Sei mir ein Vater

Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

  1. Brief von René Piot nach: Archives Nationales: Entre Jaurès et Matisse. Marcel Sembat et Georgette Agutte à la croisée des avant-gardes, Abb. 127

  2. Kritik an Fauvisten, Figaro, Gil Blas, u.a. nach: Ferrier, Jean-Louis: Fauvismus. Die Wilden in Paris, S. 14 f.

  3. Briefe der Eheleute gestaltet nach: Archives Nationales: Entre Jaurès et Matisse, S. 10 ff.

  4. Georgette Aguttes Trost für Matisse gestaltet nach: Lettres de Georgette Agutte à Henri Matisse, Archives Nationales. s. o., Abb. 129/130, S. 125

  5. Englische Einträge aus dem Tagebuch Marcel Sembats zitiert nach: Sembat, Marcel. Les Cahiers Noirs, 1906 – 1922, div. Einträge

  6. Sembats Freude über Georgettes Erfolg übersetzt nach: Sembat, Marcel. Les Cahiers Noirs., Eintrag vom 11. März 1914, S. 544

  7. Aussagen Briands bei Abdankung entworfen nach: Sembat, Marcel. Les Cahiers Noirs. Eintrag vom 18. Dezember 1916, S. 608–612

Dieses Buch ist ein Roman, wenn auch einige seiner Charaktere erkennbare Vor- und Urbilder in der Realität haben. Dennoch handelt es sich um Kunstfiguren.

Xanten, Oktober 1986

Felder, Wiesen und vereinzelte Nebelschwaden zogen an ihr vorbei, ab und zu eine einsame Kopfweide, die ihre Zweige abwehrend in den Himmel reckte, aber keine Landmarke, nichts, woran das Auge sich hätte festhalten können, so flach und weit mutete die Landschaft an. Seit einer ihr unendlich erscheinenden Zeit ratterte der Zug an der grünen Reizlosigkeit vorbei, doch nun endlich bremste er schnaufend. Lilie war angekommen. »Bahnhof Xanten«, hörte sie den Schaffner rufen. Es war nicht einmal ein Hauptbahnhof, dachte sie, so klein war der Ort. Vermutlich war allein schon Le Marais, das mondäne Pariser Stadtviertel, in dem sie wohnte, größer als dieses kaum wahrnehmbare Fleckchen auf der Landkarte. Es war ein böser Scherz des Schicksals, dass sie ausgerechnet hier, in dieser Einöde, gelandet war. Ein Jahr vor dem Abitur hatte sie die Schule geschmissen und deswegen riesigen Krach mit ihrer Mutter bekommen. Daraufhin hatte Lilie all ihr Erspartes zusammengekratzt und war Hals über Kopf in die Karibik abgehauen, wo sie ihren Vater wähnte und auch fand. Nur von Wiedersehensfreude konnte keine Rede sein, denn ihr Vater fuhr kurz nach ihrer Ankunft auf »Geschäftsreise«, wie er sich ausdrückte, und ließ sie allein zurück. Nach drei Tagen lernte sie Patrick

Die deutsche Familie hatte sich wohl genauso spät entschieden, an diesem Gastfamilien-Programm teilzunehmen. Sie hatte sich eine US-Amerikanerin gewünscht und lediglich eine Französin bekommen. Lilie seufzte und dachte: Gleich treffen sich die Letzten von der Resterampe. Sie kam sich vor wie im Sportunterricht, wenn schon alle in die Mannschaften gewählt worden waren und nur ein elendes Häufchen von Ungewollten auf der Bank zurückblieb.

Deutschland war so ziemlich das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnte. Nazis, Winter und behaarte Beine war alles, was ihr dazu einfiel, außerdem eine unmelodische Sprache, die sich anhörte, wie ihr Labrador Bull, wenn er auf einem Knochen herumkaute.

Lilie sollte hier auf dem flachen deutschen Land gemeinsam mit ihrer Gastschwester Hanna zur Schule gehen. Sie hatte keine Vorstellung von dem Ort, an dem sie das nächste Lebensjahr verbringen würde. Veen hieß diese Einöde,

In Duisburg also hatte Lilie noch einmal den Zug wechseln müssen, und nun stand sie in einem niederrheinischen Ballungszentrum, das nicht mehr war als eine größere Ansammlung von Häuschen: Xanten.

