Tobias Lehmkuhl
Land ohne Eile
Ein Sommer in Masuren
Rowohlt Digitalbuch
Tobias Lehmkuhl, geboren 1976, studierte Literaturwissenschaft und Romanistik in Bonn, Barcelona und Berlin, wo er seit 2002 als freier Journalist arbeitet. Er schreibt Radiofeatures, Reportagen, Essays und Kritiken, unter anderem für die «Süddeutsche Zeitung», die «Zeit» und «Deutschlandradio Kultur». 2009 erschien «Coolness. Über Miles Davis».
Wer hierherkommt, hat die Heimatgeschichten von Siegfried Lenz und Arno Surminski im Gepäck und wähnt sich selig in einer untergegangenen Welt: Eichenalleen, Burgen, Ruinenromantik, elegische Seenlandschaften – Masuren, diese Region im Norden Polens, einst Teil Ostpreußens, das ist nicht zuletzt ein Sehnsuchtsort der Deutschen. Was aber steckt hinter der Idylle? Um das herauszufinden, hat Tobias Lehmkuhl einen Sommer in Masuren verbracht. Er begegnet stoischen Anglern, wehmütigen Heimattouristen und trinkfreudiger Dorfjugend; er lässt sich den Wind der tausend Seen um die Nase wehen, wandelt durch endlose Nadelwälder und flüchtet vor sintflutartigen Gewittern; und überall stolpert er über Spuren deutscher Geschichte: von dem verfallenen Gutsschloss der Familie Lehndorff und den Schlachtfeldern bei Tannenberg bis zur Wolfsschanze, dem einstigen «Führerhauptquartier», wo er eine unruhige Nacht verbringt.
Tobias Lehmkuhl erlebt ein zerrissenes, wunderschönes Land im Schatten der Geschichte, das noch dabei ist, seinen Platz im heutigen Polen zu finden. Ein glänzend erzähltes Reisebuch – und ein frischer Blick auf einen mythischen Ort, der nichts von seinem Zauber eingebüßt hat.
Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2012
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Karten Peter Palm, Berlin
Umschlaggestaltung any.way, Walter Hellmann
(Umschlagabbildung: iStockphoto.com)
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ISBN Buchausgabe 978-3-87134-733-7 (1. Auflage 2012)
ISBN Digitalbuch 978-3-644-11171-4
www.rowohlt-digitalbuch.de
ISBN 978-3-644-11171-4
Ich saß am Nikolaikensee, mildes Sonnenuntergangslicht schimmerte auf der Wasseroberfläche, ein paar Segelboote trieben vorüber, und gerade legte ein Ausflugsdampfer der Weißen Flotte an. Die Touristen, die hinausgefahren waren, um einen Blick auf den Spirdingsee zu werfen und unterdessen gehäkelte Deckchen und regionalen Wodka hatten kaufen können – es gab immer eine kleine Verkaufsshow, die beim Lärm der Motoren allerdings kaum zu verstehen war –, sie verließen allmählich das Schiff.
Auch der Kapitän und seine Mannschaft tauchten an der Reling auf, warfen prüfende Blicke auf das Geschehen an Land und sahen dabei wahrhaft stattlich aus. In ihren schwarz-weißen Uniformen wirkten sie, als würden sie, nachdem das niedere Volk sich verstreut hatte, alsbald die Gräfin Dönhoff in Empfang nehmen, sie mit galantem Handkuss hinüber an Bord geleiten und ihr dort, zu einer schwungvollen Solo-Fahrt, Champagner kredenzen oder wenigstens – bei dem Wetter! – eine Tasse Chłodnik, kalte Rote-Bete-Suppe.
Stattlich waren auch die Bäuche der Seebären, aber das fiel erst so richtig auf, als sie sich – bevor noch einmal alle Taue mit Akkuratesse nachgezogen wurden – in gemütliche Freizeitkluft warfen: karierte Hemden, verblichene Jeans; der Erste Offizier verzichtete gleich ganz auf Oberbekleidung und klopfte sich, es nahte der Feierabend, befreit auf den nackten Wanst.
Der polnische Prachtbauch, das sei gesagt, erschien mir von bemerkenswerter Festigkeit. Selbst bei hohem Seegang saß er stramm am Mann. Kein Schwabbeln, kein Schlackern. Ob es an der Qualität des hiesigen Bieres lag? An den kräftigen Koteletts, die man einem weichlichen Hackbraten vorzog? Oder trainierte der masurische Seemann, so sinnierte ich, seinen Bauch solcherart, dass er bei Gefecht auch als Rammbock eingesetzt werden konnte – für den Fall, dass etwaige Hindernisse sich der Essensaufnahme entgegenstellten?
