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Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2020

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Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Jens Mühling

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

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ISBN 978-3-644-00220-3

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00220-3

Denizkızım benim

Prolog

Ihm war, als sei das Schwarze Meer zum Himmel aufgestiegen und werde sich vierzig Tage und vierzig Nächte lang auf die Erde ergießen.

Konstantin Paustowskij, «Die Kolchis», 1934

Mustafa, der Fahrer, in dessen Taxi ich in Ağrı eingestiegen war, weil der nächste Bus nach Doğubeyazıt erst einen Tag später gefahren wäre, deutete mit dem Kinn auf die Wanderer hinter der Windschutzscheibe.

«Pasaport yok, para yok.»

Kein Pass, kein Geld.

Fragend sah ich ihn an.

«Syrians?»

Er schüttelte den Kopf.

«Afganlar.»

Sie mussten durch den Iran in die Türkei gekommen sein, dachte ich. Mustafa nickte, als habe er meine Gedanken erraten.

«Afghanistan – Iran – Istanbul.»

Einen Moment lang schwieg er, dann spreizte ein Grinsen seinen Schnauzbart.

«Istanbul – Almanya!»

Der Schnauzbart erstarrte zu einer harten Linie, als ich versuchte,

Wir fuhren weiter, dem Berg Ararat entgegen, den ein altes Rätsel mit dem Schwarzen Meer verbindet. Immer wieder tauchten Männer hinter den Wegbiegungen auf, zu zweit, zu fünft, dann lange niemand, dann plötzlich ein Dutzend, gefolgt von einem zweiten – und einen Moment lang war ich sicher, dass die Straße hinter der nächsten Biegung schwarz vor Menschen sein würde. Doch dann kam wieder lange niemand.

Jedes Mal, wenn sich eine der Männergruppen aus der Ferne näherte, löste Mustafa kurz die Hände vom Lenkrad, kehrte sie gen Himmel und schüttelte in stummer Ratlosigkeit den Kopf, als frage er sich, und mich, und vielleicht Gott, was man bloß anfangen soll mit all diesen Menschen, die nicht bleiben können, wo sie sind.

***

Ich habe das Schwarze Meer von allen Seiten gesehen, und von keiner Seite war es schwarz.

Es war silbrig, als ich im Frühling die noch menschenleeren Strände der russischen Kaukasusküste entlangfuhr, silbrig wie die Haut der Delfine, die dicht am Ufer den nordwärts ziehenden Fischschwärmen folgten.

Es wurde blau, als ich im Mai Georgien erreichte, das alte Kolchis der griechischen Sagen, wo die Strände schwarz sind, aber nicht das Wasser.

In der Türkei schien es dem Grün der Teeplantagen und Haselnussfelder an seinen Ufern ähnlicher zu werden, und grün blieb es, bis ich im Spätsommer den Bosporus erreichte.

Im rumänischen Donaudelta schien der Himmel so tief über dem Meer zu hängen, dass sein bleierner Ton auf das Wasser abfärbte.

Als ich die Ukraine erreichte, schoben die Wellen schmutzgraues Eis über die Strände.

Erst auf der Krim hellte die Wintersonne das Meer wieder auf, und hier nahm es den Ton an, den es in meiner Erinnerung immer haben wird: ein trübes, milchiges Grün, wie ein Sud aus Algen und Sonnencreme.

***

Reisen beginnen selten da, wo sie in unserer Erinnerung beginnen. Diese hier nahm ihren Anfang vielleicht unter dem Esstisch meiner blinden Großmutter.

Manchmal, wenn die Erwachsenen ihre Erwachsenengeschichten austauschten, krochen meine Schwester und ich zwischen ihren Füßen hindurch ans Kopfende, wo Oma saß. Still stahlen wir uns hinter ihren Stuhl. Die Rückenlehne war aus Korbgeflecht, dessen Zwischenräume gerade so groß waren, dass wir unsere Fingerspitzen durch die Löcher stecken konnten. Wir pieksten in Omas knochigen Rücken, und Oma, die uns zwar nicht kommen sehen, aber kommen hören hatte, tat uns bei diesem eingeübten Spiel jedes Mal den Gefallen, entsetzt aufzuschreien.

«Ja, sind denn hier etwa Mäuse?»

Piepsend zogen wir unsere Mäusefinger aus der Rückenlehne und krochen zurück unter den Tisch.

In Neunkirchen, der siegerländischen Kleinstadt, in der meine Großmutter bis zu ihrem Tod lebte, erinnert ein Gedenkstein an:

LEUTN.-ADMIRAL

EIN WOHLTÄTER DER ARMEN

*1.5.1735 †22.5.1819

Der Name des Admirals, oder eigentlich nicht sein Name, sondern die Bezeichnung «der Admiral», tauchte gelegentlich in den Erwachsenengesprächen auf, die meine Schwester und ich unter dem Esstisch belauschten. Als halb mythische Figur setzte sich «der Admiral» in meiner kindlichen Erinnerung fest. Er war, so verstand ich es jedenfalls, weitläufig mit uns verwandt, ein Urururururahn, den es in ferner Vergangenheit nach Holland verschlagen hatte, wo er als Seefahrer zu großem Ruhm und Reichtum gelangt war. Einen Teil seines immensen Vermögens hatte er in Form eines Notfonds hinterlassen, um verarmte Verwandte in seiner siegerländischen Heimat zu unterstützen, denen auf Antrag Hilfszahlungen bewilligt wurden. Dieses «Admiralsgeld», von dem die Erwachsenen in Neunkirchen manchmal sprachen, wuchs sich in meiner Vorstellung zu einer Art Piratenschatz aus, einem funkelnden Haufen Goldmünzen, der darauf wartete, eines Tages von mir, dem legitimen Erben des Admirals, geborgen zu werden.