»Jetzt aber raus hier«, schimpfte in diesem Moment der Schaffner. Mit schweren Schritten schleppte sich Lilie samt ihren zwei großen Koffern aus dem Abteil. Da sie als Letzte den Zug verlassen hatte, war der Bahnsteig inzwischen beinahe menschenleer, nur am anderen Ende standen drei Personen. Das musste sie sein, Familie Terhöven. Die drei Menschen setzten sich in Bewegung und kamen gemessenen Schrittes auf Lilie zu. In ihrer Kurzsichtigkeit erkannte sie keine klaren Konturen, nur eine an den Rändern ausfransende Masse, die auf sie zuwogte und ein Schild hochhielt: LILIE AGUTTE stand dort in großen, ungleichmäßigen Buchstaben. Es war ein Stück Pappkarton, das mit einem dicken Klebeband an einem Besenstiel befestigt worden war. Der große Mann in der Mitte hielt das Schild, auf das Lilie entgeistert starrte. Langsam wanderte ihr Blick an dem Besenstiel nach unten, als sich plötzlich jemand vorstellte. »Est-ce que tu es Lilie?«, fragte das Mädchen unbeholfen deutlich, und Lilie überlegte kurz, sich zu verleugnen, nickte dann aber. Wer hätte sie auch sein sollen, es war ja sonst niemand da. Noch ehe sie diesen Gedanken zu Ende bringen konnte, drückte ihr das Mädchen, es musste Hanna sein, drei Küsse auf die Wange, rechts, links, rechts, und hielt sie dabei

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass auch Hanna sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte und mit ähnlich entsetztem Blick betrachtete. Sie sieht, was ich sehe, dachte Lilie: einen Menschen, der ihr so gegensätzlich ist wie ein Fotonegativ; ein schlankes Mädchen mit dunklen Haaren, die Augen mit schwarzem Kajalstift umrandet, schwarzer Rollkragenpulli, schwarze Steghose, wie sie derzeit in Paris en vogue war, und als Farbklecks grüne Strümpfe in schwarzen Ballerinas.

Was für eine aberwitzige Kombination diese Gastfamilien-Agentur zusammengewürfelt hatte: Stadtneurotikerin trifft Landpomeranze, sie hatten so viel Ähnlichkeit wie Audrey Hepburn und Marilyn Monroe, dachte Lilie entmutigt, dann rutschte ihr die Handtasche von der Schulter. Schnell

In diesem Moment beugte sich der Familienvater zu ihr hinunter, ergriff ihre Hand und drückte sie fest. Seine Hand fühlte sich warm und angenehm an, und Lilie merkte, wie sie sich unwillkürlich entspannte. Hermann Terhöven half ihr mit Schwung wieder auf die Beine.

»Willkommen am Niederrhein«, sagte er.

Sie hatte es fast geschafft, nur noch ein Block, dann wäre sie zu Hause. Lilie schleppte sich über den nassen Asphalt und keuchte unter der Last der schweren Einkaufstüten wie eine alte Frau. Ich muss endlich mit dem Rauchen aufhören, dachte sie nicht zum ersten Mal. Die Rue Georgette-Agutte hatte so viele Unebenheiten, dass es nach dem Regen der vergangenen Nacht unzählige dreckige Pfützen gab. Lilie versuchte gar nicht erst, sie zu umgehen, ihre Ballerinas waren längst durchtränkt, die Füße nass. Im Juni, wenn der Asphalt die Wärme des Sommers gespeichert hatte, war Paris morgens dunstig. Leichte Nebelschwaden stiegen vom Boden und aus den Gullis empor, und scharfe Gerüche krochen den Frühaufstehern entgegen. Notgedrungen gehörte Lilie inzwischen zu denen, die früh rausmussten. Ihr Terriermischling Intox fing pünktlich um sechs Uhr dreißig an zu fiepen, stupste sie zunächst freundlich, schließlich drängelnd bis drohend mit seiner kalten Nase, bis sie sich aus den Federn quälte und mit ihm Gassi ging. Jetzt, am Nachmittag, bei seinem zweiten Spaziergang, hüpfte der kleine Hund wie ein Flummi zwischen den Pfützen hin und her und versuchte, ein paar der von ihm aufgewirbelten Tropfen mit der Schnauze zu fangen. Hunde und kleine Kinder

