[1]
Brief von René Piot nach: Archives Nationales: Entre Jaurès et Matisse. Marcel Sembat et Georgette Agutte à la croisée des avant-gardes, Abb. 127
[2]
Kritik an Fauvisten, Figaro, Gil Blas, u.a. nach: Ferrier, Jean-Louis: Fauvismus. Die Wilden in Paris, S. 14 f.
[3]
Briefe der Eheleute gestaltet nach: Archives Nationales: Entre Jaurès et Matisse, S. 10 ff.
[4]
Georgette Aguttes Trost für Matisse gestaltet nach: Lettres de Georgette Agutte à Henri Matisse, Archives Nationales. s. o., Abb. 129/130, S. 125
[5]
Englische Einträge aus dem Tagebuch Marcel Sembats zitiert nach: Sembat, Marcel. Les Cahiers Noirs, 1906 – 1922, div. Einträge
[6]
Sembats Freude über Georgettes Erfolg übersetzt nach: Sembat, Marcel. Les Cahiers Noirs., Eintrag vom 11. März 1914, S. 544
[7]
Aussagen Briands bei Abdankung entworfen nach: Sembat, Marcel. Les Cahiers Noirs. Eintrag vom 18. Dezember 1916, S. 608–612
Dieses Buch ist ein Roman, wenn auch einige seiner Charaktere erkennbare Vor- und Urbilder in der Realität haben. Dennoch handelt es sich um Kunstfiguren.
Xanten, Oktober 1986
Felder, Wiesen und vereinzelte Nebelschwaden zogen an ihr vorbei, ab und zu eine einsame Kopfweide, die ihre Zweige abwehrend in den Himmel reckte, aber keine Landmarke, nichts, woran das Auge sich hätte festhalten können, so flach und weit mutete die Landschaft an. Seit einer ihr unendlich erscheinenden Zeit ratterte der Zug an der grünen Reizlosigkeit vorbei, doch nun endlich bremste er schnaufend. Lilie war angekommen. »Bahnhof Xanten«, hörte sie den Schaffner rufen. Es war nicht einmal ein Hauptbahnhof, dachte sie, so klein war der Ort. Vermutlich war allein schon Le Marais, das mondäne Pariser Stadtviertel, in dem sie wohnte, größer als dieses kaum wahrnehmbare Fleckchen auf der Landkarte. Es war ein böser Scherz des Schicksals, dass sie ausgerechnet hier, in dieser Einöde, gelandet war. Ein Jahr vor dem Abitur hatte sie die Schule geschmissen und deswegen riesigen Krach mit ihrer Mutter bekommen. Daraufhin hatte Lilie all ihr Erspartes zusammengekratzt und war Hals über Kopf in die Karibik abgehauen, wo sie ihren Vater wähnte und auch fand. Nur von Wiedersehensfreude konnte keine Rede sein, denn ihr Vater fuhr kurz nach ihrer Ankunft auf »Geschäftsreise«, wie er sich ausdrückte, und ließ sie allein zurück. Nach drei Tagen lernte sie Patrick kennen, nach vier Tagen lieben, und am fünften Tag war sie überzeugt davon, mit ihm den Rest ihres Lebens verbringen zu wollen. Doch ihre Mutter machte ihr einen Strich durch die Rechnung, denn nachdem sie ihre Tochter ausfindig gemacht hatte, stand sie auch schon vor Patricks Tür und rang Lilie einen Vertrag ab: Sie durfte bis zum Ende des Sommers in der Karibik bleiben, wenn sie im Gegenzug danach ein Jahr im Ausland zur Schule ginge. Lilie hatte, als sie dem Kompromiss zustimmte, natürlich an die USA gedacht, vor allem Miami lag deutlich näher an der Karibik als Europa, und so schrieb sie sich bei einem Austauschprogramm ein. Als sich herausstellte, dass sie sich deutlich zu spät beworben hatte, um ein so heiß begehrtes Ziel wie Miami zu ergattern, half alles Heulen nicht. Sie musste nehmen, was übrig blieb: Veen bei Xanten. Das klang in ihren Ohren ungefähr so attraktiv wie »Physik-Klausur«.
Die deutsche Familie hatte sich wohl genauso spät entschieden, an diesem Gastfamilien-Programm teilzunehmen. Sie hatte sich eine US-Amerikanerin gewünscht und lediglich eine Französin bekommen. Lilie seufzte und dachte: Gleich treffen sich die Letzten von der Resterampe. Sie kam sich vor wie im Sportunterricht, wenn schon alle in die Mannschaften gewählt worden waren und nur ein elendes Häufchen von Ungewollten auf der Bank zurückblieb.
Deutschland war so ziemlich das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte. Nazis, Winter und behaarte Beine war alles, was ihr dazu einfiel, außerdem eine unmelodische Sprache, die sich anhörte, wie ihr Labrador Bull, wenn er auf einem Knochen herumkaute.
Lilie sollte hier auf dem flachen deutschen Land gemeinsam mit ihrer Gastschwester Hanna zur Schule gehen. Sie hatte keine Vorstellung von dem Ort, an dem sie das nächste Lebensjahr verbringen würde. Veen hieß diese Einöde, damit war ihr Wissen auch schon erschöpft. Sie kannte die Schreibweise, hatte aber keine Ahnung, wie man es aussprach – Fihn oder Ouènne oder besser gleich Fin? So fühlte es sich nämlich an: wie das Ende – von allem. Auf der Landkarte war der Ort nicht zu finden. Er lag in der Nähe von Duisburg, hatte die Familie in die Bewerbung geschrieben. Als ob irgendjemand jemals von Duisburg gehört hätte.
In Duisburg also hatte Lilie noch einmal den Zug wechseln müssen, und nun stand sie in einem niederrheinischen Ballungszentrum, das nicht mehr war als eine größere Ansammlung von Häuschen: Xanten.