Wie ich Jahre später bei einer Familienweihnachtsfeier von meiner Tante Gertraude und ihren Neunkirchener Freundinnen Elfriede und Ingeborg erfuhr, war ich nicht der Einzige, der nach dem Admiralsgeld schielte. In der Heimat meiner Großmutter erinnert außer dem Gedenkstein auch eine Straße an den Seefahrer: der Van-Kinsbergen-Ring. Im Volksmund wird er «Kartoffelkäferring» genannt, weil sich nach dem Tod des Namensgebers erstaunlich viele hilfsbedürftige Neunkirchener gefunden haben, die mit dem spendablen Admiral verwandt gewesen sein wollen – seine angeblichen Nachfahren haben sich vermehrt wie die Kartoffelkäfer.

Gertraude, Elfriede und Ingeborg erzählten mir bei jener

Um meine Enttäuschung zu verarbeiten, glich ich damals zum ersten Mal meine kindlichen Erinnerungen an den Admiral mit seiner tatsächlichen Lebensgeschichte ab. Ich erfuhr, dass nicht van Kinsbergen selbst, sondern sein Vater im frühen 18. Jahrhundert aus dem ärmlichen Siegerland ausgewandert war, um in Holland Soldat zu werden. Seinen deutschen Nachnamen Ginsberg hatte er gegen die ortsüblichere Variante Kinsbergen eingetauscht, als er eine Niederländerin heiratete, mit der er einen Sohn zeugte: Jan Hendrik.

Der Einwanderersprössling war 15, als er bei der Marine anheuerte. Verblüfft stellte ich fest, dass der spätere Admiral nicht nur für die holländische, sondern auch für die russische Krone zur See gefahren war. Mit Mitte dreißig hatte sich Kinsbergen von Katharina der Großen anwerben lassen, um im Krieg der Zarin gegen die Türken einen Teil der russischen Flotte zu kommandieren, deren Schiffe damals zum ersten Mal ins Schwarze Meer vordrangen. Vor der Küste der Krim begegnete Kinsbergen im Kriegsjahr 1773 mit zwei Kanonenbooten einem deutlich überlegenen türkischen Geschwader, das er nach mehrstündigem Kampf in die Flucht schlug. Das Gefecht von Balaklawa war Russlands erste Seeschlacht im Schwarzen Meer, und dank meines mutmaßlichen Urururururahns endete sie mit einem triumphalen Sieg.

Ich war nicht sicher, ob mich das stolz machen sollte. Katharinas Feldzug gegen die Türken, den Kinsbergen in den folgenden Jahren weiter unterstützte, endete 1774 mit einer Niederlage des Osmanischen Reichs. Russland tat, was das größte Land der Welt schon immer am liebsten tat: Es wuchs. Katharina verleibte ihrem Reich weite Teile der nördlichen Schwarzmeerküste ein, die zuvor von den Krimtataren kontrolliert worden waren, Verbündeten der Türken. Ein paar Jahre später, als Kinsbergen bereits mit russischen Orden behängt

Um vergessen zu machen, dass sie einmal unrussisch gewesen war, verwischte Katharina die Spuren der Tataren. Moscheen und Medresen, Karawansereien und Khanspaläste wurden in Schutt und Asche gelegt, während sich die erste von mehreren tatarischen Flüchtlingswellen in Richtung der osmanischen Küsten in Bewegung setzte.

Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass sich rund um das Schwarze Meer die Straßen schwarz vor Menschen färbten, weil Potentaten Völker verpflanzten und ihre Spuren aus der Geschichte tilgten. Dutzende von Schwarzmeerminderheiten wechselten im Lauf der Jahrhunderte teils mehrmals unfreiwillig den Küstenabschnitt, weil sie dem Wachstum der Imperien im Weg standen oder dem Schicksal der Nationen, der kommunistischen Zukunft, dem Tausendjährigen Reich, dem Türkentum, der großrumänischen Idee oder der bulgarischen Wiedergeburt – kurz: weil Späne fielen, wo Herrscher hobelten, oder weil man, wie es später einmal Stalin gesagt haben soll, kein Omelette braten kann, ohne Eier zu zerschlagen. Er, Stalin, Erzhobler und Meister aller Omelettebräter, war es, der gut anderthalb Jahrhunderte nach Katharina den verbleibenden Teil der Krimtataren in Viehwaggons pferchen und nach Zentralasien deportieren ließ. In Stalins Schwarzmeer-Omelette war das nicht einmal das dickste Ei.

Unter dem Esstisch meiner Großmutter ahnte ich noch nichts von Vertreibungen, von Säuberungen, von Flucht, von Menschen, die nicht bleiben können, wo sie sind. Schon die siegerländisch-holländische Migrationsgeschichte des Admirals überstieg mein Vorstellungsvermögen. Van Kinsbergen war, so weit ich das überblickte, der Einzige in unserer Familie, der nicht da gelebt hatte, wo der Rest von uns lebte. Ich schob es auf sein Seefahrerdasein. Sein Haus

Das Haus meiner Großmutter war von außen mit schwarzen Schieferschindeln verkleidet, wie es im Siegerland viele alte Häuser sind. Wenn ich mir heute diese nachtfinsteren Dorfzeilen vor Augen rufe, wie sie schieferschwer in ihren Tälern ruhen, überkommt mich ein altes, ungläubiges Kinderstaunen darüber, dass auf dieser Erde jemals ein Mensch seine Heimat verlassen hat.

