Christoph Schulte-Richtering

Kaiser, Kriege und Kokotten

Die gesamte Weltgeschichte in einem Band

Für Joseph und Ulrike

Wir sind alle nur Zwerge auf den Schultern von Riesen.

Nach Bernhard von Chartres

Nero

Das Trojanische Schwein

Herzlich willkommen zu «Gute Zeiten, schlechte Zeiten – die Rom-Edition»! Heute die Folge «Kaiser Nero».

Was bisher geschah: Kaiser Claudius war mal mit einer gewissen Messalina verheiratet und hat mit ihr einen Sohn und eine Tochter, Britannicus und Octavia. Jetzt verliebt sich Claudius aber in seine Nichte Agrippina (Neros Mutter), heiratet sie und lässt seine Ex hinrichten. Nero wiederum heiratet seine Stiefschwester Octavia, und weil Agrippina netterweise seinen Stiefbruder Britannicus kaltgestellt hat, gelangt Nero auf den Thron. Damit Kaiser Claudius gegen die Sache nichts einzuwenden hat, vergiftete Agrippina ihn beizeiten mit einem Pilzgericht. Nero bedankt sich bei seiner Mutter für die Krone, indem er sie, schwupps, umbringen lässt, genau wie auch Britannicus und Octavia.

«Das kann man unmöglich so senden», sagt der GZSZ-Produzent – zu unrealistisch! Und doch sieht sie so aus, die Realität im ersten Jahrhundert nach Christus.

 

Dieser Nero – was für eine verrückte Type! Erzogen wird er von einem syrischen Tänzer und einem griechischen Friseur. Nero stinkt ganz eklig, sein Körper ist voller Flecken, und er stakst mit fettem Leib auf dürren Beinchen barfuß durch seinen Palast. Er trägt kein Kleidungsstück zweimal, geht angeln mit Netzen aus Gold – und wenn er das Haus verlässt, hat er 500 Kutschen dabei. Damit ist Nero allerdings schon fast ein Langweiler – einer seiner Nachfolger, der Transen-Kaiser Elagabal, machte es nicht unter 1000 Kutschen – und die, in der Elagabal saß, wurde von nackten Frauen gezogen. Sicher hübsch anzuschauen – aber weit kommt man auf diese Weise nicht.

Als Kaiser ist Nero ein Versager. Das ist ihm aber egal – er selbst versteht sich ohnehin mehr als Künstler denn als Politiker. Dabei dilettiert er gleich in mehreren Disziplinen: Gesang, Schauspiel, Dichtung – aber auch Wagenlenken und Ringen gehören zu den kaiserlichen Hobbys. Und er macht sich einen Spaß daraus, nachts inkognito um die Häuser zu ziehen, sich zu betrinken und mit dem gemeinen Volk Streit anzufangen. Hier und da bekommt der Kaiser dabei sogar eins aufs Maul, so zum Beispiel vom Senator Iulius Montanus, dessen Frau er eines Nachts zwischen die Beine fasst. Als Montanus ihn dafür vermöbelt, erkennt er den Kaiser und fällt vor ihm auf die Knie. Hätte er Nero nicht erkannt, wäre nichts passiert. So kostet die Sache ihn das Leben – wie so viele andere nach ihm, die ein falsches Wort sagen oder falsch gucken.

 

Kaiser Nero (Serviervorschlag)

Nero trinkt in Wasser aufgelösten Wildschweinmist (macht stark!) und lässt den Tag, an dem er sich das erste Mal rasiert, zum Feiertag erklären. Der Typ ist ein amtlich zertifizierter Vollbekloppter auf dem Kaiserthron. Mit der Meinung steht man nicht alleine da, für Plinius den Älteren ist Nero die «Pestilenz des Erdkreises», und für den Nobelpreisträger Theodor Mommsen ist er der «nichtswürdigste Kaiser, der je auf dem römischen Thron gesessen hat».

 

Vielleicht sollte man erwähnen, dass Sport und Schauspiel im alten Rom ungefähr so angesehen sind wie heute Zuhälterei oder Drogenhandel. Schauspieler sind wie Gladiatoren und Prostituierte unterste Schublade. Dass sich Nero mit solchen Leuten einlässt, kommt bei den Senatoren gar nicht gut an. Aber das ist dem Kaiser egal, er kann Senatoren fördern oder auch hinrichten, wie es ihm beliebt – noch. Mehr und mehr widmet er sich der Kunst und immer weniger seinem Staatsamt: Er spielt im Theater die Rolle einer Frau, die gerade ein Kind bekommt, und wälzt sich dafür mit spitzen Schreien auf dem Bühnenboden. Er läuft öffentlich in einer griechischen Mini-Tunika mit Blümchenmuster herum und kann beim Ringkampf in der Sporthalle beobachtet werden: eingeölt und nackt.

Auch das Spiel mit der Kithara (einem Saiteninstrument, von dem das Wort «Gitarre» abstammt) liebt er, und noch mehr liebt er es, überraschend im Theater aufzutauchen und die Zuschauer stundenlang mit seinen Gesängen zu malträtieren. Natürlich ist es streng verboten, während seiner Darbietung das Theater zu verlassen. Überall sitzen Spione: Wer nicht genügend applaudiert, wer gähnt oder gar ironisch den Mund verzieht, riskiert sein Leben. Es soll Zuschauer gegeben haben, die sich tot stellten, um aus dem Theater getragen zu werden.

Nero liebt ausschweifende Gelage und ausgefallene Speisen, Flamingozungen lässt er servieren und Straußenhirn. Das «Trojanische Schwein» ist besonders beliebt: Hierbei wird ein Spanferkel geöffnet, und aus der Bauchhöhle fliegen lebendige Drosseln. Außerdem ist es gefüllt mit Eiern, Austern und Fleischklößchen. Lecker! Nach dem Gelage übergibt Nero sich häufig und verschafft sich auch hintenrum mit einem Einlauf Erleichterung.

Manchmal lässt sich Nero in ein Tierfell einnähen und in einen Käfig sperren. Dann hat man ihn freizulassen, worauf er sich auf an Pfähle gefesselte nackte Männer und Frauen stürzt und sich an ihnen vergeht. Anschließend ist er seinem Mundschenk sexuell gefügig. Seinen Lustknaben Sporus heiratet er. Von Nero entmannt und vorsintflutlichen Versuchen einer Geschlechtsumwandlung ausgesetzt, ist dieser Sporus so eine Art Lorielle London der Antike. Das alles klingt gar nicht gut – aber entgegen der landläufigen Meinung hat Nero als Künstler durchaus Talent. Als er einmal den Herakles spielt, wirkt er in einem Moment der Not so glaubwürdig, dass ein Mitglied seiner Leibwache auf die Bühne stürzt, um den Chef zu retten. Wer so was hinkriegt, ist keine Knallcharge. Trotzdem bringt Nero sicherheitshalber zu seinem ersten öffentlichen Konzert in Neapel 5000 bezahlte Claqueure und Jubelrömer mit (zum Begriff «Jubelperser» siehe das Kapitel → 1968). So belegt er 64 n. Chr. den ersten Platz in diesem Vorläufer des Eurovision Song Contest – dass es während seines Auftritts zu einem Erdbeben kommt, hat wohl nichts mit seinem Gesang zu tun.