»Jetzt aber raus hier«, schimpfte in diesem Moment der Schaffner. Mit schweren Schritten schleppte sich Lilie samt ihren zwei großen Koffern aus dem Abteil. Da sie als Letzte den Zug verlassen hatte, war der Bahnsteig inzwischen beinahe menschenleer, nur am anderen Ende standen drei Personen. Das musste sie sein, Familie Terhöven. Die drei Menschen setzten sich in Bewegung und kamen gemessenen Schrittes auf Lilie zu. In ihrer Kurzsichtigkeit erkannte sie keine klaren Konturen, nur eine an den Rändern ausfransende Masse, die auf sie zuwogte und ein Schild hochhielt: LILIE AGUTTE stand dort in großen, ungleichmäßigen Buchstaben. Es war ein Stück Pappkarton, das mit einem dicken Klebeband an einem Besenstiel befestigt worden war. Der große Mann in der Mitte hielt das Schild, auf das Lilie entgeistert starrte. Langsam wanderte ihr Blick an dem Besenstiel nach unten, als sich plötzlich jemand vorstellte. »Est-ce que tu es Lilie?«, fragte das Mädchen unbeholfen deutlich, und Lilie überlegte kurz, sich zu verleugnen, nickte dann aber. Wer hätte sie auch sein sollen, es war ja sonst niemand da. Noch ehe sie diesen Gedanken zu Ende bringen konnte, drückte ihr das Mädchen, es musste Hanna sein, drei Küsse auf die Wange, rechts, links, rechts, und hielt sie dabei an den Schultern fest. Lilie zuckte zurück; die hatte richtig geküsst, das machten sonst nur alte Tanten irgendwo auf dem Land, es war unangenehm, aber sie war zu höflich, um sich die Wangen abzuwischen. Erwartungsvoll sah Hanna sie an, und erst jetzt wagte Lilie einen ungenierten Blick auf ihre »Schwester für ein Jahr«. Hanna entsprach jedem Klischee einer Deutschen: blond, mit einem unmöglichen Stufen-Haarschnitt, der ein bisschen an Andy Gibb in seiner Langhaarperiode erinnerte, das Gesicht breit und flächig mit großen, runden, freundlichen Augen, ein bisschen pummelig und unsagbar geschmacklos gekleidet. Sie trug wadenhohe Wildlederstiefel, darüber eine weite Karottenlatzjeanshose, in der ein zitronenfalterfarbenes Sweatshirt steckte. Der dicke Stoff wölbte sich rund um die Taille, die mit einem schmalen schwarzen Lackgürtel, so gut es ging, in Form geschnürt war. All das gab diesem ohnehin nicht gerade zarten Mädchen etwas absurd Walkürenhaftes. Das kann ja heiter werden, dachte Lilie, wenn alles andere hier ähnlich rückständig ist wie die Mode, dann werde ich das nächste Jahr in einer Höhle verbringen.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass auch Hanna sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte und mit ähnlich entsetztem Blick betrachtete. Sie sieht, was ich sehe, dachte Lilie: einen Menschen, der ihr so gegensätzlich ist wie ein Fotonegativ; ein schlankes Mädchen mit dunklen Haaren, die Augen mit schwarzem Kajalstift umrandet, schwarzer Rollkragenpulli, schwarze Steghose, wie sie derzeit in Paris en vogue war, und als Farbklecks grüne Strümpfe in schwarzen Ballerinas.
Was für eine aberwitzige Kombination diese Gastfamilien-Agentur zusammengewürfelt hatte: Stadtneurotikerin trifft Landpomeranze, sie hatten so viel Ähnlichkeit wie Audrey Hepburn und Marilyn Monroe, dachte Lilie entmutigt, dann rutschte ihr die Handtasche von der Schulter. Schnell schnappte sie danach, um zu verhindern, dass sie auf den Boden fiel, wobei sich der lockere Verschluss der Tasche öffnete und Zigarettenschachtel, Feuerzeug und ihr Kajalstift herausfielen. Lilie ging auf die Knie, klaubte die Rauchutensilien auf und sah dem Kajalstift nach, der über den Boden kullerte und vom Bahnsteig hinunter auf die Gleise plumpste.
In diesem Moment beugte sich der Familienvater zu ihr hinunter, ergriff ihre Hand und drückte sie fest. Seine Hand fühlte sich warm und angenehm an, und Lilie merkte, wie sie sich unwillkürlich entspannte. Hermann Terhöven half ihr mit Schwung wieder auf die Beine.
»Willkommen am Niederrhein«, sagte er.
Sie hatte es fast geschafft, nur noch ein Block, dann wäre sie zu Hause. Lilie schleppte sich über den nassen Asphalt und keuchte unter der Last der schweren Einkaufstüten wie eine alte Frau. Ich muss endlich mit dem Rauchen aufhören, dachte sie nicht zum ersten Mal. Die Rue Georgette-Agutte hatte so viele Unebenheiten, dass es nach dem Regen der vergangenen Nacht unzählige dreckige Pfützen gab. Lilie versuchte gar nicht erst, sie zu umgehen, ihre Ballerinas waren längst durchtränkt, die Füße nass. Im Juni, wenn der Asphalt die Wärme des Sommers gespeichert hatte, war Paris morgens dunstig. Leichte Nebelschwaden stiegen vom Boden und aus den Gullis empor, und scharfe Gerüche krochen den Frühaufstehern entgegen. Notgedrungen gehörte Lilie inzwischen zu denen, die früh rausmussten. Ihr Terriermischling Intox fing pünktlich um sechs Uhr dreißig an zu fiepen, stupste sie zunächst freundlich, schließlich drängelnd bis drohend mit seiner kalten Nase, bis sie sich aus den Federn quälte und mit ihm Gassi ging. Jetzt, am Nachmittag, bei seinem zweiten Spaziergang, hüpfte der kleine Hund wie ein Flummi zwischen den Pfützen hin und her und versuchte, ein paar der von ihm aufgewirbelten Tropfen mit der Schnauze zu fangen. Hunde und kleine Kinder ähneln sich sehr, stellte Lilie wieder mal fest und wünschte sich, sie hätte nur einen Bruchteil dieser Energie. Intox war ein Findelkind, wie alle ihre Tiere. Sie hatte schon als kleines Mädchen die kranken Spatzen ins Haus geholt und liebevoll umsorgt. Unglücklicherweise hatten die Vögelchen ausnahmslos ihre 1,5-Prozent-H-Milch nicht vertragen und waren aller wohlmeinenden Pflege zum Trotz verendet. Mit den robusteren Tieren, Katzen und Hunden, hatte sie mehr Erfolg gehabt, Intox war dafür das letzte und beste Beispiel. Der Kleine war vielleicht sechs Wochen alt gewesen und hatte eines Morgens mehr tot als lebendig auf dem Trottoir vor der Haustür gelegen. Sie hatte das Häufchen Elend vorsichtig auf ein weiches Kissen geschoben, in eine alte Weinkiste gelegt und zum Tierarzt gebracht. Intox, so erfuhr sie, war vermutlich erst vergiftet und dann ausgesetzt worden. Dass er überlebt hatte, war ein kleines Wunder. Jede Stunde träufelte sie dem Hund Medikamente mit einer Pipette ein. Nach zwei Wochen war sie sicher, dass er überleben würde, nach drei Wochen wusste sie, dass sie den kleinen Quälgeist nie wieder hergeben würde, noch eine Woche später nannte sie ihn Intox. Sieben Jahre war das nun her, doch Intox benahm sich immer noch wie ein Welpe. Er nagte an Stromkabeln, zerriss Kissen und sorgte täglich für Chaos in ihrer kleinen Wohnung.
