Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2021
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Lektorat Marie-Ann Helle
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Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
Coverabbildung Julia Christians
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
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ISBN 978-3-644-40629-2
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
ISBN 978-3-644-40629-2
vergessen habt, was in Band 1 passiert ist
Band 1 nie gelesen habt (ach, es gibt einen Band 1?!)
ein Buch grundsätzlich von vorne bis hinten durchlest (brav)
eigentlich noch mitten beim Lesen von Band 1 seid, aber schon mal spicken wollt, was passiert (tss, tss, tss)
euch dieses Buch vorlesen lasst, obwohl ihr bestimmt schon lesen könnt und der Vorlesende keine Ahnung hat, worum es geht
Hier erfahrt ihr, was bisher geschah:
Carla Niemann war ein ganz normales 11-jähriges Mädchen. Mit halblangen Haaren, einer Nase, einer (stinkenden) großen Schwester, (peinlichen) Eltern und mit einer besten Freundin, Herta. Carla liebte Listen, Skizzen und ihre Ruhe. SO war es zumindest. Bis zum Beginn des neuen Schuljahres. Dann wurde aus Carlas Leben eine Tragödie in drei Teilen.
Herta zog ans andere Ende der Welt.
Jole, der Neue in der Klasse, zog in ihr Leben ein.
Carla löste sich in Luft auf.
(Also natürlich nicht ganz, sonst wäre es schwer, ein Buch über sie zu schreiben.)
Es war unglaublich: Immer wenn sie in eine peinliche Situation geriet oder nervös wurde, verschmolz sie mit der Umgebung. Wie ein Chamäleon. Kein Scherz. Unmöglich! Unheimlich! Krank!, dachte Carla und holte sich bei Dr. mäd. Haubenmacher Rat. Der Psychologe diagnostizierte Chamäliose – für die er kein Gegenmittel kannte.
Beim Auftritt mit dem Chor der Klasse kam es dann zur Katastrophe: Carla schämte sich so sehr, dass sie vor dem Publikum mit der Umgebung verschmolz. Danach war sie für alle der totale Freak. Nur für Jole nicht. Er fand die Chamäliose superspannend. Und er war nicht der Einzige. Carla merkte nicht, dass sie schon seit einiger Zeit von einem Geheimbund beobachtet wurde.
Carla wollte aber kein Chamäleon sein, sie wollte einfach normal sein. Zum Glück schickte Herta vom anderen Ende der Welt eine mysteriöse Tablette gegen Chamäliose. Doch die schluckte der Pinguin, der gerade bei Familie Niemann zu Gast war. Herr Ping konnte auf einmal reden (leider nur in Reimen) und bekam eine lange Schleuderzunge (leider küsste er damit gerne auf die Wange). So konnte der Pinguin nicht wieder zurück in den Zoo! Als Jole den Pinguin zusammen mit Carla zu sich nach Hause bringen wollte, wurden die drei entführt. Sie wurden zum Big Boss, dem Chef des Geheimbundes «Die Kavaliere» gebracht. Dort erfuhren sie, dass alle «Kavaliere» unauffällige Menschen waren, die im Geheimen und unerkannt Gutes taten. Der Big Boss, von dem keiner genau wusste, wer er war, bat Carla um Mithilfe.
Doch Herta hatte mittlerweile eine zweite Tablette geschickt. Mit der wollte Carla dem ganzen Irrsinn ein Ende machen. Jole schaffte es, sie vorerst davon abzuhalten. Schließlich wusste man nichts über die Nebenwirkungen. Und außerdem: Für ihn war Carla kein Freak, sondern eine Superheldin!
Und so beginnt das zweite Abenteuer der Superheldin wider Willen, Carla Chamäleon …
Der Himmel war aschgrau. Erste Regentropfen färbten den Asphalt schwarz. Die Leute setzten Kapuzen auf, schlugen Mantelkrägen hoch, spannten Regenschirme auf und verschlossen ihre Gesichter. Ein Montag und ein Muffeltag, wie gemacht dafür, zu Hause auf dem Bett zu liegen und mufflig zu sein.
