugzeug gerade recht! Es fühlte sich einfach wunderbar an, an den Reckstangen zu hängen und den Körper zu dehnen und zu strecken! Zudem schien die Bewegung auch irgendwie unsere Lebensgeister zu wecken, so dass wir uns wieder wach und erfrischt fühlten. Dieser Park sah ähnlich aus wie ein normaler Kinderspielplatz, nur dass eben alles etwas größer dimensioniert war. Ich beobachtete staunend, wie sich teilweise sehr alte Menschen an den verschiedenen Geräten tummelten. Da gab es zum Beispiel einige, die sich auf eine Art kippbare Liege legten, die Füße auf der einen Seite fixiert, um dann kopfüber nach unten zu hängen. Andere hangelten sich an einem Gerät von Sprosse zu Sprosse, wieder andere übten sich in der Balance. Wenn nicht gerade geturnt wurde, dann saß man im Schneidersitz zum Mah-Jongg-Spiel beisammen oder übte in anmutigen Bewegungen Thai Chi oder Qigong auf der Wiese. Ob es das heute in China immer noch so gibt, weiß ich nicht, aber es hat mich damals nachhaltig beeindruckt. Ich kenne hierzulande kaum Menschen in diesem Alter, die solche Dinge noch tun können. Das liegt aber nicht daran, dass wir es grundsätzlich nicht können, wir haben uns einfach nur abgewöhnt, uns vielseitig zu bewegen. Selbst Kinder sind schon von dieser Bewegungsverkümmerung betroffen und lernen kaum mehr das ganze Bewegungsspektrum kennen. Beim Nachdenken darüber, wie vielseitige Bewegungen auf einfache Weise in den Alltag integriert werden könnten, kam mir die Erinnerung an diesen Park in China. Lustigerweise las ich kurze Zeit später bei dem Faszien-Experten Dr. Robert Schleip von der Idee, Parks für Erwachsene zu schaffen, in denen spielerisch alle Bewegungen geübt werden können, die in unser natürliches Bewegungsrepertoire gehören.1 Eine wunderbare Idee, der ich durch mein Erlebnis in China voll und ganz zustimmen kann!
Bewegung als Leistungsprinzip
Die längste Zeit war vielseitige Bewegung ein ganz natürlicher und selbstverständlicher Teil im täglichen Leben eines Menschen. Mit dem Einsetzen der Industrialisierung änderte sich das jedoch nachhaltig. Um den Folgen einer am Fließband produzierenden Gesellschaft begegnen zu können, in der die Bewegungen immer einseitiger wurden, begann man zwar damit, Sport oder Gymnastik zu treiben, häufig ging es dabei aber vor allem um das Wettbewerbs- und Konkurrenzprinzip, also um die gleichen „Werte“ wie in der Arbeitswelt. Im Vordergrund stand also nicht gesunde und heilsame Bewegung, sondern wieder vor allem Leistung. Diese Denkweise weht bis heute durch unsere Bewegungsprogramme, sei es im Freizeit- oder im Schulsport, wo sie leider vielen Kindern schon früh und nachhaltig die Freude an Bewegung verdirbt. Selbst in so manchen Yoga-Klassen, in denen es eigentlich darum gehen sollte, wie wir uns bewusst und wohltuend bewegen können, fordern wir uns, von Ehrgeiz getrieben, häufig bis an die Leistungsgrenze, anstelle spürend wahrzunehmen, was wohltuend und richtig wäre. Wie könnte es auch anders sein? Es geht in unserer Gesellschaft ja in fast allen Bereichen darum, wie wir unsere Leistung steigern können, und so haben wir dieses Prinzip so perfekt verinnerlicht, dass wir es – ob bewusst oder unbewusst – auch in unser Bewegungsprogramm übernehmen. Wir dürfen uns also nicht wundern, wenn wir diese Haltung nicht einfach über Nacht wie einen Mantel wieder abstreifen können; denn das erfordert neben Zeit und Geduld vor allem das Bewusstsein, dass es sich so verhält. Gerade in unserer Zeit wäre es so wichtig, ein Bewegungsprogramm zu haben, das frei vom Leistungsgedanken ist und somit ein wohltuendes und gesundes Gegengewicht zu den stressigen Anforderungen des Alltags schaffen könnte. Freude an einfachen und vielseitigen Bewegungen, die uns gesund und beweglich halten – das brauchen wir!