Nero liebt Griechenland und alles Griechische. Deshalb ist es nur konsequent, dass er seinen großen Traum verfolgt, Olympiasieger zu werden! Eigentlich plant er, nach seinem Triumph in Neapel weiter nach Griechenland zu fahren und die Sache in Angriff zu nehmen, da ereilt ihn eine schreckliche Nachricht: Rom brennt! Eine solche Lappalie soll ihn eigentlich nicht von seinem Griechenland-Trip abhalten, als aber das Inferno nach sechs Tagen immer noch nicht gelöscht ist und vor allem einen seiner nagelneuen Paläste bedroht, macht er sich auf die Socken, organisiert Notunterkünfte in den kaiserlichen Gärten und gewährt ein umfassendes Hilfsprogramm.

Schon bald geht das Gerücht, Nero habe Rom absichtlich anzünden lassen, um seine gewaltigen Bauvorhaben realisieren zu können. Außerdem soll er angeblich in den Hügeln über der Stadt den Brand mit seiner Kithara besungen haben. In «Quo Vadis» spielt Peter Ustinov als Nero diese Szene unvergleichlich, er war 1952 dafür oscarnominiert – den Oscar staubte gemeinerweise jedoch Karl Malden für «Endstation Sehnsucht» ab – Karl Malden, das ist sonst der kartoffelnasige Mike Stone aus den «Straßen von San Francisco».

 

Historisch belegen lässt sich Neros Ständchen an die brennende Stadt nicht. Das Gerücht wird von seinen Gegnern gestreut, in der Hoffnung, das Volk werde sich gegen den Kaiser erheben. Dass Nero den Brand aber durchaus als Kunstwerk sah, davon kann man ausgehen – er unterschied halt zwischen Ethik und Ästhetik. Gut, sagt er sich, es kommen Menschen um – aber hübsch aussehen tut’s trotzdem! Als Ethiker war er eine Null; als Ästhet aber ein raffinierter Genießer. Ein wenig erinnert das an die Haltung des Komponisten Karlheinz Stockhausen, der die Anschläge vom → 11. September «das größte Kunstwerk, das es je gegeben hat» nannte. Diese Aussage ist natürlich problematisch, weil sie das Schicksal von Tausenden Menschen zugunsten des ästhetischen Aspekts ausblendet. Das Gegenteil aber, nämlich Ethik und Ästhetik in einen Topf zu werfen, ist genauso falsch: nämlich die Idee, dass ein schlechter Mensch gar kein guter Künstler sein könne – oder umgekehrt, dass man einem mittelmäßigen Künstler mit aufrechter politischer Gesinnung (vielleicht sogar mit Engagement für die Armen und Entrechteten) noch den größten Mist verzeiht. Die Akademie in Stockholm vergibt manchmal so ihre Literaturnobelpreise, aber das nur nebenbei.

 

Ob die Geschichte nun stimmt oder nicht, die Römer haben Nero seine Haltung jedenfalls übelgenommen – also braucht Nero Schuldige. Die findet er in den Christen: Sie werden den Löwen zum Fraß vorgeworfen oder als lebende Fackeln verbrannt.

Nero hat durch die christlich geprägte Geschichtsschreibung seinen schlechten Ruf weg, nicht weil er ein gefährlicher Spinner war, sondern weil er den Christen an den Kragen ging. Zweifellos zu Recht gilt er als schlechter Kaiser. Kaiser Konstantin hingegen, der ebenfalls Sohn, Frau, Schwager und Neffen ermorden ließ und auch sonst einiges auf dem Kerbholz hat, gilt als guter Kaiser – weil er auf dem Totenbett Christ wurde. Aber so ist das eben – Siegerjustiz.

 

Sein großes Ziel, in Griechenland Olympiasieger zu werden, hat Nero unterdessen nicht aus den Augen verloren: Ihm zuliebe werden die Spiele um zwei Jahre verlegt und neue Disziplinen geschaffen – man will dem Kaiser das Siegen so einfach wie möglich machen. Im Jahr 67 n. Chr. ist es so weit. Als er beim Wagenrennen blöderweise in einer Kurve aus dem Wagen fällt und Jürgen-Hingsen-mäßig nicht einmal das Ziel erreicht, ist es schlecht bestellt um Neros Sieg. Nun, für eine Schiedsrichterprämie von einer Million Sesterzen gucken sich die Preisrichter noch einmal die Zeitlupe an, kommen zu dem Ergebnis, dass Nero eigentlich doch im Ziel war – und sogar als Erster –, und erklären ihn kurzerhand zum Olympiasieger, so wie in noch fünf weiteren Disziplinen. Heutzutage läuft’s doch nicht viel anders: Carl Lewis hat drei Goldmedaillen mehr als Nero, und gemogelt hat er auch. Man kann’s ihm bloß nicht nachweisen.

Insgesamt gewinnt Nero auf seinem Griechenlandtrip 1808 Preise, unter anderem einen Selleriekranz, eine Efeukrone – und Unmengen an griechischen Kunstschätzen für sein Domus Aurea, einen Palast, den er sich nach dem Brand hat bauen lassen. An drei Seiten hat dieses «Goldene Haus» Säulengänge mit je 1500 Metern Länge, außerdem findet sich darin eine fast vierzig Meter hohe Statue des Sonnengotts – mit den Gesichtszügen Neros. Endlich könne er «leben wie ein Mensch», soll der Kaiser anlässlich der Fertigstellung seiner kleinen Datsche gesagt haben. Nach Neros Tod wird alles abgerissen, auf einem Teil des Geländes steht heute das Kolosseum. Mit seinen öffentlichen Bauten (Supermarkt, Fitness-Studio, Wellness-Oase) hat sich Nero die Liebe der Massen erkauft. Er ist ein echter Volkskaiser, freut sich mit seinem Wagenlenkerteam über Siege (das «Grüne Team», ein Rennstall, den traditionell die römischen Arbeiter favorisieren) und ist untröstlich bei Niederlagen.

Der Adel und die Heerführer in den Provinzen aber kochen, weil durch des Kaisers Verschwendungssucht und sein politisches Desinteresse der Staatshaushalt dermaßen geschwächt ist, dass zum Beispiel an eine vernünftige Bezahlung der Soldaten nicht mehr zu denken ist. Was macht inzwischen der Kaiser? Er organisiert seine Karriere als Dudelsackpfeifer, Balletttänzer und Flötenspieler. Richtig sauer wird er erst, als ihn der Statthalter von Gallien einen miserablen Kitharaspieler nennt und sich die Provinz Gallien samt Heer von Nero lossagt. Nero hat einen Spitzeneinfall, wie er die abtrünnigen Soldaten wieder auf seine Seite bringen kann: Er plant, sich nackt und unbewaffnet vor das Heer zu stellen und laut zu weinen. Nero – Gefahrensucher. Zum Glück redet man ihm diese Schnapsidee aus.