Carla Niemann spürte einen Regentropfen auf der Nase, denn sie lag nicht im Bett. Sie stand vorm «Onkel-Emil-Laden», einem kleinen Geschäft, das Zeitschriften, Lottoscheine, Postkarten und Bürobedarf verkaufte. Dabei brauchte sie weder eine Zeitschrift noch Stifte noch Postkarten. Carla Niemann hatte einen Auftrag.
Schon von weitem entdeckte Carla Jole. Ihre Augen lächelten kurz. Jole lief mit großen Schritten den Gehweg entlang auf sie zu. Die Kapuze an seiner dunkelblauen Jacke wippte, sein Scheitel klappte von einer Seite zur anderen. Seine Wangen waren gerötet, als wäre er den ganzen Weg gerannt. Über der Schulter trug er eine gelbe Kühltasche, aus der ein Pinguinkopf herausragte.
«’tschuldige, sind … bisschen … spät», keuchte Jole, fuhr sich durch den Scheitel, und seine Augen schimmerten wie grüne Murmeln, mit denen Carla als kleines Kind immer gespielt hatte. «Herr Ping wollte unbedingt noch ein Eisbad nehmen. Also, Badewanne, Eiswürfel, weißt du?»
Herr Ping warf mit krächzender Stimme, halbgesenkten Augenlidern und wackelndem Kopf ein: «Jo, Baby, hüpf in die Wanne – sonst Panne. Hör ma’ – viel Eis macht mich heiß!»
«Viel Eis macht deine Reime scheiß, würde ich sagen», erwiderte Jole.
Carla sah verunsichert von Herrn Ping zu Jole. Sie hatte nur mit einem Ohr zugehört. Das andere Ohr lauschte den Gedanken in ihrem Kopf. «Okay, können wir jetzt?», fragte sie und war erschrocken, wie leise ihre Stimme klang. Ein kleiner Junge schob sich gerade an ihr vorbei und betrat den Onkel-Emil-Laden. Carla sah ihm hinterher und blinzelte nervös.
«Aufgeregt?», fragte Jole.
Carla schielte zu Jole, zog die Augenbrauen zusammen und nickte gleichzeitig. Ja, sie war aufgeregt. Ein bisschen. Vielleicht ein bisschen sehr. Wie ein dicker, deftiger Brei hatte sich die Aufregung in ihrem Magen breitgemacht, sodass Carla den ganzen Tag kaum etwas gegessen hatte. Tante Mildred schwor gerade auf Magerquark-Diät. Carla vermutete, dass dreimal täglich Aufregung wirkungsvoller war. Und eben auch … na ja, aufregender.
Es war Carlas erster Auftrag im Namen der «Kavaliere». Der Geheimbund wollte, dass Carla den Besitzer des Ladens beobachtete. Denn den «Kavalieren» war zu Ohren gekommen, dass dieser gute Onkel Emil gerne mal ganz böse betrog. Wiederholt hatte er vor allem Kindern und alten Leuten zu wenig Wechselgeld herausgegeben. Carla sollte nun herausfinden, ob das stimmt, indem sie sich im Laden unsichtbar machte und alles genau beobachtete. Eingreifen sollte sie zum Glück nicht. So etwas machten wohl nur fortgeschrittene Kavaliere.
Trotzdem, auch eine stumme, unsichtbare Beobachterin konnte sich in die Hose machen. Natürlich nicht wortwörtlich, hoffte Carla zumindest. Sie presste die Lippen zusammen, dass sie ganz blass wurden, und wickelte eine Strähne ihrer hellbraunen Haare um den Zeigefinger. Immerhin, sie war nicht allein. Sie hatte einen Freund. Und einen Pinguin.
«Also los», sagte Jole, bevor er von Carlas Nervosität noch angesteckt wurde. «Ich mache mich zum Eimer, und du schämst dich dafür zum Chamäleon.» Mit diesen Worten öffnete er die Tür zum Onkel-Emil-Laden.
Carla holte noch einmal tief Luft, dann folgte sie Jole.