Das innere Gleichgewicht
Regelmäßige Bewegung ist für unsere Gesundheit wichtig, wir alle wissen das. Wie wir schon gehört haben, ist es aber nicht nur wichtig, dass wir uns bewegen, sondern auch, wie und in welchem Maße wir das tun. Doch was ist das richtige Maß?
Der Körper ist ein lebendiger Organismus. Er besitzt die Fähigkeit, sich in jedem Moment durch Selbstregulation an veränderte äußere Begebenheiten anzupassen. Gesund zu sein bedeutet, dass alle Systeme des Körpers in einem dynamischen Gleichgewichtszustand sind, was auch als homöostatisches Gleichgewicht bezeichnet wird. Der Begriff Homöostase geht auf den Physiologen Walter Cannon (1871 – 1945) zurück und bedeutet biologisches Gleichgewicht. Damit ist die konstante Erhaltung des inneren Milieus gemeint, sei es auf Zellebene, in den Organen oder im Organismus als Ganzen. Es bezieht sich auf die Anatomie, Physiologie und Biochemie. Meines Erachtens gehört auch die Psyche in diese Liste, denn auch sie steht in permanenter Wechselwirkung mit den anderen Aspekten. Homöostase meint keinen statischen Zustand, sondern einen dynamischen Prozess als Reaktion auf die Gegebenheiten des jeweiligen Augenblicks. Gesteuert wird sie von unserem autonomen Nervensystem, auch vegetatives Nervensystem genannt, auf das wir später noch genauer zurückkommen werden.
Was auch immer also im Äußeren geschieht, unser Körper versucht unter allen Umständen, die Homöostase aufrechtzuerhalten, zum Beispiel in Bezug auf Körpertemperatur, Blutdruck und pH-Wert, um nur einige zu nennen. Gelingt ihm dies nicht, bekommen wir über unser körpereigenes Biofeedbacksystem entsprechende Signale. Wenn wir darauf nicht reagieren und nichts verändern, dann führt das auf physiologischer, biochemischer oder mentaler Ebene entstandene Ungleichgewicht früher oder später zu Unwohlsein, Schmerzen oder Krankheit. Wenn wir hingegen auf die Signale eingehen, unterstützen wir unseren Körper darin, sein inneres Gleichgewicht zu erhalten und damit aktiv zu unserer Gesundheit beizutragen.
In der Körperarbeit bedeutet Homöostase, dass wir unser Bewegungsprogramm so ausgestalten, dass es vielseitig ist und alle Systeme berücksichtigt. Was das genau heißt, darüber werden wir im weiteren Verlauf sprechen. Wichtig zu verstehen ist, dass eine einseitige und extreme Form von Bewegung zu einem aus der Balance geratenen inneren Milieu führt, jedenfalls dann, wenn wir auf der anderen Seite nicht für einen entsprechenden Ausgleich sorgen. Das heißt nicht, dass man temporär nicht auch einmal in ein Extrem gehen darf, aber unter dem Strich muss die Gesamtbilanz stimmen. Wenn unser Bewegungsprogramm zum Beispiel darin besteht, ausschließlich Joggen oder Radfahren zu gehen, dann stärken wir zwar bestimmte Muskelgruppen und unser Herz-Kreislauf-System, gleichzeitig aber verkürzen sich andere Muskelgruppen, Faszien verkleben und das autonome Nervensystem wird unter Umständen nur einseitig angesprochen. Wir trainieren also nur bestimmte Aspekte und vernachlässigen dagegen andere, die genauso wichtig wären. So verliert unser Körper sein inneres Gleichgewicht, obwohl wir uns viel bewegen.
Die Einheit aus Körper, Atem und Geist
Körper, Atem und Geist sind auf das Engste miteinander verbunden. Sie stehen in permanenter Wechselwirkung zueinander und tragen jeweils auf ihre Weise zu innerer Harmonie und Gleichgewicht bei. Wie wir nun wissen, nennen wie diesen Zustand Homöostase, oder einfacher ausgedrückt: Gesundheit. Gesundheit ist nichts Statisches, sondern ein dynamischer Zustand, an dem alle unsere körpereigenen Systeme in einem lebendigen Zusammenspiel beteiligt sind. In einem Buch wie diesem wäre es also zu kurz gegriffen, nur eines dieser Systeme – zum Beispiel unseren Bewegungsapparat – isoliert zu betrachten, weshalb wir auch auf andere Themen wie Atem, Nervensystem und Psyche eingehen werden.
