Für Nick, Ellie und Matt, die sich zum Glück hervorragend allein durchschlagen können.
«Verhalt dich einfach unauffällig, ganz unauffällig», wiederholte Fiona ihr vertrautes Mantra, während sie einbeinig wie ein Storch dastand, den linken Fuß an der Wade des rechten Beines rieb und dabei an der Spitze ihres langen blonden Pferdeschwanzes zupfte. Was angesichts der Tatsache, dass sie von lauter kleinen Frauen umringt war, die wie Ameisen umherhuschten, ziemlich albern war. Aber neben diesen zarten, feenhaften Wesen mit ihren anmutigen Zügen und ihren dichten, seidig glänzenden Haaren kam Fiona sich vor wie ein unförmiges Mammut – hochgewachsen, wie sie war –, das sich aus Versehen auf einem Pariser Laufsteg wiederfand. Einen schrecklichen Moment lang fühlte sie sich in ihre Schulzeit zurückversetzt, umgeben von den coolen Mädchen mit ihren abschätzigen Blicken.
Sie bemühte sich, tief durchzuatmen und sich ein wenig zu beruhigen, doch es klang wie ein gequältes Japsen. Um sie herum wurden die Ankommenden von Männern in makellosen Anzügen begrüßt, die Schilder mit Namen in die Höhe hielten. Es fühlte sich an wie damals im Sportunterricht, als sie immer bis zuletzt rumstand, weil keine der Mannschaften sie wählen und als Niete im Team haben wollte.
Fiona suchte weiter die weißen Schilder nach ihrem Namen ab. Ihre Ohren dröhnten vom Lärm des großen Flughafens, und in ihrer kribbelnden Wirbelsäule spürte sie die wachsende Anspannung. Ihr Flugzeug war bereits vor einer Stunde gelandet, ihre Koffer waren vom Gepäckband gelaufen, und doch musste sie immer noch warten. Am liebsten hätte sie noch einmal auf die Reiseunterlagen gesehen, die in ihrer Tasche steckten, doch das hätte zu unsicher gewirkt. Vertrau einfach diesem Stück Papier und den Abmachungen, die darauf stehen, ermahnte sie sich. Sie war hier. Sie war mutig. Es war kein Geheimnis, dass sie sich weit außerhalb ihrer Komfortzone befand, aber sie würde es durchziehen. Trotz der Bedenken ihrer Mutter war das hier die Chance ihres Lebens – eine Chance, die sie niemals für möglich gehalten hätte.
Nicht nur, dass sie in Verbindung mit der Kunstfakultät der Universität Tokio einen vollbezahlten Aufenthalt in Japan gewonnen hatte; es bot sich dazu noch die Möglichkeit, ihre Fotografien anschließend im Japanzentrum in Kensington im Westen Londons auszustellen, das empfand sie als die absolute Krönung. Sie war so dankbar dafür, dass sie sich damals für einen Abendkurs an einer der Londoner Unis eingeschrieben hatte.
Sie schob eine Hand in die tiefe Tasche ihres Mohairmantels und rieb mit den Fingern über das glatte Elfenbein des Netsuke, der kleinen Schnitzfigur, die früher einmal zu einem traditionellen japanischen Gewand gehört hatte. Dieses kleine Kaninchen begleitete sie auf all ihren Reisen, es war das Einzige, was sie von ihrem Vater besaß. Er war gestorben, als sie noch ein Baby gewesen war. Die Figur hatte in ihr ein vages Interesse an Japan geweckt, sodass sie sich sogar ohne Drängen ihrer sonst so bestimmenden Freundin Avril für den Wettbewerb angemeldet hatte. Avril hatte ihr nur noch den letzten Schubs gegeben.
Und nun war sie für zwei Wochen hier. Zwei Wochen, in denen sie alles erleben würde, was Japan zu bieten hatte, inklusive Coaching von einem der besten Fotografen der Welt: Yutaka Araki. Sie hatte hart an ihrer Bewerbung gearbeitet, und ob sie es nun glauben wollte oder nicht, sie verdiente es, hier zu sein.