Der kleine Laden war vollgestopft mit Regalen und Drehständern. Darin steckten Zeitungen und Zeitschriften, stapelten sich Hefte, Blöcke und Mappen, lagen Patronen, Stifte und Büroklammern. Neben dem Verkaufstresen stand ein Postkartenständer. Carla nahm vorsichtig eine Postkarte aus dem Ständer, tat so, als würde sie die Karte ansehen, und schielte zum Verkäufer.
Onkel Emil stand hinter dem Tresen und erinnerte Carla an einen Wachhund. Kleine, helle Augen blitzten in seinem runden, roten Gesicht. Direkt an sein Doppelkinn schloss sich ein rot-weiß kariertes Hemd, das über dem dicken Bauch spannte. Seine ebenfalls rötlichen Hände lagen wie Tatzen auf dem Tresen.
«He!», rief er auf einmal Carla zu. «Nur angucken, nicht knicken, Fräuleinchen!»
Carla zuckte zusammen und steckte die Postkarte mit zittrigen Fingern zurück. Dabei fiel ihr Blick hinter den Tresen. Onkel Emil stand auf einer Kiste. Ohne diese Kiste dürfte er nicht viel größer als Jole und Carla sein.
«Vagina. Wichtige Fakten, die ihr zur Scheide kennen solltet!», rief Jole plötzlich durch den Laden.
Carla traf der Satz wie ein Blitz. Nicht mit elektrostatischer Ladung, sondern mit hochnotpeinlicher Ladung. Sie erstarrte, sozusagen zum Postkartenständer, vor dem sie stand, und schaute zu ihrem Freund.
Jole hatte eine Frauenzeitschrift aufgeschlagen und las Herrn Ping laut daraus vor. Herr Ping wirkte interessiert. Eine ältere Dame, die gerade ein Backheft aus dem Regal genommen hatte, sah Jole entsetzt an.
Schon bemerkte Carla, dass es in ihren Füßen zwickte und kribbelte. Der dicke Aufregungsbrei in ihrem Magen war mit einem Mal verschwunden. Er wurde von etwas viel Gewaltigerem hinweggespült: der Chamäliose.
Sie rollte einer tosenden Welle gleich an. Wie lauter kleine Kieselsteinchen, die das Meer mit sich trug, überschwemmte sie Carla, breitete sich von unten nach oben über ihren Körper aus. Carla spürte die Chamäliose in den Kniescheiben, am Rücken, in den Fingerspitzen, sogar an den Ohrläppchen. Überall. Ihr war heiß und kalt, in ihren Ohren rauschte ein Meer.
Obwohl Carla seit Beginn des Schuljahres schon mehrmals mit der Umgebung verschmolzen war, war diese Verwandlung ihres Körpers noch immer unheimlich für sie. Dass ihre Klamotten plötzlich aussahen wie Kies, Rasen oder Fußbodenbelag, war erschreckend genug. Dass aber auch ihre Hände und ihr Gesicht, ja dass Carla Niemann komplett, mit Haut und Haaren, das Aussehen der Umgebung annahm, war noch immer ein Albtraum im Wachzustand. Und nicht nur das. Carla nahm auch die Eigenschaften der Umgebung an. Verschmolz Carla mit einem Rasen, dann war sie Rasen. Verschmolz sie mit einer Steinmauer, war sie aus Stein. Was ein früherer Angreifer bereits zu spüren bekommen hatte.
Vorsichtig senkte Carla jetzt den Blick auf ihre Beine. Ihre Jeans und ihre schwarz-weißen Turnschuhe waren nicht mehr zu erkennen. Carlas Beine waren mit den schmutzig weißen Fliesen im Laden verschmolzen. Ihr Rumpf, ihre Arme, der ganze Rest des Körpers war zum Postkartenständer geworden. Carlas Bauch und Oberkörper zierten Ansichtskarten der Stadt. Ihren linken Arm glitzernde Geburtstagskarten, den rechten hellblaue und rosafarbene Glückwunschkarten zur Geburt.
Die Chamäliose tobte und rauschte in ihrem Körper. Carla Niemann war unsichtbar.