Neros letztes Aufgebot ist eine Frauenarmee – hastig zusammengestellt aus den lokalen Prostituierten. Jede Nutte bekommt eine Streitaxt in die Hand gedrückt und soll so die übergelaufene Prätorianergarde aufhalten, zu spät: Nicht einmal mehr Neros Palastwachen stehen noch auf ihren Posten. Auch seine Freunde sind fort, viel waren es ohnehin nicht mehr, allzu viele hatte er in den letzten Jahren zum Tode verurteilt oder zum Selbstmord gezwungen: den greisen Seneca, Petronius, den Dichter Lukan. Nero irrt alleine durch den Palast und will sich schon im Tiber ertränken, bis er tatsächlich noch auf die letzten Mohikaner trifft: seinen Lustknaben Sporus, seinen Kanzleichef und seinen Finanzminister Phaon. Die vier fliehen in den Norden Roms, in die Villa Phaons. Dort trinken sie brackiges Wasser, messen Neros Körper aus, graben eine Grube in der passenden Größe und warten zitternd auf die Prätorianergarde. Auf einmal hören sie Hufgetrappel.

Wir sind in wenigen Minuten zurück, mit folgenden Themen: Kann Nero noch den Kopf aus der Schlinge ziehen? Oder stirbt er wie ein Mann? Und wer bezahlt dann die Geschlechtsumwandlung von Sporus? Bleiben Sie dran – bis gleich!

Musik: Ich seh in dein Herz, sehe gute Zeiten, schlechte Zeiten, ein Leben, das neu beginnt. Durch Liebe und Schmerz wird in guten und in schlechten Zeiten dein Schicksal bestimmt 

Werbung. Dann wieder Intro-Jingle.

Herzlich willkommen zurück zu «Nero – das große Finale!».

Auf einmal hören sie Hufgetrappel. Es ist so weit: Nero prüft die Schärfe des Dolches, traut sich aber nicht. Er beginnt, zu wehklagen und zu winseln. «Welch ein Künstler geht mit mir dahin!», sind seine letzten Worte. Dann übernehmen seine Gefährten und rammen ihm den Dolch in den Hals.

Abspann.

Völkerwanderung

Flatrate-Saufen mit König Etzel

Wo fangen wir an? Vielleicht bei Take That? O. K. – warum nicht? Man weiß ja bei Take That nicht genau, was letztlich zur Auflösung führte – war es die Tatsache, dass auf einmal die Welt mit anderen Boybands geflutet wurde und folglich das Alleinstellungsmerkmal samt Erfolg weg war? Oder waren es einfach der Drogenwahn und die Querelen zwischen Robbie Williams und Gary Barlow? Jedenfalls zog Gary irgendwann 1996 resigniert das Fazit: «Es macht keinen Spaß mehr.» Und ähnlich wie mit Take That ist es eben mit dem Römischen Reich: Waren es die dekadenten innenpolitischen Querelen? Oder waren es die neuen germanischen Boybands in Gestalt von wilden Stämmen, die die Römer sturmreif schossen? Wahrscheinlich beides.

Zuerst passiert im 4. Jahrhundert aber ganz woanders was: In Russland und Asien wird es von Jahr zu Jahr kälter, die Lebensbedingungen verschlechtern sich. Die Leute dort beschließen also: Lasst uns nach Westen gehen, etwas Besseres als den Tod finden wir überall! Leider sind das nicht irgendwelche Leute – es ist ein finsteres Reitervolk mit vernarbten Gesichtern, kahlgeschorenen Köpfen und deformierten Schädeln: die Hunnen.

Diese üblen Gesellen reiten im Jahr 375 über die Wolga, bringen die Pocken mit und vernichten im Sturm die Völker der Alanen und der Greutungen. Ein paar wackere Greutungen können allerdings entkommen und erzählen in ganz Europa rum, was für eine fürchterliche Meute diese Hunnen sind – und dann geht’s los: Europa macht sich auf die Socken: Roxolanen, Siraken, Markomannen, Burgunden, Lugier, Vandalen, Sueben und noch tausend andere – «Wer zählt die Völker, nennt die Namen?» –, alle ab nach Westen, auf der Flucht vor den Hunnen. Das Zitat stammt übrigens von Friedrich Schiller, aus den «Kranichen des Ibykus». Und Friedrich Schiller war es auch, der jener Zeit überhaupt erst die Epochenbezeichnung «Völkerwanderung» gab.

Ab nach Westen – und dort hausen wie die Vandalen!

Also folgende Szene: Am Ufer der Donau stehen Westgoten, die Hunnen im Rücken. Die Westgoten wollen rüber. Das Problem: Am anderen Ufer beginnt das Römische Reich. Gut, das Reich ist nicht mehr das, was es mal war, aber man fragt trotzdem besser vorher, ob man reindarf. Der römische Kaiser Valens ist so nett und gewährt den Westgoten den Eintritt – wer weiß, vielleicht kann man die später noch im Kampf gegen die Hunnen gebrauchen. Deshalb entwaffnet er sie auch nicht. Fehler.

Die Integration misslingt, die Westgoten ziehen plündernd durchs Land, bis Kaiser Valens die Nase voll hat und ihnen ein Heer entgegenschickt. Leider hat Valens vergessen, genug Wasser (oder Valensina, haha) mitzunehmen, und die ausgedürsteten Römer werden von den Westgoten komplett auseinandergenommen. In der Schlacht von Adrianopel wird auch noch Kaiser Valens getötet, der die Westgoten ja zuvor erst reingelassen hat.

Seit dieser Niederlage ist Rom auf die militärische Unterstützung von Söldnern angewiesen, was zur Folge hat, dass das Heer nun großenteils aus unzuverlässigen Fremden besteht. Die Westgoten werden mit Sonderrechten ruhiggestellt und haben fortan gewissermaßen einen eigenen Staat auf dem Territorium Roms.

Die Römer haben ihren eigenen Schuppen nicht mehr im Griff und müssen ihn zwanzig Jahre später sogar teilen: in Westrom und Ostrom. Rom selber spielt dabei kaum noch eine Rolle, die Hauptstadt Westroms wird zunächst Mailand und dann Ravenna – und die Hauptstadt Ostroms ist Konstantinopel (anderer Name: Byzanz), das heutige Istanbul. Warum ist es nicht beim Namen Konstantinopel geblieben? Caterina Valente weiß es: «Istanbul, nicht Konstantinopel? Wenn man fragt, sagen alle Türken dann: Das geht nur die Türken etwas an!», heißt es in ihrem Song «Istanbul» von 1955.

Die Westgoten unter König Alarich kriegen den Hals nicht voll und machen sich auf nach Italien, Rom plattmachen. Gesagt, getan, geplündert. Dann weiter nach Süden, um Sizilien und Nordafrika zu kassieren. Alarichs Schiffe werden jedoch in einem Sturm zerstört, Alarich selbst stirbt und wird in einem Flussbett begraben.