Ich selbst aß inzwischen Spaghetti, war längst beim zweiten Bier angelangt und beobachtete von meinem Restaurant am Ufer aus noch immer versonnen die Niegocin und ihre tapfere Besatzung. So merkte ich nicht, dass sich eine Gruppe Jugendlicher meinem Tisch genähert hatte. Erst als sich auf den Stuhl rechts neben mir laut und vernehmlich etwas Großes und Schweres niederließ, wurde ich aus meiner Betrachtung gerissen.
Breit und herausfordernd grinste mich ein junger Mann an, blond und füllig wie ein Seemann und vielleicht zwanzig Jahre alt; am Tisch zu meiner Linken hatte er keinen Platz mehr gefunden. Da saßen nun kichernd seine vier Freunde und warteten, was passieren würde.
Ich grinste zurück.
– Hallo!, rief er da und begann, auf mich einzureden. Ich verstand kein Wort, und gleich erkannte er, dass ich Deutscher war. Umgehend taufte er mich und legte mir dazu segnend seine mächtigen Hände auf die Schultern:
– Du heißen Klops!
Damit konnte ich leben. Nun mischte man sich vom Nebentisch ein, tadelte den Freund für seine Aufdringlichkeit, aber ich war doch froh, dass er da war. Ich hatte ihn, der so rund und kugelig und komisch aussah, gleich ins Herz geschlossen.
Er mich auch:
– Klops, wie alt? Fünfunddreißig? Uh! Wirklich alt!
Er stellte mir seine Freunde vor: Bartek, Lukas, Natalja und Julia.
– Beautiful Julia!, rief er ein ums andere Mal, und es war offensichtlich, dass Julia für seine Schmeicheleien schon lange nicht mehr empfänglich war.
– Aber wie heißt du?, fragte ich, doch er wollte mir seinen Namen nicht ohne weiteres nennen.
– Klops raten!
Ich überlegte, welcher Name mir in den letzten Wochen am häufigsten begegnet war, eine Technik, die ich von Sherlock Holmes gelernt hatte. Wie Holmes war ich ein Anhänger der statistischen Wahrscheinlichkeit. Jan Paweł war das Ergebnis meiner Berechnungen, und da mein neuer Freund nicht wie ein schlanker Jan aussah, sagte ich:
– Paweł.
Offensichtlich hatte ich den Nagel auf den Kopf getroffen, denn für einen Moment stockte das Testosteron an seinen Stimmbändern, und er wusste nichts zu sagen. Dann aber nahm er schnell wieder die Pose des aufmüpfigen Tunichtguts ein, des Provokateurs, dem jede Scheu fremd ist. Er griff nach meinem Notizbuch, schlug es auf und rief:
– Schreiben, Klops: Julia very beautiful.
Ich tat wie geheißen und fügte ein «Paweł very beautiful» hinzu. Er war einfach ein Prachtbursche.
Paweł lachte, winkte den Kellner heran und bestellte Bier für uns beide; seine Freunde zogen Sprudel vor. Sie waren deutlich schlanker als er, fast unscheinbar neben ihm.
Nur Natalja stach heraus, mit ihrer schnittigen Frisur und den strahlend weißen Zähnen. Vor allem aber die Art, wie sie Paweł nachsichtig anschaute und ihn manchmal tadelte, verlieh ihr eine Aura entspannter Souveränität, eine geradezu urbane Anmutung. Ich stellte sie mir in Warschau oder Berlin vor und fragte mich, was sie hier tat, in Nikolaiken, diesem Nest.
Wie sich herausstellte, arbeitete sie als Kellnerin in einem Restaurant am Marktplatz und war ihren Freunden damit tatsächlich um einiges voraus: Sie hatte einen Job.
Das Bier kam, und Paweł, wenig geneigt, über so unerfreuliche Dinge wie Arbeit zu reden, rief:
– Deutscher Mann, trink!
Er hatte zweifellos schon viele Biere in seinem kurzen Leben getrunken, und auch an diesem Abend würden es einige werden. Immer wieder stießen wir klirrend an, immer intensiver redete er auf mich ein. Dabei interpunktierte er seine Rede mit einem Wort, das ich nicht kannte: «Kurwa.» Kurwa hier, kurwa da, jedes zweite Wort lautete «kurwa».
– Was heißt das, kurwa?, fragte ich.
Paweł überlegte.
– Quatsch!
– Nein, schaltete sich Natalja ein, Scheiße heißt das.
Nachdem das geklärt war, redete Paweł weiter und weiter, nötigte mich, den man gar nicht nötigen musste, zum Trinken, und immer wieder zügelte Natalja ihn mit mütterlicher Gelassenheit.
Er tat, als hörte er ihre Kommentare gar nicht, achtete aber gleichwohl darauf, dass sich ihr Unwille in Grenzen hielt.
Sie war, wie ich beim dritten Bier erfuhr, seine jüngere Schwester, und jüngere Schwestern haben bekanntlich größeren Einfluss auf ihre älteren Brüder als irgendjemand sonst.
Da wurde mir klar, dass nicht ihr Job, sondern Paweł sie in Nikolaiken hielt, sie blieb hier, weil sie sich um ihn kümmern musste.
