Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.
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Umschlaggestaltung Anzinger | Wüschner | Rasp, München
Impressum der zugrundeliegenden gedruckten Ausgabe:
ISBN Printausgabe 978-3-499-15383-9
ISBN E-Book 978-3-688-11603-4
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-688-11603-4
Für meinen Sohn
und dem Andenken an KG,
der mir vor Jahren in Hohenhaus die Fremdenlegion
in Indochina als Thema dieses Romans vorschlug
Vous êtes Légionnaires pour mourir, et je vous envoie
là où l’on meurt.
Général de Négrier (Fort St. Jean, Marseille)
»Was geht uns Dien Bien Phu eigentlich an?« fragte Legionär Vogelsang in Tonkin.
»Das frag ich mich schon seit Wochen«, erwiderte Legionär Brenner.
»Ich habe zu Haus immer gemeckert, aber die Spree gefiel mir doch besser als der Rote Fluß.«
Vogelsang schwieg. Der Rhein war mit keinem Fluß auf der Welt zu vergleichen. Er murmelte: »Fieber, Durchfall und die Vietminh – du, daheim hatte ich keine Ahnung von diesen Brüdern.«
»Dafür weißt du’s jetzt um so besser«, sagte Brenner trocken. »Sie sind Kommunisten und Geschmackssache.«
»Wir sind auch Geschmackssache.«
»Prost!« Brenner trank einen kräftigen Schluck Reiswein. »Ich wäre gern ein Wasserbüffel im Mekongdelta. Der hat’s gut.«
»Bis die Freiheitskämpfer nach Saigon kommen«, sagte sein Freund düster.
»Bis dahin sind wir längst zu Hause oder in Afrika.«
»Oder tot«, sagte Legionär Vogelsang. »Was mißfällt dir daran?«
»Bloß nicht tot«, sagte Legionär Brenner aus Berlin.
Der Kampf um die Dschungelfestung Dien Bien Phu dauerte siebenundfünfzig Tage. Eintönig und blutig wie alle Kämpfe. General de Castries und seine Truppen schlugen sich heroisch gegen die Übermacht der Vietminh. Viele Fremdenlegionäre, darunter viele Deutsche, starben einen unbesungenen Tod in Vietnam, bis die weiße Fahne über der französischen Festung flatterte.
In einer Hinsicht ähneln sich gewonnene und verlorene Kriege. Sie produzieren mit trübseliger Gleichförmigkeit tote Helden, halbtote Verwundete, Invaliden auf ewig und drei Tage. In einem Dschungelkrieg mit mörderischem Klima sind die Toten weitaus am besten dran. Aber natürlich gibt es immer Burschen, die mit heiler Haut davonkommen. Richtig, Gefangene gibt es auch; bei Dien Bien Phu gerieten viele Legionäre in die Lager der Vietminh. Wie wird es dem jungen Brenner ergehen? Und Vogelsang? Oder Legionär Wedemeyer? Der hält dem friedlichsten Lamm die Faust unter die Nase. Ist es das Klima in Tonkin? Oder ist Ernst Wedemeyer ein Raufbold? Jedenfalls treibt ihn die Affenhitze buchstäblich auf die Palme. Mit wem kann er sich morgen herumschlagen? Mit den Vietminh? Mit seinen Landsleuten? Übrigens, sollte es ihn bei Dien Bien Phu erwischen, wird keine trauernde Familie um sein Tropengrab stehen. Und nicht nur, weil die Reise von Bad Harzburg nach Vietnam zu teuer wäre. Seine Frau will nicht. Von Familie Wedemeyer abgesehen, spielen Familien sowieso keine Rolle in der Legion. Sie sind ein Fremdwort im Wörterbuch der Söldner. Wie Angst vorm Feind. Oder Erinnerungen an ein privates Leben.
Die Vergangenheit der Legionäre ist tot.
Vive la légion!
Im wunderschönen Monat Mai, als alle Stricke rissen, eroberten die Vietminh schließlich die Festung Dien Bien Phu, während die letzten Hoffnungen des Generals de Castries im Golf von Tonkin ertranken. Der Fall der Festung bedeutete das Ende der Kolonialherrschaft in Indochina und den Beginn der kommunistischen Epoche. Diese französische Kolonie in Ostasien war eine virtuos geplante, hochzivilisierte Schöpfung. Seit 1786 hatten die Franzosen ihre neue Welt im uralten Ostasien aus Sümpfen, Urwäldern, Reisfeldern gestampft und Stein für Stein, Stadt für Stadt, Haus für Haus aufgebaut. Und nun hieß es: »Adieu, Indochina!«
Leutnant Claude de Montand, Sproß einer alten französischen Militärfamilie, die sich in der Ehrenlegion ebenso auskannte wie in der Fremdenlegion, fragte sich nach dem Fall von Dien Bien Phu mit Ludwig XIV., ob Gott alles vergessen habe, was die Franzosen für ihn getan hatten …
Und was machten die Chinesen während des Weltuntergangs am Roten Fluß? Was sie immer bei fremden Kriegen und Krisen machen: Sie lebten in ihrer eigenen Welt, arbeiteten, aßen, tranken, vergruben sich und ihre Wertgegenstände im finstersten Winkel – und sahen zu. Das taten sie in Saigon, in Saigons Chinesenstadt Cholon, überall im fruchtbaren Mekongdelta, wo sie sich, genau wie in Tonkin und Annam, mit Mann, Maus und den ehrenwerten Großeltern seit Jahrhunderten angesiedelt und den Vietnamesen chinesische Küche und konfuzianische Moral vorgelebt hatten. Im übrigen warteten sie auf den Waffenstillstand und Geschäfte mit Siegern und zahlkräftigen Besiegten. Dabei vergaßen sie aber nicht, daß der Mensch, zumindest der chinesische Mensch, niemals vom Reis allein gelebt hat. Wenn er zwei Schalen mit Reis hat, verkauft er eine und ersteht dafür eine Lilie. Die Großväter murmelten, die Heuschrecken von Tonkin verschlängen das Geld und die Jahre, und die Großmütter fütterten den jüngsten Enkelsohn. Das hatten sie immer gesagt und getan. Man konnte eben die Süße des Lebens nur kosten, wenn man die Bitternis geschluckt hatte.