Es juckte ihr in den Fingern, den sorgfältig gefalteten Zettel aus ihrer Tasche zu ziehen und ihn doch noch einmal zu lesen. Stopp, sagte sie sich, du weißt genau, was darauf steht: Man wird dich am Flughafen Tokio-Haneda abholen. Jemand mit einem dieser kleinen hübschen Schildchen, auf dem dein Name steht, wird gleich hier sein. Vielleicht sogar der berühmte Yutaka Araki persönlich. Ihre Hand legte sich über ihr Handy, das neben dem kleinen Kaninchen in der Manteltasche steckte. Nein, sie würde jetzt nicht ihre Nachrichten am Telefon checken. Bestimmt hatte ihre Mutter wieder ein Update zu ihrem Blutdruck geschickt. Er stieg an, sobald Fiona etwas tat, was ihrer Mutter nicht gefiel.
Fiona schaute sich in dem luftigen Gebäude um, betrachtete die bevölkerte Ankunftshalle und versuchte zu benennen, was so anders war. Glücklicherweise waren einige Schilder nicht nur in den faszinierenden, aber sehr verwirrenden japanischen Schriftzeichen, sondern auch auf Englisch. Dass sie die wesentlichen Informationen nicht würde entziffern können, war eine ihrer größten Sorgen gewesen – gemeinsam mit der Tatsache, dass sie nie wirklich gelernt hatte, mit Stäbchen umzugehen. Auch Sushi hatte sie niemals probiert, weil sie rohen Fisch einfach nicht mochte.
Sie schluckte. Und wenn nun niemand kam? Was sollte sie dann tun? Sie seufzte wieder und verlagerte das Gewicht auf das andere Bein, während sie gleichzeitig voller Hoffnung auf die Neuankömmlinge schaute. Alles fühlte sich fremd und unbehaglich an. Auch wenn sie das Coca-Cola-Logo auf dem riesigen Getränkeautomaten gegenüber erkennen konnte, waren die Beschriftungen der bunten Dosen darin sämtlich unverständlich.
Ihr Blick blieb an einer Person hängen, die eilig und mit wehendem Mantel auf sie zukam. Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Das konnte doch nicht wahr sein. Das bildete sie sich doch wohl ein.
Oh, verflixt und dreifach zugenäht.
Er war es.
Gabriel Burnett, Times-Fotograf des Jahres und Gewinner von Portrait of Britain sowie einer Million anderer Fotografiepreise. Der Mann besaß viel Talent, ganz zu schweigen von seinem Charme, dem Aussehen und unfassbar viel Charisma. Außerdem war er einst der Liebling der Presse gewesen.
Was machte er hier? Er konnte doch wohl nicht … Nein, es musste ein absoluter Zufall sein. Aber in ihrem Kopf fügten sich plötzlich die Dinge wie Teile eines Puzzles zusammen. Sie hatte einen Fotowettbewerb gewonnen. Er war Fotograf. Jemand sollte sie abholen. Er war in der Ankunftshalle.
Aber er konnte doch unmöglich ihretwegen hier sein!!!
Obwohl sie sich jede Gefühlsregung ausdrücklich verbot, setzte ihr Herz mindestens zehn Sekunden lang aus, bevor es so wild zu schlagen anfing wie ein Schnellzug, der durch einen Tunnel rast. Gabe Burnett. Er kam direkt auf sie zu. Fuhr sich mit dieser schnellen, ruckartigen Geste durch die dunklen Haare, an die sie sich so gut erinnerte.
Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre geflüchtet, doch irgendwie hatten sich ihre Füße in Bleiklumpen verwandelt, über die sie keine Kontrolle mehr besaß. Er stellte sich an die Absperrung und zog ein weißes Blatt Papier hervor, auf dem mit Großbuchstaben FIONA H. gemalt worden war. So als hätte er es zu eilig gehabt, um noch ihren Nachnamen zu schreiben, aber doch vorsorgen wollen für den Fall, dass sich mehrere Fionas unter den Fluggästen befanden. Es war zehn Jahre her. Würde er sie wiedererkennen? Das war sehr unwahrscheinlich. In der Zwischenzeit musste er Hunderte von Studenten unterrichtet haben. Damals war sie selbstsicherer gewesen, mit einer gewissen Vorliebe für Latzhosen, bauchfreie Pullis in Knallfarben und Paisleytücher, mit denen sie ihre Haare hochband. Fiona konnte sich noch genau daran erinnern, wie ihr Selbstbewusstsein damals wie eine alte Walnuss zusammengeschrumpelt war. Es hatte eine Menge mit dem Mann zu tun, der nun drei Meter von ihr entfernt stand und den Zettel mit ihrem Namen hochhielt, während er sich so nonchalant und entspannt in der vollen Ankunftshalle umsah wie jemand, der sich überall wohl fühlte.