Es waren nur noch wenige Meter bis dorthin. Intox schnüffelte an einem zerrissenen Wahlplakat. »Du kannst ruhig davor pinkeln«, ermunterte Lilie ihren Hund, »ich hätte nichts dagegen.« Das Bild zeigte Nicolas Sarkozy, er hatte vor knapp sechs Wochen die Präsidentschaftswahlen gegen Ségolène Royal gewonnen. Lilie war darüber sehr enttäuscht, sie hatte für die linke Ségo gestimmt, wie ihre ganze Familie und alle ihre Freunde. Noch einmal fünf Jahre konservative Regierung würde das Land spalten, so viel war sicher.

Endlich klingelte der alte Fahrstuhl, die Tür ging stockend auf, und Lilie drückte auf die 4. Man durfte in diesem Aufzug nicht unter Klaustrophobie leiden, und wenn zwei Menschen gleichzeitig in der Kabine waren, musste man sich sehr nahe stehen. Der Aufzug ächzte und stöhnte, während er in die vierte Etage schaukelte. Als er oben ruckartig zum Stehen kam, hielt Lilie sich fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Wohnungsschlüssel und stutzte. Normalerweise hätte Intox längst auf sie warten müssen. War der Hund vielleicht in der zweiten Etage bei der Nachbarin aufgehalten worden? »Intox«, rief sie nach unten ins Treppenhaus, aber sie bekam keine Antwort, kein Bellen, kein Fiepen, kein Trippeln der Pfoten auf den Holzdielen der alten Treppe. Mit dem Schlüssel in der Hand ging sie auf ihr Apartment zu, und plötzlich erkannte sie, dass die Wohnungstür nur angelehnt war. Lilies Nackenhaare sträubten sich. Vielleicht war ihre

Als sie immer noch keinen Mucks hörte, wurde sie erneut unruhig. Sie hielt den Atem an. Es war jemand in ihrem Apartment, sie spürte die Anwesenheit eines Menschen mehr, als dass sie etwas hörte, und sie fühlte Panik in sich aufsteigen. Vorsichtig öffnete sie die Tür und ging durch den Flur, wobei sie die knarzenden Dielen unter dem Teppich vermied. Ihr Herz klopfte heftig, und das Blut rauschte in den Ohren. Ihr Sohn, der sich vor ihr versteckte, um sie dann zu erschrecken, konnte es nicht sein, Pierre war um diese Zeit noch in der Schule, und ihre Mutter hätte sich längst zu erkennen gegeben.

»Wer ist da?«, brüllte sie so laut, wie sie konnte, und sprang mit einem Satz in das kleine Wohnzimmer. »Intox« schrie sie, als sie ihren Hund leblos in der Ecke liegen sah, und im selben Moment knallte ihr etwas an den Kopf. Sie taumelte rückwärts in den Flur und schlug gegen die Heizung. Vor ihren Augen tanzten Muster, sie spürte einen weiteren Schlag

 

Etwas Kaltes rann von der Stirn an ihrer Nase entlang und benetzte ihre Lippen, als sie wieder zu Bewusstsein kam. Nein, kein Blut, dachte sie, als sie es schmeckte, nur Wasser. Sie versuchte die Augen zu öffnen, doch ein Schmerz durchzuckte sie wie ein Stromschlag. Er breitete sich von ihrer rechten Schläfe in den ganzen Körper aus. »Oh, das sieht böse aus«, murmelte Madame Brabant, Lilies Nachbarin, die ihr offensichtlich gerade das Gesicht mit einem nassen Waschlappen abtupfte, »ich fürchte, das muss genäht werden. Können Sie mich verstehen? Mademoiselle Agutte, sind Sie bei sich? Soll ich einen Arzt rufen? Oje, da hat Sie jemand böse zugerichtet, und das nur wegen eines so ollen Schinkens.« Lilie nickte kurz, um Madame Brabant zu signalisieren, dass sie bei Verstand war, dann wurde ihr erneut schwindelig.

