Theodor Plievier

Des Kaisers Kulis

Roman der deutschen Kriegsflotte

Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller

Kurzübersicht

Inhaltsverzeichnis

Über Theodor Plievier

Theodor Plievier wurde 1892 als Sohn eines Arbeiters in Berlin geboren. Mit 17 Jahren Flucht aus dem Elternhaus. 1914–1918 in der Kriegsmarine, Teilnahme am Matrosenaufstand. Anarchistisches Engagement als »Volksredner, Publizist, Verleger linksgerichteter Schriften«. 1929 erste Buchveröffentlichungen, 1933 Emigration. 1934–1945 Exil in der damaligen UdSSR, 1945 Rückkehr in die sowjetische, 1947 Flucht in die amerikanische Besatzungszone. Plievier starb 1955 in der Schweiz.

Über dieses Buch

Die Presse rühmte den Roman wegen seines Erfolgs und seiner antimilitaristischen Haltung als »Remarque der Flotte«. Plievier konnte zum Teil auf seine eigene vierjährige Kriegserfahrung zurückgreifen. Vorgänge, die er nicht selbst erlebt hatte, gestaltete er auf der Grundlage eines intensiven Quellenstudiums: so die packend genaue Schilderung der Skagerrak-Schlacht von 1916, die er ihrer falschen Glorie beraubte und als Höhepunkt einer Reihe von Niederlagen der deutschen Marine enthüllte, und die Matrosenrevolte von 1917, deren unschuldig hingerichteten Anführern der Roman 1930 gewidmet war. Plievier entwickelte so eine Mischform von autobiographischer und historisch-dokumentarischer Schreibweise, die historischen Wahrheitsanspruch mit politischer Aufklärung verband. Für den dokumentarischen Roman hat er damit ein beispielhaftes Modell gegeben.

Impressum

Dieses E-Book ist der unveränderte digitale Reprint einer älteren Ausgabe.

 

Erschienen bei KiWi Bibliothek

© 2018 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

 

Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

 

Impressum der Reprint Vorlage

ISBN (eBook) 978-3-462-41176-8

IN MEMORIAM

 

Alwin Köbis

Heizer auf SMS »Prinzregent Luitpold«

 

Max Reichpietsch

Obermatrose auf SMS »Friedrich der Große«

 

Am 25. August 1917 vom Marine-Kriegsgericht Wilhelmshaven zum Tode verurteilt. Am 5. September auf dem Schießplatz Wahn im Kgl. Gouvernement Köln von einer Abteilung Landsturmmänner erschossen.

Zur Ausgabe der Werke Theodor Plieviers

Trotz aller politischen und weltanschaulichen Diffamierungen, mit denen er – in wechselnden historischen Konstellationen von verschiedenen Seiten – überhäuft worden ist wie kaum ein anderer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, zählte Theodor Plievier bereits zu Lebzeiten zu den sehr erfolgreichen Autoren. Sein Werk war in 36 Sprachen, in annähernd drei Millionen Exemplaren, auf der ganzen Welt verbreitet. Dennoch hat der politische und literarische Außenseiter Theodor Plievier zeit seines Lebens nicht ›seinen‹ Verleger finden können, der für eine gesammelte Edition seiner Werke gesorgt hätte. Im Unterschied zu einer ganzen Reihe von Schriftstellern vergleichbarer Qualität gibt es von Theodor Plievier bis heute keine Werkausgabe, die Mehrzahl seiner Werke ist seit langem nicht mehr greifbar.

Mehr als 25 Jahre nach Plieviers Tod wird mit Des Kaisers Kulis, Plieviers erstem großem literarischen Erfolg, die auf zehn Bände geplante Werkausgabe Theodor Plieviers begonnen. Das Ziel der Werkausgabe ist es, die literarisch, historisch und wirkungsgeschichtlich bedeutendsten Werke Plieviers in einer leserfreundlichen Ausgabe verfügbar zu machen. Bei dieser Zielsetzung verbietet sich jeder Anspruch auf Vollständigkeit: die Ausgabe wird keine lyrischen oder dramatischen Texte Plieviers enthalten, und sie wird auch im Bereich der epischen Arbeiten – vor allem bei den Erzählungen – eine Auswahl zu treffen haben, die in den einzelnen Bänden begründet werden wird. Völlig unberücksichtigt bleiben muß die Fülle der politisch-publizistischen Arbeiten Plieviers von 1919 bis in die fünfziger Jahre; keine Aufnahme in die Werkausgabe finden schließlich die Tagebücher, Briefe und der gesamte literarische Nachlaß Theodor Plieviers.

Geplant sind die folgenden Bände der Werkausgabe:

  1. Des Kaisers Kulis. Erstausgabe Berlin 1930.

  2. Der Kaiser ging, die Generäle blieben. Erstausgabe Berlin 1932.

  3. Das große Abenteuer. Erstausgabe Amsterdam 1936.

  4. Im letzten Winkel der Erde. Erstausgabe Moskau 1941.

  5. Haifische. Erstausgabe Moskau 1941.

  6. Stalingrad. Erstausgabe Moskau 1945.

  7. Moskau. Erstausgabe München 1952.

  8. Berlin. Erstausgabe München 1954.

  9. Erzählungen I.

  10. Erzählungen II.

Die Bände werden in jährlichem Abstand in der hier aufgeführten chronologischen Reihenfolge erscheinen – mit der Ausnahme des zweiten Bandes, Der Kaiser ging, die Generäle blieben, der aus verlagsrechtlichen Gründen erst am Ende der Ausgabe erscheinen kann.