«Das bin ich», sagte Fiona und hob die Hand wie ein Schulmädchen, das sich meldete. Sie nickte in Richtung seines Zettels. «Fiona. Fiona Hanning.» Sie streckte ihm die Hand hin.
«Super. Schon lange gewartet?» Er stopfte sich das behelfsmäßige Schild in die Tasche und verbeugte sich zu ihrer Überraschung.
Sie verzog leicht den Mund und ließ die Hand sinken. Er war immerhin eine halbe Stunde zu spät. Doch Menschen wie er hatten es wohl nicht nötig, sich bei Normalsterblichen zu entschuldigen.
«Ich bin Gabriel Burnett. Die meisten nennen mich Gabe. Nett, Sie kennenzulernen.» Er verbeugte sich wieder, doch dann streckte er doch seine Hand aus, und sie riss ihre aus der Manteltasche, um sie zu schütteln. «Die Leute begrüßen sich hier mit Verbeugung.»
Das wusste sie natürlich, immerhin hatte sie sich auf diese Reise vorbereitet. Sie hatte bloß nicht von ihm erwartet, dass er sich gegenüber seinen Landsleuten an diese Sitte hielt. «Man gewöhnt sich sehr schnell dran. Visitenkarten sind auch sehr beliebt. Wenn man Ihnen eine gibt, dann nehmen Sie sie unbedingt mit beiden Händen an und behandeln Sie die Karte wie einen kostbaren Gegenstand. Auf keinen Fall dürfen Sie sie einfach einstecken. Legen Sie sie sorgfältig in Ihr Portemonnaie. Hier in Japan wird Respekt großgeschrieben.»
«Okay», sagte sie, amüsiert von seinem Redefluss. Sie kannte ihn als Mann weniger Worte; nur, wenn es um seine Arbeit ging, war er gesprächig gewesen. Aber sie hatte ihn auch zehn Jahre lang nicht gesehen. Und ganz sicher hatte auch sie sich verändert – sehr sogar. Plötzlich fielen ihr Avrils Abschiedsworte ein, als sie sie am Flughafen abgesetzt hatte. Sie musste lächeln: «Hör auf, das Mauerblümchen zu spielen. Da drüben kennt dich keiner, da kannst du sein, wer immer du willst.» Was theoretisch eine super Idee war, jedenfalls wenn man wie Avril als äußerst selbstbewusste Moderatorin im Frühstücksfernsehen arbeitete, mit der Liebe seines Lebens verheiratet und Mutter eines hinreißenden Zweijährigen war. Seit ihrer Pressereise nach Kopenhagen war Avril eine von Fionas engsten Freundinnen geworden.
«Ist das hier Ihr Gepäck?», fragte Gabe und unterbrach Fionas Gedanken.
Sie nickte und hob leicht das Kinn. Sie war nicht mehr achtzehn.
«Mehr haben Sie nicht?» Fragend sah er sie an.
«Nein», sagte sie.
«Das macht es uns leichter in der Schwebebahn.» Und mit diesen Worten packte er den riesigen Koffer und ging voran.
Es war ein schwieriges Unterfangen gewesen, für zwei Wochen zu packen für ein Reiseziel, das man überhaupt nicht kannte; doch Avril hatte sie mit freundlicher Bestimmtheit gerettet. Wäre Fiona bei ihrem ursprünglichen Plan – Jeans und T-Shirts – geblieben, wäre ihr Koffer nur halb so voll geworden.
Sie musste sich anstrengen, um mit Gabe mitzuhalten, der sich durch die Menschenmenge drängelte, und gleichzeitig all die neuen Eindrücke in sich aufzunehmen. Erst als sie in der markierten Schlange für die Monorail standen, fand sie wieder zu sich.
«Ähm … es ist wirklich nett von Ihnen, mich abzuholen.»
Gabes Ausdruck wurde ernst und seine Stimme so leise, dass sie ihn kaum noch verstand. «Äh, ja. Es gab da eine kleine Planänderung. Leider hatte Yutaka Araki einen Trauerfall in der Familie und musste nach Niseko zurück. Sie müssen sich darum leider mit mir abgeben.» Sein Mund zuckte schelmisch, dann fügte er hinzu: «Ich bin aber auch nicht so schlecht.»