Als Nächstes hörte sie ihre Mutter schluchzen. Marguerite war offenbar inzwischen eingetroffen, sie wiegte Intox in den Armen. Der Hund hatte die Augen geschlossen, roter Schaum tropfte von seinen Lefzen, sein Kopf hing kraftlos nach unten.

Als sie diese Szene sah, war Lilies Benommenheit schlagartig verschwunden. »Maman, was ist los? Was ist mit Intox?«

»Sie haben ihn getreten«, schluchzte Marguerite und streichelte dabei das Fell des leblosen kleinen Hundekörpers, »diese Bestien haben unseren Schatz getreten und ihn gegen die Wand geschleudert.«

Lilie richtete sich auf, während ihre Mutter unentwegt weiterredete: »Madame Brabant hat mich auf dem Handy angerufen, da war ich schon am Périphérique, und als ich

»Maman, hast du mir auch einen Arzt gerufen?«

»Warum, mein Kind, geht es dir so schlecht?«

Lilie traute ihren Ohren nicht.

»Lass mich kurz überlegen. Ich bin überfallen worden, jemand ist in meine Wohnung eingedrungen, hat mir einen Schlag auf den Kopf gegeben, ich habe eine Wunde auf der Stirn, Kopfschmerzen. Ja, um genau zu sein, ich hatte schon bessere Tage.«

»Warum wirst du so bissig«, fragte ihre Mutter mit beleidigtem Unterton, »was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht? Ich habe deinen halb toten Hund versorgt und ein wenig Ordnung gemacht, während du dich auf dem Sofa erholt hast, außerdem hat immer jemand nach dir geschaut. Und hier sah es schlimm aus. Das Agutte-Bild hat auch etwas abbekommen. Aber es war ja sowieso nicht besonders schön.«

Lilie hatte Kopfschmerzen. Sie wollte nicht mit ihrer Mutter streiten. Sie meinte es ja nicht böse, es war nur so, dass sie jegliche Form der Fürsorge immer nur für andere

Es waren fast immer erbarmungswürdige Junkies, und Lilie vermutete, dass es auch in ihrem Fall so war. Sie schaute sich in der Wohnung um, der Fernseher war noch da, ihren Laptop hatte sie bei sich gehabt, erinnerte sie sich, denn sie hatte sich noch darüber geärgert, dass sie vor dem Einkauf versäumt hatte, das schwere Ding aus der Tasche zu nehmen. »Maman, liegt meine Tasche noch im Flur, oder ist sie gestohlen worden?«, fragte sie ängstlich, denn sie hatte nicht genug Geld, um einen neuen zu kaufen, und außerdem waren darauf alle ihre Fotos und ihre Lieblingsfilme. Mit Erleichterung hörte sie ein brummiges »Ja, sie liegt da, wo du sie hingeworfen hast«.

»Wo du angegriffen wurdest, wäre sicher treffender«, murmelte Lilie. »Fehlt sonst irgendetwas?«, fragte sie stattdessen laut.

»Für deinen Laptop hat sich niemand interessiert, die wollten tatsächlich nur das Bild, behauptet Madame Brabant. Aber was hätten sie mit dem wertlosen Ding bloß

Das Bild war ziemlich groß, möglicherweise hatte man sie mit dem Rahmen niedergeschlagen, das würde ihre Wunde an der Stirn erklären, überlegte Lilie. Sie drückte immer noch ein Kühlkissen darauf, das die Blutung inzwischen gestoppt hatte.