«Anatomisch ist die Klitoris eine verkleinerte Version der männlichen Eichel», las Jole weiter vor. «Wusstest du das schon, Herr Ping?»
Die ältere Dame sah Jole mit blasser Nase über die Schulter.
«Junger Mann!», rief der Verkäufer. «Erst kaufen, dann lesen. Klar? Is’ doch keene Bibliothek hier.»
Der kleine Junge, der kurz vor Carla ins Geschäft gegangen war, trat an den Ladentisch. Er hatte zerzauste blonde Haare, große braune Augen, eine Zahnlücke und war ungefähr fünf Jahre alt. In der linken Hand hielt er eine Packung Ka-Boom-Kaugummi, in der rechten einen Fünf-Euro-Schein. Der Kleine strahlte den Verkäufer an und legte den zerknüllten Fünf-Euro-Schein auf den Tresen, ohne sein Ka-Boom-Kaugummi auch nur eine Sekunde loszulassen.
Carla entdeckte einen Karton am Rand des Verkaufstisches, aus dessen Öffnung Kaugummipackungen ragten. Die Aufschrift auf dem Karton war grellbunt und verkündete: Ka-Boom-Kaugummi! Lass es krachen in Mund, Hals und Rachen! Nur 1,99 Euro!
Onkel Emil warf einen Blick auf den Kaugummi in der Hand des kleinen Kunden und tippte etwas in die Kasse. Dann griff er mit seiner Tatze nach den fünf Euro, grunzte kurz, faltete den Geldschein umständlich und schnaufend auseinander und schob ihn in die Kasse. Seine dicken Finger wühlten einen Moment im Fach mit den Münzen. Schließlich knallte er ohne ein Wort und ohne den Jungen anzusehen das Wechselgeld auf den Tisch.
«Danke!» Der Kleine lächelte.
Onkel Emil machte eine ungehaltene Kopfbewegung zur Tür. «Der Nächste!», grunzte er und sah Jole an, der sich mit der Frauenzeitschrift in der Hand und Herrn Ping in der Umhängetasche hinter den kleinen Jungen gestellt hatte.
Carla schielte angestrengt auf das Wechselgeld. Auf dem Tresen lagen ein Ein-Euro-Stück und zwei Fünfzig-Cent-Münzen. Zwei Euro!, dachte Carla. Der Typ hat den Kleinen echt beschissen!
Der Kleine griff gerade nach den Münzen, sah aber nur auf den Ka-Boom-Kaugummi in der anderen Hand. Seine Augen glänzten, er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und lächelte glücklich.
Carla sah den Jungen gerührt an. Wahrscheinlich, dachte Carla, hatte er die fünf Euro von seiner Oma geschenkt bekommen. Die wiederum sehr wahrscheinlich nur ganz wenig Rente bekam und trotzdem ihrem süßen Enkel mal eine Freude machen wollte. Kauf dir was Schönes, mein Schatz! Oder er hatte das Geld von seiner Mutter, die alleinerziehend mit acht Kindern zu Hause saß und die fünf Euro dem Jungen als Belohnung gegeben hatte, weil er zu Hause immer den Abwasch machte. Hol dir ’ne nette Kleinigkeit, mein Engel, aber ja nicht alles ausgeben, das Wechselgeld brauche ich noch!
Carla sah den Glanz in den Augen des kleinen Jungen, die gierigen Tatzenhände des Verkäufers und spürte plötzlich nicht nur die Chamäliose in sich, sondern eine dicke, fette Wut. Carla hielt es nicht mehr aus. Bevor der Kleine das Wechselgeld in seine Hosentasche stopfen konnte, sagte sie spontan mit verstellter Stimme, als käme sie aus einem Automaten: «Das – korrekte – Wechsel – geld – beträgt – drei – Euro – und – einen – Cent.»
Onkel Emil zuckte zusammen. Mit seinen hellen Wachhundaugen sah er sich im Laden um.
Der kleine Junge hielt die zwei Euro noch in der Hand und schielte fragend nach allen Seiten.