***

Meine Reise führte im Kreis, aber das Schwarze Meer ist so wenig rund, wie es schwarz ist.

Die Geographen der Antike verglichen die Form seiner viereinhalbtausend Kilometer langen Küstenlinie mit der eines skythischen Reiterbogens. Die Sehne spannt sich entlang des südlichen, heute türkischen Ufers, dessen Gestalt den damals noch hier siedelnden Griechen gradliniger und sehnenförmiger vorkam, als sie es tatsächlich ist. Links und rechts der Türkei krümmen sich die Endstücke des Bogens hart nach Norden und dann sanfter einander entgegen, im Westen vorbei an den Stränden Bulgariens und Rumäniens, im Osten an der georgischen und russischen Küste. Der Bogen schließt sich in der Ukraine, an deren Südufer wie die geballte Faust eines Schützen die Krim hängt. Der imaginäre Pfeil, den diese Waffe nordwärts schleudert, zielt ziemlich genau auf Moskau, was in der Antike allerdings noch niemand ahnen konnte. Als die Moskowiter in der Weltgeschichte auftauchten, waren die Skythen längst aus ihr verschwunden.

Mich selbst haben die Umrisse des Meers, wenn ich seine Konturen mit dem Finger auf der Karte entlangfuhr, immer an einen Pferdekopf erinnert. Rechts schnuppert die Pferdeschnauze an Georgien,

Die Argo-Sage ist eine bronzezeitliche Legende, aber sie lehnt sich an die tatsächliche Entdeckung des Schwarzen Meers durch griechische Seefahrer des Altertums an, deren Schiffe möglicherweise schon im zweiten, spätestens aber zu Beginn des ersten vorchristlichen Jahrtausends durch die Dardanellen und den Bosporus vorstießen. Was sie dahinter vorfanden, stilisierten Generationen griechischer Dichter und Denker später zum gefahrenumwitterten Rand der bekannten Welt, besiedelt von den aberwitzigsten Völkerscharen und Fabelwesen: Kannibalen, Höllenhunde, männermordende Amazonen, auf Kranichen reitende Zwerge, Zyklopen, Läusefresser, Werwölfe.

Auch die realen Bewohner der antiken Schwarzmeerküsten kamen in der griechischen Literatur nicht gut weg. Es waren Reitervölker wie die Skythen, deren Sprachen in den Ohren der Griechen wie sinnloses Gebrabbel klangen – sie schienen nur «bar bar bar» zu sagen, weshalb ihnen bald der Name «Barbaren» anhing. Unter diesem Sammelbegriff wanderten die Nomaden in die griechische Psyche ein – und wurden dort sesshaft. Vertraut man der hellenischen Literatur, verkörperten sie für die Griechen all das, was sie selbst nicht sein wollten, was ihre Zivilisation bedrohte, was sie hassten, fürchteten

Als später aus den Scherben der Antike das Selbstbild eines ganzen Kontinents zusammengesetzt wurde, verinnerlichten die Europäer zusammen mit allem anderen griechischen Kulturgut auch die Erzählung von den Barbaren, die ihnen bis heute als Mythos der äußeren Abgrenzung dient, längst losgelöst von ihren Ursprüngen am Schwarzen Meer. Wer sich zivilisiert fühlen will, braucht barbarische Nachbarn. Die Franzosen fanden sie lange in den Deutschen, die Deutschen in den Slawen, die Polen in den Russen, die nachbarreichen Russen in den Mongolen, Tataren, Türken, Kaukasiern und Chinesen.

Als Gruppe zogen die Europäer die Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei meist dort, wo es gerade ihren Interessen diente. Kriege ließen sich leichteren Gewissens führen, wenn man den Gegner vorher zum Feind der zivilisierten Welt erklären, wenn man an alte Instinkte der Abgrenzung appellieren konnte, die der kontinentalen Psyche seit ihren antiken Anfängen eingeschrieben sind: Hier die Zivilisierten, dort die Barbaren – hier unseresgleichen, dort die Anderen, die Fremden, Zurückgebliebenen, Ungewaschenen, die mit dem komischen Essen, die ihre Kinder nicht im Griff und ihre Frauen nicht unter Kontrolle haben, die Grausamen, die Blutrünstigen, die Menschenfresser, die Ungläubigen, die Minderwertigen, die Sklavennaturen, die Untermenschen.

Bezeichnenderweise entstand dieses Bild des Barbaren ursprünglich gar nicht an der Schwarzmeerküste selbst, wo die griechischen Seefahrer ab dem achten vorchristlichen Jahrhundert Handelsstädte gründeten und mit den Nomadenvölkern des Hinterlands in enger Symbiose lebten – hier nahmen jene kuriosen ethnischen Mischgesellschaften ihren Anfang, die das Schwarze Meer jahrtausendelang

Es war nicht das erste Mal in der Weltgeschichte, dass sesshafte Völker wie die Griechen mit Nomaden wie den Skythen in Berührung kamen. Neu war, dass aus ihrem Zusammentreffen Literatur wurde – und aus der Literatur das Selbstbild eines Kontinents. «Mit dieser speziellen Begegnung», schreibt der weise Schwarzmeerchronist Neal Ascherson, «nahm die Idee Europas ihren Lauf, mit all ihrer Arroganz, allen ihren Implikationen von Überlegenheit, ihren Anmaßungen von Priorität und Antiquität, ihrem Anspruch auf ein natürliches Recht der Dominanz.»