»Maman, lag das Bild im Flur?«

»Ja«, antwortete ihre Mutter und fügte entschuldigend hinzu, »es hat einen Riss, und ich konnte es auch nirgendwo verstauen, am besten wir bringen es nachher in den Müll.«

»Hm«, antwortete Lilie. Vermutlich hatten die Eindringlinge das Bild auf der Suche nach wertvollem Schmuck in der Abstellkammer entdeckt, und als sie in die Wohnung kam, hatte man sie damit niedergeschlagen. Vielleicht hatte sie die Arme zur Abwehr des Schlages hochgerissen und dabei die Leinwand beschädigt. Dass die Diebe aber, wie Madame Brabant behauptete, tatsächlich nur das Bild stehlen wollten, konnte sich Lilie beim besten Willen nicht vorstellen.

»Ist Madame Brabant noch hier?«

»Nein, sie ist gerade weg, sie hatte einen Kuchen im Ofen. Warum?«

»Ich wollte mich für ihre Fürsorge bedanken. Und außerdem hätte ich gerne gewusst, ob die Diebe das mit dem Bild wirklich so gesagt haben. Ist doch seltsam, oder?«

Andererseits, dachte Lilie, ist es das Einzige, was es hier überhaupt zu holen gab. Unter dem wertlosen Zeug in der Wohnung erschien es ihnen vielleicht am reizvollsten. Im Grunde war es auch nicht so wichtig, denn sie war mit dem

»Es ist Hanna«, rief sie Lilie zu.

»Sag ihr bitte, dass ich später zurückrufe. Im Moment kann ich nicht«, antwortete sie, ging in das schlecht beleuchtete Badezimmer und betupfte die Blessur mit Betaisodona, das sie immer für ihren Sohn parat hatte. Zwei Löcher in zwei Aguttes, fasste sie den Schaden zusammen.

»Maman, kannst du Pierre nach der Schule in Empfang nehmen? Ich gehe zum Arzt und lass die Wunde nähen.«

Lilie fühlte einen merkwürdigen Druck hinter ihrem Solarplexus, ein ungutes Gefühl. Ihre Freundin Hanna hatte sie angerufen und eindringlich gebeten, zu kommen. Ihr ehemaliger Gastvater Hermann war krank, er kämpfte bereits seit drei Jahren gegen den Krebs, doch jetzt hatte sich sein Zustand wieder verschlechtert. Hanna hatte am Telefon sehr aufgeregt geklungen: »Warte nicht zu lange«, hatte sie gesagt, »es ist ernst.« Lilie hatte ihre Mutter gebeten, in Paris bei Pierre zu bleiben, und den nächstbesten Zug genommen. Obwohl sie es sich eigentlich nicht leisten konnte, hatte sie ein teures Thalys-Ticket gekauft.

Nun saß sie in der Bahn. Den Thalys hatte sie in Duisburg verlassen und war in einen Regionalzug umgestiegen. Das Geratter klang wie eine Nähmaschine. Rattatat, rattatat, rattatat, summte Lilie in Gedanken mit und hatte das Gefühl, dabei in eine Art Trance zu verfallen. Bald wäre sie da, das Geräusch und Geruckel des Zuges ließen keinen Zweifel daran. Die Schienen auf dem letzten Stück von Duisburg nach Xanten waren sehr alt, jede einzelne war deutlich kürzer, als man das von modernen Strecken gewohnt war, wodurch es zu diesem hektischen Gerumpel kam. Neben der Sorge um Hermann spürte Lilie eine altbekannte

Eines Tages hatte sie dann all ihren Mut zusammengenommen und Hermann quasi einen Antrag gemacht. Ja, dachte Lilie, es war im Grunde ein Antrag gewesen. Nur, dass sie nicht auf die Knie gefallen war und auch keinen Ring hervorgeholt hatte. Aber sie war mindestens genauso nervös und verlegen gewesen. Mit hochrotem Kopf war sie auf Hermann zugegangen, der gerade in seine Sonntagszeitung vertieft war.

»Eine Frage, bitte«, sagte sie viel zu laut und undeutlich und sah ihn zusammenzucken.