Aus den verschiedenen Strukturen unseres Körpers und ihren jeweiligen Bedürfnissen lassen sich die vier Grundprinzipien nachvollziehbar ableiten. Aus diesem Grund ist es für die Körperarbeit hilfreich, eine grobe Vorstellung dieser Strukturen zu haben. Muskeln, Faszien und Gelenke werden nämlich nicht bei jeder Form von Bewegung automatisch auf richtige und sinnvolle Weise trainiert, sondern brauchen spezifische Anreize, damit sie gesund bleiben. Wenn wir also ein gesundes und ein vielseitiges Bewegungsprogramm aufbauen wollen, ist es wichtig zu wissen, wie diese Anreize aussehen sollten. Je besser wir verstehen, was unser Körper braucht, desto zielführender und effektiver können wir üben. Dann reichen schon 10 bis 20 Minuten am Tag, um gesund und schmerzfrei zu bleiben!
Jede Form von Bewegung hat nicht nur Einfluss auf unsere Muskeln und Knochen, sondern auch auf den Atem. Der Atem ist so basal, dass wir mit seiner Hilfe innerhalb kürzester Zeit unsere gesamte Biochemie verändern können. Das geschieht zum Beispiel bei einer akuten Hyperventilation, bei der ein Mensch so stark atmet, dass er davon im Extremfall sogar ins Koma fallen kann. Diese Reaktion ist eine Notbremse des Körpers, um die lebensbedrohlich aus der Balance geratene Biochemie wieder zurück in ein homöostatisches Gleichgewicht zu bringen. Wenn der Atem aber im Extremfall eine dermaßen mächtige Wirkung hat, müssen wir uns auch ansehen, wie es sich mit ihm unter normalen Bedingungen verhält oder verhalten sollte und was das für unsere Bewegungspraxis bedeutet.
Schließlich werden wir auch einen Blick auf den mentalen Aspekt von Körperarbeit werfen und uns ansehen, wie wichtig Konzentration und Eigenwahrnehmung beim Üben sind. Es macht einen großen Unterschied, ob wir aufmerksam bei der Sache sind oder abgelenkt, weil wir zum Beispiel auf einen Bildschirm schauen oder nebenbei ein Gespräch führen. Wenn wir fokussiert sind, trainieren wir nicht nur mentale Stärke, sondern wir verfeinern auch die Wahrnehmung unserer selbst. So lernen wir, die Signale, die uns unser Körper permanent sendet, mit der Zeit deutlicher und differenzierter wahrzunehmen.
Obgleich ich mich immer viel bewegt habe, gab es in meinem Leben öfter Phasen, in denen ich mit Beschwerden im Bewegungsapparat oder mit Erschöpfung zu kämpfen hatte. Heute weiß ich, dass der Grund dafür in einem zu einseitigen Training lag. In meiner Zeit als Artistin musste ich beispielsweise ein intensives Krafttraining absolvieren, da das Turnen am Vertikalseil in einigen Metern Höhe eine gewisse Körperkraft erfordert und das eigene Leben davon abhängt. In dieser Zeit vernachlässigte ich regelmäßige Dehn- und Lockerungsübungen bestimmter Muskelgruppen und Faszien, genauso aber auch den Teil meines Nervensystems, der für Regeneration und Entspannung zuständig ist. Mein Körper reagierte auf dieses Ungleichgewicht mit Stress, Verletzungen und Schmerzen. In einer anderen Phase meines Lebens meditierte ich viel und übte intensiv Yin Yoga, einen sehr ruhigen Yoga-Stil, bei dem passive Dehnungen, hauptsächlich im Liegen oder Sitzen, lange gehalten werden. In dieser Zeit erfuhr ich zwar eine große Entspannung, dennoch signalisierte mir mein Körper auch hier nach einiger Zeit, dass etwas fehlte. Ich wusste damals zwar noch wenig über Faszien, Atemphysiologie oder das Nervensystem, aber ich spürte in aller Deutlichkeit, dass etwas in meinem Körper aus der Balance geraten war. Diese verschiedenen Erfahrungen führten dazu, dass ich etwas systematischer über Bewegung nachzudenken begann und mich auf die praktische Suche nach dem richtigen Gleichgewicht begab. Das Ergebnis dieser Suche sind die vier Prinzipien, die ich Ihnen auf den folgenden Seiten genauer vorstellen möchte.