Wer einmal versucht hat, in der Form des Schwarzen Meers den drohenden Skythenbogen zu erkennen, den die Griechen in ihm sahen, wird das Bild nur schwer wieder aus dem Kopf bekommen.

***

Ich erinnere mich gut an den Moment, als das Schwarze Meer vom Rand der europäischen Wahrnehmung plötzlich ins Zentrum rückte.

Mit einem Ausflugsboot fuhr ich im März 2014 durch den Hafen von Sewastopol. Keine zwei Wochen zuvor waren auf der Krim russische Soldaten aufgetaucht und hatten die ukrainischen Kasernen umstellt, in Uniformen ohne Hoheitsabzeichen, was niemanden über ihre Herkunft hinwegtäuschte. Das Parlament war aufgelöst und durch ein Marionettenkabinett des Kremls ersetzt worden, für den nächsten Tag war eine hastig anberaumte Volksabstimmung über den Anschluss der Krim an Russland angesetzt, im Hafen lagen sich ukrainische und russische Kriegsschiffe gegenüber – aber

Ich war als Reporter nach Sewastopol gereist, um über das politische Piratenstück zu berichten, das sich hier abspielte. Damals wusste ich noch nicht, dass unweit des Hafens, an der Südwestküste der Krim, Jan Hendrik van Kinsbergen 1773 den Weg für Katharinas Annexion der Halbinsel gebahnt hatte. Klar war mir nur, dass ich gerade miterlebte, wie Russland die Krim zum zweiten Mal annektierte.

Das Ausflugsboot fuhr dicht an den hohen, grauen Metallflanken der Kriegsschiffe vorbei. Die ukrainische und die russische Schwarzmeerflotte teilten sich in den angespannten Tagen vor dem Krim-Referendum noch den Hafen, und ich hatte gehofft, ihre unübersichtlichen Positionen vom Wasser aus besser überblicken zu können. Das Boot war gefüllt mit alkoholisch und patriotisch berauschten Russen aus Sewastopol, die keinen Zweifel daran ließen, dass sie den Ukrainern die Pest an den Hals wünschten. «Faschisten!», brüllten sie in Richtung der blau-gelb beflaggten Schiffe – im russischen Propagandafernsehen hießen die Ukrainer seit Wochen nur noch «Faschisten». Die alte Geschichte, dachte ich: Ein Land auf Kriegskurs sucht sich seine Barbaren.

Etwas abgesondert stand ein einzelner Mann an der Reling, der stumm aufs Meer hinausschaute. Er war der Einzige außer mir, der sich nicht am Geschrei der anderen beteiligte. Als wir am Ende der Rundfahrt im Hafen ausstiegen, sprach ich ihn an – warum war er hier?

«Um mich vom Meer zu verabschieden», sagte er knapp.

Er war Tatare. Seine Eltern hatten die Deportation unter Stalin miterlebt, er selbst war in Usbekistan geboren und hatte erst nach dem Zerfall der Sowjetunion in die Heimat seiner Vorfahren zurückkehren können, als die Krim zusammen mit dem Rest der Ukraine unabhängig geworden war.

Er lächelte ein bitteres Lächeln.

«Ist ja nicht das erste Mal, dass wir bei null anfangen.»

Ich sah ihm lange nach, während er die Uferpromenade entlanglief, seiner unklaren Zukunft entgegen. Ein Span war gefallen, ein Ei zerbrochen.

***

Sechs Anrainerländer hat das Schwarze Meer. Es sind, im Uhrzeigersinn und in der Reihenfolge meiner Reise: Russland, Georgien, die Türkei, Bulgarien, Rumänien, die Ukraine.

Sechseinhalb sind es, wenn man Abchasien mitzählt, einen abtrünnigen Teil Georgiens, der von Russland am Leben gehalten wird, damit sich Georgien keinen westlichen Bündnissen anschließen kann.

Sieben, wenn man Moldawien mitzählt, das alte Bessarabien, dem im Zweiten Weltkrieg die Küste abhandenkam, als Stalin die Landesgrenze landeinwärts verschob.

Siebeneinhalb, wenn man Transnistrien mitzählt, einen abtrünnigen Teil Moldawiens, der von Russland am Leben gehalten wird, damit sich Moldawien keinen westlichen Bündnissen anschließen kann.

Acht, wenn man Polen mitzählt, das alte Polen zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung, als sich der Szlachta-Adel einredete, die Oberschicht des Landes stamme vom antiken Barbarenvolk der Sarmaten ab.

Achteinhalb, wenn man die Volksrepublik Donezk mitzählt, einen abtrünnigen Teil der Ukraine, der – Sie wissen schon.