Fiona ärgerte sich über sein unverschämtes Selbstbewusstsein – und über ihren ansteigenden Puls. Sie funkelte ihn an. «Mir ist durchaus bewusst, wer Sie sind, Mr. Burnett», sagte sie und beugte sich etwas vor, um ihn besser zu verstehen.
«Mr. Burnett, ja? Aua. Damit haben Sie mich auf meinen Platz verwiesen. Jetzt fühle ich mich wie einhundertdrei.» Er lachte leise.
Sie biss sich auf die Lippe. Sie wusste genau, wie alt er war.
«Jedenfalls, das mit Yutaka tut mir leid, aber es ging nun mal nicht anders. Die Universität rief mich an – ich habe da mal unterrichtet – und fragte, ob ich einspringen könnte. Ich kenne Professor Kobashi, der dieses Förderprogramm hier in Tokio leitet. Und seine Frau. Sie vermieten mir die Wohnung und das Studio. Jedenfalls, wenn Sie Yutaka unbedingt treffen wollen: Bis zum Ende Ihres Aufenthaltes wird er wohl wieder da sein.»
«Ich bin sicher, Sie schaffen das», erwiderte Fiona und war selbst überrascht von ihrer Kühnheit. Sie senkte ebenfalls die Stimme: «Wie Sie schon sagten, so schlecht sind Sie ja nicht.»
Anstatt beleidigt zu sein, grinste er sie an. «Es gibt doch nichts Besseres, als zum zweiten Mal auf seinen Platz verwiesen zu werden.»
«Vermutlich passiert das nicht so oft», meinte Fiona trocken, noch bevor sie darüber nachdenken konnte, was sie sagte.
Mit einem schiefen Grinsen drehte er sich zu ihr um und betrachtete sie, als sähe er sie zum ersten Mal. «Ich bin gar nicht so unausstehlich, wissen Sie. Sie sollten nicht alles glauben, was in den Zeitungen steht.» Er sah ihr in die Augen, und einen Augenblick dachte sie, dass hinter seinen Worten vielleicht mehr steckte. Es hatte eine Zeit gegeben, da war sein Foto beinahe ebenso oft in den Zeitungen erschienen wie seine Fotografien. Models waren seine beliebtesten Motive gewesen.
«Ich lese nur selten Zeitungen. Meine Freundin Kate hat früher in Public Relations gearbeitet und sagt immer, das meiste ist sowieso erfunden. Und meine Freundin Avril arbeitet beim Frühstücksfernsehen und weiß, was hinter den Gerüchten steckt.»
«Sehr vernünftig», sagte er. «Also, warum Japan?»
Vielleicht war es der anerkennende Blick, mit dem er sie ansah, oder die Tatsache, dass er sich ganz offensichtlich nicht an sie erinnerte – jedenfalls zog sie das kleine Netsuke aus ihrer Tasche. «Deswegen.»
Gabe streckte einen Finger aus und strich über die glatte Oberfläche aus Elfenbein. «Darf ich?»
Sie gab ihm die Figur. «Es gehörte meinem Vater. Er ist gestorben, als ich noch ein Baby war, und als ich sechs war, habe ich es gefunden. Ich hatte keine Ahnung, was es war, bis meine Oma es mir erklärte. Ein Netsuke. Mein Vater hat es als Junge in einem Antiquitätenladen gekauft, er wollte immer nach Japan, hat es aber nie geschafft. Als ich von diesem Wettbewerb erfuhr …» Sie zuckte mit den Schultern, und Gabe reichte ihr die Schnitzfigur zurück. Fiona schob sie wieder in ihre Tasche, wo sie sich mit einem beruhigenden Plumps niederließ.
«Sentimental, aber niedlich. In Tokio werden Sie einen guten Eindruck vom Land erhalten.» Einen Moment umgab sein Gesicht ein wehmütiger Ausdruck. «Es ist ein Land voller Gegensätze: Auf der einen Seite ist es protzig, modern, innovativ, voller Neonfarben und Technologie, und auf der anderen Seite gibt es diese tiefe Bewunderung und den Respekt für Kunst, Kultur und Tradition. Ich habe noch nie an einem solchen Ort gelebt wie diesem hier.»
