Es ist ein bisschen wie Woodstock. Das ist das Gefühl, das viele Menschen ergreift, die sich an diesem kühlen, frühherbstlichen Sonnabend im Bonner Hofgarten versammeln. Es ist grau und bewölkt, gelegentlich gehen kurze Schauer nieder, aber von den sintflutartigen Regenfällen, die dereinst das Woodstock-Festival verheerten, ist das Wetter an diesem Tag weit entfernt. Dreihunderttausend Menschen sind hier zusammengekommen, am 10. Oktober 1981, um für den Weltfrieden zu demonstrieren, für «Peace, Love and Harmony»: ganz wie die Hippies und Blumenkinder zwölf Jahre zuvor bei ihrem großen Stammestreffen am Ende der bürgerrechtsbewegten Sechziger. Damals war es eine halbe Million, die sich etwas nördlich von New York auf den Feldern des Bauern Max Yasgur versammelte, um Musik zu hören und Drogen zu nehmen, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren und gegen die ungerechte Verfassung der Welt im Ganzen. Die Verhältnisse waren chaotisch, viele blieben in ihren Autos schon auf den überfüllten Straßen zum Festivalgelände stecken, und wer ankam, hatte oft kaum die Gelegenheit, einen Blick auf die Bühnen zu erhaschen.
In der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1981 ist alles besser organisiert, um nicht zu sagen: perfekt. Die demonstrationswilligen Massen werden in Sonderzügen der Deutschen Bundesbahn oder in Bussen in die Bundeshauptstadt Bonn gebracht, dort bewegen sich die Demonstranten in einem fünfzackigen Sternmarsch aufeinander zu, um sich bei der Abschlusskundgebung zu treffen. «Die achtziger Jahre werden mehr und mehr zum gefährlichsten Jahrzehnt in der Geschichte der Menschheit. Ein Dritter Weltkrieg wird aufgrund der weltweiten Aufrüstung immer wahrscheinlicher.» So lauten die ersten Zeilen des Aufrufs zur Demonstration, und am Ende heißt es: «Wir sind alle aufgerufen, uns mit Mut, Phantasie und langem Atem gegen einen drohenden Atomkrieg zu wehren und Alternativen zur gegenwärtigen Militärpolitik zu entwickeln.» Schier unüberschaubar sind die Menschenmengen, die für dieses Ziel demonstrieren, es sind junge Hippies und Ökos darunter sowie Hippies und Ökos mittleren Alters, Angehörige von Kirchengruppen und der im Vorjahr neu gegründeten Partei Die Grünen, Gewerkschafter, Mitglieder von DKP und CDU, aber auch solche aus der SPD, die sich gegen den offiziellen Regierungskurs des Bundeskanzlers Helmut Schmidt aussprechen. Es reden der evangelische Pastor und ehemalige SPD-Bürgermeister Westberlins, Heinrich Albertz; zwei Prominente aus der Partei Die Grünen, Petra Kelly und Gert Bastian; die Witwe des US-amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King, Coretta Scott King, versucht, ein wenig Hoffnung auf eine friedliche Welt zu stiften; die Theologin Uta Ranke-Heinemann hingegen malt die Gesamtlage in den düstersten Farben.
Zu Beginn der achtziger Jahre spitzt sich der Kalte Krieg zu; bei vielen Menschen wächst die Angst, er könnte bald in einen heißen Krieg umschlagen. Seit 1977 hat die Sowjetunion in den Staaten des Warschauer Pakts neue Waffen für einen Atomkrieg in Stellung gebracht. Die zwanzigste Generation der «Surface-to-surface»-Raketen, kurz SS-20, kann fünftausend Kilometer weit fliegen und also im Ernstfall ganz Westeuropa verheeren. Dagegen verabschiedet das westliche Militärbündnis im Dezember 1979 den NATO-Doppelbeschluss. Darin heißt es: Wenn die Sowjetunion sich nicht binnen vier Jahren für den Rückzug der SS-20 entscheide, dann werde man selbst neue atomare Mittelstreckenraketen stationieren. Mit den Pershing-II-Flugkörpern will die NATO jenes «Gleichgewicht des Schreckens» wiederherstellen, das – wie die Vertreter beider Militärblöcke behaupten – in der gegenwärtigen Lage einzig und allein den Frieden garantiert. Die Sowjetunion bleibt vom Doppelbeschluss unbeeindruckt, mehr noch: Zwei Wochen danach, am 25. Dezember 1979, lässt sie Truppen in Afghanistan einmarschieren, um das seit dem vorigen Jahr dort herrschende kommunistische Regime zu unterstützen. Dieses hat sich eine Modernisierung und Säkularisierung des Landes zum Ziel gesetzt, unter anderem mit gleichen Bürgerrechten für Frauen und einem Burkaverbot. Darum wird es von den islamistischen Mudschaheddin bekämpft, welche wiederum – rückblickend betrachtet eine allerdings bizarre historische Wendung – die Unterstützung der USA genießen.