»Darf isch Sie meine Vatär ruffen?« Hermann riss bei ihren Worten die Augen so weit auf, dass Lilie für einen Moment Sorge hatte, seine Augäpfel könnten aus den Höhlen treten. Dann kniff er die Augen wieder zusammen, wie er es immer tat, wenn er sich konzentrierte, schob die Lippen nach vorne, als hätte er eine seiner dicken Zigarren im Mund, sog vernehmbar Luft ein, warf einen entschlossenen Blick auf die Uhr und fragte skeptisch:

»Muss das sofort sein? Nach neunzehn Uhr ist es günstiger.«

»Wie bitte?«, fragte Lilie entsetzt, und Hermann antwortete sehr deutlich und sehr langsam:

»Wenn du mit deinem Vater auf den Antillen telefonieren willst, dann warte bitte noch ein paar Stunden. Abends sind die Anrufe billiger.«

Lilie wollte das Missverständnis aufklären, doch sie brachte nur ein »Non. Nein. Morgen« heraus und stürmte in ihr Zimmer, wo sie den Rest des Abends blieb und den Kopf im Kissen vergrub. Aber so leicht wollte sie sich nicht geschlagen geben, entschied sie am nächsten Morgen. Sie vertiefte sich in ihr Lexikon und startete einen neuen Versuch.

»Sei mir ein Vater. Der Vater meiner Wahl« – sie hatte den Satz stundenlang vor dem Spiegel geübt, und als sie ihn endlich ausgesprochen hatte, war sie glücklich, schon allein deshalb, weil sie ihn einigermaßen fehlerfrei hervorgebracht hatte. Wie zum Tusch schlug in diesem Moment die alte Standuhr zur vollen Stunde, und sie sah, wie Hermanns Hand automatisch zur Fernbedienung griff. Es war Zeit für

»Nein, nein«, wollte Lilie sich gerade erklären, doch Hermann unterbrach sie:

»Das war nur ein Scherz. Ich habe dich sehr wohl verstanden.« Dann stand er auf, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und setzte sich wieder vor den Fernseher. Lilie war sich keineswegs sicher, ob er sie wirklich verstanden hatte, doch sie nahm die Geste für die Tat und gab sich damit zufrieden.

Ihr war vorher nicht bewusst gewesen, wie sehr sie sich einen echten Vater gewünscht hatte, einen, der für sie da war, einen Vater, auf den man sich verlassen konnte und der nicht irgendwo als Abenteurer in der Weltgeschichte herumgondelte und nebenher noch mehr Familien gründete. So nämlich war Yves, ihr leiblicher Vater. Lilie hatte neben zwei Vollgeschwistern noch fünf Halbschwestern und -brüder. Wie viele es insgesamt tatsächlich waren, wollte sie lieber nicht wissen.

Lilie lauschte wieder dem Rattern des Zuges. Sie sah aus dem Fenster und erkannte die Kopfweiden des alten Rheinarms rund um die Bislicher Insel. In wenigen Minuten würde sie ankommen. Sie schloss den Laptop und schob ein Lesezeichen in ihr Buch. Dann nahm sie den Brief, der vor ihr auf dem Tischchen gelegen hatte, steckte ihn vorsichtig in den Umschlag zurück und drückte ihn an die Brust. Es war der Brief eines kleinen Mädchens, und er hatte sie zutiefst berührt. Sie hatte ihn in dem alten Bilderrahmen gefunden, mit dem sie niedergeschlagen worden war. Es war purer Zufall gewesen. Sie hatte das unhandliche Teil entsorgen wollen, wie ihre Mutter es vorgeschlagen hatte, zumindest den Rahmen, der ganz besonders hässlich war. Da sie ihn in voller Größe nicht im Aufzug hätte transportieren können, hatte sie die Leinwand abgelöst und dabei war ihr plötzlich ein Papier in

Auf einmal hatte das Bild für sie einen ideellen Wert bekommen, es war zum Bindeglied zwischen ihr und dem Mädchen Georgette geworden, das sich, wie der Brief vermuten ließ, genauso sehr nach einem Vater gesehnt hatte wie sie in dem Alter, und Lilie fragte sich, was wohl erträglicher war: ein abwesender oder ein toter Vater. Sie fand diese Frage so makaber wie schwierig, denn natürlich wünschte sie ihrem Vater nicht den Tod. Andererseits war Yves für sie eine ständige Enttäuschung gewesen. Wie sehr hatte sie sich als Kind auf seine seltenen Besuche gefreut. Yves hatte die ganze Familie dann in teure Restaurants ausgeführt, aber meist schon am zweiten Tag seines Besuches einen Streit vom Zaun gebrochen, um einen Grund zu haben, wieder zu gehen. Lilie war traurig zurückgeblieben, hatte sich stets gefragt, ob sie schuld war an der Abreise ihres Vaters, war wütend gewesen und hatte ihn zugleich nur noch mehr vermisst.