«Sind Sie oft hier?»
«Ich wohne hier und in London.» Er sah sie an. «Sie werden bei den Kobashis unterkommen.» Wieder dieses wehmütige Lächeln. «Professor Kobashis Frau Haruka ist sehr liebenswürdig, wenn auch ziemlich speziell. Sie ist eine Teemeisterin.»
Fionas Interesse war sofort geweckt. «Ich liebe Tee. Eines der Dinge, die ich unbedingt erleben möchte, ist es, einer richtigen Teezeremonie beizuwohnen. Auch wenn ich keine Ahnung habe, was man da machen muss.»
«Dann sind Sie genau am richtigen Ort. Haruka ist Profi. Sie besitzt zusammen mit ihrer Tochter einen Teeladen und hält dort Zeremonien ab. Sie wohnen direkt darüber.»
«Ehrlich?» Fiona lächelte. Ihr Lieblingsbesitz war eine kleine Teekanne mit einem Bambusgriff und einer schmalen Tülle. Sie liebte das zarte und schlichte funktionale Design. Einen Moment lang vergaß sie die unrühmliche Vergangenheit, die sie mit Gabe verband, und lächelte ihn voller Wärme an. Dabei schaute sie ihm direkt in seine blauen Augen. Er war noch immer ein sehr gut aussehender Mann.
«Hmm.» Gabe versteifte sich und wandte den Kopf ab, als wäre sie ihm zu nahe gekommen. Sein Kiefer spannte sich an, während er über das Gleis voller Menschen starrte.
Fiona schob die Hände in die Manteltaschen und strich mit einem Finger über das Netsuke. Gabes Rückzug war subtil, aber deutlich gewesen. In ihrer Brust bildete sich etwas Hartes, als hätte sie einen ganzen Laib Vollkornbrot auf einmal verschluckt. Große, unbeholfene Frauen wie sie genossen nicht Gabe Burnetts Sympathien, aber das musste er sie ja nicht gleich spüren lassen. Glamouröse, zarte Brünette, denen das Selbstbewusstsein aus jeder Pore strömte, nahmen ihn mehr für sich ein, jedenfalls von seinem Liebesleben aus zu schließen, das vor Jahren in allen Hochglanzmagazinen beleuchtet worden war.
«Wenn man auf so etwas steht», sagte er und schaute auf seine Uhr. «Alles ziemlich langweilig, wenn man es einmal erlebt hat. Mehr was für Touristen», sagte er abschätzig.
«Na, ich bin ja auch eine Touristin», sagte Fiona kurz angebunden. Sie ärgerte sich über seine Einstellung.
«Apropos, haben Sie Ihren Japan Rail Pass?»
«Ja.» Sie hatte zwar vor der Reise nur wenig vorbereitend lesen können, hatte aber gehört, dass man sich den Ausweis am besten schon vor der Ankunft besorgte. Er war zusammen mit den Flugtickets gekommen.
Die Monorail fuhr ein. Und als sie im Abteil saßen, wandte sich Fiona an Gabe, um ihn zu fragen, wie lange sie fahren würden, doch er hatte kaum den Finger an die Lippen gelegt, als ihr selbst auffiel, wie still es um sie herum war. Sie schaute sich um. Offenbar redete man in Japan nicht in den Zügen. Gabe zog sein Handy heraus und scrollte durch einen Text, darum tat sie es ihm gleich, und sie verbrachten den Rest der Fahrt schweigend.
Nachdem sie ausgestiegen waren, führte Gabe sie durch das Gedränge zur U-Bahn.
«Das ist die Yamanote-Linie. Sie werden Sie oft benutzen, es lohnt sich also, sich die Stationen einzuprägen. Sie fährt im Kreis und hält an allen wichtigen Plätzen der Stadt. Wir fahren nach Nippori. Professor Kobashi wohnt in einem hübschen traditionellen Viertel namens Yanaka.»
Nach einer beengten, schweigenden Fahrt traten sie beinahe eine Stunde später in das bleiche Sonnenlicht des späten Nachmittags hinaus. Jetzt, wo die erste Aufregung verflogen war, spürte Fiona die Erschöpfung in den Knochen. Es fiel ihr schwer, die Füße voreinanderzusetzen, während Gabe mit forschem Schritt durch die Straßen ging und sich nicht einmal nach ihr umdrehte. Zumindest hatte er ihren Koffer übernommen und schob ihn voran wie ein Mann auf einer Mission. Die Mission, sie so schnell wie möglich loszuwerden, vermutete Fiona, während sie seine breiten Schultern betrachtete. Er marschierte stets ein paar Schritte vor ihr her, wohl um ihr klarzumachen, dass er eigentlich gar nicht hier sein wollte.