Es waren nur noch wenige Meter bis dorthin. Intox schnüffelte an einem zerrissenen Wahlplakat. »Du kannst ruhig davor pinkeln«, ermunterte Lilie ihren Hund, »ich hätte nichts dagegen.« Das Bild zeigte Nicolas Sarkozy, er hatte vor knapp sechs Wochen die Präsidentschaftswahlen gegen Ségolène Royal gewonnen. Lilie war darüber sehr enttäuscht, sie hatte für die linke Ségo gestimmt, wie ihre ganze Familie und alle ihre Freunde. Noch einmal fünf Jahre konservative Regierung würde das Land spalten, so viel war sicher.
Sie war an der Nummer 18 angekommen, tippte 5435A in die Codeanlage, und der Summer verriet ihr, dass sich die Haustür nun öffnen ließ. Sie überlegte kurz, ob sie die vier Etagen zu Fuß gehen sollte, zumal Intox schon vorgeflitzt war, entschied sich dann aber für den Aufzug. Seit einigen Jahren zwang sie sich ab und an, die vielen Stufen zu gehen, um ein Minimum an Bewegung zu haben. Sie rauchte zu viel und war noch nie eine begeisterte Sportlerin gewesen. Im Grunde hatte sie es niemals nötig gehabt, zu trainieren, zumindest nicht, um ihre Linie zu halten, denn sie war von Natur aus zart und feingliedrig und mit gut einem Meter siebzig relativ groß. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass seit der Geburt ihres Kindes die gute Figur dahin war, der Bauch war rundlich geblieben, auch an den Hüften hatte sich der Speck hartnäckig gehalten. Was soll’s?, dachte sie, der Junge ist gesund und kräftig, das ist die Hauptsache.
Endlich klingelte der alte Fahrstuhl, die Tür ging stockend auf, und Lilie drückte auf die 4. Man durfte in diesem Aufzug nicht unter Klaustrophobie leiden, und wenn zwei Menschen gleichzeitig in der Kabine waren, musste man sich sehr nahe stehen. Der Aufzug ächzte und stöhnte, während er in die vierte Etage schaukelte. Als er oben ruckartig zum Stehen kam, hielt Lilie sich fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Wohnungsschlüssel und stutzte. Normalerweise hätte Intox längst auf sie warten müssen. War der Hund vielleicht in der zweiten Etage bei der Nachbarin aufgehalten worden? »Intox«, rief sie nach unten ins Treppenhaus, aber sie bekam keine Antwort, kein Bellen, kein Fiepen, kein Trippeln der Pfoten auf den Holzdielen der alten Treppe. Mit dem Schlüssel in der Hand ging sie auf ihr Apartment zu, und plötzlich erkannte sie, dass die Wohnungstür nur angelehnt war. Lilies Nackenhaare sträubten sich. Vielleicht war ihre Mutter schon früher als erwartet in die Stadt gekommen und hatte Intox die Tür geöffnet, versuchte sie sich zu beruhigen. Marguerite lebte etwa hundert Kilometer nördlich von Paris in einem kleinen Dorf. Sie war frühzeitig in Rente gegangen und konnte sich die teure Miete in der Stadt nicht mehr leisten, aber alle ihre Freundinnen waren in der Metropole geblieben, und so war sie mindestens einmal in der Woche hier zum Kino oder Restaurantbesuch verabredet. An diesen Tagen kam sie am frühen Nachmittag, um den Feierabendverkehr zu umgehen, und legte sich bei ihrer Tochter exakt eine Stunde aufs Sofa, um für den Abend mit ihren Freundinnen gerüstet zu sein. Sie hat mir gar nicht Bescheid gesagt, überlegte Lilie. »Maman«, rief sie, »Maman, ich bin zurück. Du kannst nicht einfach so in meine Wohnung hineinspazieren. Ruf mich wenigstens vorher an, wenn du schon so früh kommst!«
Als sie immer noch keinen Mucks hörte, wurde sie erneut unruhig. Sie hielt den Atem an. Es war jemand in ihrem Apartment, sie spürte die Anwesenheit eines Menschen mehr, als dass sie etwas hörte, und sie fühlte Panik in sich aufsteigen. Vorsichtig öffnete sie die Tür und ging durch den Flur, wobei sie die knarzenden Dielen unter dem Teppich vermied. Ihr Herz klopfte heftig, und das Blut rauschte in den Ohren. Ihr Sohn, der sich vor ihr versteckte, um sie dann zu erschrecken, konnte es nicht sein, Pierre war um diese Zeit noch in der Schule, und ihre Mutter hätte sich längst zu erkennen gegeben.