Weiter im Norden kocht auch alles über: Von der heute dänischen Insel Bornholm (die bis ins Mittelalter noch Burgunderholm hieß) marschiert das Volk der Burgunden Richtung Südwesten an den Rhein. Hier dasselbe Spiel wie schon bei den Westgoten: vor ihnen die Römer – hinter ihnen die Hunnen. Und die beiden machen jetzt sogar gemeinsame Sache: Im Jahr 436 metzeln hunnische Hilfstruppen unter dem Befehl des römischen Heerführers Flavius in Worms die Burgunden unter ihrem König Gundahar nieder. Nur wenige Burgunden überleben, suchen sich später ein hübsches Plätzchen, nennen es Burgund und beschränken sich auf die Herstellung von Wein und Käse.

Literarische Feinschmecker haben’s längst gemerkt: Hier steckt einer der historischen Kerne des → Nibelungenlieds. Im Nibelungenmusical werden die Hunnen allerdings von König Etzel angeführt – der war aber bei der historischen Vernichtung der Burgunden gar nicht dabei, sondern marodiert woanders ein wenig durch Europa. Etzel, eigentlich Attila («Väterchen»), bekommt ein merkwürdiges Angebot: Die Schwester des weströmischen Kaisers war wegen eines pikanten Verhältnisses mit ihrem Kämmerer nach Konstantinopel verbannt worden. Um sich zu rächen, bietet sie sich Attila zur Frau an. Der greift zu und erhebt noch vor der Hochzeit konsequenterweise Mitgift-Ansprüche auf die Hälfte des Weströmischen Reichs. Der Kaiser lacht ihn aus, und Attila macht sich auf, um sein Recht militärisch durchzusetzen. Aber er kriegt eins auf die Mütze: 451 kommt es zur Schlacht auf den Katalaunischen Feldern westlich von Troyes in der Champagne. Die Hunnen verlieren. Der Ort der Schlacht wurde bis heute nicht gefunden. Wissenschaftlich bewiesen ist lediglich die Tatsache, dass sich die Schlacht dort auch heute noch akustisch jede Nacht wiederholt. Wenn Sie also in der Nähe von Troyes Urlaub machen und nachts Schwerterklirren hören, holen Sie Ihren Metalldetektor raus!

Etzel überlebt das Gemetzel, zieht sich zurück und stirbt in seiner Hochzeitsnacht an einem Blutsturz, bedingt durch eine Leberzirrhose vom Flatrate-Saufen. Und so gehen die Hunnen vor die Hunde. Die römischen Herrscher bringen sich munter gegenseitig um, und das war’s dann bald auch mit dem Römischen Reich. Innerhalb der nächsten zwanzig Jahre gibt es neun Schattenkaiser, arme Wichte ohne Einfluss. Ab jetzt übernehmen die Ostgoten das Ruder. Deren Chef ist Theoderich der Große – Theoderich, das ist der «Dietrich von Bern» des Nibelungenliedes. Und mit Bern ist nicht etwa die Bundesstadt der Schweiz gemeint. Bern, genauer Welschbern, ist der deutsche Name für Verona.

Die Spätzeit der Völkerwanderung und der «Kampf um Rom» werden 1876 in einem unfassbar schmalzigen Monumentalschinken gleichen Titels von Felix Dahn beschrieben. Eigentlich ein superspannendes Thema, aber die Geschichte ist so lang und weilig erzählt, dass Professor Dahn seine Scharteke dann doch lieber eigenhändig verbrennen wollte. Seine geschäftstüchtige Frau aber rettet das Monster-Machwerk aus dem Ofen. Wer interessiert ist, kann dort auf leserfreundlichen 1100 Seiten nachlesen, wie die Ostgoten dinosauriermäßig aussterben. Das Buch wird 1876 wider Erwarten ein Mega-Bestseller. Warum? Weil sich Deutschland im Zuge des gewonnenen Krieges gegen die Franzosen 1870/​71 ( Die Gründung des Deutschen Reichs) und seiner späten Nationwerdung seiner Vergangenheit vergewissert und in den Goten seine Reichs-Urahnen wähnt: Noch heute verdanken wir eine Menge Rheinschlösser von zweifelhafter Ästhetik, die Vollendung des Kölner Doms sowie ein paar schwülstige Balladen und die merkwürdigen Namen einiger Burschenschaften («Markomannia», «Suebia» etc.) dieser neugotischen Geschmacksverirrung.

Was bleibt also von der Völkerwanderung? Eine Handvoll Landschaftsbezeichnungen: England kommt von den Angeln, Schwaben von den Sueben, Katalonien von den Goten, die Lombardei von den Langobarden und Andalusien von den Vandalen. Und eine wichtige Entscheidung gibt’s später dann doch noch: Im Jahr 732 hält ein Franke namens Karl Martell («der Hammer») nördlich von Cognac (genauer: bei Tours und Poitiers) die Araber auf ihrem Vormarsch nach Norden auf. Zum Dank benennt ein entfernter Nachfahre 1000 Jahre später einen Cognac nach ihm. Prost. Ohne Karl Martell wäre Europa vermutlich islamisch geworden. Und Karls Enkel krempelt dann ganz Europa um. Sein Name: Karl der Große.

Karl der Große

Wie dem Papst die abgeschnittene Zunge nachwuchs

Die Helden sind müde. Erschöpft sitzen sie auf vermoosten Ruinen rum und erzählen davon, wie dufte früher alles war. Jetzt hingegen, seufz, ist alles verfallen, die Schwerter sind schartig, es herrscht Endzeitstimmung. Und tatsächlich tragen die Goten am Schluss von Felix Dahns Buchs «Ein Kampf um Rom» den Leichnam ihres letzten Königs Teja heim nach Thule. Das war 552. Seine drei Vorgänger Totila, Erarich und Hildebad waren samt und sonders ebenfalls im Kampf gefallen oder gemeuchelt worden. Erst 200 Jahre später, unter den Karolingern, bekommt Europa neuen Schwung, und die größten Verdienste daran hat Karl der Große.

Fangen wir mal mit dem Guten an: Karl führt die kleinen Buchstaben ein – und erfindet damit de facto die noch heute übliche Antiqua-Schrift. Er gründet Schulen, systematisiert Bibliotheken, lässt Inventarlisten erstellen und sichert so das kulturelle Gedächtnis Europas. Außerdem wird unter Karl dem Großen bei uns die Rose kultiviert. Ohne Karl gäbe es also heute keine Pakistanis, die abends «Wolle-Rose-kaufe?»-mäßig durch die Kneipen ziehen. Außerdem bittet Karl den Hofgelehrten Alkuin, eine Abhandlung darüber zu schreiben, ob es das «Nichts» gebe. Heutzutage ist die Frage geklärt und die Existenz des «Nichts» bewiesen: Man muss sich nur ein paar Minuten lang das Programm von Neun Live reinziehen.