Die Konfrontation zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten ist damit in eine neue Phase der Eskalation eingetreten; nicht wenige Menschen sehen sich, wie es schon im Aufruf zur Demonstration in Bonn anklingt, am Vorabend eines Dritten Weltkriegs. Die dreihunderttausend Demonstranten in der Bundeshauptstadt bekunden ihre Ohnmacht und ihre Angst angesichts einer politischen Lage, die jederzeit zu einer globalen Katastrophe führen könnte. Dass so viele Menschen zusammenkommen, um ihren Unmut zu bekunden, verschafft vielen Glücks- und Gemeinschaftsgefühle; darin ähnelt die Stimmung tatsächlich jener in Woodstock zwölf Jahre zuvor, als Janis Joplin beim Blick von der Bühne ins Publikum ergriffen ausruft: «Ich hätte nicht gedacht, dass wir so viele sind!» Auch in Woodstock sind die Besucher und Besucherinnen im Protest gegen einen Krieg geeint, den Vietnamkrieg.
Aber es gibt doch einen Unterschied, der wiederum etwas aussagt über den Unterschied zwischen den siebziger Jahren, die in Woodstock beginnen, und den Achtzigern, die ihren Ausgang im Bonner Hofgarten nehmen. In Woodstock wähnen sich die Menschen am Beginn einer neuen Epoche; einer Epoche, die weniger kriegerisch und konfrontativ sein wird als die bisherige Menschheitsgeschichte. Sie betrachten sich, nach dem Titel eines Woodstock-Songs von Melanie Safka, als «beautiful people», deren harmonischer und friedfertiger Geist bald die ganze Welt beglücken wird – gewissermaßen als Avantgarde einer Globalisierung, die die gesamte Menschheit einer besseren Zukunft entgegenführt. In Bonn fehlt dieser utopische Glaube. Wer im Hofgarten für den Frieden demonstriert, der tut dies nicht aus dem optimistisch gestimmten Geist der Friedfertigkeit heraus – sondern aus der Angst vor einer atomaren Apokalypse. Man glaubt nicht mehr daran, dass sich die Welt durch das eigene Handeln zum Besseren verändern lässt – sondern handelt politisch, um die Veränderung der Welt zum Schlechteren aufzuhalten. Auch hier geht es um Globalisierung, auch hier betrachtet man den Planeten im Ganzen. Doch betrachtet man ihn aus der Perspektive einer möglichen planetarischen Apokalypse.
Und es gibt noch einen Unterschied zwischen Woodstock und Bonn. Das musikalische Programm der Hofgartendemonstration ist, um es vorsichtig zu sagen, nicht ganz so toll. Unter anderem treten die Liedermacher Hannes Wader und Franz Josef Degenhardt auf und der in der DDR lebende kanadische Banjospieler Perry Friedman, der in seiner Wahlheimat die sogenannte Singebewegung mitgegründet hat; der Calypso-Sänger Harry Belafonte intoniert mit den Massen das Erkennungslied der alten US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, «We Shall Overcome». Vielleicht könnte man sagen: Fortschrittliche politische Botschaften werden hier in musikalisch eher traditionsseligem Ton vorgetragen. Dies gilt auch für die jüngsten Künstlerinnen und Künstler, die im Hofgarten auf der Bühne stehen. Die Folksängerin, Gitarristin und Querflötenspielerin Angi Domdey etwa hat seit Mitte der Siebziger mit ihrer Gruppe Schneewittchen an einer Verbindung von deutschen Volksliedern und Blues-Balladen mit feministischen Botschaften gearbeitet; auf ihrem Debütalbum «Zerschlag deinen gläsernen Sarg (Frauenmusik – Frauenlieder)» aus dem Jahr 1978 findet sich eine populäre Parole der Gegenkultur, instrumentiert mit Flöte, Bratsche und Akkordeon: «Unter dem Pflaster liegt der Strand.»