Obwohl die Chinesen in Saigon und Cholon zu schwer und zu besessen arbeiteten, um sich nach Ladenschluß am Born der Weisheit zu erfrischen, wußten und taten sie instinktiv, was ihre Philosophen gepredigt hatten. Sie versuchten nicht, Glück oder Unglück zu verursachen, und schwammen mit dem Strom, nicht gegen ihn. Auf diese Weise entdeckten die großen Realisten des Fernen Ostens in jeder Generation aufs neue das Tao, den Weg in die äußerste Stille. Und im Jahre 1954 entdeckten sie wieder einmal die Vergänglichkeit der Macht, die wie eine gierige Konkubine von einem Herrscher zum nächsten gleitet. Immer demütig dienernd, wie jene Konkubinen am ehemaligen Kaiserhof von Hué, wo man die Sitten und Gebräuche des kaiserlichen Peking kopiert hatte. Obwohl die Chinesen viel Kultur und Geld in Indochina investiert hatten, waren sie zur Zeit von Dien Bien Phu genauso unbeliebt wie heute, wo Saigon streng und parteigetreu »Ho-Chi-Minh-Stadt« heißt. Aber das kümmert sie wenig. Wer auf Ruhm und Beliebtheit verzichtet, erspart sich Kummer und Sorgen. Das hatte Yu Tse etwa 1250 vor Christus festgestellt, und die Chinesen in Indochina waren natürlich seiner Meinung. Ihre Sprüche sind so alt, dauerhaft und beruhigend wie ihre kostbaren graugrünen Bronzen – jene Drachen, Vögel, Zikaden und Wasserbüffel, mit denen sie leben.
Die strahlende Tropensonne ist oft verfinstert, besonders in der Regenzeit. Aber die Sonne über Dien Bien Phu war von Blut und Schwermut verdunkelt. Was würden die vielen Witwen und Waisen von Südvietnam machen? Nun ja, sie konnten die Reisfelder mit Hilfe der Kinder bestellen, so gut oder schlecht es ging; aber sie wollten lebende Ehemänner und Söhne haben, keine toten Helden. Darüber redeten sie nicht, aber so war es eben, und so wird es immer sein. Das galt nicht nur für die Hinterbliebenen in Ostasien, sondern auch für die vielen trauernden Franzosen und die Familien der Fremdenlegionäre. Im fernen Europa war es den Witwen und Waisen gleichgültig, ob die Vietminh von den Franzosen einen Denkzettel erhielten oder umgekehrt. Ihre leeren Häuser waren nur vom donnernden Echo eines fremden Krieges erfüllt.
Revenons à nos moutons! Wie wird es Brenner, Vogelsang und Wedemeyer ergehen? Werden sie am Abend der Schlacht von Dien Bien Phu weiser sein als am Morgen? Aber Weisheit ist ein kaltes Feuer, und die Nächte der Besiegten sind ohnehin kalt. Knietief im Schlamm, andererseits: Wer am Boden liegt, kann nicht mehr fallen, und vielleicht fällt das den Legionären als Trost ein? Du lieber Himmel! Brenner und Vogelsang sind ganz kleine Nummern in der Legion. Falls es sie in den nächsten Wochen bei Dien Bien Phu erwischen sollte, würde kein französischer Hahn auf ihrem Dschungelgrab nach ihnen krähen. Aber wozu sollte er krähen? Frau Brenner in Berlin würde um ihren dämlichen Jungen, der sich zur Fremdenlegion schlug, bittere Tränen weinen (oder sie kriegt ihren Zorn – dann Gnade Gott!). Und Vogelsangs Braut im fröhlichen Rheinland? Schwamm drüber! Und wie wird es dem Veteranen Wedemeyer mit seiner langen, ruhmreichen Vergangenheit in Nordafrika ergehen? Er wird doch nicht etwa jetzt ins Gras beißen? Keine Sorge, er wird schon dafür sorgen, daß er nicht versehentlich über ein feindliches Maschinengewehr stolpert. Leutnant de Montand kann sich angenehmere Gesellschaft als Legionär Wedemeyer vorstellen, aber der Mann ist unerschrocken wie Richard Löwenherz, pardon, Cœur de lion, und der Leutnant erkennt es widerwillig, aber rückhaltlos an. Wedemeyer kämpft prinzipiell mit Todesverachtung; aber vielleicht will er doch am Leben bleiben – wie der junge Brenner? Bei Vogelsang weiß man nicht recht. Er gehört zu den Stillen im Rheinland, und am Vorabend der Schlacht ist er am Ende seines Lateins. Jedenfalls wird ihm in Tonkin abwechselnd heiß und kalt, wenn er an seine Braut denkt. Ist die Liebe etwa ein Wechselbad? Junggeselle Vogelsang weiß es nicht. Im Augenblick hat er Schüttelfrost. Wedemeyer erinnert sich prompt an einen ähnlichen Fall und serviert die unheimlichen und unappetitlichen Einzelheiten zum Abendessen. Vogelsang schließt die Augen. Seine Zähne klappern wie die Tasten einer Schreibmaschine. In Tonkin führt ein Tropenfieber leicht zum Tod in der Baracke.
Vive la légion!
Die Luft ist voller Dolche.
(Ausspruch aus der Französischen Revolution)
Es gibt so viele Geschichten wie es Fremdenlegionäre gibt. Und jede Geschichte hat ihre drei Seiten: Wie der Legionär sie erzählt, wie Freunde und Feinde sie erzählen – und schließlich die wahre Geschichte. Übrigens pendelt die Wahrheit, wie der Legionär, unbehaglich im leeren Raum; aber sie ist unsichtbar, ironisch und, wie gesagt, wahr. So ist es zum Beispiel wahr, daß durchaus nicht jeder Fremdenlegionär ein Verbrecher ist, der sich vor den Behörden seines Landes in die Legion flüchtet, weil dort niemand nach seinem Vorleben fragt. Und natürlich gibt es so viele Gründe wie Legionäre. Was trieb Brenner, Vogelsang und Wedemeyer nach Algerien und Tonkin? Aber wer will das wissen? Wer interessiert sich für diese Nummern? Außerdem sind das alte, ziemlich lange und verwickelte Geschichten. Ihr Eintritt in die Legion hat mit Brenners Mutter, mit Vogelsangs Vater und mit Wedemeyers ehemaligem Beruf als Turnlehrer zu tun. Zwischen zwei Klimmzügen begeisterte Wedemeyer sich an den alten Spartanern. Turnvater Jahn war, lange vor Hitler, seine schwache Seite gewesen. Wedemeyer dachte oft, daß der Alte mit dem Bart seine Freude an der SA gehabt hätte. Die marschierten, wie sich das gehört.