Ihre Eltern nämlich waren nach Deutschland gegangen und hatten sich dort getrennt. Die Mutter lebte nun in Schweden, der Vater war in Hamburg geblieben. Sie aber, Natalja und Paweł, und auch Bartek, Julia und Lukas, hielten in Polen die Stellung. Vielleicht war das der Grund, dachte ich, dass Polen so jung war.
– Wirklich jung, sagte ich, aber da hörte mir schon niemand mehr zu.
Einige Wochen zuvor war ich in Masuren angekommen, angelockt vom Klang des Namens. «Masuren», das schnurrte so sanft, dass ich bereits die kleine Bahn zu hören gemeint hatte, die mich dort hinbringen würde, das Rollen der Räder auf endlosen Gleisen … Masuren. So wenig hatte ich über Masuren gewusst, dass all das, was es zu wissen gab, mir unermesslich reich erschienen war.
Nicht einmal eine klare geographische Vorstellung davon, wo dieses Masuren eigentlich lag, besaß ich. Es kam mir vor wie ein Verwandter Lummerlands, wusste man von Lummerland doch ebenso wenig, wo es genau zu finden sei, und auch dort gab es eine kleine Eisenbahn.
Nur eins wusste ich: Masuren lag irgendwo im Osten Europas, und den Osten fand ich lange schon verlockender als jede andere Himmelsrichtung. Der Norden war mir zu kalt, den Süden kannte ich, der Westen schien mir so abgegrast wie die Prärie in North Dakota, nachdem eine Herde Büffel sich daran gütlich getan hat. Aus dem Osten aber kam der Mensch, von dort aus hatte er einst den Westen bevölkert, den Berliner Raum zumindest, und als Berliner fühlte ich mich. Eine Reise in den Osten wäre wie eine Reise zu den eigenen Ursprüngen, mochten die Kirchenbücher in Westfalen auch ganz anderes behaupten.
«Sie sagen, junger Mann, nach Osten fahren Sie?», las ich in Péter Esterházys Reiseroman «Donau abwärts». «Immer nur nach Osten? Aber wenn Sie dabei bleiben, wohin kommen Sie da? Na? Na? Nach Westen, jawoll! In den westlichsten Westen. Eine verrückte Sache, daß die Erde rund ist! Verstehen Sie? Die Hoffnung. Daß es nichts Östlichstes gibt!»
Der Osten, das war für mich ein Trichter, der sich immer weiter öffnete, je tiefer man sich in ihn hineinbegab. Wie ein immenses Versprechen kam er mir vor, unerschöpflich.
Dass die Realität angesichts solcher Vorstellung nur ernüchtern konnte, wurde mir, euphorisch, wie ich war, mit einem Schlag klar, als ich in Osterode aus dem Zug stieg: Von wilder rauer Weite war hier nichts zu spüren. Osterode präsentierte sich trubelig, geradezu heiter und leicht an diesem sonnigen Frühlingstag. Die Bürgersteige waren so voll, als hätte man die gesamte Einwohnerschaft aus ihren Wohnungen getrieben. Tausend kleine Geschäfte reihten sich entlang der endlosen Hauptstraße, Autos, Busse, Taxis rauschten an mir vorüber. Im «Land ohne Eile», wie Arno Surminski Masuren in «Die Reise nach Nikolaiken» nennt, war ich offensichtlich noch nicht angekommen. Alles war voller Schilder und Werbetafeln, die ich nicht entziffern konnte, und doch las ich alles, weil mein Kopf einfach nicht verstehen wollte, dass er nichts verstand. Aus einem Lautsprecher drangen scheppernd Geräusche, die sich wie eine katholische Messe anhörten, und tatsächlich, da sah ich im Fenster eines schäbigen grauen Hauses die Quelle des dröhnenden Glaubensritus und daneben ein Bild Johannes Pauls II. Kein Gesicht sollte mir in den nächsten Monaten häufiger begegnen, aber das wusste ich noch nicht.
Dabei trug ich selbst eine Fotografie des verstorbenen Papstes in der Tasche. Zwei Tage vor meiner Abfahrt war ich auf der Straße, der Berliner Friedrichstraße, an einer wunderlichen, sehr alten, sehr dicken und sehr dick geschminkten Dame vorbeigekommen, die laut und wie erleuchtet mir unverständliche Lieder schmetterte.
Ich schaute in meine Brieftasche und fand nur ein größeres Geldstück, kämpfte für einen Moment mit meinem Geiz, gewann dann aber die Oberhand und legte die Münze der Dame ins spendenempfangende Bastkörbchen. Als ich sogleich weitergehen wollte, hielt sie mich, eben ans Ende ihrer Arie gelangt, zurück, lächelte so ansteckend, wie nur dicke Frauen ansteckend lächeln können, und überreichte mir zum Dank ein Bild von Jan Paweł II.