 

Karls Hof aber steht in kultureller Blüte, es herrscht ein reger Gedanken- und Flüssigkeitsaustausch, zum Beispiel mit seinen zahlreichen Frauen und Nebenfrauen wie Fastrada, Luitgard, Madelgard, Gerswind oder Himiltrud, mit der er Pippin den Buckligen zeugte. Also eigentlich alles im Lack, aber, aber …: Da waren ja auch noch die Sachsenkriege!

Die Sachsen waren ein loser Haufen, der den Franken zwar tributpflichtig, aber nicht untertan war. Gelegentliche Hobbyraubzüge auf fränkisches Gebiet und die Weigerung, sonntags in die Kirche zu gehen, gaben Karl gute Kriegsgründe. Also reitet er 772 auf sächsisches Gebiet, da, wo heute Niedersachsen und Ostwestfalen liegen, nimmt eine Axt und zerstört die legendäre Irminsul, das säulenförmige religiöse Symbol für die heidnisch-germanische Weltesche Yggdrasil. Wenn sie gefällt wird, naht das Weltende. Sagt der Sachse. Karl aber sagt: Pfeif drauf, weg mit dem Plunder!

Die Sachsen sind natürlich voll sauer, ey. Sachsenfürst Widukind und seine Leute überfallen fränkische Siedlungen, töten Adelige. Dafür wiederum rächt sich Karl 782 mit dem «Blutgericht von Verden», bei dem er 4500 Sachsen umbringen lässt. Nicht nur die Zahl der Opfer, sondern auch das ganze Blutgericht ist in der Geschichtsschreibung umstritten, und daran sind die Nazis schuld: Adolf Hitler war nämlich ein begeisterter Verehrer Karls des Großen. Kein Wunder – ein König, der ungestraft Europa erobert, konnte Hitler prima als Legitimation dienen. Seine Bewunderung für Karl hielt die Nazis aber nicht davon ab, die heidnisch-germanische Irminsul zum Emblem ihrer grauenvollen angeblichen Forschungseinrichtung «Deutsches Ahnenerbe» zu machen. Tja, seine Fans kann sich eben keiner aussuchen. Dabei war Karl, der 4500 nordisch-germanische Kämpfer hinrichtet, eigentlich sowieso ein schlechtes nationales Vorbild. Zwickmühle. Also wird 1937 das «Blutgericht von Verden» trickreich zu einem Schreibfehler umgedeutet: Die 4500 Sachsen seien angeblich nicht «decollati», also lateinisch «enthauptet», sondern «delocati», «umgesiedelt» worden. Die Geschichtsschreibung ist manchmal eine verdammte Hure.

Zu Beginn des Sachsenfeldzugs hatte Karl auch noch eine Baustelle im Süden: 770 lebt Karls jüngerer Bruder Karlmann noch, und die beiden sollten sich das Frankenreich eigentlich teilen. Teilen ist unter Brüdern aber gar nicht so einfach – und da Karl seinem Bruder nicht das Schwarze unterm Fingernagel gönnt, hat er sich Verbündete gegen ihn gesucht – die Langobarden in Norditalien. Er heiratet aus Kalkül die Schwester des Langobardenkönigs. Als Karlmann 771 überraschend stirbt, ist Karl plötzlich sowieso Alleinherrscher und das Bündnis mit den Langobarden nutzlos. Er jagt seine ungeliebte Frau wieder vom Hof, worauf der Langobardenkönig den Papst ersucht, Karl zu maßregeln und, bittschön, die Söhne Karlmanns zu Königen zu krönen.

Der Papst aber ist nicht doof und sagt den Langobarden ab. Karl ist natürlich trotzdem ziemlich angefressen, setzt sich in den Wagen und fährt nach Italien, um den Langobarden zu zeigen, wo der Bär den Honig holt. Nachts im Feldlager in den Schweizer Alpen kommt ein langobardischer Spielmann mit einer Flöte als Überläufer zu Karl und verspricht, ihm einen Geheimweg in den Rücken der Langobardenfront zu zeigen. Als Belohnung verlangt er nichts als ein bisschen Landbesitz – und zwar so weit, wie man sein Instrument hören könne. Karl sagt zu, aber der Spielmann ist schlau: Er stellt sich mit einem Monsterhorn auf einen Gipfel und bläst, was das Zeug hielt. Das Alphorn ist erfunden.

Karl gelangt jedenfalls unbehelligt nach Italien, belagert die lombardische Hauptstadt Pavia so lange, bis die Langobarden Hunger bekommen und aufgeben. Am nächsten Tag bereits lässt Karl sich Visitenkarten drucken mit dem Titel «König der Lombardei».

Frieden ist aber immer noch nicht. Im Osten nerven die Awaren, im Westen gehen ihm die Sarazenen auf den Zeiger, und nur mit Hilfe der Einwohner einer kleinen Stadt in den Pyrenäen vermag Karl die Sarazenen zurückzudrängen. Zum Dank verleiht er dieser Stadt die staatliche Unabhängigkeit. Seitdem gibt es Andorra, das Karl den Großen sogar noch heute in seiner Nationalhymne besingt. Karl unterwirft noch schnell Bayern, dann wird es endlich ruhiger, und er hat Zeit, sich Gedanken zu machen, wie es weitergehen soll.

Tipp für kleine Männer: XXL-Kronen tragen und sich «der Große» nennen! 

Mitten in die Knopperspause aber kommt Kunde aus Rom: Papst Leo III. hatte Ärger mit dem römischen Stadtadel: Man wirft ihm Meineid und Ehebruch vor, das Übliche halt. Es geht sogar das Gerücht, man habe ihm die Augen ausgestochen und die Zunge abgeschnitten.

Er flieht nach Paderborn zu Karl, der allerdings feststellt, dass dem Papst Zunge und Augen wieder nachgewachsen waren. Ein Wunder, ist klar. Die beiden verbringen in Ostwestfalen ein paar lauschige Tage bei Pils, Korn und Frikadelle mit Senf und kungeln was aus: Karl beschützt Leo vor den blöden Römern, und Leo krönt Karl zum Kaiser des Römischen Reiches. Win-Win-Situation. Und dann, Weihnachten 800 in Aachen, ist es so weit: Das Römische Reich hat wieder einen Kaiser, das Reich ist von nun an sogar «Heilig», weil es von der Kirche legitimiert ist. Die Antike ist zu Ende, das Mittelalter ist erfunden, ab sofort spricht man Althochdeutsch, jedenfalls südlich von Düsseldorf.

Das ist natürlich ein Grund für Party: Der Patriarch von Jerusalem schickt als Präsent die Schlüssel zum Heiligen Grab, und zur Feier des Tages fed-ext der Kalif von Bagdad einen Elefanten nach Aachen, der am 20. Juli 802 auch festlich ankommt, leider aber acht Jahre später im Rhein ertrinkt. Der Kalif damals war übrigens Harun al Raschid – das ist der Typ aus 1001er Nacht, der sich gerne verkleidet unter seine Untertanen mischte, um deren Meinung über sich zu erfahren – so eine Art frühmittelalterliches Selbstgoogeln.