»Wer ist da?«, brüllte sie so laut, wie sie konnte, und sprang mit einem Satz in das kleine Wohnzimmer. »Intox« schrie sie, als sie ihren Hund leblos in der Ecke liegen sah, und im selben Moment knallte ihr etwas an den Kopf. Sie taumelte rückwärts in den Flur und schlug gegen die Heizung. Vor ihren Augen tanzten Muster, sie spürte einen weiteren Schlag an der Stirn, ihre Schläfe pulsierte. Sie hielt die Arme vor das Gesicht, jemand schien über ihre Beine zu stolpern, sie hörte ein Geräusch, das in etwa so klang, als würde ein Pappkarton aufgerissen, dann umgab sie nur noch Dunkelheit.
Etwas Kaltes rann von der Stirn an ihrer Nase entlang und benetzte ihre Lippen, als sie wieder zu Bewusstsein kam. Nein, kein Blut, dachte sie, als sie es schmeckte, nur Wasser. Sie versuchte die Augen zu öffnen, doch ein Schmerz durchzuckte sie wie ein Stromschlag. Er breitete sich von ihrer rechten Schläfe in den ganzen Körper aus. »Oh, das sieht böse aus«, murmelte Madame Brabant, Lilies Nachbarin, die ihr offensichtlich gerade das Gesicht mit einem nassen Waschlappen abtupfte, »ich fürchte, das muss genäht werden. Können Sie mich verstehen? Mademoiselle Agutte, sind Sie bei sich? Soll ich einen Arzt rufen? Oje, da hat Sie jemand böse zugerichtet, und das nur wegen eines so ollen Schinkens.« Lilie nickte kurz, um Madame Brabant zu signalisieren, dass sie bei Verstand war, dann wurde ihr erneut schwindelig.
Als Nächstes hörte sie ihre Mutter schluchzen. Marguerite war offenbar inzwischen eingetroffen, sie wiegte Intox in den Armen. Der Hund hatte die Augen geschlossen, roter Schaum tropfte von seinen Lefzen, sein Kopf hing kraftlos nach unten.
Als sie diese Szene sah, war Lilies Benommenheit schlagartig verschwunden. »Maman, was ist los? Was ist mit Intox?«
»Sie haben ihn getreten«, schluchzte Marguerite und streichelte dabei das Fell des leblosen kleinen Hundekörpers, »diese Bestien haben unseren Schatz getreten und ihn gegen die Wand geschleudert.«
Lilie richtete sich auf, während ihre Mutter unentwegt weiterredete: »Madame Brabant hat mich auf dem Handy angerufen, da war ich schon am Périphérique, und als ich wenige Minuten später hier ankam, habe ich Intox im Salon gefunden, er lag in seinem Erbrochenen, das arme Kerlchen. Ich bin sofort mit ihm nach nebenan zum Tierarzt gelaufen, Madame Brabant hat in der Zwischenzeit auf dich aufgepasst. Monsieur Marignol war so freundlich, mich vorzulassen. Er hat ihm ein Medikament gegeben. Lilie, es war furchtbar, er hat ihm das Mittel in den Hals gedrückt und dann den Mund zugehalten, damit er es schluckt. Aber wenigstens hat Intox nun keine Schmerzen mehr. Er schläft sich aus.« Marguerite rieb die Nase in dem struppigen Fell des Terriermischlings und liebkoste ihn. »Mein Springteufelchen, wenn wir diese bösen Menschen finden, dann zeigen wir es denen. Bald ist alles gut«, dabei zog sie das U so in die Länge, dass daraus ein lang gezogenes beruhigendes Brummen wurde.
»Maman, hast du mir auch einen Arzt gerufen?«
»Warum, mein Kind, geht es dir so schlecht?«
Lilie traute ihren Ohren nicht.
»Lass mich kurz überlegen. Ich bin überfallen worden, jemand ist in meine Wohnung eingedrungen, hat mir einen Schlag auf den Kopf gegeben, ich habe eine Wunde auf der Stirn, Kopfschmerzen. Ja, um genau zu sein, ich hatte schon bessere Tage.«
»Warum wirst du so bissig«, fragte ihre Mutter mit beleidigtem Unterton, »was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Ich habe deinen halb toten Hund versorgt und ein wenig Ordnung gemacht, während du dich auf dem Sofa erholt hast, außerdem hat immer jemand nach dir geschaut. Und hier sah es schlimm aus. Das Agutte-Bild hat auch etwas abbekommen. Aber es war ja sowieso nicht besonders schön.«
Lilie hatte Kopfschmerzen. Sie wollte nicht mit ihrer Mutter streiten. Sie meinte es ja nicht böse, es war nur so, dass sie jegliche Form der Fürsorge immer nur für andere Lebewesen bereithielt. Ihre Mutter war der festen Überzeugung, dass Lilie ihr Leben schon allein meistern würde, und zwar seit sie etwa fünf Jahre alt war. Lilie seufzte. Sie versuchte sich zu sammeln. Bei ihr war also eingebrochen worden. Ob es sinnvoll wäre, die Polizei zu rufen? Sie verwarf die Idee schnell. In Paris wurde ständig und überall eingebrochen; dass sie in ihrem fast vierzig Jahre währenden Leben bislang davon verschont geblieben war, hatte eh an ein Wunder gegrenzt. Bei ihrer Freundin Muriel war eine Zeit lang beinahe wöchentlich eingebrochen geworden. Der Familienschmuck war schon lange weg, den Fernseher hatte Muriel irgendwann angekettet, und im Flur lagen bei ihr stets ein Zehn-Euro-Schein und ein Zettel mit der Aufschrift: »Weitersuchen lohnt sich nicht. Das ist alles, was ich habe«.
Es waren fast immer erbarmungswürdige Junkies, und Lilie vermutete, dass es auch in ihrem Fall so war. Sie schaute sich in der Wohnung um, der Fernseher war noch da, ihren Laptop hatte sie bei sich gehabt, erinnerte sie sich, denn sie hatte sich noch darüber geärgert, dass sie vor dem Einkauf versäumt hatte, das schwere Ding aus der Tasche zu nehmen. »Maman, liegt meine Tasche noch im Flur, oder ist sie gestohlen worden?«, fragte sie ängstlich, denn sie hatte nicht genug Geld, um einen neuen zu kaufen, und außerdem waren darauf alle ihre Fotos und ihre Lieblingsfilme. Mit Erleichterung hörte sie ein brummiges »Ja, sie liegt da, wo du sie hingeworfen hast«.