«Ich – wieder – hole», setzte Carla zum zweiten Mal mit ihrer computermäßigen Stimme an. «Das – korrekte – Wechsel – geld – beträgt – drei – Euro – und – einen – Cent.»
Der Verkäufer starrte den Postkartenständer voller Verwirrung und Entsetzen an.
Carla war offenbar nicht die Einzige, die das Ganze nicht mehr zum Aushalten fand. Im nächsten Moment schnellte die Schleuderzunge von Herrn Ping über den Tresen, haarscharf am dicken Bauch von Onkel Emil vorbei und mitten ins Münzfach der Kasse. Die Münzen klimperten kurz. Und schon klatschte Herr Ping mit seiner Schleuderzunge dem kleinen Jungen genau einen Euro und einen Cent in die Hand.
Der Junge riss die Augen auf, sah den Pinguin mit offenem Mund an und ließ beinahe sein Ka-Boom-Kaugummi fallen.
Nach einem echten Ka-Boom sah es jetzt bei Onkel Emil aus. Er schnaufte, sah vom Postkartenständer (hatte der gerade gesprochen? Äh … nee, oder?) zum Pinguin (was wollte ein Pinguin in seinem Laden? Postkarte vom Südpol?) zu dem kleinen Jungen. Der Kopf des Verkäufers glühte mittlerweile hochrot. Seine Tatzen bohrten sich in den Tresen. Aus seinen kleinen Augen schienen helle Blitze zu schießen.
«Ihr verschwindet SOFORT aus meinem Laden!», presste Onkel Emil mit ganzer Wut hervor.
«Wer?», fragte der kleine Junge unschuldig.
«IHR ALLE!», brüllte der Verkäufer. «Kinder, Pinguine und … äh, na ja.» Er wedelte mit einer Hand Richtung Postkartenständer.
«Okay», sagte der Kleine.
«Okay, Mr Betray!», krächzte Herr Ping.
«Okay», sagte Jole und legte die Frauenzeitschrift ab.
«Okay», sagte der Postkartenständer.
Im nächsten Moment stürmten der kleine Junge, Jole mit Herrn Ping in der Umhängetasche und ein Postkartenständer beziehungsweise Carla, die langsam wieder ihre normale Gestalt annahm, aus dem Laden.
Zwei Stunden später saß Carla mit Jole auf der Mauer des Stadtparks. Sie war froh, dass alles vorbei war: ihr erster Auftrag und die Chamäliose. Carlas Beine baumelten kurz über dem Gras. Sie schaffte es einfach nicht, sie ruhig zu halten, weil sie immer wieder an die Aktion bei Onkel Emil denken musste. Dass sie dem kleinen Jungen hatte helfen können, fühlte sich richtig gut an. Aber vielleicht war sie damit zu weit gegangen. Und Herr Ping erst mal!
«Seit wann kann Herr Ping eigentlich rechnen?», fragte Carla. «Ich meine, mit dem Wechselgeld rausfischen und so.» Carla legte die Hände auf ihre Oberschenkel und versuchte die Beine vom Baumeln abzuhalten.
Jole saß ganz entspannt neben Carla auf der Mauer und hielt ihr eine Tüte mit Keksen hin, die seine Mutter gebacken hatte. «Weiß auch nicht. Vielleicht lernt man so was am Südpol. Eine Million Schneeflocken plus zwei Millionen Schneeflocken gleich drei Millionen Schneeflocken.»
«Quatsch, Herr Ping wurde bestimmt im Zoo ausgebrütet, mit meiner Mutter als Hebamme.» Carla vergaß ihre nervösen Beine, griff in die Tüte und probierte einen Keks. Frau Heinz konnte echt gut backen. Und dabei noch blendend aussehen, ohne den kleinsten Krümel Mehl auf der gebügelten Hose. «Es ist toll, dass deine Eltern das erlauben, also, ich meine, dass Herr Ping bei euch wohnen darf. Ich dachte, die rasten total aus, wenn sie mitbekommen, dass du einen Pinguin angeschleppt hast. Bei euch sieht es doch aus wie beim Zahnarzt und so gar nicht wie im Zoo.»