Die vier Grundprinzipien
Mit den vier Grundprinzipien geben wir dem Körper vielfältige Bewegungsimpulse, die seine verschiedenen physischen Komponenten und deren jeweilige Bedürfnisse berücksichtigt. Je nach Lebensweise und persönlicher Konstitution brauchen manche Menschen etwas mehr Impulse in die eine Richtung, manche etwas mehr in die andere Richtung. Aber alle vier Prinzipien sind grundsätzlich notwendig, um den Körper mit seinen verschiedenen Strukturen in einem dynamischen Gleichgewicht zu halten. Die vier Prinzipien sind:
1. Vibration/Schwingung (Lockerung/Loslassen)
2. Kontraktion (Anspannung/Kraft)
3. Expansion (Dehnung/Weitung)
4. Kompression (Druck/Massage)
Vibration/Schwingung
„Alles im Universum ist Energie und Schwingung“, sagte der Physiker Nikola Tesla (1856 – 1943). Noch heute können wir den Urknall, der alles in Schwingung versetzte, in Form des sogenannten Hintergrundrauschens hören. Keine Kommunikation ist ohne Schwingung möglich: Wenn wir miteinander sprechen, werden unsere Stimmbänder in Schwingung versetzt, wenn wir summen, spüren wir ihre Vibrationen sogar physisch. Wir hören, weil unsere Trommelfelle in den Frequenzen des akustischen Reizes schwingen. Die moderne Informationsübertragung geschieht über elektromagnetische Wellen, und selbst in unserem Gehirn kommunizieren Nervenzellen mithilfe von Schwingung und Resonanz über weite Distanzen miteinander. Musik ist Schwingung! Auf mentaler Ebene kennen wir alle das Gefühl, wenn wir mit unserem Gegenüber „zusammenschwingen“ und in Resonanz treten…
Um die mächtige und heilsame Kraft von Schwingung und Vibration wussten Menschen zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Schamanen versetzen sich über rhythmisches Trommeln in einen ekstatischen Trance-Zustand, um so mit der Geisterwelt in Verbindung zu treten und hilfreiche Informationen zu erlangen. Ähnliche Zustände werden bei Trommelzeremonien indigener Völker angestrebt. Schlagen wir einen Gong oder eine Klangschale an, können wir die Schwingung nicht nur hören, sondern die Vibration auch in unserem Körper spüren. Sogenannte Klangschalen-Massagen oder -Meditationen wirken wohltuend auf unser Nervensystem und sollen dabei helfen, Blockaden zu lösen. Auch die moderne Schmerztherapie kennt das Potenzial der Schwingung. Mithilfe der sogenannten Schallwellen- oder Stoßwellen-Therapie wird die Durchblutung des Gewebes gefördert und der Stoffwechsel angeregt, wodurch Entzündungen und Schmerzen zurückgehen. Vibrationsgeräte können chronische Verspannungen lösen und Beweglichkeit wiederherstellen, sie werden auch in der Logopädie, zum Beispiel nach einer Stimmbandlähmung, angewendet. Unser Körper nutzt das Prinzip der Vibration natürlicherweise, indem er auf extreme Situationen mit dem sogenannten Neurogenen Zittern reagiert und auf diese Weise Stress und Spannung abbaut. Bei einem Erdbeben handelt es sich um das gleiche Phänomen, denn auch die Erde entledigt sich ihrer zu großen Spannungen mittels eines heftigen Zitterns.