»Wo du angegriffen wurdest, wäre sicher treffender«, murmelte Lilie. »Fehlt sonst irgendetwas?«, fragte sie stattdessen laut.
»Für deinen Laptop hat sich niemand interessiert, die wollten tatsächlich nur das Bild, behauptet Madame Brabant. Aber was hätten sie mit dem wertlosen Ding bloß anfangen sollen?«, sagte Marguerite, die das offenbar nicht für besonders glaubwürdig hielt. »Madame Brabant beteuert, sie habe die Diebe im Flur gehört, eine Frau habe einen Mann gescholten, weil er das dusselige Bild hier oben gelassen hat.« Sie schüttelte den Kopf: »Leute gibt’s!«
Das Bild war ziemlich groß, möglicherweise hatte man sie mit dem Rahmen niedergeschlagen, das würde ihre Wunde an der Stirn erklären, überlegte Lilie. Sie drückte immer noch ein Kühlkissen darauf, das die Blutung inzwischen gestoppt hatte.
»Maman, lag das Bild im Flur?«
»Ja«, antwortete ihre Mutter und fügte entschuldigend hinzu, »es hat einen Riss, und ich konnte es auch nirgendwo verstauen, am besten wir bringen es nachher in den Müll.«
»Hm«, antwortete Lilie. Vermutlich hatten die Eindringlinge das Bild auf der Suche nach wertvollem Schmuck in der Abstellkammer entdeckt, und als sie in die Wohnung kam, hatte man sie damit niedergeschlagen. Vielleicht hatte sie die Arme zur Abwehr des Schlages hochgerissen und dabei die Leinwand beschädigt. Dass die Diebe aber, wie Madame Brabant behauptete, tatsächlich nur das Bild stehlen wollten, konnte sich Lilie beim besten Willen nicht vorstellen.
»Ist Madame Brabant noch hier?«
»Nein, sie ist gerade weg, sie hatte einen Kuchen im Ofen. Warum?«
»Ich wollte mich für ihre Fürsorge bedanken. Und außerdem hätte ich gerne gewusst, ob die Diebe das mit dem Bild wirklich so gesagt haben. Ist doch seltsam, oder?«
Andererseits, dachte Lilie, ist es das Einzige, was es hier überhaupt zu holen gab. Unter dem wertlosen Zeug in der Wohnung erschien es ihnen vielleicht am reizvollsten. Im Grunde war es auch nicht so wichtig, denn sie war mit dem Schrecken davongekommen. Na ja, wie man es nahm, dachte sie und betastete vorsichtig die Wunde an ihrer Schläfe, als ihr Handy im Flur klingelte. Sie hörte, wie ihre Mutter ranging und fröhlich zu plaudern begann.
»Es ist Hanna«, rief sie Lilie zu.
»Sag ihr bitte, dass ich später zurückrufe. Im Moment kann ich nicht«, antwortete sie, ging in das schlecht beleuchtete Badezimmer und betupfte die Blessur mit Betaisodona, das sie immer für ihren Sohn parat hatte. Zwei Löcher in zwei Aguttes, fasste sie den Schaden zusammen.
»Maman, kannst du Pierre nach der Schule in Empfang nehmen? Ich gehe zum Arzt und lass die Wunde nähen.«
Lilie fühlte einen merkwürdigen Druck hinter ihrem Solarplexus, ein ungutes Gefühl. Ihre Freundin Hanna hatte sie angerufen und eindringlich gebeten, zu kommen. Ihr ehemaliger Gastvater Hermann war krank, er kämpfte bereits seit drei Jahren gegen den Krebs, doch jetzt hatte sich sein Zustand wieder verschlechtert. Hanna hatte am Telefon sehr aufgeregt geklungen: »Warte nicht zu lange«, hatte sie gesagt, »es ist ernst.« Lilie hatte ihre Mutter gebeten, in Paris bei Pierre zu bleiben, und den nächstbesten Zug genommen. Obwohl sie es sich eigentlich nicht leisten konnte, hatte sie ein teures Thalys-Ticket gekauft.
Nun saß sie in der Bahn. Den Thalys hatte sie in Duisburg verlassen und war in einen Regionalzug umgestiegen. Das Geratter klang wie eine Nähmaschine. Rattatat, rattatat, rattatat, summte Lilie in Gedanken mit und hatte das Gefühl, dabei in eine Art Trance zu verfallen. Bald wäre sie da, das Geräusch und Geruckel des Zuges ließen keinen Zweifel daran. Die Schienen auf dem letzten Stück von Duisburg nach Xanten waren sehr alt, jede einzelne war deutlich kürzer, als man das von modernen Strecken gewohnt war, wodurch es zu diesem hektischen Gerumpel kam. Neben der Sorge um Hermann spürte Lilie eine altbekannte Nervosität in sich aufsteigen. Noch immer befiel sie diese Aufregung, kurz bevor sie in Deutschland ankam, obwohl sie mittlerweile seit mehr als zwanzig Jahren regelmäßig hierherfuhr, aufs Land, in die deutsche Pampa, wie sie es liebevoll nannte. Beim ersten Mal hatte es sich wie eine Strafe angefühlt, dabei war ihre Mutter nur überfordert gewesen von einem aufsässigen Teenager, der sein Abitur schmeißen wollte. Lilie schmunzelte. Sie würde vermutlich das Gleiche tun, wenn ihr Sohn später derart über die Stränge schlüge, zumal die Entscheidung im Nachhinein genau richtig gewesen war. Aus den fremden Menschen in Deutschland, zu denen man sie damals geschickt hatte, war ihre deutsche Familie geworden. Eine richtige Familie, wie sie sie in Frankreich niemals gehabt hatte, eine Familie mit Vater und Mutter, mit Großeltern und Tanten und Großtanten, die sie mit überraschender Herzlichkeit aufgenommen hatten. Ihre anfängliche Überheblichkeit und Verachtung für diese provinziellen Bauerntrampel war sehr schnell etwas anderem gewichen: einem Gefühl von Vertrauen und Geborgenheit. Ihr Gastvater, Hermann, zeigte sich völlig unbeeindruckt von ihrer vor sich hergetragenen Pariser Nonchalance, mit der sie doch nur ihre Unsicherheit verbergen wollte, nahm sie mit all ihren Neurosen und Komplexen an und kümmerte sich um sie, wie sie es bei ihrem leiblichen Vater nie erlebt hatte.