Neuneinhalb, wenn man das antike Ruinenreich der Griechen mitzählt, dessen Spuren mir an allen Meeresküsten begegneten, in Form verwitterter Steine, fremdsprachig überformter Ortsnamen, Familiengeschichten versprengter Schwarzmeergriechen, in den kyrillisch, lateinisch und georgisch buchstabierten Speisekarten ungezählter Aphrodite-Restaurants, Poseidon-Cafés, Olymp-Hotels und Amazonen-Bars – und in der tief verinnerlichten Schwarzmeertradition, von seinen Nachbarn stets das Schlimmste zu erwarten.

***

Wo anfangen? Nachdem ich mit dem Finger auf der Karte lange ratlos das Meer umkreist hatte, entschied ich mich für einen Punkt, der fernab der Küste liegt, aber vieles über die Ursprünge des Schwarzen Meers erzählt. So landete ich an einem Märztag auf einer verschneiten Bergstraße, wo mir Menschen ohne Geld und ohne Pass entgegenliefen.

Angekommen in Doğubeyazıt, sah ich Frauen, deren bodenlange Gewänder im anatolischen Staub schleiften. Kurdische Männer warfen ihnen Blicke hinterher, die mich an ausgehungerte Wölfe denken ließen. Ich sah fliegenumschwirrte Kuhköpfe in den Schaufenstern der Metzgereien, ich sah klickernde Gebetsketten in den Händen der Teetrinker, und überall, am Ende jeder Straße und über jedem Hausdach, sah ich den Ararat. Der Berg schwebte über der Stadt wie ein perspektivisches Trugbild. Wäre er eine Filmkulisse, man müsste ihn schrumpfen, um ihn glaubwürdiger zu machen.

Ich checkte im Hotel Nuh ein, benannt nach dem berühmten Seefahrer, der hier einst mit seinem Schiff gestrandet sein soll: Noah,

Bis vor zwei Jahren hatten sie das jedenfalls getan. Dann war das passiert, was mir am nächsten Morgen Cervat erklärte, der Fahrer, der mich zum Fuß des Bergs brachte.

«Bum!»

Er legte ein unsichtbares Gewehr an die Wange und feuerte in Richtung des wolkenumwaberten Gipfels.

«Bum! PKK! Bum!»

Wegen angeblicher Terrorgefahr hielt die Armee seit zwei Jahren den Zugang zum Ararat gesperrt.

Mehr als dreihundert Kilometer trennen den Berg von der nächstgelegenen Küste, der des Schwarzen Meers. Ich versuchte, den Ararat vor meinem inneren Auge im steigenden Wasser der Sintflut zu versenken. Es war nicht leicht. Und doch steckt in der Flutlegende ein Kern, der den Berg mit dem Schwarzen Meer verbindet – einem Meer, das nicht nur nicht schwarz ist, sondern auch nicht immer ein Meer war.

In den frühen Stadien seiner Entwicklung, lange bevor an seinen Ufern Menschen auftauchten, die darüber streiten konnten, wo die innere Grenze des siamesischen Zwillingskontinents Eurasien verläuft, verschob sich das Gewässer parallel zu den knirschenden Tanzschritten der beiden Erdteile. Im Lauf dieses Jahrmillionentangos verband es sich mal mit dem Kaspischen Meer, mal mit dem Mittelmeer, mal verwandelte es sich in einen landumschlossenen Binnensee ohne Zugang zu den umliegenden Gewässern.

Wann war das geschehen – und warum? Die Forscher ließen die Lebensspuren datieren, auf die sie rund um die Seeuferlinie gestoßen waren. Sie stellten fest, dass der Umschwung vor nicht einmal achttausend Jahren stattgefunden haben musste, im sechsten vorchristlichen Jahrtausend, zu einer Zeit, als der Wasserspiegel des versunkenen Sees deutlich tiefer gelegen hatte als der des nahen Mittelmeers. Beide Gewässer trennte damals wie heute nur eine schmale Landbrücke: der Übergang zwischen der Balkanhalbinsel und der Türkei. In den Köpfen der Forscher setzte sich ein dramatischer Film in Gang. Als sich in der ausgehenden Eiszeit die Ozeane mit Schmelzwasser füllten, stieg auch der Pegel des Mittelmeers – so weit, dass seine Wassermassen irgendwann ihr Becken sprengten, die Balkan-Landbrücke überfluteten und in das nördlich dahinter gelegene Tal strömten. Beschleunigt wurde der Prozess, als der Druck des nachfließenden Wassers Erdreich und Felsen beiseitepflügte und einen Durchbruch in die Landbrücke riss: den heutigen Bosporus. Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürfte das Mittelmeerwasser mit einer solchen Gewalt ins

Die Menschen, die in jenen dunklen Tagen an den Seeufern siedelten, müssen den sprichwörtlichen Untergang ihrer Welt wie eine unbegreifliche, jede Vorstellung sprengende Katastrophe erlebt haben. Was hatte ihre Götter nur so erzürnt? Während sie verzweifelt versuchten, sich selbst und ihr Vieh in höhergelegene Gegenden zu retten, dürften sie die ersten Erklärungsversuche entwickelt haben, aus denen im Lauf der Jahre und Jahrzehnte Schuldzuweisungen, Sühneschwüre, Selbstgeißelungen und religiöse Legenden wurden. Noch Generationen später, als sie längst fern der Heimat ihrer Vorväter ein neues Leben angefangen hatten, müssen die Menschen raunend von der großen Flut erzählt haben, die allem Vorherigen ein Ende gesetzt und allem Künftigen den Anfang gegeben hatte.