Die Stars des Abends sind aber die Bots: eine Folkgruppe aus den Niederlanden, die Ende der Siebziger angefangen hat, auf Deutsch zu singen. «Aufstehn» heißt ihr Erfolgsalbum aus dem Jahr 1980, auf dem sich auch der größte Hit findet, «Sieben Tage lang». Zu einer markanten, von Flöte und Glockenspiel eingeleiteten Melodie und einem schließlich einsetzenden, spielmannszugartigen Schlagzeug singen die fünf Musiker im Chor mit starkem niederländischen Akzent, dass sie nicht wüssten, was sie sieben Tage lang trinken wollen: «… so ein Durst!» Doch findet sich die Lösung der Frage alsbald im Bekenntnis zur Gemeinschaftlichkeit: «Es wird genug für alle sein / Wir trinken zusammen / Roll das Fass mal rein! / Wir trinken zusammen / Nicht allein!» Vor dem Auftritt im Hofgarten ist gerade das zweite deutschsprachige Album der Bots erschienen: «Entrüstung». Auf dem Cover sieht man einen Kampfpanzer der Marke Gepard. Allerdings sind die beiden Kanonenrohre seitlich des Ausguckturms durch zwei E-Gitarren ersetzt, und die Panzerketten bestehen aus Klaviertasten. Auf «Entrüstung» ist der zweite große Hit der Gruppe zu hören, «Das weiche Wasser», das wie ein Thesenstück für die Friedensdemonstrationen komponiert worden ist: «Europa hatte zweimal Krieg / Der dritte wird der letzte sein», heißt es darin. «Gib bloß nicht auf, gib nicht klein bei / Das weiche Wasser bricht den Stein.» Und: «Komm, feiern wir ein Friedensfest / Und zeigen, wie sich’s leben lässt.»
«Das weiche Wasser bricht den Stein»: So könnte man auch die Botschaft der zentralen Rede im Bonner Hofgarten paraphrasieren. Sie wird gehalten von dem Schriftsteller Heinrich Böll, der seit den Siebzigern zu einem der wichtigsten Festredner des zivilen Widerstands gegen die als ungerecht empfundenen gesellschaftlichen Verhältnisse geworden ist. In Bonn fordert Böll sein Publikum dazu auf, sich von der scheinbaren Ausweglosigkeit der Situation nicht einschüchtern und lähmen zu lassen; man dürfe nicht glauben, die «kleinen Leute» hätten keine Möglichkeit, gegen das anzugehen, was «die Politiker» entscheiden. «Die Politiker haben ja die Wahl, uns zu apathischen Zynikern zu machen», sagt Böll. «Das ist sehr leicht geschehen. Sie können es haben, sie können eine gelähmte Bevölkerung auf der ganzen Welt haben, die gelähmt ist von diesen Waffenpesten und Waffenzahlen. Wir wollen uns nicht lähmen lassen!»
Was die Bereitschaft zur massenweisen Meinungsbekundung betrifft, so muss Heinrich Böll sich einstweilen keine Sorgen darum machen, dass die Gesellschaft unter Lähmungserscheinungen leidet. Jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland wird Anfang der achtziger Jahre so viel demonstriert wie nie zuvor. Weitaus mehr als selbst zur Hochzeit der 68er-Bewegung: Als im Mai 1968 im Bonner Hofgarten gegen die Notstandsgesetze demonstriert wird – auch damals ist Heinrich Böll schon als Hauptredner dabei –, kommen gerade einmal fünfzigtausend Menschen zusammen. Bei der Kundgebung gegen den NATO-Doppelbeschluss sind es sechsmal so viele.