Eines Tages hatte sie dann all ihren Mut zusammengenommen und Hermann quasi einen Antrag gemacht. Ja, dachte Lilie, es war im Grunde ein Antrag gewesen. Nur, dass sie nicht auf die Knie gefallen war und auch keinen Ring hervorgeholt hatte. Aber sie war mindestens genauso nervös und verlegen gewesen. Mit hochrotem Kopf war sie auf Hermann zugegangen, der gerade in seine Sonntagszeitung vertieft war.
»Eine Frage, bitte«, sagte sie viel zu laut und undeutlich und sah ihn zusammenzucken.
»Was?«, antwortete Hermann und ließ die Zeitung sinken. Sie hatte das Gefühl, dass es, nun da sie ihn einmal gestört hatte, kein Zurück mehr gab. Sie räusperte sich mehrmals, aus Angst, ihre Stimme würde sie im Stich lassen, dann stammelte sie:
»Darf isch Sie meine Vatär ruffen?« Hermann riss bei ihren Worten die Augen so weit auf, dass Lilie für einen Moment Sorge hatte, seine Augäpfel könnten aus den Höhlen treten. Dann kniff er die Augen wieder zusammen, wie er es immer tat, wenn er sich konzentrierte, schob die Lippen nach vorne, als hätte er eine seiner dicken Zigarren im Mund, sog vernehmbar Luft ein, warf einen entschlossenen Blick auf die Uhr und fragte skeptisch:
»Muss das sofort sein? Nach neunzehn Uhr ist es günstiger.«
»Wie bitte?«, fragte Lilie entsetzt, und Hermann antwortete sehr deutlich und sehr langsam:
»Wenn du mit deinem Vater auf den Antillen telefonieren willst, dann warte bitte noch ein paar Stunden. Abends sind die Anrufe billiger.«
Lilie wollte das Missverständnis aufklären, doch sie brachte nur ein »Non. Nein. Morgen« heraus und stürmte in ihr Zimmer, wo sie den Rest des Abends blieb und den Kopf im Kissen vergrub. Aber so leicht wollte sie sich nicht geschlagen geben, entschied sie am nächsten Morgen. Sie vertiefte sich in ihr Lexikon und startete einen neuen Versuch.
»Sei mir ein Vater. Der Vater meiner Wahl« – sie hatte den Satz stundenlang vor dem Spiegel geübt, und als sie ihn endlich ausgesprochen hatte, war sie glücklich, schon allein deshalb, weil sie ihn einigermaßen fehlerfrei hervorgebracht hatte. Wie zum Tusch schlug in diesem Moment die alte Standuhr zur vollen Stunde, und sie sah, wie Hermanns Hand automatisch zur Fernbedienung griff. Es war Zeit für die Nachrichten. Doch dann lächelte er sie an. »Hast du etwa was ausgefressen?«
»Nein, nein«, wollte Lilie sich gerade erklären, doch Hermann unterbrach sie:
»Das war nur ein Scherz. Ich habe dich sehr wohl verstanden.« Dann stand er auf, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und setzte sich wieder vor den Fernseher. Lilie war sich keineswegs sicher, ob er sie wirklich verstanden hatte, doch sie nahm die Geste für die Tat und gab sich damit zufrieden.
Ihr war vorher nicht bewusst gewesen, wie sehr sie sich einen echten Vater gewünscht hatte, einen, der für sie da war, einen Vater, auf den man sich verlassen konnte und der nicht irgendwo als Abenteurer in der Weltgeschichte herumgondelte und nebenher noch mehr Familien gründete. So nämlich war Yves, ihr leiblicher Vater. Lilie hatte neben zwei Vollgeschwistern noch fünf Halbschwestern und -brüder. Wie viele es insgesamt tatsächlich waren, wollte sie lieber nicht wissen.
Lilie lauschte wieder dem Rattern des Zuges. Sie sah aus dem Fenster und erkannte die Kopfweiden des alten Rheinarms rund um die Bislicher Insel. In wenigen Minuten würde sie ankommen. Sie schloss den Laptop und schob ein Lesezeichen in ihr Buch. Dann nahm sie den Brief, der vor ihr auf dem Tischchen gelegen hatte, steckte ihn vorsichtig in den Umschlag zurück und drückte ihn an die Brust. Es war der Brief eines kleinen Mädchens, und er hatte sie zutiefst berührt. Sie hatte ihn in dem alten Bilderrahmen gefunden, mit dem sie niedergeschlagen worden war. Es war purer Zufall gewesen. Sie hatte das unhandliche Teil entsorgen wollen, wie ihre Mutter es vorgeschlagen hatte, zumindest den Rahmen, der ganz besonders hässlich war. Da sie ihn in voller Größe nicht im Aufzug hätte transportieren können, hatte sie die Leinwand abgelöst und dabei war ihr plötzlich ein Papier in den Schoß gefallen. Es war der Brief eines kleinen Mädchens namens Georgette, gerichtet an ihren verstorbenen Vater Georges, den Maler des Bildes, das angeblich die Einbrecher hatten stehlen wollen. Und auch, wenn Lilie Madame Brabants Theorie für absurd hielt, so hatte sie das Bild, einer seltsamen Intuition folgend, schließlich doch zusammengerollt, in ein Tuch gewickelt und in ihre große Reisetasche gepackt, um es mit an den Niederrhein zu nehmen.