Sie hatte überhaupt keine Ahnung, wo in der Stadt sie sich gerade befanden. Ihr behagte das Gefühl nicht, keine Kontrolle mehr zu haben. Sie war weit weg von zu Hause. Der sechzehnstündige Flug hatte ihr Empfinden für die wahre Entfernung getrübt. Jetzt inmitten all der unbekannten Architektur, der fremden Straßenzeichen, der Menge an Kabeln in der Luft sowie der Laternenpfähle, die eher wirkten wie geschnitzte Vogelkäfige, wurde ihr die Realität erst richtig bewusst. Es war alles vollkommen fremd. Die Straße war breit, doch die Häuser ragten fast bis an die Straße heran; vor den Türen standen Pflanzentöpfe, als wollte man sich für den nicht vorhandenen Vordergarten trösten. Alles schien aus Holz gebaut, abgesehen von den dunkelgrünen, geschwungenen Dächern, die leicht überhingen.
Als sie stehen blieb, um die Fensterläden aus Bambus zu betrachten, wartete Gabe auf sie. «Dies ist ein ziemlich traditionelles Viertel. Die Häuser sind ein paar hundert Jahre alt.»
«Ich liebe dieses Holz», sagte sie fasziniert.
«Das ist Sugi. Japanische Zeder», antwortete er und ging – wieder ein paar Schritte voraus – weiter.
Erneut starrte Fiona auf seinen Rücken und beeilte sich, mit ihm mitzuhalten, als er nach rechts in eine schmalere Straße einbog und vor einem Laden stehen blieb.
Lächelnd schaute sie an dem großen, viereckigen Fenster mit Holzrahmen hinauf – eine Mischung aus heimischem Erkerfenster und Balkon. Jasmin umwucherte das Fenster, hinter dem eine wunderschöne, aber minimalistische Auslage aus eleganten Teekannen und hübsch glasierten traditionellen Teeschalen zu sehen war. Unter dem Fenster befanden sich große Töpfe mit Kamelien, deren tiefrosa Knospen kurz vor der Blüte standen.
«Das ist ja wunderschön», platzte Fiona heraus und wünschte, sie hätte ihre Kamera zur Hand.
«Dann gewöhnen Sie sich dran. Das hier ist Harukas Teeladen; sie und Professor Kobashi wohnen darüber, und da sind Sie ebenfalls untergebracht.»
Fiona schlug begeistert die Hände zusammen. «Das ist ja so toll!» Sie betrachtete das tiefhängende Dach, das sich an den Rändern nach oben wölbte wie die Pantoffeln eines Sultans und mit seinen grün glänzenden Ziegeln bis über das Fenster ragte.
Eine kleine Treppe führte nach rechts in den Teeladen, während es links zu einer breiten Veranda ging. Gabe zog sofort die Schuhe aus und rief etwas auf Japanisch. Sie verstand die Worte ‹Haruka san›.
«Sie sprechen Japanisch?», fragte Fiona.
«Das ist nur eine Grußformel. Ich spreche ein paar Worte, das ist alles. Sie müssen die Schuhe ausziehen. Die Pantoffeln da sind für Sie.» Er hatte seine Füße bereits in ein größeres Paar gesteckt.
Die Tür schien aus Papier und Holz zu bestehen. Sie öffnete sich, und dahinter kam eine sehr kleine Japanerin zum Vorschein. Ihre dunklen Haare hatte sie zu einem hübschen Knoten gebunden, der sie mindestens fünf Zentimeter größer machte.
«Gabriel san.» Sie begrüßte Gabe mit offensichtlicher Freude, verbeugte sich vor ihm und küsste ihn mit strahlenden Knopfaugen auf beide Wangen. Leise sagte sie einige Worte auf Japanisch und tätschelte seinen Arm.
Fiona betrachtete diese freudige Begrüßung neugierig. Sie hatte formelle und reservierte Japaner erwartet, aber davon konnte hier keine Rede sein.