Aber man demonstriert Anfang der achtziger Jahre nicht nur gegen den NATO-Doppelbeschluss. Man kettet sich zum Beispiel auch an Bäume, die für die Erweiterung des Frankfurter Flughafens durch eine Startbahn West gerodet werden sollen. Und vor allem versucht man, den Bau von Atomkraftwerken oder nuklearen Endlagern zu verhindern. Schon ein halbes Jahr vor der Kundgebung im Bonner Hofgarten, am 28. Februar 1981, sind hunderttausend Menschen in Brokdorf zusammengekommen, einem Dorf an der Elbe etwas nordwestlich von Hamburg. Dort soll seit Anfang der siebziger Jahre ein Atomkraftwerk errichtet werden, doch haben zahlreiche Gerichtsverfahren die Bauarbeiten immer wieder verzögert. Jetzt hat das Oberlandesgericht Lüneburg die letzte Baustopp-Verfügung aufgehoben; schon zum Weihnachtsfest 1980 versammeln sich darum Tausende Menschen auf den Marschwiesen vor dem eingezäunten Gelände, Anfang Februar demonstrieren zehntausend in Hamburg. Am Ende des Monats ist es die zehnfache Menge, die sich auch hier in einem Sternmarsch auf den Weg zur Baustelle macht. Anders als die Versammlung im Hofgarten ist diese allerdings «wegen der Erwartung unfriedlicher Aktionen» verboten. Die Demonstranten und Demonstrantinnen umgehen die Straßensperren der Polizei und schlagen sich, von Kradmeldern mit Handfunkgeräten geleitet, auf manchmal abenteuerlichen Wegen durch das norddeutsche Flachland. Vor Ort werden sie von der Staatsmacht mit Hubschraubern und Wasserwerfern empfangen. Wer an dieser Veranstaltung teilnimmt, fühlt sich weniger an Woodstock erinnert als vielmehr an Krieg. Oder wenigstens an die dramatischen Bilder von Militärhubschraubern in Vietnam, die Francis Ford Coppola in seinem kurz vorher herausgekommenen Film «Apocalypse Now» zeigt.
«Apokalypse» heißt auch ein Lied der Düsseldorfer Gruppe Fehlfarben, das auf dem Debütalbum «Monarchie und Alltag» im Oktober 1980 erscheint; es bringt die Stimmung vieler Menschen am Beginn dieses Jahrzehnts auf den Punkt. Der Fehlfarben-Sänger Peter Hein kündet darin von einer Apokalypse, die wie bei Coppola nicht mehr bevorsteht, sondern längst eingetreten ist. Aus der Zivilisation ist eine «Un-Zivilisation» geworden, man lebt in verbotenen Zonen voller Fabriken, «in die keiner seine Nase steckt», während die «Waffenschmieden der Nation» unentwegt Panzer und Raketen produzieren. «Ernstfall – es ist schon längst so weit / Ernstfall – Normalzustand seit langer Zeit», heißt es im Refrain, und am Ende bekundet Peter Hein in gleichsam heroischer Resignation: «Ich fürchte nicht um mein Leben / Ich hab nur Angst vor dem Schmerz.»
Angst ist das Leitmotiv für die sozialen Bewegungen und für die Popkultur am Beginn der achtziger Jahre. «Aufrüstung macht mir Angst», steht auf einem der Schilder, das auf der Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten hochgereckt wird; das «t» in «Angst» ist in der Form eines Totenkreuzes gezeichnet. Auf einem anderen liest man: «Ich wollte doch Großvater werden.» Es gibt viele Gründe, in dieser Zeit Angst zu haben, zu Atomkrieg und Atomkraft kommen die verschiedensten Arten der Umweltverschmutzung. Am Anfang des Jahrzehnts sind es zunächst das Waldsterben und der saure Regen, die das Kommen der Apokalypse ankündigen; in der Mitte der Achtziger gerät das Ozonloch in den Mittelpunkt des Interesses: eine Schädigung der Atmosphäre, durch die das Risiko von Hautkrebs und anderen Erkrankungen steigt. Man hat Angst vor chemischen Giften wie Dioxin, die in rostigen Fässern endgelagert werden und in das Grundwasser eindringen. Die Angst vor der unbeherrschbaren Atomtechnologie wird in der zweiten Hälfte der Achtziger noch einmal befeuert durch die Kernschmelze im Kraftwerk von Tschernobyl.