Auf einmal hatte das Bild für sie einen ideellen Wert bekommen, es war zum Bindeglied zwischen ihr und dem Mädchen Georgette geworden, das sich, wie der Brief vermuten ließ, genauso sehr nach einem Vater gesehnt hatte wie sie in dem Alter, und Lilie fragte sich, was wohl erträglicher war: ein abwesender oder ein toter Vater. Sie fand diese Frage so makaber wie schwierig, denn natürlich wünschte sie ihrem Vater nicht den Tod. Andererseits war Yves für sie eine ständige Enttäuschung gewesen. Wie sehr hatte sie sich als Kind auf seine seltenen Besuche gefreut. Yves hatte die ganze Familie dann in teure Restaurants ausgeführt, aber meist schon am zweiten Tag seines Besuches einen Streit vom Zaun gebrochen, um einen Grund zu haben, wieder zu gehen. Lilie war traurig zurückgeblieben, hatte sich stets gefragt, ob sie schuld war an der Abreise ihres Vaters, war wütend gewesen und hatte ihn zugleich nur noch mehr vermisst.
Das Mädchen aus dem Brief jedoch kannte nur die Sehnsucht.
Bonnières-sur-Seine, 17. Mai 1875
Papa,
ich vermisse Dich. Heute ist mein achter Geburtstag, und ich wünschte mir so sehr, dass Du an diesem Tag bei mir sein könntest.
Mama hat mir erklärt, dass Du tot bist. Aber wo bist Du, wenn Du tot bist? Hältst Du Deine Hand über mich? Manchmal, wenn ich Angst habe, stelle ich mir das vor. Dann kann ich spüren, wie Du mich aus dem Himmel umarmst. Ich will, dass Du stolz auf mich bist. Siehst Du, wie fleißig ich übe? Wenn ich groß bin, werde ich Malerin, das verspreche ich Dir.
Deine Georgette
Das Mädchen faltete den Brief akkurat zusammen. Dann kletterte sie auf die hölzerne Kommode, um an das Bild heranzukommen, hob den schweren Rahmen ein wenig hoch, sodass sich der Haken vom Nagel löste, und stellte es vorsichtig auf die Kommode. Sie hatte das Bild schon einige Male ab- und wieder aufgehängt und inzwischen Übung darin.
Das Bild zeigte eine Reiterin auf einer Waldlichtung, sie saß, den Rock nach links geschwungen, im Damensattel. Vom Betrachter hatte sie sich schon ein gutes Stück entfernt, ritt in der Mitte des Bildes. Licht fiel durch die Bäume, und erneut fragte Georgette sich, wohin die blonde Frau wohl unterwegs war. Ob sie jemanden besuchte. Es musste gegen Mittag sein, denn die Sonne schien hell und klar von oben auf die Reiterin. Nachdenklich betrachtete sie das Bild, das ihr Vater gemalt hatte. Wie schön es war. Ihr Vater hatte Georges geheißen, sie war nach ihm benannt, war auf die Welt gekommen, um sein Leben fortzusetzen, so hatte ihre Mutter es ihr erklärt.
Georgette erschrak, als sie ihre Tante Adèle rufen hörte.
»Georgette, komm herunter, wir wollen deinen Kuchen essen.«
»Ja, Tata, ich bin schon unterwegs«, rief Georgette, legte den Brief zur Seite und eilte zur Treppe.
Sie fühlte sich in Bonnières-sur-Seine bei ihrer Tante oft wohler als bei ihrer Mutter in Paris. Da ihre Tante keine Kinder hatte, hatte Georgette hier sogar ein eigenes Zimmer. Außerdem hatte sie im Dorf Freunde zum Spielen gefunden, auch wenn die zum Teil einige Jahre älter waren. Bernadette zum Beispiel kam fast jeden Nachmittag vorbei, wenn sie wusste, dass Georgette im Ort war. Sie durften im Sommer den ganzen Tag draußen bleiben, und Georgette liebte es, gegen Mittag am Ufer der Seine eine Decke auszubreiten und unter freiem Himmel zu essen. Auf dem Land gefiel ihr einfach alles, alles war schöner als in Paris, denn wenn sie hier aus dem Fenster blickte, sah sie aus jedem Winkel den Fluss, während ihr Blick in Paris immer nur auf andere Häuser fiel. Hier gab es einen Garten direkt vor der Tür, während sie in Paris bis zum Bois de Boulogne laufen musste, aber vor allem hatte sie hier das Bild gefunden, das ihr Vater gemalt hatte.
Im Wohnzimmer standen ein selbst gebackener Apfelkuchen und ein Glas Milch für sie bereit.
»Hast du in deinem Zimmer gemalt?«, fragte ihre Tante und streichelte ihr über den Kopf.
»Hm«, sagte Georgette, setzte sich und nahm ein großes Stück vom Kuchen. Sie versuchte, dabei fröhlich auszusehen, denn sie wollte ihrer Tante keine Pein bereiten, indem sie ihr zeigte, wie traurig sie an diesem Tag in Wahrheit war. Ihre Tante hatte einen Kranz mit acht Kerzen auf den großen Esstisch gestellt, und Georgette musste sich auf den Stuhl knien, um sie zu erreichen. Sie pustete die Kerzen aus, ihre Tante klatschte. Georgettes Blick fiel auf das kleine Bild über dem Kamin, das sie erst im vergangenen Jahr gemalt hatte. Es zeigte die Seine, wie sie an der Haustür vorbeifloss, samt der kleinen Insel, die den breiten Fluss teilte. Georgette war nun, ein Jahr älter, nicht mehr zufrieden damit. Sie beschloss ein neues, ein schöneres Bild zu malen, was sie ihrer Tante auch sogleich mitteilte.