Nicht etwa, daß es Ernst Wedemeyer nach spartanischer Lebensweise gelüstete – dazu trank er zu gern Bier und aß seinen Harzer Käse dazu. Aber die Kampflust, die Todesverachtung, die ungezügelte Angriffslust imponierten ihm an den Spartanern. Wedemeyer war eben ein alter SA-Mann und ein neuer Spartaner; wem das nicht paßte, dem erteilte er eine handgreifliche Lektion. In Algerien wie in Tonkin. Er hatte sich sofort nach dem Krieg nach Marseille abgesetzt. »Komm mir nur nach Haus!« (anonymes Telegramm aus Bad Harzburg nach 1945). Wedemeyer hatte die Warnung beachtet; über private Lynchjustiz wußte er zu gut Bescheid.
Brenner hatte es daheim mit seiner verwitweten Mutter nicht ausgehalten. Dazu kamen seine Abenteuerlust, seine Neugierde und die Erzählungen aus der Fremdenlegion. Sie klangen großartig. Jetzt wußte Brenner es besser, aber jetzt mußte er seine fünf Jahre in der Legion abschwitzen.
Und Vogelsang? Das ist nun wirklich eine lange Geschichte. Reden wir nicht davon! Hatte Schopenhauer nicht lange vor Joseph Augustin Vogelsang festgestellt, daß die irdische Existenz ein Kerker voller Trauer sei? Na also! Aber der junge Vogelsang lebte nach biblischen Ordnungen, und das gibt ihm eine gewisse innere Kraft; besonders, weil er die Kameraden nicht mit seinem Glauben anödet. So war er selbst in der Fieberhölle von Tonkin geborgen; und die grimmige Zeit, die der belle époque von Saigon gefolgt war, zog wie der Monsunwind an ihm vorbei. Wenn er gelegentlich an seine Zukunft dachte, wußte er, daß sie längst der Vergangenheit angehörte. In Aachen hatte er die Technische Hochschule besucht. Er wollte Bergbau-Ingenieur werden. Dann hatte er seiner Braut aus Marseille geschrieben, daß er sich bei der Fremdenlegion verpflichtet habe. Erst einmal für fünf Jahre. Sabine König hatte geantwortet, fünf Jahre seien eine lange Zeit, was da alles passieren könne. Der junge Vogelsang dachte lange und erfolglos über diese Äußerung nach. Natürlich hatte Sabine recht. Sie hatte immer recht, und das gefiel ihm nicht besonders. Gott hatte recht, sonst niemand, schon gar nicht eine Braut.
Er hörte wenig von ihr, las ihren ersten Brief immer wieder und begriff ihn jedesmal weniger. Einmal hatte Sabine geschrieben, leere Koffer hätten auch ihr Gutes: Man brauche sie nicht mehr abzuschließen. Was um Himmels willen sollte das heißen? War er, Vogelsang, der leere Koffer? Oder warf sie seine spärlichen Briefe weg, statt sie in ihrem Koffer aufzubewahren? Sabine neigte zu mysteriösen Andeutungen, was Vogelsang auch nicht besonders gefiel. Er erkannte nur die Mysterien des Glaubens an.
In der Legion fragte er sich oft, warum er sich überhaupt mit Fräulein König verlobt habe, und verbot sich diese Frage, sobald er sie sich gestellt hatte. Sabine würde eine ausgezeichnete Ehefrau und Mutter werden, und das war das Ziel der christlichen Ehe. Oder? Aber auch daheim hatte er seine Braut oft gebeten, klare, einfache Dinge entsprechend auszudrücken. Leider war eine Verlobung mit bevorstehender Ehe keine klare, einfache Sache; wenigstens nicht für Vogelsang. Vor dem Transport nach Algerien, wo er die ersten zwei Jahre verbringen sollte, hatte er Sabine um Verzeihung für seinen Entschluß gebeten. Er sei wegen seines Vaters fortgegangen. Er wolle Sabine nicht in seine Familienangelegenheiten hineinziehen. Sie habe Besseres als Familie Vogelsang verdient, und die Vergangenheit sei eben niemals so tot wie Optimisten behaupten … Zum Schluß schrieb Vogelsang, daß sein Schweigen über seinen Vater kein Mangel an Vertrauen zu Sabine gewesen sei. Diesen Brief hatte Sabine nicht beantwortet.
In Indochina glaubte Vogelsang nicht mehr an volle oder leere Koffer. Vielmehr dachte er daran, wie beschwerlich die Pilgerschaft von der Wiege bis zum Sarg war – und wie sehr der Mensch Ruhe brauchte. In der Legion war auch Ruhe ein Fremdwort. Im Augenblick brannte sein Kopf wie ein Dschungelfeuer, und er mußte doch die Festung Dien Bien Phu verteidigen! Er sagte zu Brenner, in Algerien habe es ihm besser gefallen.
»Aber hier gibt’s besseres Futter und mehr Geld«, brummte Brenner. »Was nützt uns das?«
»Willst du später zu Hause von Luft und Liebe leben? Deine Braut wird dir was husten.«
»Du, die Vietminh sollen den Gefangenen bei lebendigem Leib die Köpfe abschlagen.«
»Wer hat dir das erzählt? Die Gefangenen?«
»Wedemeyer«, sagte Vogelsang düster.
»Das Schwein muß es ja wissen.«
»Ach, Theo, laß den Alten in Ruh.«
Brenner zuckte die Achseln. Er wollte den fiebernden Freund nicht aufregen. Wenn Wedemeyer betrunken war, was ziemlich oft vorkam, erzählte er, wie tadellos alles im »Dritten Reich« geklappt habe. Brenners Vater, Journalist und Sozialdemokrat, war im Lager Oranienburg gestorben, wo auch alles tadellos geklappt hatte.
Vogelsang sagte, Wedemeyer sei eine große Nummer in der Legion und habe schon 1949 den Fall von Dong Khe mitgemacht.
»Dann hat er ja Übung im Verlieren«, sagte Brenner bissig. »Wenn Dien Bien Phu nun fällt, wird Wedemeyer die rote Fahne schwenken. Im Schwenken hat er auch Übung.«
Vogelsang schwieg. Dann sagte er leise: »Laß ihn in Frieden! Er hat auch genug durchgemacht. Wer macht alles richtig? Und schließlich sind wir Landsleute.«
»Leider.«
»Wedemeyer hat nur mich«, sagte Vogelsang bescheiden.