Karl jedenfalls muss seine Visitenkarte wieder vergrößern:

«KAROLUS SERENISSIMUS AUGUSTUS
A DEO CORONATUS MAGNUS PACIFICUS
IMPERATOR ROMANUM GUBERNANS IMPERIUM,
QUI ET PER MISERICORDIAM
DEI REX FRANCORUM ATQUE LANGOBARDORUM.»

(«KARL, DURCHLAUCHTESTER AUGUSTUS,
VON GOTT GEKRÖNT
UND GROSSEN FRIEDEN STIFTENDER KAISER,
DAS RÖMISCHE REICH REGIEREND,
DURCH DIE GNADE GOTTES AUCH KÖNIG
DER FRANKEN UND LANGOBARDEN.»)

Mit neun Frauen und achtzehn Kindern hat er auch seine Nachfolge einigermaßen geregelt, jetzt gilt es nur noch, das Reich zu sichern. Und dafür hat er eine famose Idee: den Feudalismus.

Weil alleine die Verwaltungskontrolle über ein so großes Gebiet ja gar nicht zu leisten ist, leiht Karl ausgewählten Fürsten einzelne Territorien. Im Gegenzug für diese «Lehen», die Voraussetzung für die spätere Bildung von Nationalstaaten sind, erhält er Kriegsdienste. Die Vasallen können ihrerseits wiederum Lehen vergeben etc., wie ein Baumdiagramm mit immer kleineren Parzellen. Ganz unten steht der Leibeigene – und ganz oben der Kaiser, der als oberster Vasall nur seinem Lehensherrn Gott verantwortlich ist.

Sind wir durch? Fast. Vielleicht sollte man noch erwähnen, dass es durchaus Wissenschaftler gibt, die behaupten, es habe Karl den Großen nie gegeben – ja sogar, die gesamte Zeit von September 614 bis August 911 habe überhaupt nicht stattgefunden, sondern sei ein gigantischer Betrug der Geschichtsschreibung. Und tatsächlich gibt es nur eine einzige Münze mit dem Porträt Karls des Großen – andererseits aber Tausende von Dokumenten, die ja dann alle gefälscht sein müssten, auch die Chronik Einhards, aus der wir weitgehend die Kenntnisse über Karl beziehen. Von der universitären Forschung wird die Verschwörungstheorie des «erfundenen Mittelalters» weitgehend ignoriert oder abgelehnt. Aber mal angenommen, die These stimmt: Dann hat der Verfasser des gefälschten Dokuments über das Nichts immerhin Humor bewiesen.

Die Kreuzzüge

Ritter Stinkefuß

Wie kann man sich nur so unfassbar in die Scheiße reiten? Da sitzt im Mai 1291 das letzte Häuflein in der galiläischen Festung Akkon rum – 17 000 einst stolze Kreuzfahrer des Königreichs Jerusalem warten verzagt, verlaust und zerlumpt auf den Tod. Denn die Mamelucken kommen – 220 000 bis an die Zähne bewaffnete ehemalige Sklaven, die längst das gesamte Gebiet beherrschen und jetzt Festung nach Festung ausräuchern, um auch den letzten Christen aus dem «Königreich der Himmel» zu vertreiben.

Wer fliehen kann, der flieht: Draußen vor der Stadt ankern ein paar Galeeren aus Genua und Venedig – im Hafen prügeln sich Zivilisten, Söldner, Ritter, Frauen und Priester um die letzten Plätze. Verwundete, Kinder, Kranke werden ins Meer gestoßen. Roger de Flor, ein katalanischer Schlagetot, wird reich, indem er auf seinem Boot Flüchtlinge für ein Heidengeld aufnimmt, sie draußen vor dem Hafen ins Meer schmeißt, um am Kai sofort wieder eine neue Fuhre Christen aufzunehmen. Eine Kreuzfahrt auf dem «Traumschiff» sieht anders aus. Wenige Tage später fällt Akkon, die Bewohner werden aufgespießt, geköpft oder erstochen. Das christliche Königreich Jerusalem ist nach fast 200 Jahren Geschichte.

 

Dabei hat die Sache eigentlich dufte angefangen: Papst Urban II. hatte zum Kreuzzug gerufen. Das von den Türken besetzte Heilige Grab in Jerusalem müsse befreit werden. In einer Rede am 27. November 1095 verspricht er jedem Kreuzfahrer Geld und den Einzug ins Paradies. Im Gegenzug dafür müsse man sich lediglich ein Kreuz auf die Brust sticken und in Jerusalem die Ungläubigen vertreiben. Auf diese Weise kann Urban unliebsame Fürsten und Könige in den Nahen Osten abschieben und so seine Herrschaft in Mitteleuropa und Italien festigen. Für viele zweitgeborene Fürstensöhne, die beim Erbe leer ausgingen, verbindet sich mit dem Kreuzzug die Hoffnung auf neue Ländereien und Reichtümer. Aber auch einfache Menschen haben beim Kreuzzug eine Menge zu gewinnen: eine Pilgerreise in Armut zu den Ursprüngen des Glaubens samt Seelenheil im Jenseits. Das wird dann auch zum Schlachtruf der 70 000 Kreuzfahrer: «Deus lo vult» – Gott will es. Später, als dann Moslems und Christen aufeinander einkloppen, rufen die einen: «Allahu akbar», «Gott ist groß», und die anderen: «Gott will es». Wie im Kindergarten.

 

Noch vor dem offiziellen Aufbruch aber zieht der «Kreuzzug des Volkes» los: zum großen Teil Phantasten, die den Heiligen Schweif eines Esels verehren oder einer von Gott erleuchteten Gans folgen. Das kann ja nicht gutgehen: Hinter Konstantinopel besetzen die Volkskreuzfahrer die Burg Xerigordon und werden dort kurzerhand von den Türken ausgehungert. Ihr Führer Rainald lässt sich beschneiden und tritt zum Islam über.

Der Rest wird niedergemetzelt, nur ein paar Versprengte finden den Weg zurück zum christlichen Außenposten Konstantinopel, der bereits von der nächsten Welle überrollt wird – vom regulären Kreuzzug mit den echten Rittern.

Die machen’s nicht besser, aber sind immerhin originell. Bei der Belagerung der ersten moslemischen Stadt, Nicäa, setzen die Kreuzfahrer eine besondere Form von biologischerKriegsführung ein: Mit Katapulten schleudern sie die Köpfe von Feinden, infizierte Tierleichen oder Bienenkörbe in die besetzte Stadt. Weiter geht’s, noch 1000 Kilometer bis Jerusalem. Vermeintliche fünf Wochen, aus denen zwei Jahre wurden.