Als die Lagerfeuererzählungen in späteren Jahrtausenden aufgeschrieben wurden, entstand rund um das Schwarze Meer eine Flut an Flutliteratur. Im Alten Testament endet der Exodus der Menschen und Tiere auf dem Ararat, im Koran auf dem Cudi. Beide Versionen ähneln dem Gilgamesch- und dem älteren Atrahasis-Epos der Sumerer, in denen das rettende Schiff auf dem Nisir landet, einem Berg im kurdischen Teil des heutigen Iraks. Bekannt war die Flutlegende auch den Griechen des Altertums, die sie direkt mit dem Schwarzen Meer in Verbindung brachten, wenn auch in einer umgekehrten Version: Der Geschichtsschreiber Diodor ließ sich im ersten vorchristlichen Jahrhundert von den Bewohnern der Ägäis-Insel Samothraki erzählen, dass das Schwarze Meer in dunkler Vorzeit seine Ufer gesprengt und durch den Bosporus strömend ihr Eiland überflutet habe. Auch Strabo berichtet in seiner Geographie, dass die Flüsse, die ins Schwarze Meer münden, das Gewässer einst zum Überlaufen brachten.

Steckt hinter all diesen Geschichten eine reale Naturkatastrophe,

Wir ließen den Fuß des Ararats hinter uns und fuhren südwärts. Cervat wollte mir eine Stelle in den Bergen zeigen, wo vor ein paar Jahrzehnten einer der zahllosen christlichen Arche-Sucher eine vielversprechende Spur entdeckt haben wollte. Ein paar Kilometer vor der iranischen Grenze bogen wir von der Landstraße in einen Feldweg ab, der sich zwischen rötlichen Felsen bergauf schlängelte. Nach einer Viertelstunde hielt Cervat das Auto an. Wir stiegen aus und sahen vor uns ein langgezogenes, menschenleeres Tal. Die staubige Erde war mit Geröll übersät und wirkte so nachhaltig ausgetrocknet, als habe es hier seit der Sintflut nicht mehr geregnet.

Cervat deutete auf den gegenüberliegenden Berghang. Im Fels zeichnete sich eine Art Abdruck ab, ein langer, dunkler Fleck im Gestein.

«Nuh’un gemisi», sagte Cervat feierlich. Noahs Arche.

Der Abdruck war vielleicht hundert Meter lang und ein Drittel so breit. Er lief an beiden Enden spitz zu und erinnerte mit viel Phantasie an die Form eines Schiffsrumpfs. Mit etwas weniger Phantasie erinnerte er an die Form eines türkischen Pide-Brots.

Schweigend starrten wir in die Ferne. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich zwei barfüßige Jungen auf, deren neugierige Blicke zwischen mir, Cervat und dem Felsabdruck hin und her sprangen. Ich fragte mich, wo sie herkamen, wo sie wohnten, was sie hier taten, aber wir hatten keine gemeinsame Sprache.

«Nuh’un gemisi?», fragte ich, auf den Felsabdruck deutend.

Die beiden nickten stumm, als hätten sie nicht den geringsten Zweifel daran, dass in dieser meeresfernen Berglandschaft einst ein Schiff gestrandet war.

Tschornoje morje / Чёрное море

Jenes Meer aber, das selige Meer der seligen Kindheit, werde ich nicht mehr wiedersehen können – es sei denn, in mir selbst. Es ist entschwunden, wahrscheinlich dorthin, wohin auch die Zeit entschwindet.

Pawel Florenskij, «Meinen Kindern», 1919

«Warte, ich hab was für dich.»

Olegs massiger Kopf verschwand in der Eistruhe. Eine Weile hörten wir ihn im Inneren rumoren, dann zog er einen langen, bretthart gefrorenen Fisch an die Frühlingsluft.

«Hier!»

«Oleg …»

«Für dich.»

«Aber …»

«Geschenk.»

Er kam grinsend auf mich zu, den Fischschwanz mit beiden Händen umklammernd wie den Griff eines Yedi-Schwerts.

«Oleg … Ich wohne im Hotel, wie soll ich das Ding zubereiten?»

«In welchem?»

«Was?»

«Hotel.»

«Fortuna.»

«Sag Sascha, er soll dir den Fisch braten. Dem Typ an der Rezeption. Der ist ein Freund von mir, wir haben uns mal geprügelt.»

«Wieso habt ihr euch geprügelt?»

Oleg zuckte mit den Schultern. «Macht man hier so, wenn man Freundschaft schließen will.»

«Kann man nicht einfach so Freundschaft schließen, ohne Prügeln?»

Er überlegte einen Moment, bevor er entschieden den Kopf schüttelte.

«Dann kennt man sich ja gar nicht richtig.»

Die Eistruhe dampfte in der Aprilsonne. Oleg hatte vergessen, sie zu schließen, was nach all dem Schnaps kein Wunder war. Sein Kumpel Elvis, der Nüchternste von uns dreien, ließ den Deckel ins Schloss schnappen, während Oleg im Mannschaftsraum verschwand, auf der Suche nach einer Tüte für mein Geschenk.

Die Eistruhe stand am westlichsten Zipfel der Halbinsel von Taman, am Ufer der Straße von Kertsch, jener schmalen Meerenge, die Russland von der Krim trennt – und Asien von Europa, wenn man einer der vielen Definitionen Glauben schenkt, mit der diese undefinierbare Kontinentalgrenze im Lauf der Jahrhunderte gezogen worden ist. Wo die Eistruhe stand, war Asien.