»Er hätte ’ne Menge Landsleute in Bad Harzburg, wenn er sie in der Nazizeit nicht verpfiffen oder umgelegt hätte.«
Vogelsang blickte bekümmert. Er mochte es nicht, wenn sein lieber Theo den Richter spielte, aber er sagte nichts. Er gab seinem Freund ein in alte französische Zeitungen verpacktes Päckchen. »Würdest du das meiner Braut bringen, falls ich nicht mehr heimkomme?«
Das Päckchen enthielt sein ererbtes Kruzifix, sein Gebetbuch, Fotos von Aachen und einige Schriften des Heiligen Augustinus. Ja, und ein mit Wasserflecken verwischtes Foto war auch noch da (die Regenzeit, wenn es nicht Tränen waren). Sabine König, dieses »rheinische Mädchen vom rheinischen Rhein«, war nur noch als Umriß erkennbar. Sehr blond, in jeder Hinsicht verblaßt, und sie hätte jedes junge Ding der westlichen Welt sein können. Aber Vogelsang konnte sich den Rest dazudenken, denn er hatte seine Braut oft genug nachdenklich betrachtet. Sabine war zu mager. Vogelsang hatte Rundungen erwartet, wo die Natur sie für gewöhnlich vorsieht. Er fand weibliche Rundungen tröstlich. Während seines Urlaubs in Saigon-Cholon hatte er die Figur der jungen Chinesin, die »Nummer drei« genannt wurde, schüchtern bewundert. Dieses Mädchen war vollschlank gewesen, und ihr enges Kleid machte kein Hehl aus dieser erfreulichen Tatsache. Übrigens hatte die junge Dame nichts eiligeres zu tun gehabt, als den unschuldigen deutschen Jungen zu verführen. Und nun, in der Baracke in Tonkin, litt Vogelsang an Schüttelfrost, Sehnsucht nach »Nummer drei«, Durchfall und Gewissensbissen wegen Sabine, der er in zwei Jahren reinen Wein einschenken mußte, falls er wider Erwarten heimkehren sollte. Wie sagte man einer schwierigen, aber treuen Braut, daß man eine chinesische Kellnerin in Cholon heiraten wolle? Im Restaurant »Reiskugel« gab es immer genug Reis, und er, der Student Vogelsang, würde schon irgendeine Arbeit finden. Und wenn er nur Bambushütten baute. Vogelsang verabscheute Aussprachen mit Bräuten. Zum Glück verstand »Nummer drei« kein Deutsch. Hatte Sabine nicht selber gesagt, daß allerhand in fünf Jahren passieren könne? Na, in seinem Fieber sah Vogelsang idiotische und entzückende Zukunftsbilder mit »Nummer drei« als Ehefrau.
Übrigens konnte er sehr gut backen. Das hatte ihm immer Spaß gemacht. Warum sollte er nicht »Aachener Printen« im Restaurant »Reiskugel« einführen? Gab es auf der Welt ein besseres Gebäck? Sekundenlang kostete er die Honigwaben der Heimat, denn das kulinarische Gedächtnis des Rheinländers ist unverwüstlich. Leider gehörten Printen und Sabine zusammen. Sabines Großvater war Printenbäcker gewesen, und die Familie bewahrte die schönen, geschnitzten Backformen auf: Reiter, Kavaliere, sogar das Jesuskind und die Muttergottes. Die schönsten Formen der Printenbäcker waren ins Museum gewandert. Es waren auch drollige Figuren dabei, aber Sabine war so ernst. Nicht einmal im Karneval hatte sie gelacht oder getanzt oder gesungen. Eine Aschermittwoch-Natur, so war sie Vogelsang bisweilen vorgekommen. Aber er mußte sie eine Zeitlang so bewundert haben, daß er es für Liebe gehalten hatte. Sie war Kinderschwester und kam einfach wunderbar mit den Kleinen zurecht. Ja, sie würde eine gute Frau und Mutter für den richtigen Mann werden. Vogelsang wünschte in Tonkin, er könnte einen Ehemann für Sabine aus der Luft angeln. Er war so glücklich mit »Nummer drei«. Hoffentlich war sie mit ihm auch etwas glücklich gewesen. Er hatte wenig Erfahrung mit jungen Frauen. In der Legion gab es so grobe Witze und Reden, daß es Vogelsang graute. Er war im Respekt vor Frauen aufgewachsen. Dafür hatte seine Mutter gesorgt. Komisch, wenn er Sabine beim Backen zugesehen hatte, dann war zwischen ihnen alles in Ordnung gewesen. Die Geheimnisse der Aachener Backkunst waren so viel erfreulicher gewesen als ihre Aussprüche. Seine Familie litt an Magenbeschwerden und geistigem Hochmut. Sabine hatte seine Mutter einmal und nicht wieder besucht. Frau Professor Vogelsang hatte die mitgebrachten Printen nicht einmal ausgepackt und zum Kaffee angeboten. So etwas legte sich ihr auf den Magen, oder war es Sabine gewesen?
Vogelsang seufzte. Plötzlich sah er sich wieder in Marseille, im Bureau de recrutement. Dort hatte er Theo Brenner zum erstenmal gesehen, und die beiden ungleichen Rekruten waren sofort Freunde geworden. Weswegen wollte Brenner die Fremdenlegion vermehren? Er band es Vogelsang nicht auf die Nase.
»Sie sind sehr jung«, hatte der Offizier der Werbestelle zu Brenner gesagt. »Haben Sie unser Informationsblatt genau gelesen?«
»Jawohl.«
»Warum wollen Sie in die Legion? Es ist ein hartes Leben.«
»Ich will mich verändern.«
»Ah! Ich mache Sie nochmals darauf aufmerksam: Sie verpflichten sich für fünf Jahre. Strenge Disziplin, ein schwieriges Klima. Und – die Republik kann nicht für Sie sorgen, wenn Sie krank oder invalide werden.«
»Ich weiß.«
Der Offizier betrachtete Brenner einen Augenblick in tiefem Schweigen. Ein Schuljunge mit Schulfranzösisch. Dann sagte er schroff: »Es gibt kein Zurück, wenn Sie unterschrieben haben.« Man wußte nie, was diese Jungen sich in ihren eigensinnigen Schädeln bei der ganzen Sache dachten. Warnen mußte er sie, das war seine Pflicht. Er tat mehr als das. Er hatte ein Herz für die Jugend. Drei Söhne in Brenners Alter. Aber der älteste war reifer. Doch dieser Monsieur Brenner war noch ein ausgewachsener Mann gegen den überlangen Unschuldsengel aus dem Rheinland mit dem unaussprechlichen Namen »Vogelsang«. Monsieur Vo-gel-sang wirkte wie ein entlaufener Klosterbruder.