»Ach Kleines, du bist genau wie dein Vater. Wo er ging und stand, hatte er seinen Notizblock dabei und zeichnete. Später ist er oft im Wald gewesen, um die Natur zu malen. Ich bin sicher, er sieht dir voller Wohlgefallen zu.« Sie seufzte, dann sah sie Georgette verschmitzt an: »So, und nun musst du dich noch ein wenig gedulden. Dein Geburtstagsgeschenk gibt es nämlich erst heute Abend.«
Georgette wusste, dass ihre Tante sich immer besondere Mühe gab, sie aufzuheitern, nachdem sie von Georgettes Vater gesprochen hatte. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen. Georgette liebte es, wenn ihre Tante über den Vater sprach, wenn sie Anekdoten aus ihrer Kindheit erzählte und vor allem wenn sie Georgette versicherte, dass sie auf dem besten Weg sei, genauso zu werden wie ihr Vater. Sie ging um den Tisch herum, gab ihrer Tante einen Kuss auf die Wange und lief zur Tür, denn draußen hatte sie den Nachbarsjungen gesehen. »Danke für den Kuchen, Tata«, rief sie ihrer Tante noch zu, »ich gehe zu Marcel.«
Marcel war der Sohn des Postmeisters in Bonnières, er war ein paar Jahre älter als Georgette, und sie bewunderte ihn sehr. Marcel wirkte so klug, er war still und konzentriert, und wann immer Georgette ihn sah, las er. Es gab Tage, da saßen sie nur nebeneinander und sprachen kaum, denn Georgette hätte es niemals gewagt, ihn grundlos zu unterbrechen. Auch heute wirkte er äußerst vertieft in sein Buch, doch heute war ein besonderer Tag, und so erlaubte Georgette sich, ihren Freund zu stören.
»Guten Tag, Marcel. Heute ist mein Geburtstag, möchtest du vielleicht ein Stück Kuchen mit mir essen?«
Der Junge lachte sie an. »Herzlichen Glückwunsch, kleine Gette. Warte einen Moment.« Dann ging er ein paar Schritte in den Garten, pflückte eine Blüte vom Magnolienbaum und steckte sie Georgette ins Haar, das ihre Tante ihr zu einem Knoten am Hinterkopf frisiert hatte. Georgette kannte Marcel, so lange sie denken konnte. Wann immer sie bei Tante Adèle zu Besuch war, traf sie ihn, denn seinem Vater gehörten das Hinterhaus und der Garten.
Georgette hatte in Paris Privatlehrer, doch bis auf das Zeichnen machte ihr der Unterricht nicht besonders viel Spaß. Das änderte sich schlagartig, wenn Marcel ihr etwas erklärte. Eine Zeit lang hatte er ihr vorgetragen, was Homer geschrieben hatte, und Georgette hatte das Gefühl gehabt, am Trojanischen Krieg höchstpersönlich beteiligt gewesen zu sein. Wenn Marcel Geschichten erzählte, dann war sie Teil des Geschehens, und oft lag sie nach solchen Tagen abends noch lange wach und malte sich aus, was sie getan hätte, wenn sie die schöne Helena oder Kassandra gewesen wäre. Sie saugte jeden Satz von Marcel auf und gab sich große Mühe, alles zu behalten, denn es konnte passieren, dass er beim nächsten Treffen genau dort wieder anknüpfte, wo er aufgehört hatte. Sie wiederholte die Einladung zum Kuchenessen.
»Dazu habe ich leider keine Zeit«, antwortete Marcel bedauernd. »Weißt du, ich muss heute noch sehr viel lernen. Ich werde bald aufs Lycée gehen, um eines Tages ein großer Anwalt zu sein.« Vielleicht würde er sogar Richter, überlegte Georgette, denn alle Jungen im Dorf hörten auf ihn, sogar die frechsten. Zusammen mit Bernadette hatte sie einmal beobachtet, wie Marcel einen Streit geschlichtet hatte, fast ohne etwas tun zu müssen. Er hatte einfach nur mit ruhiger Stimme »Hört auf!« gesagt. Mehr nicht, dann war die Zankerei vorbei gewesen.
»Ganz bestimmt wirst du das«, bestätigte sie deshalb ihren Freund. »Was lernst du gerade?«
»Philosophie. Ich lese die Persischen Briefe von Montesquieu.«
»Ah«, sagte Georgette, die diesen Namen noch nie gehört hatte, sich aber keine Blöße geben wollte, »weißt du, ich schreibe auch Briefe an meinen Vater, aber der kann sie nicht lesen, weil er schon tot ist.« Marcel sah sie mitfühlend an, und sie sah sich ermuntert, weiterzureden. »Wie ist das, einen Vater zu haben?«
»Schön«, sagte Marcel nach einem kurzen Moment. »Mein Vater nimmt mich oft mit zum Angeln. Ihm ist es sehr wichtig, dass ich gute Noten in der Schule habe, und er hat mir immer gesagt, was gut und was schlecht ist.« Er runzelte die Stirn. »Ich glaube, er zeigt mir die Richtung, damit ich weiß, wo ich langgehen muss«, schloss er und sah sie an. Georgette wünschte sich in diesem Augenblick, ihr Vater könnte sie an die Hand nehmen, Staffelei und Leinwand unter dem Arm, und mit ihr in den Wald gehen, um zu malen.
»Kannst du mir nicht die Richtung zeigen? Bitte Marcel, ich habe doch heute Geburtstag, schenk mir eine Richtung.«
Marcel nahm ihre Hand in seine und schaute sie lange an. »Ich kann dir nicht den Vater ersetzen. Aber ich schenke dir meine Freundschaft.« Dann stand der Junge auf, nahm sein Buch, sagte bedauernd »Jetzt muss ich aber wirklich lernen« und ging zurück ins Haus. Georgette sah ihm nach, dann ging auch sie wieder hinein, nahm die Stufen zu ihrem Zimmer und faltete den Brief an ihren Vater auseinander. Unter dem Fenster stand ein kleiner Sekretär mit einer Holzbank davor, die ein wenig zu hoch für sie war. Wenn sie darauf saß, baumelten ihre Beine in der Luft. Sie nahm die Feder zur Hand, tunkte sie ins Tintenfass und schrieb. Sie berichtete ihrem Vater von dem Geburtstagskuchen und von Marcel und schloss mit den Worten: »Weißt du, Papa, Marcel kann ja nicht mein Vater sein, aber er kann mir eine Richtung zeigen, also werde ich ihn später heiraten.«
Dann nahm sie den Brief und ging damit zu dem Bild, das sie einige Stunden zuvor von der Wand geholt hatte. Sie klemmte den Brief in den Rahmen und hängte das Bild vorsichtig wieder an seinen Platz.