Ich freute mich über die Belohnung, wertete sie als gutes Omen für meine Reise und bewahrte das Bild als Talisman in meinem Portemonnaie.
Mit Osterode oder Ostróda hatte ich das Ziel meiner Reise nach langstündiger Fahrt gleichwohl noch nicht erreicht, denn Osterode war lediglich das «Tor zu Masuren». Also nahm ich mir ein Taxi, hinterm Steuer saß Witek, und während Witek, vielleicht Anfang zwanzig, sein Handy ans Ohr hielt und vor den Mund das Funkgerät, tippte er mit dem letzten freien Finger noch «Pietrzwałd» ins Navigationsgerät. Aus den Boxen schallte scheußliche Musik, trotz der Wärme draußen wurden noch schnell die Fenster hochgefahren, dann ging’s los, zum Tore hinaus.
Witek, so stellte sich heraus, hatte bereits mehrere Jahre im Ausland gearbeitet: erst als Gartenarbeiter in Bremen, dann in einer Fabrik in Plymouth, schließlich als Koch. Dann wurden im Westen die Jobs rar, und er kehrte nach Polen zurück. Dabei, meinte er, könnten die Verhältnisse hier deutlich besser sein, besonders aus Taxifahrersicht: Nur eine einzige Autobahn gebe es in Polen, und für die müsse man auch noch Maut bezahlen! Sei das nicht verrückt? Im Ausland habe er die Autobahnen immer umsonst benutzen dürfen, und daheim müsse er dafür zahlen! Was sollten da erst die ganzen Touristen denken? Von denen gebe es hier in der Gegend ja viele, Deutsche und Engländer, überhaupt, was ich denn in Pietrzwałd wolle, ich solle doch länger in Ostróda bleiben, es sei ein so schönes ruhiges Städtchen, sagte er und bremste scharf. Gerade noch gelang es ihm, einem riesigen Schlagloch auszuweichen. «Polen!», lachte er und gab wieder Gas.
Bald darauf waren wir im ehemaligen Peterswalde angekommen, einem kleinen Dorf knapp zwanzig Kilometer südlich von Osterode, ein paar Häuser bloß und ein winziger Dorfladen. Dort ließ ich mich absetzen, kaufte eine Flasche Wasser, ein paar Äpfel und lief los.
Irgendwo hier also musste es liegen, mein Ziel, die Kernsdorfer Höhen.
Bei den Kernsdorfer Höhen, so hieß es nämlich, beginne Masuren. Aber die Gegend war hügelig, und keine Erhebung stach besonders hervor. Ich hielt Ausschau nach dem Sendemast, der die höchste Höhe (putzige 312 Meter) zieren sollte. Nach einer Weile erblickte ich ihn, verlor ihn aber wieder aus den Augen, entdeckte ihn erneut und verlor ihn ein weiteres Mal. Die Landschaft zeigte sich anschmiegsam, ein sanftes Auf und Ab, um ein paar Meter bloß, aber immerhin. Die Bäume hatten schon tief Luft geholt, ihre ganze Blätterpracht aber noch nicht entfaltet. Auch die Vögel hielten sich zurück, nur ein Buchfink hüpfte hin und wieder über den Weg.
Es war noch früh im Jahr, für masurische Verhältnisse zumindest: Anfang Mai. Angeblich waren die berühmten Masurischen Seen um diese Zeit mitunter noch zugefroren. Das konnte ich nicht so recht glauben, denn schon nach dem ersten Kilometer wurde mir heiß. Ich zog meine Jacke aus und passierte ein kleines Gehöft, eine Holzscheune und schließlich, als ich meinen Weg zum Sendemast schon endgültig verpasst zu haben meinte, einen unverputzten Klinkerbau mit grellblau lackierten Ziegeln auf dem Dach. Davor zwei Kühe, die mich anstierten.
Das kann doch nicht Masuren sein, dachte ich, und tatsächlich, da erst erschien die Abzweigung: Dylewska Góra, Kernsdorfer Höhen. Kurz darauf erreichte ich den Sendemast und dahinter einen Aussichtsturm. Leider durfte ich nicht hinauf, er sei nur als Ausguck gedacht, zur Früherkennung von Waldbränden, erklärte mir ein zahnloser Waldarbeiter, dem ich begegnete. Zur Veranschaulichung kniete der Mann sich nieder und tat so, als risse er ein Zündholz an – ratsch –, um damit ein imaginäres Feuer zu legen. Ich dankte ihm, ging zur Straße zurück und folgte ihr die Höhe hinab.
Nun war ich also in Masuren angekommen. Gleich auch wurde der Wald rechts und links des Weges dichter, die Gegend einsamer, und wie in einem Schauerroman geriet ich überdies zu einem alten Friedhof.