»Ich will nicht nach Berlin zurück«, erklärte der junge Brenner. »Wenn Sie morgen früh noch so denken, dann kommen Sie bitte hierher zurück.« Der Offizier dachte an Baudelaires Worte: »O mort, vieux capitaine!«
Mittlerweile hatten Brenner und Vogelsang begriffen, daß es kein Zurück gab. Selbst wenn sie nach fünf Jahren nach Hause segelten. Das Leben in der Legion würde sie geistig und körperlich gezeichnet haben. Sollten sie fliehen? Ihre Nummernschilder wieder gegen Familiennamen eintauschen? In Tonkin hatte Brenner zweimal Fluchtpläne entworfen, und Vogelsang, der entlaufene Klosterbruder, hatte praktischen Verstand bewiesen. Er fragte Brenner, wie sie im Dschungel weiterkommen wollten. Wer in ganz Indochina würde ihnen helfen? Und Proviant? Wie lange würden die Feldflaschen mit Wasser reichen?
»Einigen ist es gelungen, du alter Miesmacher«, sagte Brenner ärgerlich. Er war wütend, weil Vogelsang recht hatte.
»Die meisten werden auf der Flucht erschossen, Theo! Oder gefoltert, wenn man sie wieder einfängt. Oder sie verrecken vor Durst.«
»Ich freu mir ein Loch in den Strumpf«, sagte Brenner. Er sah den Freund, den das Feldlazarett behandelt und fürs erste entlassen hatte, scharf an. War Vogelsang unheilbar erkrankt? Oder brauchte man die Betten für akute Fälle? Der Junge war gelb und grau vom Chinin oder was der Arzt ihm sonst gab.
»Soll ich den Arzt holen?« fragte er unbehaglich.
»Bloß nicht ins Lazarett zurück. Ich bin nur etwas schwach. Es bleibt nichts im Magen. Ich muß ein Sieb im Darm haben. Oder so was. Hol Wedemeyer!«
»Den ollen Nazi?«
»Er tut sein Bestes, Theo! Er war eben infiziert – der arme Kerl!«
»Nächstens streust du ihm Weihrauch«, sagte Brenner mürrisch.
»Jaja, ich hol ihn, wenn du so bockbeinig bist.«
Er tat für Vogelsang fast alles. Er hing so blöde an dem Burschen. Der hatte die Augen geschlossen und atmete mühsam. Gleich würde Wedemeyer aufkreuzen. Er wußte nie, was er mit dem alten Haudegen reden sollte. Es war nicht nur der Abgrund zwischen den Generationen – es war Wedemeyer selbst. Vielmehr seine Vergangenheit, die Vogelsang nicht so entschuldbar fand, wie er stets vorgab, weil »der Alte« keinen Freund unter den Landsleuten hatte. Übrigens war Korporal Wedemeyer nicht so alt, wie er diesen Grünschnäbeln vorkam, und er hatte ungeheure Körperkräfte, die er planmäßig einzusetzen wußte. Auch die französischen Offiziere mochten ihn nicht, und Leutnant de Montand war besonders höflich, um seine Abneigung gegen diesen bewährten und furchtlosen Veteranen der Legion zu verbergen.
Brenner behauptete, Wedemeyer habe eine ruhmvolle Karriere als Denunziant im Dritten Reich hinter sich. Natürlich war Brenner kein Augen- oder Ohrenzeuge, aber er hatte die ganze Geschichte von Müller VII in Saigon gehört. Müllers Vater stammte aus der Harzer Gegend und hatte Ernst Wedemeyers Aufstieg vom Turnlehrer in den Olymp der SA erlebt. Ein wahres Glück für Müller VII, daß er an Malaria verreckt war, bevor Korporal Wedemeyer ihn in die Finger bekam. Aber selbst Brenner, der immer mit der Schnauze vorneweg war, hielt sich für seine Verhältnisse in Wedemeyers Gegenwart zurück. Wo der hinschlug, da wuchs kein Gras mehr. Mit dem Burschen war nicht gut Kirschen essen oder choum-choum (Reiswein) trinken. Wenn einer es verstand, guten Gebrauch von seinem Buschmesser zu machen, dann war’s Wedemeyer aus Bad Harzburg. Er liebte sein altes Buschmesser und nannte es »Fromme Helene«. Wo er hinging, da ging die »Fromme Helene« mit. Aber Wedemeyer rauchte kein Opium, wie viele Legionäre in Indochina. Die sahen wie der Tod aus, besonders Egon Strobel. Wedemeyer hatte ihn nicht denunziert, sondern ihm die Sucht unter Drohungen abgewöhnt. Die »Fromme Helene« hatte ihre Rolle dabei gespielt.
Ja, selbst Wedemeyer hatte mehrere Seiten, und Brenner war zu dusselig, um das einzusehen oder diesem brutalen Samariter, der nur mit Vogelsang vorsichtig umging, grollende Anerkennung zu zollen. Aber er hatte Respekt vor Helene – besonders nach Anbruch der Dunkelheit. Wie überall in der Legion gab es auch in Tonkin ein »Strafbataillon«, das Wedemeyer regelmäßig belieferte. Die armen Teufel hatten nichts zu lachen, und das war auch nicht der Zweck der Übung, wie Wedemeyer beim Reiswein erklärte. Wie gesagt, Brenner nahm sich in acht.
Wann immer Wedemeyer den kranken Vogelsang, der den Gesunden spielen wollte, besuchte, dachte der im voraus über neutrale Gesprächsthemen nach. Darin war er nicht unerfahren, denn er hatte schon daheim eine Liste von Themen angefertigt, die er bei seiner Braut vermeiden mußte. Trotz ihrer Jugend war Sabine streng. Oder hochmoralisch oder prüde? Vogelsang wußte es nicht. Sie war seine erste Braut, überhaupt sein erstes Mädchen. Aber bis auf schüchterne Küsse hat er bei dieser eisernen Jungfrau nichts erreicht. Vogelsang dachte in Indochina oft darüber nach, wie leicht man in der Ehe Schiffbruch erleiden könnte. Im Meer der Leidenschaften mußte es viele verborgene Sandbänke geben. Selbst wenn man so aufpaßte wie er! Er hätte sich gern mit einem Ehemann über die Sandbänke unterhalten, aber Wedemeyer schien ihm als Aufklärer ungeeignet. Er hatte Frau und Kinder nach 1945 in Bad Harzburg zurückgelassen. Flucht aus schwierigen Situationen war eine zu einfache Lösung für Vogelsang.
Unterdessen steckte Brenner das Päckchen für Sabine in seinen Sack. Dann fragte er wieder einmal, wer gleich das Schlimmste annehmen wolle.
»Ich«, sagte Vogelsang und lächelte Brenner entschuldigend an.