Das Mädchen aus dem Brief jedoch kannte nur die Sehnsucht.

Bonnières-sur-Seine, 17. Mai 1875

Papa,

ich vermisse Dich. Heute ist mein achter Geburtstag, und ich wünschte mir so sehr, dass Du an diesem Tag bei mir sein könntest.

Mama hat mir erklärt, dass Du tot bist. Aber wo bist Du, wenn Du tot bist? Hältst Du Deine Hand über mich? Manchmal, wenn ich Angst habe, stelle ich mir das vor. Dann kann ich spüren, wie Du mich aus dem Himmel umarmst. Ich will, dass Du stolz auf mich bist. Siehst Du, wie fleißig ich übe? Wenn ich groß bin, werde ich Malerin, das verspreche ich Dir.

Deine Georgette

Das Mädchen faltete den Brief akkurat zusammen. Dann kletterte sie auf die hölzerne Kommode, um an das Bild heranzukommen, hob den schweren Rahmen ein wenig hoch, sodass sich der Haken vom Nagel löste, und stellte es vorsichtig auf die Kommode. Sie hatte das Bild schon einige Male ab- und wieder aufgehängt und inzwischen Übung darin.

Das Bild zeigte eine Reiterin auf einer Waldlichtung, sie saß, den Rock nach links geschwungen, im Damensattel. Vom Betrachter hatte sie sich schon ein gutes Stück entfernt, ritt in der Mitte des Bildes. Licht fiel durch die Bäume,

Georgette erschrak, als sie ihre Tante Adèle rufen hörte.

»Georgette, komm herunter, wir wollen deinen Kuchen essen.«

»Ja, Tata, ich bin schon unterwegs«, rief Georgette, legte den Brief zur Seite und eilte zur Treppe.

Sie fühlte sich in Bonnières-sur-Seine bei ihrer Tante oft wohler als bei ihrer Mutter in Paris. Da ihre Tante keine Kinder hatte, hatte Georgette hier sogar ein eigenes Zimmer. Außerdem hatte sie im Dorf Freunde zum Spielen gefunden, auch wenn die zum Teil einige Jahre älter waren. Bernadette zum Beispiel kam fast jeden Nachmittag vorbei, wenn sie wusste, dass Georgette im Ort war. Sie durften im Sommer den ganzen Tag draußen bleiben, und Georgette liebte es, gegen Mittag am Ufer der Seine eine Decke auszubreiten und unter freiem Himmel zu essen. Auf dem Land gefiel ihr einfach alles, alles war schöner als in Paris, denn wenn sie hier aus dem Fenster blickte, sah sie aus jedem Winkel den Fluss, während ihr Blick in Paris immer nur auf andere Häuser fiel. Hier gab es einen Garten direkt vor der Tür, während sie in Paris bis zum Bois de Boulogne laufen musste, aber vor allem hatte sie hier das Bild gefunden, das ihr Vater gemalt hatte.

Im Wohnzimmer standen ein selbst gebackener Apfelkuchen und ein Glas Milch für sie bereit.

»Hast du in deinem Zimmer gemalt?«, fragte ihre Tante und streichelte ihr über den Kopf.