Wild zerklüftet lag dort eine Landschaft aus Grabsteinen unter abgestorbenen Bäumen. Die meisten der Steine waren zerbrochen, kaum einer war noch zu lesen. Die Stimmung hätte bei schlechtem Wetter unheimlicher sein können, aber auch so war sie schon wenig angenehm. Ich stolperte über Erdhaufen, die seit langem kein Fuß mehr betreten hatte, und versuchte, eine der Inschriften zu entziffern.
«Hier ruht in Gott mein lieber Mann, unser treusorgender Vater Gottlieb Mauritz, geb. 15. 6. 1894», stand da auf einem, auch von Luise Fröhlich, geb. Waltersdorf, war das Geburtsdatum noch zu erkennen: 9. 3. 1926. Daneben lagen Friedrich und Charlotte Tomba; außerdem die Wölks, Auguste, geb. Marquardt, 1879–1939, Gustav, 1909–1967, und Martha, die Letzte offensichtlich, die hier 1995 zu Grabe getragen wurde.
Ich aß einen Apfel und warf den Butzen in die tote Landschaft. Nichts würde hier mehr keimen, dachte ich; vielleicht würde ein Vogel den Apfel finden und sich daran laben. Doch ich hatte wenig Hoffnung.
Körperlich gestärkt, wanderte ich weiter, immer die Straße hinunter. Leider hatte ich nur eine sehr ungefähre Landkarte und mithin eine äußerst vage Vorstellung davon, wie groß die Entfernungen waren. Doch die Entfernungen spielten kaum mehr eine Rolle, denn die Sonne wurde immer kräftiger, und bald schon hatte ich das Gefühl, seit Stunden unterwegs zu sein. Endlos zog sich die Straße hin, und da ich inzwischen den Wald verlassen hatte, war ich der Hitze hilflos ausgeliefert. Mein Nacken brannte, an Sonnencreme hatte ich nicht gedacht, und selbst meine Lippen wurden trocken. Mein Wasser war bald aufgebraucht, die Lippen wurden immer trockener, immer heißer wurde es im Nacken, und weit und breit war kein Schatten zu sehen.
In der Ferne sah ich eine große Querstraße, ab und zu fuhr ein Lkw von rechts nach links. Dort schleppte ich mich hin, in der Hoffnung, jemand würde mich mitnehmen. Aber umsonst. Niemand zögerte auch nur bei meinem Anblick; kein Wagen hielt. Man schaute mich geradezu angewidert an. Offensichtlich war es in Polen nicht nur unüblich, Anhalter mitzunehmen, offensichtlich betrachtete man sie hierzulande als Aussätzige.
Den Daumen immer ausgestreckt, lief ich weiter, auf das nächste Dorf zu, in der Hoffnung, dort eine Bushaltestelle zu finden. Immerhin gab es einen Laden, auch wenn ich ihn erst auf den zweiten Blick erkannte, es war ein kleiner Raum in einer Parterrewohnung. Ich kaufte Eis. Auf meine Frage nach einem Bus erntete ich aber nur Kopfschütteln. Also musste ich zu Fuß weiter.
Die Sonne war indessen unerträglich geworden. Nicht einmal einen Hut hatte ich dabei, und so wurde mir allmählich schummrig zumute. Unter einem Baum ruhte ich mich eine Weile aus. Aber da ich von vorbeifahrenden Traktoren herab ebenfalls abschätzig betrachtet wurde, raffte ich mich bald wieder auf.
Im nächsten Ort fand ich dann Erlösung: Es gab eine Bushaltestelle, eine überdachte, schattenspendende Bushaltestelle, und der einzige Bus des Tages, er sollte ganz unwahrscheinlicherweise in einer halben Stunde fahren. Nach Ostróda.
Und so endete mein erster Ausflug nach Masuren.
Nach Nikolaiken, wo ich Paweł und Natalja und Julia, Bartek und Lukas kennenlernte, fuhr ich wenig später. Dort saß ich nun auf dem Balkon meiner Pension mit Blick auf den Nikolaikensee und betrachtete Landkarten: zuerst den Marco-Polo-Straßenatlas «Polen». Masuren nahm darin nur eine von achtunddreißig Detailkarten ein. Es war die vorletzte in der rechten oberen Ecke, im äußeren Nordosten des Landes, die mit den meisten blauen Flecken, den offenbar größten Seen weit und breit. Auch die angrenzenden Länder auf der Überblickskarte gleich auf der Umschlagseite des Atlasses – Tschechien, Slowakei, Ukraine, Weißrussland und Litauen – wiesen keine größeren Gewässer auf.
Natürlich war ich mittlerweile vertraut mit den Klischees über Masuren, das man das Land der «dunklen Wälder und kristallenen Seen» nannte. Bevor ich losgefahren war, hatte ich sogar noch im Raritätensaal der Berliner Staatsbibliothek in einer Broschüre geblättert, in der die «natürliche Verteidigungsfähigkeit der masurischen Seen» gelobt wurde. «Kriegsberichte aus dem Hauptquartier 1915» hieß sie. Was so offiziell klang, gehörte jedoch zu einer aufs breite Publikum zielenden Schriftenreihe. «Diese ausführlichen amtlichen Berichte», stand auf dem Deckblatt, «sind die ersten und wichtigsten Bausteine zu einer Geschichte des Krieges. Ihre Anschaffung und vollständige» – dieses Wort war unterstrichen – «Sammlung empfiehlt sich daher für jedermann.»