»Wenn ich mich nicht sehr irre, glaubst du doch an Gott, Mensch! Der müßte dir doch jetzt helfen, oder?«
Joseph Augustin Vogelsang schwieg. Möglicherweise würde der Herr in Seiner Weisheit und Güte ihn, den unwürdigsten Sohn der Kirche, von seinen Konflikten, seiner Braut und seinem sündhaften Verlangen nach dem Mädchen »Nummer drei« durch den Tod erlösen? Gegen seine jetzige Lage erschien ihm das Fegefeuer nur halb so schlimm wie damals in Aachen; als grüner Gymnasiast hatte er ans Leben in einem Kloster gedacht, aber seine Mutter, ebenfalls im Glauben geübt, fand, das gehe zu weit. Sie hatte nur ihren Sohn, denn Professor Vogelsang war tot, und mit ihren Freunden stand sie auf vorsichtigem Kriegsfuß. Ganz zu schweigen von der künftigen, weitgehend unsichtbaren Schwiegertochter. Mutter behauptete die merkwürdigsten Dinge. So hatte sie ihrem Sohn mitgeteilt, es liege nicht in Gottes Wünschen, daß er ins Kloster ging. Es klang, als spreche sie täglich mit dem Allmächtigen. Natürlich hatte sie schreckliche Erfahrungen mit Vogelsangs Vater gemacht, und deshalb verzieh ihr Sohn ihr etwas, was er »Mutters schwierigen Tag« genannt hatte. Er war ja auch wegen seines Vaters in die Legion gegangen. Les parents terribles?
»Es kann nichts schaden, wenn ich dir die Adresse meiner Mutter gebe«, sagte Brenner plötzlich. Man wußte ja nicht, was bei der Verteidigung von Dien Bien Phu noch geschehen würde. Die Entscheidungsschlacht lag in der Luft. »Wart, ich schreib’s dir auf. Frau Grete Brenner, Berlin, und so weiter. Auch die Telefonnummer. Wenn ich verrecke, ruf sie lieber erst mal an. Sonst erschreckt sie sich.« Brenner mußte seine Mutter mit jemandem verwechseln; Grete Brenner war nie schreckhaft gewesen. Er steckte den Zettel in Vogelsangs Seesack und machte sich mürrisch auf die Suche nach Wedemeyer. Wenn der nicht die »Fromme Helene« bei sich trüge, hätte Brenner ihn sich gern vorgeknöpft – wie damals den Polizisten in Berlin. Der Mann war halbtot auf der Straße liegengeblieben. Jedenfalls hatte der Hüter des Gesetzes nach der Auseinandersetzung mit dem betrunkenen Theo Brenner Erholungsurlaub benötigt. Aber da war der junge Idiot schon in Marseille, hatte sich von dort aus von seiner Mutter verabschiedet. Hatte wohl seinen Gehirnkasten nicht richtig in Schuß. Die Sauregurkenzeit in Tonkin bekam ihm nicht besonders. Und wenn die Festung nun wirklich verloren gehen sollte – Strich drunter und Schwamm drüber!
Er war in Tonkin auf der Durchreise. Wie jeder andere Scheißlegionär.
Ernst Wedemeyer betrachtete den jungen Vogelsang wie eine kräftige Gluckhenne ihr krankes Küken. Der Junge war zusammengefallen wie eine Knalltüte. Er war ja nie ein Muskelprotz gewesen, aber unerschrocken. Guter Soldat. Nicht seine Blutgruppe, aber alle Achtung vor dem Jungen! Wedemeyer erkannte einen guten Legionär, wenn er ihn sah. Brauchte er vielleicht eine »Matratze«, eine Maitresse? Wedemeyer fand, daß ein kleines, nettes Mädel jeden Burschen wieder auf die Beine brachte. Aber bei Vogelsang war er nicht so sicher. Vielleicht war Feuerpause bei ihm? Jedenfalls würde er sich nicht den Mund verbrennen. Der Junge war ihm unbegreiflich, wie jeder Betbruder, aber verdammt noch mal, er hing an Vogelsang. Blödsinnig, aber was war da zu machen? Der Junge könnte gut und gern sein Sohn sein. War er aber nicht. Sein Sohn war eine unbekannte Nummer in Harzburg oder Gott weiß wo, der sich dieser Tage herumtrieb. Klaus mußte jetzt erwachsen sein. War ein winziger Schreihals gewesen, als Wedemeyer senior sich nach 1945 aus dem Staub machte. Seine Tochter hatte er nie gesehen. War vor seiner Flucht in die Legion geboren worden. Auch nicht einfach für Minna. Aber was war einfach in diesem Scheißleben? Konnte Klaus wohl Klimmzüge ausführen?
»Du siehst käsig aus, Seppl«, sagte Wedemeyer so leise er konnte. Trotzdem fuhr Vogelsang bei den gedämpften Posaunentönen unmerklich zusammen. »Vielen Dank, daß du gekommen bist!«
Wedemeyer verbarg seine Freude so gut es ging. Wenigstens einer, der sich freute, wenn er kam! Er war nicht verwöhnt, was Zuneigung anbetraf. Nie gewesen. Minna war eine junge Kratzbürste gewesen, und jetzt war sie wahrscheinlich eine alte … Während Wedemeyer den jungen Vogelsang betrachtete und seine Überführung ins Militärlazarett beschloß, wenn er sich bis morgen früh nicht mauserte, war er zu dem Schluß gekommen, daß sein Sohn bestimmt ein schlechter Turner war, weil die väterlichen Maulschellen ihm gefehlt hatten. So war das, wenn ein Junge unter Suppenhühnern aufwuchs. »Warst du daheim ein anständiger Turner?« fragte er gedankenverloren. Vogelsang war Vorturner gewesen, sagte aber, er habe sich nicht blamiert. Wedemeyer nickte zufrieden. Der Sohn seiner Annamitin erklomm die Palmen ohne Unterricht. Das konnten diese kleinen Waldaffen eben.
Er durfte nicht an Klaus denken. Und er fragte sich wütend, warum er es tue. Ausgerechnet hier in der Festung! Als ob sie nicht genug Sorgen um das alte französische Gemäuer hatten! Er gehörte zu den tollen Hechten, die sich mit jeder Armee identifizieren. Kampf war sein Ziel, sein Rausch, sein bißchen Lebensberechtigung nach dem Schlamassel in der Heimat. Das Haus in Harzburg gehörte ihm, es war der Gasthof seines Großvaters. Minna konnte ihn nicht rausfeuern, wenn er nach hundert Jahren heimkommen würde. War bei ihm durch die Regenzeit ’ne Schraube locker? Was sollte Korporal Wedemeyer in Harzburg? Minna den Rest ihres Lebens versauern? Sich grün und blau über zwei fremde Leute ärgern, die einmal der kleine Klaus und die unbekannte Tochter im rosa Babykleid gewesen waren? Wie hieß die Person überhaupt? Weiß der Teufel, er hatte es vergessen. Glücklicherweise fiel ihm gerade noch ein, daß die Legion seine Familie war.