Wer sich in dieser Zeit auf der progressiven Seite der Gesellschaft verortet, der glaubt nicht daran, dass «die Mächtigen», «der Staat» oder «der militärisch-industrielle Komplex» im Interesse der Menschen und mit Blick auf eine friedliche Welt und das Leben kommender Generationen handeln. Vielmehr meint man, dass es den Mächtigen nur um den kurzfristigen Eigennutz geht oder darum, nichts ändern zu müssen an dem verschwenderischen Lebensstil, den sie sich angewöhnt haben. Wenn alles so bleibt, wie es ist, dann ist die ganze Menschheit verloren. «Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann»: So lautet der – angeblich von einem Häuptling des nordamerikanischen Cree-Stammes geprägte – Spruch auf einem Transparent, das zwei Mitglieder der Umweltschutzorganisation Greenpeace im Juni 1981 an einem Schornstein der Hamburger Chemiewerke Boehringer anbringen.
Die Menschheit braucht eine «planetarische Wende»: So hat es schon im Jahr 1975 der CDU-Abgeordnete Herbert Gruhl formuliert. In seinem Buch «Ein Planet wird geplündert» beschreibt Gruhl den «Raubbau» an der Natur und die «Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen», die zu «irreversibler Umweltverderbnis» führen; er warnt vor der Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten, vor der Verseuchung der Seen und der Vergiftung der Luft – und vor allem davor, dass das Sterben der Wälder und die Verkarstung der Böden bald schon dazu führen wird, dass in der Atmosphäre nicht mehr genug Sauerstoff ist, um die Menschheit überleben zu lassen. Auch könne die bei der Energieproduktion entstehende Abwärme eine «Veränderung des Weltklimas» hervorrufen; wenngleich sich die Menschheit schon auf anderem Wege umgebracht haben dürfte, bevor die Klimaerwärmung zu einem existenziellen Problem werde.
Es sei denn, die Menschheit vollzieht jene «totale Wendung», die Gruhl in seinem Buch fordert; das bedeutet, dass «der Mensch nicht mehr von seinem Standpunkt aus handeln kann, sondern von den Grenzen unserer Erde ausgehend denken und handeln muss. Wir nennen diese radikale Umkehr die Planetarische Wende. Das bisherige Denken ging von den Wünschen und Bedürfnissen des Menschen aus. Er fragte sich: Was will ich noch alles? Das neue Denken muss von den Grenzen dieses Planeten ausgehen und führt zu dem Ergebnis: Was könnte der Mensch vielleicht noch?»
Als das Buch erscheint, ist Herbert Gruhl als Sprecher für Umweltfragen in der Bundestagsfraktion der CDU tätig. Doch wird ihm dieses Amt wegen seiner kritischen Einstellung zur Nutzung der Atomenergie bald entzogen. 1978 tritt er aus der CDU aus und gründet eine eigene Partei, die Grüne Aktion Zukunft; zwei Jahre später schließt sich diese mit anderen Gruppierungen zur neuen Partei Die Grünen zusammen. Auf deren Gründungsparteitag am 12. Januar 1980 hält Gruhl die Eröffnungsrede.