Die Seen waren also nicht nur schön, sondern auch nützlich. Überhaupt erschien mir die Gestalt Masurens einigermaßen widerspenstig. Seine Konturen erinnerten an die einer Amöbe; keine geometrische Form, die diesem Klecks entsprochen hätte. Ohnehin waren die Grenzen der Region nicht klar definiert: Masuren hatte nie einen eigenen Staat, ja nicht einmal eine eigene Verwaltungseinheit gebildet, weder innerhalb Preußens noch innerhalb Polens. Die Literatur war sich erstaunlich einig darüber, dass sich nicht genau sagen lässt, wo Masuren anfängt und wo es aufhört, fast als würde es zu viel Mühe machen, sich dieser Frage eingehender zu widmen. Zwischen den Kernsdorfer Höhen im Südwesten und den Seesker Höhen im Nordosten, hieß es in einem Reiseführer einigermaßen blumig, «spanne» sich Masuren «mondsichelförmig» auf – eine beschönigende Umschreibung für eine im Grunde doch sehr eierige, ausgebeulte, ganz und gar schwammige Unform.
Aber zoomte man näher heran, fiel das nicht weiter auf. Nahm man etwa die Regionalkarte «Warmińsko-Mazurskie» zur Hand, Maßstab 1:250000, konnte man sich bereits im Detail verlieren. Doch weitaus mehr zu bieten hatte die Karte der «Großen Masurischen Seen» im Maßstab 1:100000, die ich gerade erworben hatte und mir nun vornahm. Für zwölf Złoty bot sie allerhand: fünfundzwanzig Stadtplanen (sic!), Informationen für Segler und «Historische Ortsnamen aus dem Jahre 1933». Außerdem eine Ansicht des Spirdingsees mit Umgebung im unschlagbaren Maßstab 1:50000. Faltete man sie auseinander, schlug das Herz eines jeden Landkartenliebhabers höher, es war, als täte sich eine eigene Welt auf: so viele Linien, Namen, Farben, dass es die reinste Freude war.
Stunden brachte ich damit zu, den verschiedenen Straßen und Wegen zu folgen, die Namen vor mich hin zu sprechen, immer neue Routen zu planen; so lange, bis ich schließlich Angst bekam, das wirkliche Masuren hinter der Karte würde gegen diese bald verblassen. Also schaute ich für einen Moment hinaus auf den See, sagte mir, wie schön er doch sei, und steckte dann die Nase wieder in die Karte, las die lustigen deutschen Ortsnamen, versuchte die polnischen halbwegs richtig auszusprechen, wendete das Blatt immer wieder, um bestimmte Wege mit den Detailkarten auf der Rückseite abzugleichen, stellte mir vor, wie es im Nietlitzer Bruch wohl aussehen mochte, wie das Ufer des Lucknainer Sees beschaffen sei und was für Häuser in dem winzigen Weiler Popiellnen ständen.
So wie viele Leute die Orte ihrer Reisen nur durch den Fotoapparat wahrnehmen, ständig Bilder machen und sie dann sofort auf dem Display betrachten, ja mehr Zeit vor dem Bildschirm ihrer kleinen Kamera zubringen als vor dem Gegenstand ihres fotografischen Interesses, so lief ich ständig Gefahr, mich in Landkarten zu verlieren, Höhenlinien hinaufzukraxeln, rot gestrichelte Wanderwege optisch abzuschreiten oder vom überwucherten Gleisbett stillgelegter Eisenbahnlinien zu träumen.
Ich kannte das schon, nach Wanderungen konnte ich mich manchmal nicht an die Gegend selbst, sehr wohl aber an die graphische Darstellung auf meiner Wanderkarte erinnern.
Karten konnten gleichwohl einschüchtern, speziell diese schöne Karte: Sie zeigte nur einen Ausschnitt von Masuren, ein Viertel vielleicht, und doch wurde mir klar, dass ich selbst von diesem Viertel nicht einmal ein Viertel würde ergründen können. Dafür bräuchte es viele Sommer, und ich hatte nur den einen. Was also sollte ich mir vornehmen, was auslassen? Wonach sollte ich auswählen? Wo beginnen?
Mit einem Anflug von Verzweiflung schaute ich wieder hinaus auf den See, sah, wie Paare sich an seiner Promenade ergingen, sah einen dicken Mann in seinem Boot sitzen, eine Bierdose auf dem Bauch, Schwäne, die ihm gefährlich nahe kamen, den Wirt meiner Pension, wie er mit einer Bohrmaschine Löcher in Blumenkübel trieb – da wurde mir mit einem Mal bewusst, dass die Antwort direkt vor mir lag.