Er stellte eine verdeckte Schale auf die Holzkiste. »Das wird nachher bis auf den letzten Löffel gefressen, mein Sohn! Das hilft. Aber erst mal nimm diese Medizin.«
»Was ist das, Ernst? Chinin?«
»Was Besseres. Eingeborenes Gesöff. Das verstehen die Tagediebe hier.« Er hob den Bambusdeckel von der Schale. »Riech mal! Reis à la Wedemeyer. Hab es für dich gekocht. Hilft garantiert gegen Ruhr und ähnlichen Dreck.«
»Vielen Dank.«
»Wo ist Brenner schon wieder? Der soll dir das Zeug alle drei Stunden in der Kantine aufwärmen.«
»Ich kann nichts herunterkriegen.«
Wedemeyer ignorierte die Mitteilung und löffelte dem Kranken langsam den Brei ein. Der Schweiß rann ihm über sein großes, rotes Gesicht. Vogelsang schluckte mühsam, um Wedemeyer eine Freude zu machen. Wedemeyer sagte, Krankheiten kämen so schnell wie Pferde und verschwänden so langsam wie Läuse. »So, runter mit dem Zeug! Noch ’n Löffel!« Wedemeyers Hand war gelb von seinen Malariaanfällen. Scheißklima. Seine kleinen, scharfen Augen musterten abwechselnd seinen Pflegesohn und die Reisbrühe. »Das bringt den Vater wieder auf die Mutter«, bemerkte er galant.
Brenner erschien, wurde von Wedemeyer aber nicht beachtet.
»Morgen früh koch ich dir wieder den Brei, mein Junge! Du wirst sehen, das hilft.«
»Mir geht’s schon etwas besser. Wie kochst du das? Hör zu, Theo!«
»Ich hab das Rezept von meiner Frau«, sagte Wedemeyer stolz. »Die gibt mir und den Kindern das Zeug, wenn wir uns den Magen verstaucht haben.«
»Deine Frau in Harzburg?« fragte Brenner unschuldig.
Wedemeyer kniff die Augen zusammen. Der Bengel war nur neidisch. Ein Quartier ohne Frau war wie eine Geige ohne Saiten. In Tonkin genossen einige bewährte Legionäre das Vorrecht, eine Asiatin als Ehefrau auf begrenzte Zeit zu »heiraten« und mit ihr außerhalb der Kasernen zu leben. Natürlich in Reichweite, und ein Grand Hotel war’s auch nicht. Niemand hatte »Wedemeyers Annamitin« oder die Kinder jemals zu Gesicht bekommen. Sein kleiner Sohn mußte täglich eine Stunde Deutsch lernen, was ihm wenig Spaß machte und Wedemeyer zur Raserei brachte, weil der winzige Halunke von einer Lektion bis zur nächsten vergaß, was sein geehrter Vater ihm einzubläuen versuchte. Oder das kleine Aas tat so. Wer wurde aus diesen Waldaffen klug? Wenn der kleine Faulpelz nichts wußte, setzte es deutsche Maulschellen. Wedemeyer hatte stets eine lose Hand gehabt.
Da Legionäre auf Gedächtnisschwund trainiert sind, hatte er total vergessen, daß seine zierliche Ehefrau und Klaus auch nicht gerade nordisch wirkten. Andere Zeiten, andere Frauen! Gegen seine Annamitin wirkte Minna wie eine Walküre mit Krampfadern, wozu sie schon in der Jugend geneigt hatte. Und die Rennerei im Gasthof! Minna war, ohne mit der weißblonden Wimper zu zucken, hin- und hergerannt. Sie hatte keine Wimperntusche benutzt, wie die Asiatinnen es von der Wiege bis zum Lotterbett tun. Sein Sohn hier hatte die Faulheit von seiner Mutter – keine Frage! Um seine Tochter kümmerte er sich nicht. Das Häufchen Unglück winselte bei jeder Gelegenheit wie eine Hündin in der Bratpfanne. Sie hatte Angst vor ihm. Wie war das möglich?
Wenn er mit glimmernden Augen seinem Söhnchen das Fell gerbte, verkroch sich die Mutter mit ihrer Tochter unter ihre Bambusmatte. Nach der letzten Züchtigung hatte Wedemeyer junior seinem ehrenwerten Herrn Papa eine tote Ratte unter die Schlafdecke gelegt. Man konnte Wedemeyers Fluchen bis Hanoi hören. In solchen Situationen zuckte seine kindliche Frau ergeben die Achseln. Wer einen dicken Hals hat, der besitzt eben eine Donnerstimme.
Nach beendeter Strafaktion pflegte Wedemeyer seine heulenden Nachkommen im Reisschuppen einzusperren, wo der Kleine sich neue, ausgesprochen hinterlistige Streiche ausdachte. Eine gewisse boshafte Rachsucht hatte er unleugbar von seinem Vater geerbt; die Mutter war für seine schönen Augen und die sanften, höflichen Manieren verantwortlich. So klein er war, er schrie nicht zurück. Seine Mutter tröstete ihn mit der Aussicht, daß der wilde Vater eines Tages fortgehen würde. Andere Länder, andere Trostmethoden. »Wann?« fragte Wedemeyers Sohn dann. »Bald, bald«, flüsterte seine Mutter. »Er stinkt.« Beide kicherten.
»Ruhe«, brüllte Wedemeyer. »Worüber lacht ihr so idiotisch?« Er wußte, daß sie nicht deutsch verstand, und er wollte ihre Lügen nicht hören. Sie log wie der Lügner Cuoi, der wegen dieser Kunst eine Art Nationalheld der Annamiten ist. Seine Frau flüsterte mit dem Sohn, und wieder kicherten die beiden. Aber auf der Bambusmatte war sie große Klasse, und daran mußte Wedemeyer sich halten. Nichts war für ewig in der Legion, und manchmal war es besser, zwei Jahre zu früh zu sterben als ein Jahr zu lange zu leben, sagt man in Asien.