Die Grünen sind die Partei der «planetarischen Wende», das ist jedenfalls die Hoffnung, die Gruhl und seine Anhänger und Anhängerinnen im Jahr 1980 hegen. Freilich sind sie nicht die Einzigen, die sich eine Wende auf die Fahnen geschrieben haben. Auch Gruhls ehemalige Partei, die CDU, ruft im selben Jahr eine solche aus: Sie fordert eine «geistig-moralische Wende», wie es in einem später geprägten Schlagwort heißt. «Die Wende ist fällig», so heißt es im «Mannheimer Manifest der Union für die Wende in Deutschland», das im September 1980, kurz vor den Wahlen zum Bundestag, veröffentlicht wird; und schon im ersten Satz erklärt die aus den christlichen Parteien CDU und CSU bestehende Union, dass sie «mit aller Kraft für die geistige und politische Wende in Deutschland kämpfen» will. «Es ist Zeit, dass die Wende jetzt kommt», schreibt ihr Kanzlerkandidat, der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß: «Wir sind entschlossen, sie herbeizuführen, um Deutschlands willen.»
Mit dieser Wende soll also nicht der ganze Planet gerettet werden, sondern erst einmal nur Deutschland. Auch geht es in der Politik, die hier beschworen wird, nicht um den Schutz der Umwelt und um ein anderes, neues Verhältnis der Menschen zu ihren natürlichen Lebensgrundlagen. Vielmehr wünscht sich der deutsche Konservatismus eine Wende zurück zu verlorengegangenen «Werten» und «Tugenden», zu Leistungsbereitschaft und Eigeninitiative, zu «Lebenstüchtigkeit» und «Selbständigkeit», wie es der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl formuliert. Auch gelte es, die brüchig gewordenen Bindungen zwischen den Menschen zu festigen; die Ehe und die Familie sollten wieder ins Blickfeld der Politik rücken.
Es geht bei dieser Wende um die Korrektur falscher Entwicklungen, für die konservative Politiker gerade diejenigen verantwortlich machen, die ihrerseits eine planetarische Wende fordern: also die Grünen und jene sozialen Bewegungen, aus denen heraus diese Partei wesentlich entstanden ist, die Umweltbewegung, der Feminismus, die Verfechter und Verfechterinnen einer antiautoritären Erziehung; alles das, was die Konservativen als Erbe der 68er und ihrer fundamentalen Kritik der bürgerlichen Institutionen betrachten. Diese Kritik, so Helmut Kohl auf dem Mannheimer Parteitag der CDU im März 1981, habe zu einer grundlegenden «Sinnkrise» geführt: «Es besteht eine tiefe Unsicherheit, gespeist aus Angst und Ratlosigkeit, Angst vor wirtschaftlichem Niedergang, Sorge um den Arbeitsplatz, Angst vor Umweltzerstörung, vor Rüstungswettlauf, Angst vieler junger Menschen vor ihrer Zukunft. Manche dieser jungen Mitbürger fühlen sich ratlos, steigen aus, flüchten in Nostalgie oder Utopien.»
Auch auf der konservativen Seite des politischen Spektrums sieht man sich also von Ängsten umgeben. Doch ängstigt man sich hier nicht vor dem Untergang der Welt, sondern vor dem Zerfall der Gesellschaft, vor einem grassierenden neuen Individualismus – also davor, dass die Menschen nicht mehr das große Ganze im Blick haben, sondern nur noch an sich selber denken; dass sie ihre eigenen Interessen wichtiger nehmen als die Gemeinschaft. Nicht nur Helmut Kohl glaubt, dass gegen diese Entwicklung etwas getan werden muss. Zwei Jahre zuvor, 1979, ist in Großbritannien die konservative Politikerin Margaret Thatcher zur Premierministerin gewählt worden; schon sie hatte sich «change», die Wende oder den Wandel, auf die Fahnen geschrieben. Und im November 1980 gewinnt der republikanische Kandidat Ronald Reagan die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen; er verspricht seinem Wahlvolk, die «Sinnkrise» der siebziger Jahre mit einer «Revolution» zu überwinden.