«Haruka san, das ist Fiona.»
Die Frau trat vor Fiona, legte beide Hände aneinander und senkte höflich den Kopf. «Willkommen, Fiona. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.» Ihr Lächeln war freundlich, aber keineswegs so strahlend wie das, das sie Gabe geschenkt hatte. Er schien hier sehr beliebt zu sein.
«Kommen Sie, kommen Sie.» Mit kleinen Schritten führte Haruka sie eine Treppe hinauf, die einmal herumführte, bis sie, wie Fiona annahm, über dem Teeladen standen. Sie konnte es gar nicht abwarten, ihn zu sehen, auch wenn ihre Neugier von der ungewöhnlichen japanischen Einrichtung abgelenkt wurde. Die Frau führte sie in ein großes Wohnzimmer. Es war minimalistisch mit sehr wenigen Möbeln eingerichtet. Die Holzdielen waren mit großen Matten ausgelegt. Es gab ein paar sehr niedrige Stühle mit hohen, geraden Lehnen und einen merkwürdigen Tisch, der eine eigene Bettdecke zu haben schien. Abgesehen von ein paar Töpferwaren auf einem niedrigen Holzregal und einigen bemalten Wandrollen gab es hier nur sehr wenige Gegenstände und definitiv nichts von dem Durcheinander, das das Haus ihrer Mutter kennzeichnete. Fiona lächelte. Ihr gefielen die klaren Linien und die Ordnung im Raum.
Ihre Gastgeberin schob einige Schiebetüren auf und führte Fiona eine weitere Holztreppe hinauf zu einer ganzen Reihe von Zimmern, die durch Türen aus Papier und Holz voneinander getrennt waren. Gabe trug Fionas Koffer. Schließlich kamen sie zu einem kleinen viereckigen Raum, in dem ein Futon auf dem Fußboden stand. Haruka zog die Bambusrollos hoch, und hinter den Fenstern zeigte sich ein Balkon, der an der gesamten Rückseite des Hauses verlief und von dem man Blick auf einen sehr hübschen, zenartig gestalteten Garten hatte.
«Oh, wie schön», rief Fiona.
Die Japanerin schenkte ihr ein warmes Lächeln.
«Ich zeige Ihnen den Garten später. Möchten Sie etwas zu trinken?»
«Ich kann nicht bleiben», beeilte sich Gabe. «Ich muss zurück ins Zentrum.» Er wandte sich Fiona zu. «Ich denke, ich zeige Ihnen in den ersten Tagen ein bisschen von Tokio. Damit Sie sich akklimatisieren. Und damit Sie über das Thema Ihrer Ausstellung nachdenken können.»
Fiona nickte erfreut. Dass er davon wusste! Das Thema bereitete ihr jetzt schon Sorgen. Auch wenn sie sich nur wegen der Reise nach Japan für den Wettbewerb eingeschrieben hatte, war der tatsächliche Preis natürlich die Ausstellung, die zwei Wochen nach ihrer Rückkehr in Kensington stattfinden sollte. Es war eine phantastische Chance, auf sich aufmerksam zu machen und vielleicht sogar ein paar Werke zu verkaufen. Sie hatte sich auf die Arbeit mit Yutaka Araki gefreut. Er war bekannt für seine wunderschönen Landschaftsaufnahmen, und sie hatte gehofft, viel von ihm zu lernen und sich mit ihm wegen eines möglichen Ausstellungsthemas zu beraten.
Aber jetzt musste sie sich mit Gabe zufriedengeben. Sie war nicht sicher, ob er ihr wirklich helfen konnte und wollte. Zumal er sich auf Porträtfotografie spezialisiert hatte.
«Akklimatisieren klingt gut», murmelte sie, denn der Jetlag bereitete ihr akute Schwindelgefühle. Sie schwankte, und Gabe hielt sie am Arm. Sie schaute ihn an und bemerkte in seinen Augen ein kurzes Aufflackern. Eilig ließ er ihren Arm wieder los, und sie richtete sich auf. Gabe hatte von ihr nichts zu befürchten. Fiona hatte sich schon einmal seinetwegen zur Idiotin gemacht, weil sie sich etwas eingebildet hatte. Das würde ihr ganz sicher nicht noch einmal passieren, egal wie unfassbar attraktiv sie ihn immer noch fand, wie sie sich überrascht eingestehen musste.