Er kam nicht los von ihr, war wohl im gefährlichen Alter. Komisch, niemand konnte ihm einen Mangel an Brutalität vorwerfen, aber er fuhr sich mit zitternder Hand über die schweißbedeckte Denkerstirn, wenn die Kinder heulten oder die Frau abends verschwand, weil er sie gedämpft angebrüllt hatte. Wohin rannte sie? Zu ihrer Familie, die alle von seinem Sold lebten? Wedemeyer lauerte auf ihre Heimkehr. Dann erschien sie eines Tages, lächelnd und heiter, als ob nichts geschehen wäre. Und er, der sich weder vorm Tod noch vorm Teufel fürchtete, hielt die Schnauze, damit die verdammte Person bei ihm blieb und ihm das Geld aus der Hosentasche zog oder stahl. Was hätte seine Minna zu dieser »Ehe« gesagt? War die mörderische, feuchte Hitze ein mildernder Umstand? Was hatte Minna je von ihm verstanden? Soviel wie ein Fisch vom Fischer verstand. In der Brautzeit hatte er sie »Minchen« genannt. Manchmal »Bienchen«, weil sei so fleißig war. Wann hatte sie sich eigentlich endgültig in »Minna« umgekrempelt? Schwamm drüber! Vive la légion! Er sprach fließend französisch, wenn auch mit deutschem Akzent. Wenn er blöd genug gewesen wäre, nach Hause zu gehen, nach zehn Jahren, hätte er Französischstunden geben können. Oder Hausknecht in seinem eigenen Gasthof spielen. Aber eher stürzte der Himmel ein, oder sie siegten gegen jede Erwartung über die feindliche Übermacht bei Dien Bien Phu, bevor Korporal Wedemeyer in Bad Harzburg aufkreuzte! »Bonjour, Madame!
belle époquechoum-choum
Marsh war ein merkwürdiger Hahn, fanden die Kameraden. Aber natürlich fragte nicht einmal der neugierige Wedemeyer, warum »Bob« sein Vaterhaus mit dem Leben in der Legion vertauscht hatte. Das war wirklich kein passender Gesprächsstoff. Marsh war unordentlich, und einmal war ein Foto aus seinem Krimskrams herausgefallen. Wedemeyer hatte eine Art Schloß im Park mit hohen Bäumen und einem Fischteich erspäht, wo Marsh offenbar Mißgeschicke gefischt hatte. Marsh hatte das Foto wortlos wieder eingesteckt. In der Legion fragte niemand nach englischen Herrenhäusern. Das hatte ihm gefallen. Er war freundlich zu Wedemeyer, weil alle so unfreundlich zu ihm waren und weil er so viel häuslichen Ärger hatte. Man bekam immer Ärger zu Hause – auch einer der Gründe, die Marsh ins Anwerbebüro nach Marseille getrieben hatte.
Oft saß Marsh gleichmütig mit dem langen, sehnigen Rücken im Monsunwind. Er besaß die englische Vorliebe für frische Luft in allen Lebenslagen. Oder Todeslagen? Never mind! Marsh saß seelenruhig im Wind. Das imponierte Wedemeyer. Weswegen hatte er seine Boote hinter sich verbrannt? Er vertraute es Wedemeyer so wenig an, wie der ihm von seiner Karriere im »Dritten Reich« erzählte. Vive la légion!
NeinPositionS’il vous plaîtMadame!(comment appelez – vous ceci en français?). Vive la légion!
Ja, Wedemeyer und die fromme Helene würden sich für die Legion schlagen, ob es Sinn hatte oder nicht. Sie hatten schon große Verluste bei den vielen Scharmützeln mit den Vietminh, die zahlreiche Gefangene machten. Die Toten verscharrte die Legion. Wedemeyer wußte, daß die Luft voller Dolche hing, nicht voller Geigen. Über zweitausend Legionäre waren bei den Angriffen der Vietminh schon hopsgegangen.
Brenner lag mit offenen Augen da und wartete auf Nachtalarm. Korporal Marsh war vor einer halben Stunde erschienen, hatte Vogelsang den schmerzenden Rücken massiert und dabei unverständliche Beileidsbezeugungen gemurmelt. Immer mit der Schnauze vorneweg, hatte Brenner den langen Samariter gefragt, woher er eigentlich komme.
Da Brenner gern etwas dazulernte, fragte er, wo das liege. Marsh registrierte diesen Bruch der Legionsetikette mit hochgezogenen Augenbrauen und informierte Brenner nach einer Kunstpause, Derbyshire liege in England.
Brenner dachte an seine Mutter. Er hatte sie immer lieb gehabt, konnte aber ihr Nörgeln und ihre Unzufriedenheit mit ihm und dem Leben nicht vertragen. Der Konfirmationskaffee kam ihm hoch, wenn sie loslegte … Als sein Vater im Lager Oranienburg umgekommen war, da hatte seine Mutter die Lippen zusammengepreßt und ohne Nörgelei Vater und Mutter in einer Person gespielt. Das Geld für Theos Ausbildung als Journalist oder Bankbeamter hatte sie auch zusammengekratzt. Ihr Bruder, der Bankier, hatte geholfen. Nett von ihm, aber Theo mochte ihn nicht. Und bevor er Laufjunge in Onkels Bank werden würde, da wollte er lieber ganz unten bei einer Zeitung anfangen. Es wurde die Fremdenlegion. Wat denn? Er sah ’ne Menge scheußliche fremde Gegenden und wurde noch dafür bezahlt. Er hatte keinen Koffer in Berlin.
So
Brenner stand mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen, aber plötzlich, in der lausigen Baracke, in der schwülen tropischen Nacht der Legionäre, hatte er eine Vision. Er sah sich als Mummelgreis, im Lehnsessel in der alten Berliner Wohnung, die er vor ewigen Zeiten Knall auf Fall verlassen hatte. Und Brenner saß im Kreise seiner Enkelsöhne. Zwei Stück, und der eine sah aus, wie er selbst als Rotzlöffel ausgesehen hatte. Der größere Lümmel sagt zum kleinen Bruder: »Bloß raus! Der Olle quasselt schon wieder von Dien Bien Phu.« – »Was ist das?« – »Keine Ahnung«, sagt der Große. »Was geht uns das an?«
Brenner schüttelte seine Vision ab wie ein Pudel die Regentropfen. Sein altersschwacher Pudel in Berlin war nicht in der Vision erschienen. Joseph Augustin Vogelsang war weiter fiebrig – trotz Reisbrühe à la Wedemeyer und Massage. Er fragte Brenner, wer eigentlich die Fremdenlegion erfunden habe.
»Sagtest du etwas?«
Die Luft war voller Dolche.