Die Fischereigenossenschaft, in deren Hof wir uns befanden, hatte bessere Tage gesehen. Rost und Salz nagten an den Wellblechdächern der Geräteschuppen, dazwischen trockneten aufgehäufte Netze. Ein paar schrundige Ruderboote lagen mit himmelwärts gekehrten Kielen am Strand, algenverkrustet und halb im Sand versunken, wie die Panzer toter Schildkröten.

Tags zuvor war ich nach einem Flug von Moskau nach Krasnodar und einer Busfahrt durch die südrussische Steppe in der nahen Stadt Taman angekommen, wo ich mir am Morgen ein Fahrrad geliehen hatte, um das äußerste Ende der Halbinsel zu erreichen. Oleg und Elvis, die in der Fischereigenossenschaft arbeiteten, hatten mich bei dem Versuch ertappt, mein Rad durch eine Lücke im Zaun zu schieben – ich wollte ans Ufer, und der Zaun stand im Weg. Anstatt mich rauszuschmeißen, hatten sie mich an einen Stuhl gefesselt und mir Selbstgebrannten eingeflößt.

Natürlich hatten sie mich nicht wirklich an einen Stuhl gefesselt. Aber ihre Gastfreundschaft war von jener russischen Art, die man schlecht ablehnen kann.

Die Fischereigenossenschaft war eine erkennbar sowjetische Einrichtung, deren postsowjetischer Niedergang ihren Angestellten in

«Die Welt mag uns nur, solange wir schwach sind …»

Ich sah den Akkordeonfalten auf seiner Stirn zu, die einen Heldenmarsch in Moll spielten.

«Aber sobald wir uns von den Knien erheben, wollen alle uns fertigmachen …»

Sein glasiger Blick verhakte sich im Horizont. Da hinten erhob sich Russland von den Knien. In anschwellenden und verebbenden Schüben trug der Wind Baustellenlärm zu uns herüber: Schlagbohrer, Teerwalzen, Kranwinden. Keine zwei Kilometer vom Strand der Fischereigenossenschaft entfernt zog sich die Silhouette einer nagelneuen Brücke in die Meerenge von Kertsch hinein, erst leicht nach rechts, dann in die entgegengesetzte Richtung schwenkend – es sah aus wie ein gigantisches Fragezeichen. Wir kniffen die Augen zusammen, pulten Schwarzmeergarnelen und sahen dem größten Land der Welt beim Wachsen zu. Die Brücke, die in wenigen Wochen eröffnet werden sollte, führte von Russlands südwestlichstem Festlandzipfel hinüber zur annektierten Krim.

Etwas mehr als vier Jahre lag Moskaus Übernahme der Halbinsel an jenem Apriltag zurück. Mit ähnlichem Ewigkeitspathos wie einst Katharina die Große hatte im März 2014 Wladimir der Vergrößerer den Anschluss verkündet. Im Unterschied zur ersten Annexion hatte

«Die Krim war immer russisch … Immer … Wir haben sie uns nur zurückgeholt … Wie könnt ihr uns das übelnehmen …?»

Während ich seinem Lamento zuhörte, halb in Angst, dass sein Selbstmitleid plötzlich in Angriffslust umschlagen könnte, bekam ich zwei Verse nicht aus dem Kopf, die Alexander Blok kurz nach der Oktoberrevolution geschrieben hatte, als Hass- und Liebeserklärung an den ignoranten Westen, der Russlands ungelenke Umarmungsversuche so beharrlich missverstand.

Sind wir denn schuld, wenn eure Knochen

In unseren zärtlichen Pranken knacken?

Die unfertige Brücke war das fehlende Glied im ansonsten lückenlosen Weg, der mich von hier aus im Kreis um das Schwarze Meer führen würde. Es gab nur zwei größere Unterbrechungen in der Küstenlinie, wenn man von den Flussmündungen absah: die Wasserstraßen von Kertsch und Istanbul. Beide wurden seit antiken Zeiten mit dem Wort Bosporus bezeichnet, und beide galten gemeinhin als Kontinentalscheiden zwischen Asien und Europa. Der Istanbuler Bosporus aber war schon lange überbrückt, anders als der Kimmerische Bosporus, den die Griechen nach dem einst hier lebenden Reitervolk der Kimmerer benannt hatten.

Ich starrte in die Ferne, in der Hoffnung, am anderen Ufer die Hafenstadt Kertsch ausmachen zu können, das Ziel meiner

Mich aber hielten keine politischen Skrupel von der Brücke fern, sondern eine Art Hase-und-Igel-Ehrgeiz. Während die Russen ihren Schlussstrich westwärts in Richtung Krim-Ufer bauten, wollte ich in die entgegengesetzte Richtung reisen, im Uhrzeigersinn um das gesamte Meer herum, um am Ende auf der anderen Seite der Brücke zu stehen – ohne sie überquert zu haben.

Langsam ging der Nachmittag dahin. Als irgendwann Elvis’ Frau mit ihren zwei kleinen Töchtern auftauchte, verlangsamte sich das Stakkato der Trinksprüche ein wenig, und Oleg wurde ausgeglichener. Wir grillten Schaschliks und sahen aufs Meer hinaus. Nicht weit vom Strand entfernt ragten Holzpflöcke aus dem Wasser, zwischen denen die Netze der Genossenschaft aufgespannt waren. Unmittelbar daneben pflügten plötzlich zwei Delfine durch die Wellen, groß und grau und glänzend, die ersten von vielen, die ich während meiner Umkreisung des Schwarzen Meers sehen sollte. Ich starrte sie an wie ein Kind, mit offenem Mund und ungläubigen Blicken, während Elvis’ Töchter kaum die Augen vom Telefon ihres Vaters hoben.