Diese Sinnkrise erzeugt ebenso Ängste wie der drohende Atomkrieg und die Umweltverschmutzung. Die ältere Generation hat Angst davor, dass der Pazifismus der langhaarigen Demonstranten die Wehrbereitschaft der Nation schwächt und die Russen eines Tages doch noch über die Elbe kommen. Sie hat Angst vor der Jugend und ihrer wohlstandsgenährten Verantwortungslosigkeit, vor ihrer Verrohung und Traditionsvergessenheit, vor dem Verlust von Tugenden, Bindungen, Identität. Man hat Angst davor, dass es bald keine «intakten» Familien mehr gibt, weil der Nachwuchs zu selbstbezogen ist, um überhaupt Kinder in die Welt zu setzen. Man hat Angst davor, dass junge Menschen sich dem schmutzigen und aggressiven Nihilismus zuwenden, der sich am Anfang der achtziger Jahre mit der neuen Jugendkultur Punk auch in Deutschland ausbreitet. Man hat aber auch Angst davor, dass ganz normale Jugendliche ihre Zeit nur noch mit dem Konsum gewaltverherrlichender Videofilme verbringen und eine ganze Generation darüber ihre Empathiefähigkeit verliert, emotionslos und aggressiv wird. Man hat Angst davor, dass die ebenfalls durch das neue Medium des Videorecorders flächendeckend verbreitete Pornokultur zu einer dauerhaften Störung der Bindungsfähigkeit führt.
In dieser zweiten Art von Angst spiegelt sich der gesellschaftliche Wandel der Zeit: Vertraute Sicherheiten und Institutionen verschwinden; herkömmliche biographische Muster und Lebensformen verlieren an Bedeutung. Am Beginn der achtziger Jahre ist es nicht mehr selbstverständlich, dass junge Frauen und Männer einander heiraten, Kinder kriegen und diese dann auch gemeinsam aufziehen. Die Geburtenrate sinkt, die Zahl der Kinderlosen steigt ebenso wie jene der Geschiedenen, der alleinerziehenden Mütter und der Patchwork-Familien, in denen Kinder aus unterschiedlichen früheren Beziehungen miteinander aufwachsen. Die gesamte Gesellschaft scheint sich in ein «Patchwork der Minderheiten» zu verwandeln, wie es der französische Philosoph Jean-François Lyotard schon in einer Schrift aus dem Jahr 1977 genannt hat, oder auch: in eine «multikulturelle Gesellschaft», wie man Anfang der achtziger Jahre erstmals sagt.
Aber Angsthaben: Das ist nur die eine Seite der politischen und kulturellen Entwicklung in dieser Zeit. Dass man so viel Angst hat am Beginn der achtziger Jahre – das heißt gerade nicht, dass die Gesellschaft deswegen «gelähmt» wäre, wie es Heinrich Böll bei seiner Rede im Bonner Hofgarten befürchtet, oder dass die kommende Generation sich in «Nostalgie oder Utopien» flüchtet, wie Helmut Kohl glaubt. Das Gegenteil ist richtig: Die Ängste vor der Apokalypse entfesseln auch neue Energien, stiften neue Gemeinschaften und politische Kollektive. Was die Konservativen als Sinnkrise beklagen, wird von immer mehr Menschen als Befreiung aus den Fesseln der Tradition empfunden – als ein Wandel, der jedem und jeder mehr Möglichkeiten gibt, das eigene Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Die Achtziger sind also nicht nur ein Jahrzehnt der Ängste, sondern ebenso sehr eines des Aufbruchs; eine Zeit, in der sich politische, soziale, kulturelle Strömungen bilden, die bis in unsere Gegenwart reichen.
Nicht zuletzt sind sie ein Jahrzehnt des technologischen Wandels: Es entsteht, was wir heute als digitale Gesellschaft begreifen. Auch davor haben viele Menschen erst einmal Angst. Sie fürchten sich vor der Verbreitung der Personal Computer in den Kinder- und Jugendzimmern; also davor, dass die heranwachsende Generation über den süchtig machenden Computerspielen jeden Kontakt zur echten Realität verliert. Auf der Seite jener, die den Mächtigen und ihren Absichten grundsätzlich misstrauen, hat man dagegen Angst, dass die Computertechnologie direkt in einen neuen Überwachungsstaat führt, in dem der herrschende militärisch-industrielle Komplex seine Untertanen bis in die intimsten Details ihres Daseins durchleuchtet. Im «Orwell-Jahr» 1984 kommt es darum zu einer breiten gesellschaftlichen Bewegung gegen die von der Bundesregierung beabsichtigte Volkszählung.