Kreuzfahrt ins Glück (läuft aber nicht im ZDF)

Immerhin ist man bis Antiochia gekommen, aber die Kreuzfahrer haben die Faxen jetzt wirklich dicke: Sie sind pleite. Es gibt nichts zu essen. Sie sind durstig und haben unterwegs bereits die Hälfte ihrer Mitstreiter verloren: in Scharmützeln gegen die Türken, durch Krankheit oder durch Entkräftung infolge von Gewaltmärschen über das Taurusgebirge. Mit letzter Kraft erobern sie noch die Festung Antiochia – doch leider ist schon ein riesiges Türkenheer unter Führung des Emirs von Mossul unterwegs nach Antiochia, um den christlichen Kreuzfahrern die Kehlen durchzuschneiden. Was nun? Panik greift um sich: Der französische Graf Stephan von Blois flieht zurück nach Frankreich (und wird dort von seiner Frau als Feigling beschimpft), Spione werden wie Spanferkel auf dem Rost gegrillt, ein Ei kostet mittlerweile zwei Goldmünzen. Es ist ein Kreuz mit der Kreuzfahrt.

Aber dann hat einer von ihnen, ein übelbeleumundeter Bauer namens Peter Bartholomäus, eine Vision à la Hildegard von Bingen: Im Traum sei ihm der heilige Andreas erschienen und habe ihm verraten, dass in einer Kirche die heilige Lanze, die Jesus Christus in die Seite gestoßen worden sei, vergraben sei. Peter gräbt ein bisschen in der St. Peterskirche in Downtown Antiochia rum und – ei der Daus! – findet eine Lanze. Die Kreuzfahrer sind begeistert: ein Zeichen, ein Zeichen!

Neu motiviert wagen sie einen Ausfall gegen das Türkenheer, und siehe da: Die Türken werden geschlagen! Die heilige Lanze ist jetzt eine große Nummer und Peter Bartholomäus ein Held. Der Weg nach Jerusalem steht offen!

Leider hat Bartholomäus noch weitere Visionen: So sollen die Kreuzfahrer zum Beispiel barfuß nach Jerusalem ziehen. Außerdem bezieht der heilige Andreas im Traum wiederholt auch politisch Stellung und spricht dummerweise immer für die provenzalischen Fürsten, nie für die normannischen Herzöge. Die werden langsam sauer und bezweifeln den göttlichen Ursprung der Lanze. Peter ist tödlich beleidigt und fordert als Gottesurteil die Feuerprobe: Er will, mit der Lanze bewaffnet, durch eine brennende Gasse gehen. Sollte er unverletzt hindurchkommen, sei Gott auf seiner Seite und die Lanze wahrhaft heilig. Gesagt, getan: Peter Bartholomäus rennt mit der Lanze durch die Feuergasse und stirbt jämmerlich an seinen Verbrennungen. Trotz des schlechten Omens wird Jerusalem dann aber schließlich doch noch erobert – und in einem Blutrausch werden alle Moslems getötet. Die Nachricht vom Sieg erreicht Papst Urban in Rom aber nicht mehr. Der ist sechs Tage zuvor gestorben.

 

Mit der Eroberung Jerusalems haben die Kreuzfahrer schon den Höhepunkt erreicht – von nun an geht’s bergab. Bis hin zu jenem jämmerlichen Ende 1291 auf der Festung Akkon. Aber zunächst: Wer sind denn überhaupt die Big Player im Kreuzfahrtbusiness?

Da ist einmal der Normanne Bohemund, ein riesiger und ungehobelter Rüpel. Als man ihm einst riet, Nordafrika zu christianisieren, hob er ein Bein hoch, furzte kräftig und polterte, selbst der Furz spreche sinnvoller als der Berater. Bohemund hasst Byzanz und hält seine Bewohner mit ihren farbigen, wallenden Gewändern für eine Ansammlung von Schwuchteln.

Dann wäre da Bohemunds Widersacher in den eigenen Reihen, der Provenzale Raymond von Toulouse, ein reicher, einäugiger Graf. Er wird bei der Eroberung Jerusalems zum König gewählt, lehnt das aber mit der Begründung ab, er wolle keine Krone in einer Stadt tragen, in der Jesus eine Dornenkrone trug. Doof von ihm, denn so geht er leer aus.

Gottfried von Bouillon nimmt kurzerhand die Krone an, die Raymond abgelehnt hat. Er erfindet den Titel «Beschützer des Heiligen Grabes» und wird mit diesem Kniff de facto der erste König des Königreichs Jerusalem.

Für Gottfrieds Bruder Balduin sehen die Dinge zunächst nicht rosig aus. Beim Gewaltmarsch über das Taurusgebirge stirbt seine Frau und damit Balduins Hoffnung, das Vermögen ihres Vaters zu erben. Sein neuer Karriereplan: sich irgendwo in der Gegend als unabhängiger Herrscher niederzulassen, in Edessa zum Beispiel. Der bisherige Fürst von Edessa adoptiert Balduin netterweise und setzt ihn als Erben ein. War bestimmt nur Zufall, dass der Fürst vier Wochen später ermordet wird. Doch dann stirbt plötzlich Balduins Bruder Gottfried, und er wird auf einmal König von Jerusalem! Spitze!

Und dann ist da noch Tankred von Tarent, Bohemunds Neffe. Bei der Belagerung von Jerusalem bekommt Tankred Durchfall – zum Glück! Warum zum Glück? Der ägyptische Statthalter von Jerusalem hatte alle Bäume in der Umgebung fällen lassen, um den Besatzern den Bau von Belagerungsmaschinen unmöglich zu machen – und als Tankred sich wegen des flotten Ottos in eine Höhle zurückzieht, stößt er auf 400 gefällte Baumstämme – und baut damit Belagerungsmaschinen. Hurra!

Man sieht: Die Einzelinteressen der Kreuzfahrer lassen sich nur schwer mit den gemeinsamen christlichen Anliegen vereinbaren. Kein Wunder, dass sich die Fürsten mehr untereinander bekriegen, als gegen die Moslems zu kämpfen. Sie haben bloß Glück, dass es den Moslems ebenso geht. Später vergessen die Kreuzfahrer sogar ihr eigentliches Ziel, Jerusalem. Viel wichtiger sind ihnen die Hafenstädte, denn dort kann man Handel treiben und reich werden, was vor allem Zypern, Genua und Venedig nutzt, aber dazu später.

So gehen die Jahre ins Land: Auf Balduin I. folgt Balduin II., dann irgendwann Balduin III., Balduin IV. und Balduin V. Aber insgesamt geht es ziemlich bergab: Edessa fällt zurück an die Türken, was Anlass für einen zweiten Kreuzzug ist, der vor den Toren von Damaskus jämmerlich versandet.

Die Rückeroberung Jerusalems durch den Sultan Saladin ist Anlass für einen dritten Kreuzzug, der noch erbärmlicher endet: Kaiser Friedrich Barbarossa ertrinkt unterwegs beim Baden (Nibelungenlied), worauf jene Hälfte des Heeres, die nicht erster Klasse gebucht hatte, wieder umkehrt. Die andere Hälfte kommt aber auch gerade mal bis Akkon.