»Ach Kleines, du bist genau wie dein Vater. Wo er ging und stand, hatte er seinen Notizblock dabei und zeichnete. Später ist er oft im Wald gewesen, um die Natur zu malen. Ich bin sicher, er sieht dir voller Wohlgefallen zu.« Sie seufzte, dann sah sie Georgette verschmitzt an: »So, und nun musst du dich noch ein wenig gedulden. Dein Geburtstagsgeschenk gibt es nämlich erst heute Abend.«

Georgette wusste, dass ihre Tante sich immer besondere Mühe gab, sie aufzuheitern, nachdem sie von Georgettes Vater gesprochen hatte. Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen. Georgette liebte es, wenn ihre Tante über den Vater sprach, wenn sie Anekdoten aus ihrer Kindheit erzählte und vor allem wenn sie Georgette versicherte, dass sie auf dem besten Weg sei, genauso zu werden wie ihr Vater. Sie ging um den Tisch herum, gab ihrer Tante einen Kuss auf die Wange und lief zur Tür, denn draußen hatte sie den Nachbarsjungen gesehen. »Danke für den Kuchen, Tata«, rief sie ihrer Tante noch zu, »ich gehe zu Marcel.«

Marcel war der Sohn des Postmeisters in Bonnières, er war

»Guten Tag, Marcel. Heute ist mein Geburtstag, möchtest du vielleicht ein Stück Kuchen mit mir essen?«

Der Junge lachte sie an. »Herzlichen Glückwunsch, kleine Gette. Warte einen Moment.« Dann ging er ein paar Schritte in den Garten, pflückte eine Blüte vom Magnolienbaum und steckte sie Georgette ins Haar, das ihre Tante ihr zu einem Knoten am Hinterkopf frisiert hatte. Georgette kannte Marcel, so lange sie denken konnte. Wann immer sie bei Tante Adèle zu Besuch war, traf sie ihn, denn seinem Vater gehörten das Hinterhaus und der Garten.

Georgette hatte in Paris Privatlehrer, doch bis auf das Zeichnen machte ihr der Unterricht nicht besonders viel Spaß. Das änderte sich schlagartig, wenn Marcel ihr etwas erklärte. Eine Zeit lang hatte er ihr vorgetragen, was Homer geschrieben hatte, und Georgette hatte das Gefühl gehabt, am Trojanischen Krieg höchstpersönlich beteiligt gewesen zu sein. Wenn Marcel Geschichten erzählte, dann war sie Teil des Geschehens, und oft lag sie nach solchen Tagen abends noch lange wach und malte sich aus, was sie getan hätte, wenn sie die schöne Helena oder Kassandra gewesen wäre. Sie saugte jeden Satz von Marcel auf und gab sich große Mühe, alles zu behalten, denn es konnte passieren, dass er beim nächsten Treffen genau dort wieder anknüpfte, wo er aufgehört hatte. Sie wiederholte die Einladung zum Kuchenessen.

»Ganz bestimmt wirst du das«, bestätigte sie deshalb ihren Freund. »Was lernst du gerade?«

»Philosophie. Ich lese die Persischen Briefe von Montesquieu.«

»Ah«, sagte Georgette, die diesen Namen noch nie gehört hatte, sich aber keine Blöße geben wollte, »weißt du, ich schreibe auch Briefe an meinen Vater, aber der kann sie nicht lesen, weil er schon tot ist.« Marcel sah sie mitfühlend an, und sie sah sich ermuntert, weiterzureden. »Wie ist das, einen Vater zu haben?«

»Schön«, sagte Marcel nach einem kurzen Moment. »Mein Vater nimmt mich oft mit zum Angeln. Ihm ist es sehr wichtig, dass ich gute Noten in der Schule habe, und er hat mir immer gesagt, was gut und was schlecht ist.« Er runzelte die Stirn. »Ich glaube, er zeigt mir die Richtung, damit ich weiß, wo ich langgehen muss«, schloss er und sah sie an. Georgette wünschte sich in diesem Augenblick, ihr Vater könnte sie an die Hand nehmen, Staffelei und Leinwand unter dem Arm, und mit ihr in den Wald gehen, um zu malen.

»Kannst du mir nicht die Richtung zeigen? Bitte Marcel, ich habe doch heute Geburtstag, schenk mir eine Richtung.«

Marcel nahm ihre Hand in seine und schaute sie lange an.

Dann nahm sie den Brief und ging damit zu dem Bild, das sie einige Stunden zuvor von der Wand geholt hatte. Sie klemmte den Brief in den Rahmen und hängte das Bild vorsichtig wieder an seinen Platz.