Es war 7:26 Uhr in der Früh. Wie jeden Morgen riefen die Glocken der Kirche gleich auf der anderen Seite der Straße zum Gottesdienst. Schnell sprang ich aus dem Bett, denn an diesem Tag wollte ich Nikolaiken einmal von Grund auf erkunden, nicht als Tourist, der versonnen umherschlendert, eher als eine Art früher Forschungsreisender, der seinem Auftraggeber ein möglichst detailliertes Bild von diesem fernen Ort und seinen Bewohnern liefern soll.
Nach Dusche und Frühstück ging ich also, einzig mit Papier und Stift bewaffnet und als käme ich aus einer Zeit weit vor Erfindung der Fotografie, hinüber in die kleine Backsteinkirche.
Außer mir waren vier ältere Frauen anwesend. Eine von ihnen wirkte sehr angespannt. Immer wieder schaute sie sich um und betrachtete mich mit bösem Blick. Danach zischelte sie ihre Gebete besonders laut.
Der Pfarrer, der gegen acht auf den Plan trat, war von routinierter Gleichmütigkeit und störte sich nicht daran, dass die angespannte Frau ihn beim Singen übertönte, obwohl seine Stimme elektronisch verstärkt wurde. Nicht nur im etwas partykellerhaften Kircheninneren (es war ein recht kleines, enges, fast stickiges Gebäude), auch über dem Eingangsportal hing ein Lautsprecher. Hier spürte man, wie missionierungswillig und selbst in scheinbar aussichtsloser Lage hoffnungsvoll der Katholizismus doch ist. Vielleicht blühte ihm ja ein zweiter Frühling, denn wo alle nach Entschleunigung schreien, ist so eine Messe genau das Richtige: Man verbringt Stunden mit den immergleichen und gerade in ihrer praktischen Nutzlosigkeit so attraktiven Ritualen.
Vielleicht waren es auch nur fünfundvierzig Minuten, die ich hier verbrachte. Die Kirche konnte sich mit keiner Kirchturmuhr schmücken, und mir war die Zeit auch recht egal. Ein ganzer Tag für einen Ort von gerade einmal viertausend Einwohnern, das dürfte allemal reichen. Oder?
Ich trat vor die Kirche auf die Ulica Michała Kajka, die zum Marktplatz führt. Michał Kajka, nach dem die Straße benannt war, erfuhr ich später, wurde 1858 in der Gegend von Orzysz geboren und setzte sich für den Erhalt der Vielsprachigkeit und gegen die «Zwangsgermanisierung» der masurischen Bevölkerung ein. In seinen «Masurischen Klageliedern» heißt es: «Lass unser flehentliches Rufen / Für unser geliebtes Volk / Hinaufsteigen zu den Himmeln / Oder irgendwo über den Ozean, / Lass es ertönen mit traurigem Klang / Über der heimatlichen Sprache Tod.»
Heute hört man nur noch Polnisch in Masuren, von gelegentlichem Urlauberdeutsch abgesehen.
Ich ging Richtung Marktplatz, vorbei an einer Pizzeria und einigen Häusern aus der Vorkriegszeit. Sie fielen, so ganz ohne Charme und Schmuck, unter den Nachkriegsbauten kaum auf. Der Platz selbst wurde gerade neu gestaltet; seit Wochen hockten die Pflasterer auf dem Boden und versahen ihn mit einer Kopfsteindecke. Auch ein großer Springbrunnen in der Mitte des Platzes stand vor der Vollendung; um ihn herum, in einem großen Bogen, hatte man Betonplatten ins Pflaster eingelassen, die wie Fische geformt waren. Die Augen dieser Betonfische entpuppten sich des Nachts als bodenerleuchtende Halogenstrahler.
Noch aber waren einige Bereiche des Platzes abgesperrt, und ich stellte mich an den Rand, um einen Überblick zu gewinnen: zwei Banken, drei Restaurants, zwei Supermärkte, ein Souvenir- sowie ein Schreibwarenladen. Außerdem eine Drogerie und die Touristeninformation. Am Kopf des Marktes das ehemalige Rathaus, in dem sich inzwischen das Hotel Mazur befand. «1888» stand groß über dem Eingangsportal, und genauso groß leuchtete eine elektronische Tafel auf und blinkte wild, um zu verkünden, was auch in starren Buchstaben zu lesen war: den Namen des Hotels.
Ein unverzeihlicher Stilbruch. Aber wo ohnehin Unordnung herrscht, wiegt er weniger schwer. Wenn auch einige der Gebäude am Marktplatz aus derselben Zeit stammten wie das ehemalige Rathaus, so passten hier doch keine zwei Häuser zueinander. In die Lücken hatte man einfach irgendetwas gesetzt; eine gemeinsame Traufhöhe wurde nur sehr, sehr ungefähr angepeilt. Doch überragte kein Gebäude das andere, im Durchschnitt baute man hier zweieinhalb Stockwerke hoch.