Im selben Jahr tritt eine weitere Angst hinzu: jene vor der sich ausbreitenden Aids-Epidemie. Die Mehrheitsgesellschaft bekommt Angst vor den Schwulen, die als «Superspreader» dieser unweigerlich tödlichen Krankheit erscheinen. Die Schwulen wiederum haben Angst davor, dass die Fortschritte der sexuellen Emanzipation in den siebziger Jahren wieder rückgängig gemacht werden könnten – und natürlich bangt jeder Einzelne darum, nicht selbst von der tödlichen Krankheit getroffen zu werden. Doch haben diese Ängste auch den Effekt, dass in der Gesellschaft nun offener über das Sexuelle gesprochen wird; über das Recht jedes Menschen, das eigene sexuelle Begehren auszuleben; aber auch über die Verantwortung, die jeder und jede für die Gesundheit – und für das Glück – des Sexualpartners besitzt.
Die Achtziger sind ein Jahrzehnt, das getrieben ist von einer Dialektik aus Furcht und Aufbruch, aus restaurativem Verzagen und der Entfesselung neuer Energien: «Hi-NRG» – kurz für «High Energy» – heißt nicht umsonst das musikalische Genre, mit dessen Erfindung der Pop der achtziger Jahre beginnt. Der Entstehung dieser Energien möchte ich im Folgenden nachgehen. Dabei ist es oft schwer oder gar nicht mehr zu entscheiden, welche politischen und kulturellen Entwicklungen in dieser Zeit wahrhaft progressiv waren und welche konservativ oder reaktionär. Vielleicht haben diese Begriffe schon in den achtziger Jahren nicht mehr dazu getaugt, die Komplexität der Verhältnisse zu beschreiben? Der Philosoph Jürgen Habermas hat die geistige Situation seiner Zeit im Jahr 1985 als «neue Unübersichtlichkeit» beschrieben.
Am Ende stellt man jedenfalls fest, dass es weder zu einer «planetarischen Wende» im Sinne der Öko- und Friedensbewegung gekommen ist noch zu einer «geistig-moralischen Wende» im Sinne der Konservativen. Die Achtziger sind auch ein Jahrzehnt der Erfolglosigkeit, der Rückschläge und der Erkenntnis, dass ein tiefgreifender Bewusstseinswandel in der Gesellschaft nicht von heute auf morgen zu haben ist. Die Grünen schaffen es langsam in die Parlamente, aber weder können sie die Stationierung von Atomraketen verhindern – im November 1983 beschließt die Bundesregierung unter dem CDU-Kanzler Kohl, den Doppelbeschluss umzusetzen –, noch können sie den Ausstieg aus der zivilen Atomenergie erzwingen. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums mag Helmut Kohl noch so oft von einer geistigen und politischen Wende zurück zu alten Bindungen und Tugenden reden – die Individualisierung der Gesellschaft erweist sich als unaufhaltsam. Nicht zuletzt deswegen, weil die Konservativen in Deutschland und anderswo zwar eine Rückkehr zu Familie, Tradition und Gemeinschaft beschwören, aber mit ihrer Politik des entfesselten Marktes zugleich jene Individualisierung und «Ego-Gesellschaft» befördern, die sie zu bekämpfen vorgeben.
Die Achtziger beginnen damit, dass allenthalben eine Wende beschworen wird und es doch so weitergeht wie zuvor. Sie enden damit, dass es tatsächlich zu einer Wende kommt: einer Wende, die nun allerdings grundstürzend ist und planetarische Dimensionen besitzt – die aber niemand beschworen hat und von der auch fast niemand etwas ahnte. Vieles in diesem Jahrzehnt wirkt heute schrill oder fern wie Föhnfrisuren und Pornoschnauzbärte, Aerobic-TV und Atari-Konsole. Aber vieles, was in den Achtzigern anfängt, ist bis in unsere Gegenwart prägend, von der Yuppie-Kultur bis zur Digitalisierung. Wir reisen zurück in eine pulsierende Zeit – die sich selber ebenso grundlegend verkannte wie ihre Zukunft. Auch darin ist uns dieses Jahrzehnt heute vielleicht näher, als wir denken.