Elvis hatte Verwandte auf der anderen Seite der Meerenge. Als vor vier Jahren die Krim-Annexion und der Bau der Brücke verkündet

Ich fragte Elvis, ob es in Taman eine Moschee für die Tataren gebe.

«Im ganzen Krasnodarer Kreis nicht.»

«Kosaken-Erde!»

Oleg war aus seinem Brüten hochgeschreckt.

«Alter russischer Boden! Die Regierung will hier keine Moscheen haben – hier sollen nur Glocken läuten!»

Ich musste daran denken, dass der Boden hier Tataren-Erde gewesen war, bevor Katharina ihn zu Kosaken-Erde gemacht hatte, und dass die Kosaken hier nur gelandet waren, weil Katharina sie aus ihrer ukrainischen Heimat vertrieben hatte, aber ich verkniff mir den Einwand.

Stattdessen sprachen wir über Fischereitechniken. Oleg und Elvis erzählten mir von der Turm-Methode: Man montiert im Wasser zwei Hochsitze auf langen Pfählen, etwa drei Meter über dem Meeresspiegel, beide in gleicher Entfernung zum Ufer. Hinter ihnen wird kastenförmig ein Netz aufgespannt, mit einer Reuse am äußeren Ende. Auf den Türmen postieren sich zwei Männer, die geduldig ins Wasser starren. Taucht ein Schwarm Meeräschen auf, dirigieren sie ihn mit beweglichen Netzen ins Innere des Kastens, ziehen die Vorderseite zu und warten, bis alle Fische in der Reuse gelandet sind.

Die Turm-Methode, versicherten mir Oleg und Elvis, werde nur hier praktiziert, auf der Taman-Halbinsel, wie überhaupt die meisten Fischereitechniken lokal seien, schon am nächsten Küstenabschnitt werde ganz anders gefischt. Es sei ursprünglich eine türkische

Kein halbes Jahr später, als ich am gegenüberliegenden Schwarzmeerufer den Bosporus erreichte, sah ich auf der anatolischen Seite zwei hölzerne Türme aus dem Wasser ragen, gekrönt von Hochsitzen, auf denen zwei Männer saßen – es sah genau so aus wie die Skizze, die Oleg und Elvis mir in den Notizblock gezeichnet hatten. Doch als ich den Bosporus-Fischern die türkischen Fachwörter ihrer russischen Kollegen vorlas, blickte ich in verständnislose Gesichter. Irgendwo auf dem langen Weg, den die Türme bei ihrer Schwarzmeerumrundung zurückgelegt hatten, schien etwas auf der Strecke geblieben zu sein.

Es wurde dunkel, als ich den Fisch an meinen Fahrradlenker hängte und zurück nach Taman fuhr.

Hotel Fortuna

Als ich nachts mein Hotel erreichte, stellte ich fest, dass Olegs Geschenk verschwunden war. Die Plastiktüte hing noch am Lenker, aber in ihr klaffte ein Loch, der Fisch war weg. Wahrscheinlich lag er irgendwo am Straßenrand und starrte den Mond an.

Das staubige Steppenkaff Taman liegt am Nordufer der gleichnamigen Halbinsel, auf der asiatischen Seite des Kimmerischen Bosporus, ein paar Kilometer entfernt vom Fuß der Krim-Brücke, umgeben von sanft gewelltem Wasser auf der einen Seite und sanft gewelltem Gras in allen anderen Himmelsrichtungen. Ein mehr oder weniger durchgehender Vegetationsstreifen dieser flachen, nahezu baumlosen Wiesenlandschaft reicht von hier bis in die Mongolei, und lange

«Dikoje polje», wildes Feld: So nannten die Russen die Graslandschaft, die lange die umkämpfte südwestliche Grenze des Zarenreichs bildete, bis Katharina die Steppenvölker unterwarf und ihr Imperium bis an die Küste ausdehnte. Am Vortag war ich mit einem Überlandbus durch die Steppe gefahren, fünf Stunden lang, aus der Kreishauptstadt Krasnodar bis nach Taman. Über dem Gräsermeer beiderseits der Landstraße hatte die Luft geflimmert, Millionen von Singvögeln hatten im Tiefflug nach Insekten gejagt, und durch die Busfenster war ein so intensiver Duft nach Wildkräutern gedrungen, dass mein älterer russischer Sitznachbar glänzende Augen bekam. «Schaschliks könnte man mit dieser Luft würzen!», rief er. «Man müsste die Spieße bloß aus dem Fenster hängen!»

Das Hotel in Taman hieß Fortuna, weil es einem Armenier gehörte, der vor ein paar Jahren einen Batzen Geld in der russischen Lotterie gewonnen hatte. Ein örtlicher Fernsehreporter hatte ihn damals gefragt, ob er vorhabe, mit dem Gewinn in seine Heimat zu verduften. Dem Armenier kam es vor, als liege ein drohender Unterton in der Frage, weshalb er vor laufender Kamera beteuert hatte, er werde das Geld in Russland investieren. So war er vom Gastarbeiter zum Gastwirt geworden.