Es wird erkennbar, dass es sich bei Schwingung und Vibration um ein grundlegendes Prinzip unseres Kosmos handelt. Wir können es in der Körperarbeit bewusst anwenden, um damit in Bereiche vorzudringen, die uns andernfalls gar nicht oder nur schwer zugänglich sind. Über Schwingung und Vibration können wir übermäßige Spannung abbauen oder aber fehlende Spannung wiederherstellen, was zum Beispiel beim Faszientraining eine wichtige Rolle spielt. Konkret setzen wir dieses Prinzip um, indem wir mithilfe von Schwung- und Schüttelübungen die Faszien elastisch und geschmeidig halten und die Gelenke lockern. Auch in der Stimmarbeit können wir es nutzen, wenn wir durch Summen unsere Stimmbänder in Vibration versetzen. Dadurch entspannt sich der Kehlkopf, zusätzlich wird aber auch die Produktion von Stickstoffmonoxid (NO) befördert, ein körpereigenes Gas, das wichtige Funktionen für unsere Biochemie erfüllt. Darauf werden wir im Kapitel über den Atem noch genauer eingehen.
Vor vielen Jahren unterrichtete ich an einer Zirkusschule in Australien, als mir plötzlich die spontane Idee kam, mit den Schülern einfache Körperschwünge und Schüttelbewegungen zu üben. Ich dachte zunächst, dass das für die trainierten Artisten ein Leichtes sei, tatsächlich aber war das Gegenteil der Fall, viele taten sich mit den lockeren, schwingenden Bewegungen sogar schwer! In Yoga-Gruppen habe ich über die Jahre ähnliche Erfahrungen gemacht, obwohl im Yoga immer viel vom Loslassen die Rede ist. Diese Erfahrungen zeigten mir, dass diese eigentlich sehr natürliche Art der Bewegung für viele Menschen offensichtlich nicht selbstverständlich oder gar leicht ist. Seither sind Schüttel- und Schwungübungen ein fester Bestandteil meines Unterrichts, denn sie sind eine einfache und heilsame Methode, um Spannungen zu lösen und Stress abzubauen. Ich sehe diese Übungen als eine wunderbare Ergänzung zu anderen Bewegungsformen.
Kontraktion
Der Begriff Kontraktion bedeutet Zusammenziehung. Er leitet sich vom lateinischen Verb contrahere ab (con-= zusammen, trahere = ziehen). Physiologisch versteht man darunter das aktive Anspannen, die Verkürzung oder das Zusammenziehen einer kontraktilen Struktur, beispielsweise einer Muskelzelle, eines Muskelgewebes oder eines muskulären Organs. Kontraktion ist also ein aktiver Prozess, der immer von innen heraus geschieht. Wie grundlegend dieses Prinzip ist, zeigt sich daran, dass fast alle Systeme unseres Körpers über Anspannung und Entspannung funktionieren. Ohne Kontraktion der Muskeln kein Stoffwechsel, ohne Kontraktion des Zwerchfells kein Atemprozess, ohne Kontraktion des Herzens kein Kreislauf… Ohne Kontraktion also kein Leben!
Die Fähigkeit der Muskeln zu kontrahieren, wird vor allem durch die Proteine Aktin und Myosin bewirkt. Aber nicht nur Muskeln können sich eigenständig zusammenziehen. Neueren Erkenntnissen zufolge haben auch die Muskelhüllen, die Faszien – über die wir später noch ausführlich sprechen werden – diese Eigenschaft, womit ihnen größere Bedeutung beikommt, als man bis vor Kurzem noch annahm.
In der Körperarbeit setzen wir das Prinzip der Kontraktion um, indem wir unseren Körper stärken. Physiologisch betrachtet, unterscheidet man zwischen isotonischer und isometrischer Kontraktion, was genau darunter zu verstehen ist, werden wir uns im Praxisteil ansehen. Kontraktion ist ein lebenswichtiges Prinzip, es braucht jedoch als Gegenpol eine ausgleichende Kraft, womit wir zu unserem nächsten Prinzip kommen.
Expansion
Keine Struktur kann auf Dauer nur Anspannung aushalten. Bewegung – und damit Leben – ist erst möglich, wenn auf die Kontraktion als Gegenkraft eine Ausdehnung
Für die Körperarbeit bedeutet das konkret, dass wir unsere Muskeln und Faszien immer wieder dehnen müssen, da sie andernfalls verhärten und es in Folge zu chronischen und schmerzhaften Verspannungen kommt. Dehnung kann auf ganz unterschiedliche Weise geschehen. Dabei ist nicht nur die Dauer entscheidend, sondern auch die Art, wie wir uns dehnen. Auch darauf werden wir im zweiten Teil dieses Buches genauer eingehen.