Jole steckte sich einen Keks in den Mund, kaute, kratzte sich am Hals und machte dann «Hm». Er schluckte den Keks herunter. «Also … ausgerastet sind sie schon. Aber dann, ähm, haben sie die Vorteile von Herrn Ping erkannt.»
Carla runzelte die Stirn. Ihre Beine waren jetzt ganz still. «Dass er keine Hundehaare verliert?»
«Er hilft mir.»
Carla runzelte die Stirn noch mehr. «Wobei? Beim … Witzeerfinden?»
«Nein. Bei Mathe.» Joles Wangen färbten sich etwas rötlich. «Schon klar, is’ peinlich. Ein Pinguin, der besser Mathe kann als ich. Kann er aber. Und er macht meine Hausaufgaben, ähm … er hilft mir dabei. Für meine Eltern ist es ja so: Schule gut, alles gut, also darf Herr Ping bleiben.»
«Herr Ping kann nicht nur reimen, sondern sogar richtig gut rechnen?», sagte Carla und nahm sich noch einen Keks. «Ob das auch an der Chamäliose-Tablette liegt?»
Jole zuckte mit den Schultern. «Schon möglich. Kann aber auch sein, dass er sich einfach so weiterentwickelt. Stell dir vor, er hat sogar Zukunftspläne. Er will Rapper werden.»
Carla verschluckte sich am Keks und hustete.
«Vorhin hat er sich ein altes, verrostetes Kettenschloss aus der Garage geholt, und das will er golden anmalen und sich als Kette umhängen.»
Carla hustete noch mehr.
In dem Moment näherte sich ein weißer Lieferwagen dem Stadtpark. Langsam rollte er an den Bordsteig und blieb direkt vor den beiden Freunden stehen.
«Wir werden abgeholt.» Jole sprang von der Parkmauer.
Carla betrachtete den Lieferwagen einen Moment. Sie musste an den Tag denken, an dem dieser Wagen zum ersten Mal ihren Weg gekreuzt hatte. Es war nur ein paar Wochen her. Damals wusste Carla noch nichts von einem Geheimbund namens «Die Kavaliere». Zwei Männer hatten sich Carla, Jole und Herrn Ping als Imker verkleidet in den Weg gestellt, sie in den Lieferwagen gezerrt und zur geheimen Zentrale der Kavaliere gebracht.
Auch jetzt würde sie dieser Lieferwagen wieder zum Big Boss, dem großen Unbekannten, in die Zentrale des Geheimbundes bringen. Carla und Jole sollten dem Big Boss über ihren Auftrag Bericht erstatten.
Im Unterschied zur ersten Fahrt kannten sie den Mann hinter dem Steuer. Es war Rupert, der persönliche Assistent vom Big Boss. Carla rutschte von der Parkmauer. Für eine Geheimagentin fühlten sich ihre Beine zu weich und ihre Hände zu kalt an. Doch sie nickte Rupert verschwörerisch zu.
Rupert begrüßte sie lediglich mit den Augen. Er blinzelte einmal lang, einmal kurz, einmal lang. Das Morsezeichen für den Buchstaben «K» und das geheime Erkennungszeichen der Kavaliere.
Ruperts schütteres Haar stand leicht zu Berge, als er nahezu schwebend und lautlos hinter den Wagen trat und die Tür zur Ladefläche öffnete. Mit seinen blassen, knochigen Händen deutete er Carla und Jole an, einzusteigen.
Die beiden Freunde kletterten in den Laderaum. Als Jole bemerkte, wie Carla nervös ihre Hände knetete, zwinkerte er ihr zu, fuhr sich durch seinen Scheitel und ließ ihn in die Höhe stehen. Carla lächelte kurz.
Damals, bei der Entführung, war der eckige Raum leer gewesen. Sie hatten auf dem harten Boden gesessen, und es hatte nach Öl und feuchten Putzlappen gerochen. Jetzt war der Boden von einem alten, weichen Teppich bedeckt, und an den Wänden lagen links und rechts jeweils ein großer Sitzsack. Fenster gab es keine.