Eine Atempause verschafft den Kreuzfahrern wenigstens Richard Löwenherz, der Teile des Königreichs Jerusalem zurückerobern kann. Dabei legt sich Richard dummerweise mit dem österreichischen Herzog Leopold an. Leopold zieht sich beleidigt nach Österreich zurück und bringt die heutige österreichische Fahne mit: Sein weißer Waffenrock war vom Kampf so rot vom Blut der Gegner, dass er beim Ablegen seines Gürtels nur noch einen weißen Streifen in der Mitte hatte – Rot-Weiß-Rot! Bingo! Am Ende dreht Leopold aber auch Richard eine lange Nase: Der muss nämlich auf dem Weg zurück nach England durch Österreich. Hier lässt Leopold ihn verhaften und erst Jahre später gegen ein Lösegeld von 6000 Eimern Silber wieder ziehen. Von dem Geld hat Poldi übrigens die Wiener Neustadt gebaut.

Während Richards Haft bemächtigt sich in England sein Bruder John des Throns und beutet zusammen mit dem Sheriff von Nottingham das Volk aus – ein Anlass für Robin Hood, mit einem lustigen Mützchen Robin Hood zu spielen.

Aber weiter mit den Kreuzzügen, immer weiter – der vierte Kreuzzug läuft völlig aus dem Ruder: Statt Jerusalem wird aus Versehen (oder aus Habgier) das zwar reiche, aber sowieso längst christliche Byzanz erobert und geplündert. Die gierigen Deutschen raffen Gold an sich, während die kunstsinnigen Venezianer die schönsten Kunstwerke auswählen, nach Venedig entführen und damit den Dogenpalast schmücken. Die Plünderung Konstantinopels ist übrigens der Ursprung für das bis heute schwierige Verhältnis zwischen der christlich-orthodoxen und der katholischen Kirche.

Fünfter Kreuzzug: Es wird immer schwieriger für den Papst, noch Leute zu rekrutieren. Das liegt daran, dass er mittlerweile in Europa innere Feinde bekämpfen muss, nämlich die Katharer. Die Katharer werden von Rom als Ketzer betrachtet – ja, der Begriff «Ketzer» leitet sich sogar vom lateinischen cathari ab. Und weil die dem Papst so viel Stress machen, verspricht er jedem, der sich gegen die Katharer wendet, die gleichen Privilegien im Jenseits wie einem Kreuzfahrer. So, jetzt mal nachdenken: Warum soll ich mich also im staubigen, heißen Antiochia von einem Turbanträger aufschlitzen lassen, wenn ich hier für den gleichen Jenseitslohn harmlosen Katharern den Hintern versohlen kann?

Ein paar Unverdrossene finden sich trotzdem, unter ihnen auch Franz von Assisi, der sogar vor dem Sultan predigen darf – und fast hätte es eine Sensation gegeben: Sultan Kamil ist verhandlungsbereit und will den Kreuzfahrern alles zurückgeben. Aber wieder einmal muss man sich vor den Kopf schlagen: Ein Kardinal namens Pelagius weigert sich kategorisch, mit Ungläubigen zu verhandeln, zieht weiter und versackt mit seinem Heer im Morast, wo er von frischen muslimischen Truppen vernichtend geschlagen wird.

Jetzt aber! Jetzt kommt Mr Cool: Stauferkönig Friedrich II., der Enkel des ertrunkenen Friedrich Barbarossa! Friedrich wird stupor mundi, das «Erstaunen der Welt», genannt. Er schrieb ein bis heute gültiges Buch über die Falkenzucht und erfand das Rechnen mit der Null. Auch kreuzzugstechnisch hat er’s besser drauf als seine Vorgänger: Er landet in Akkon, kleidet sich in orientalischem Prunk und umgibt sich mit einer moslemischen Leibgarde. Verrückt! Der Sultan war ja eh verhandlungsbereit – und Friedrich schlägt prompt zu: Er lässt sich zum König von Jerusalem krönen!

Friedrich bleibt aber nicht lang, und seine Statthalter – man ahnt es schon – verdödeln die Chose wieder, sodass es zwar immer einen nominellen König gibt, die Herrschaft aber wieder an die Ägypter zurückfällt. Deshalb gibt es heute übrigens fünf potenzielle Erben des Titels «König von Jerusalem», unter anderem König Juan Carlos von Spanien und Karl von Habsburg, der Enkel des letzten österreichischen Kaisers (Erster Weltkrieg). Nach der Abdankung → Karls V. 1556 und der damit verbundenen Aufteilung seines Reichs in Österreich und Spanien wurden die eh nur noch theoretischen Erbrechte nie ganz geklärt.

Kreuzzug Nummer sechs wird von Ludwig dem Heiligen angeführt – einem frommen Mann: Weil an einem Freitag Christus gekreuzigt worden ist, hat er an Freitagen nie gelacht, also kein Typ für den Fun-Freitag bei SAT1. Dieser Kreuzzug geht auch schon gar nicht mehr nach Jerusalem, sondern nach Kairo, wo die wahren Beherrscher von Jerusalem sitzen. Auch Ludwig versumpft im Nildelta und wird von den Mamelucken des Sultans gefangen genommen. Diese Mamelucken, ehemalige Sklaven und Emporkömmlinge, revoltieren im gleichen Jahr gegen ihre Herren und übernehmen die Macht in Ägypten.

Siebter Kreuzzug: Ludwig der Heilige versucht noch einmal, Ägypten zu erobern, diesmal von Tunesien aus. In Karthago erkrankt er jedoch an der Ruhr, reicht den Stab weiter an Karl von Anjou und stirbt dann an Durchfall und Entkräftung. Karls Flotte gerät in einen Sturm und sinkt. Der Weg für die Mamelucken ist frei – und die machen den Sack zu: Sie erobern eine Burg nach der anderen, bis sie schließlich vor Akkon stehen. Mit der Vernichtung der letzten Kreuzritterbastion fängt unsere Geschichte ja an – und damit endet sie auch.

 

Wer hat denn jetzt eigentlich gewonnen? Die Antwort ist einfach: Genua und Venedig. Die sind reich geworden mit ihren Schiffen und dem Seehandel. Außerdem hat gewonnen: die europäische Kultur. Mit dem kulturellen Austausch zwischen Europa und Arabien weitet sich der Blick des mittelalterlichen Menschen. Am Horizont zeigen sich schon die Renaissance und der Humanismus. Europäische Handelsfamilien (zum Beispiel die Medici oder die → Fugger) etablieren sich, weil sie von den Arabern das Kredit- und Bankenwesen gelernt haben. Und in der europäischen Ependichtung werden die Heldentaten des Rittertums aufs schönste verewigt.

Das ist ja das Wundervolle an Poesie: Man liest nur das Schöne. Dass Ritter Blablahad aber ganz fürchterlich aus dem Maul gestunken hat und Prinzessin Krinoline völlig verlaust war, das erfahren wir in den Ritterepen nicht. Aber wer die Geschichte der Kreuzfahrer kennt, kann es sich denken.