So wirkte der ganze Platz, obwohl relativ groß, merkwürdig geduckt und gepresst. Auch Fassaden gingen in einem gelb-grau-weißlichen Gemisch ineinander über. Wer nicht genau hinschaute, konnte nicht unterscheiden, welches Werbeschild zu welchem Laden gehörte, wo überhaupt ein Laden, ein Restaurant anfing oder aufhörte.
Farbe und Charakter verlieh diesem irgendwie trostlosen Platz die Parkplatzdiva. Da ein gewisser Teil des neu gepflasterten Areals Fahrzeugabstellzwecken diente, ohne dass man Parkuhren installiert hätte, kassierte eine elegante ältere Dame die Gebühren. Von einem adeligen Air umgeben, hätte sie auch gut in eine Blankeneser Villa oder eine Boutique auf dem Jungfernstieg gepasst. Stämmig, aber von sehr gerader Statur, behielt sie mit strengem Blick jedes Auto im Auge. Dabei trug sie mal ein hellblaues Kostüm zu rot-weiß gestreiften Turnschuhen (trotz ihrer sicherlich sechzig Jahre wirkte – würdevoll, wie sie auftrat – auch dieses jugendliche Attribut an ihr keineswegs lächerlich), mal ein leopardenfellartig gemustertes Kleidchen mit kühn ausgefranstem Saum. Auf dem Kopf saß ihr meist ein Strohhut mit einer rosa Rose daran.
Wenn die Parkplatzdiva nicht gerade abkassierte, saß sie auf einem Plastikstuhl, neben sich eine Esprit-Tüte mit Wasser und Keksen, und streichelte ihr Schoßhündchen – wobei ich mir bald nicht mehr sicher war, ob sie wirklich so ein Hündchen dabeihatte oder ob ich es mir, weil es so gut passen würde, nur nachträglich einbildete.
Der Marktplatz, kurz gesagt, machte augenscheinlich nicht viel her. Das war vor siebzig Jahren nicht anders gewesen, als Marion Dönhoff hier auf ihrem «Ritt durch Masuren» Station machte: «Das Städtchen ist völlig ausgestorben, man hört keinen Laut. Nirgends Licht, niemand auf den Straßen.»
Damals, im Jahr 1941, herrschte freilich Krieg, und die meisten Männer waren an der Front. Gemeinsam mit ihrer Cousine Sissi von Lehndorff sah Marion Dönhoff auf ihrer fünftägigen Reise noch einmal ein Masuren, wie viele jener Soldaten es nie wiedersehen sollten. Eigentlich an ihren kleinen Bruder gerichtet, erschienen die Aufzeichnungen erstmals 1962.
Heute nun ging es in Nikolaiken belebter zu, auch wenn zu dieser frühen Stunde nur wenige Menschen unterwegs waren. Ein paar Touristen, die nicht wussten, was sie fotografieren sollten, ein paar Kinder auf dem Weg zur Schule, einige Frauen, die ihre Läden aufschlossen. Sogar frühstücken hätte Marion Dönhoff hier können. Damals war sie am nächsten Morgen gleich weitergeritten und hatte sich später auf dem Gut eines Bekannten versorgen lassen müssen. Dieses Gut lag ein paar Kilometer den Nikolaikensee hinunter, längst aufgegeben und zerfallen.
Ich ging weiter die Kajka-Straße entlang, vorbei an zahlreichen Juweliergeschäften, deren Schaufenster vor Bernsteinschmuck überquollen, vorbei an der Post, der ein oder anderen Pizzeria, an Eisdielen, Apotheken, einer Wechselstube. Bis ich auf einem großen Platz landete, auf dem die Busse wendeten und Passagiere aus- und zusteigen ließen, Linien- wie Touristenbusse. Allzu rege war der Verkehr auch hier nicht, und ich überquerte den Platz und betrat das Gelände der evangelischen Kirche des Ortes, einen schlanken sandfarbenen Bau, dessen silbermatt schimmernder Turm weit in den Himmel ragte. Ich besaß ein altes Foto, vielleicht hundert Jahre alt, auf dem Nikolaiken abgebildet war – oder eher nicht abgebildet war, weil Schilf und Fischerhütten zauberisch den Blick versperrten. Nur diesen Kirchturm sah man deutlich, ein dem langen Schilf verwandtes, sich also beinahe im Winde wiegendes Bauwerk, wie es sich elegant über dem kleinen Ort emporschwingt. Das Schilf war inzwischen verschwunden, die Ufer verbaut, der Turm aber schien unverändert und von geradezu jugendlicher Frische und Biegsamkeit.
Allerdings war die Kirche verschlossen, und so betrat ich das benachbarte «Museum der polnischen Reformation». Masuren, als Teil Ostpreußens, war bis 1945