«Sicherlich, komfortabel reisen ist etwas anderes», sagte Rupert leise und mit traurigem Blick. «Aber so sind nun mal die Vorschriften. Ich werde mich bemühen, zügig und dennoch besonnen zu fahren.» Mit diesen Worten schloss er die Tür zum Laderaum. Erstaunlich kräftig für einen Mann seiner schmächtigen Statur.
Ein paar Sekunden später sprang der Motor an, Rupert löste die Handbremse, und der weiße Lieferwagen rollte an der Stadtparkmauer entlang und bog in die nächste Straße ein, auf dem Weg zum geheimen Ziel.
Zum zweiten Mal standen Carla und Jole in dem großen, kühlen Raum, in dem sich die Zentrale der Kavaliere befand. Schwere, dunkelgrüne Vorhänge waren vor die großen Fenster gezogen. Der Kronleuchter war seit ihrem letzten Besuch nicht gereinigt worden. Noch immer zierten ihn feine Spinnweben. Er leuchtete nicht.
Rupert deutete Carla und Jole an, am Eingang stehen zu bleiben, und schritt geräuschlos zum Sessel am anderen Ende des Raums. Der Sessel war das einzige Möbelstück und stand mit dem Rücken zu den Besuchern, einem großen Gemälde an der hinteren Wand zugekehrt.
Rupert stellte sich neben den Sessel, beugte sich zum Big Boss und flüsterte ihm etwas zu.
Der Sessel knarzte. «Ihr seid zurück. Habt ihr den ersten Auftrag erledigt, wie es sich für echte Kavaliere gehört – S.U.W.?» Die Stimme vom Big Boss dröhnte durch einen Stimmenverzerrer künstlich durch den Raum.
«Schnell. Unauffällig. Wirksam. Jawohl!», sagte Jole.
Carla bekam eine Gänsehaut, als sie die seltsame Stimme vom Chef des Geheimbundes hörte. Sie räusperte sich. «Ähm, glaube ich zumindest.»
«Ihr wart schnell. Ihr wart wirksam», erwiderte der Big Boss. «Aber unauffällig?»
Carla presste die Lippen aufeinander und schielte zu Jole.
«So was von unauffällig», sagte Jole. «Wie ein Reiskorn im Chinarestaurant.»
«Ein sprechender Postkartenständer. Ein Junge, der laut eine Sexualkundestunde abhält. Ein Pinguin, der mit seiner Schleuderzunge Geld verteilt. Das nennt ihr unauffällig?», kam es aus dem Sessel zurück.
«Woher wissen Sie das?», fragte Carla mit belegter Stimme.
«Ich bin der Big Boss. Ich weiß alles. Ich habe überall Beobachter. Unauffällige Beobachter natürlich.»
Carla dachte kurz an die ältere Dame mit dem Backheft. «Es stimmt. Und ich weiß, ich hätte nicht eingreifen dürfen. Ich sollte nur beobachten. Aber … ich konnte einfach nicht anders.» Carla sah zu Boden und fügte leise hinzu: «Damit habe ich den Test also nicht bestanden, meinen Auftrag nicht erfüllt. Ich bin kein Kavalier?»
«Du hast deinen Auftrag nicht erfüllt. Ganz recht», erwiderte der Big Boss.
Carla holte tief und zitternd Luft. Dann stockte ihr der Atem, als ihr etwas bewusst wurde: Eigentlich müsste sie erleichtert sein. Carla wollte nie Mitglied eines Geheimbundes, eine Agentin oder Superheldin sein. Carla wollte nur normal sein. In Ruhe ihr Notizbuch mit Zeichnungen und Listen füllen und unauffällig und ohne Aufregung durchs Leben gehen.
In diesem Moment aber spürte Carla keine Erleichterung, sondern Enttäuschung. Erst jetzt merkte sie, dass es ihr wirklich viel bedeutet hätte, bei den Kavalieren dabei zu sein. Mit ihrer seltsamen Chamäliose etwas Sinnvolles zu tun. Und zusammen mit Jole und Herrn Ping. Eben war sie noch eine wichtige Geheimagentin mit Superkräften. Jetzt war sie nur noch ein Freak.
Der Sessel knarzte zum zweiten Mal. «Du, Carla Niemann, hast deinen Auftrag nicht erfüllt, du hast ihn übererfüllt. Du hast dich exzellent getarnt, hast genau beobachtet und im entscheidenden Moment sogar intuitiv eingegriffen.»
«Äh, aber … das sollte ich doch nicht.» Carla sah erstaunt mit blasser Nasenspitze zum Sessel.
«Richtig. Doch ein Kavalier ist kein Soldat», erklärte der Big Boss. «Ein Kavalier zeichnet sich dadurch aus, dass er Aufträge ausführt, dabei allerdings nicht sein Herz und Gehirn ausschaltet.»
«Oder seine Schleuderzunge!», warf Jole ein, stupste Carla mit der Schulter an und grinste, überglücklich über die Wendung, die das Gespräch jetzt nahm.
«Das heißt, ich bin dabei? Ich habe den Test bestanden?», fragte Carla.
«Du bist mehr als nur dabei. Du bist unsere neue Geheimwaffe!», dröhnte der Big Boss so laut, dass der Stimmenverzerrer kurz fiepte. «Und als diese wirst du den nächsten Großauftrag übernehmen. Ich habe vollstes Vertrauen zu dir.»
«Groß… ich?» Carla sah mit weit aufgerissenen Augen von Jole zu Rupert und zum Sessel. Die Gefühle schossen wie Silvesterknaller durch ihren Magen. Erst war sie ein normales Mädchen, dann ein Freak und jetzt die neue Geheimwaffe! «Großauftrag, also, das könnte auch eine große Katastrophe werden. Im Zeitschriftenladen, da ging ja alles ganz schnell, da hat es funktioniert. Aber ich kann die Chamäliose doch nicht richtig steuern. Also, Jole kann sie zwar auslösen …»
«Oh ja!» Jole nickte.
«… aber ich weiß nie, wie lange sie anhält. Was, wenn ich plötzlich wieder sichtbar werde?» Carla blinzelte nervös.
«Keine Sorge», erwiderte der Big Boss mit fester Stimme. «Das alles habe ich bereits bedacht. Du hast recht, die Chamäliose ist momentan nicht nur eine Gabe, sondern auch ein Risiko. Dieses Risiko müssen wir minimieren, bestenfalls ausschließen. Du musst die Chamäliose trainieren.»
«Trainieren? Wie denn, wo denn? Im Fitnessstudio für Chamäleons?», fragte Jole. «Unsichtbare Hanteln heben und so?»
«Carla braucht einen professionellen Trainer. Jemanden, der sich mit Menschen mit … nennen wir es ‹mit besonderen Eigenheiten› bestens auskennt», fuhr der Big Boss fort. «Und natürlich jemanden, dem wir als Kavaliere vertrauen können. Jemanden, der selbst ein Kavalier ist.» Der Big Boss gab seinem persönlichen Assistenten ein Zeichen.
Rupert beugte sich zum Sessel und nahm eine kleine Karte aus den Händen seines Chefs entgegen. Dann kam er mit schwebenden Schritten auf Carla und Jole zu. Er reichte Carla die Karte und nickte kurz.
Carla warf einen Blick auf die Visitenkarte. Es verschlug ihr die Sprache. Nur ihr Mund klappte auf, und sie sah Jole alarmiert an.
Am nächsten Nachmittag machten sich Carla, Jole und Herr Ping auf den Weg zum professionellen Trainer.
«Ich kann immer noch nicht glauben, dass ausgerechnet Dr. mäd. Haubenmacher mein Trainer werden soll», sagte Carla. Zu Beginn des Schuljahres hatte sie ganz spontan und voller Verzweiflung über ihre seltsame Krankheit seine Praxis aufgesucht.
«Warum der wohl bei den Kavalieren ist?», überlegte Jole laut. «Nach allem, was du erzählt hast, hat der doch selbst ’ne Lebenskrise, und zwar eine lebenslange.»