Die vielfältigen Veränderungen, die Plievier an seinen Erzählungen und einer Reihe seiner Romane vorgenommen hat, lassen eine historisch-kritische Ausgabe seiner Werke wünschenswert erscheinen, die den Entstehungsprozeß und spätere Bearbeitungen der Romane und Erzählungen dokumentieren könnte. Die geplante Leseausgabe der Werke Plieviers kann jedoch die wissenschaftlichen Ansprüche an eine historisch-kritische Ausgabe nicht erfüllen; sie muß sich darauf beschränken, jeweils eine Fassung eines jeweiligen Werks wiederzugeben. Gleichwohl soll sich die Edition der Texte an nachvollziehbaren Kriterien orientieren.

Bei älteren Werkausgaben war es in der Regel üblich, die Fassung letzter Hand, d.h. die letzte vom Autor selbst besorgte Ausgabe, nachzudrucken; ausschlaggebend für diese Entscheidung war letztlich die Idee eines langsamen Reifungs- und Vollendungsprozesses literarischer Werke. Dieses Editionskonzept, das nicht nur für die Werke Theodor Plieviers inadäquat ist, wird in der geplanten Werkausgabe nicht verfolgt. Sie wird in der Regel Plieviers Werke in der Fassung erster Hand, d.h. in der ersten von Plievier besorgten Ausgabe, nachdrucken. Der Abdruck der Erstausgabe empfiehlt sich als Editionskonzept für die Werke Plieviers, weil in den Erstausgaben der Zusammenhang von zeitgeschichtlichem Kontext und literarischem Werk und die zeitbezogenen Wirkungsabsichten des Autors authentischer zum Ausdruck kommen als in späteren Bearbeitungen.

 

H.-H.M.

Editorische Anmerkung
zu Des Kaisers Kulis

In der vorliegenden Ausgabe von Des Kaisers Kulis wird nicht Plieviers Bearbeitung des Romans aus dem Jahre 1949 nachgedruckt, sondern – erstmalig seit 1945 – der Text der 2. Auflage (18. – 40. Tausend), die 1930 im Malik-Verlag in Berlin erschien. Der Grund dafür, daß im vorliegenden Fall nicht die Erstausgabe nachgedruckt wird, die Ende 1929 mit dem Impressum von 1930 ebenfalls im Malik-Verlag erschien, liegt darin, daß die 2. Auflage um ein Kapitel (»S.M.«) erweitert ist. Diese 2. Auflage stellt keine Bearbeitung, sondern eine Ergänzung der Erstauflage dar; da beide Auflagen innerhalb eines Zeitraums von nur einem Jahr erschienen, ist die Abweichung vom Prinzip des Nachdrucks der Erstauflage zugunsten der erweiterten Fassung, die Plievier später auch den Exilausgaben zugrunde legte, unbedenklich. Der Abdruck erfolgt buchstabengetreu; offensichtliche Druckfehler wurden stillschweigend korrigiert.

 

H.-H.M.

Shanghaied!

»Dierck!« Und nochmals:

»Dierck! Komm schon, hoch!«

Der Schlafende schüttelt die Hand von seiner Schulter, mit einer schweren Bewegung dreht er sich der Kojenwand zu. Man soll ihn in Ruhe lassen; er weiß ohnehin, daß er auf einem Versaufkasten an Bord ist. Sogar im Schlaf läßt der Gedanke daran ihn nicht los.

Der Bootsmann selbst ist zum Wecken der Freiwache in das Logis gekommen: »Dierck! Jan! Hoch den Hintern!« Endlich hat er sie hochgebracht, zwei Mann und einen Jungen. Schwer genug; noch keine Stunde haben sie gelegen! Und die Tage vorher … viermal vierundzwanzig Stunden geht es schon so.

Sie sitzen auf ihren Kojen, mit herabbaumelnden Beinen und noch benommen vom Schlaf. Die Seestiefel brauchen sie nicht erst anzuziehen; sie haben darin geschlafen. Die vom Decksbalken hängende Lampe macht noch immer dieselben Pendelbewegungen. Jedesmal wenn sie nach Backbord ausschwingt und ihre tiefste Neigung erreicht, hört man eine Woge über das Deck brechen und hinterher das Rauschen der abfließenden Wasser. Das Schiff liegt ohne Fahrt, treibt seit vier Tagen breitschiffs durch die Spanische See, steuerlos, mit Maschinendefekt. Der Junge hockt zusammengeknäuelt auf seinen Decken, der Kopf ist ihm auf die Brust gesunken, die Augen wieder zugefallen. Solange die Männer noch sitzen und dösen, braucht auch er sich nicht zu rühren. Der eine stiert mit schlafweiten Augen in das Licht der Lampe. Der andere, den der Bootsmann mit Dierck angerufen hat, steckt seine Pfeife in Brand und macht ein paar schnelle Züge. Oben kann man nicht rauchen, der Wind!

»Sieben hatten wir, als wir in die Koje gingen!«

»Sieben – – und es hat noch aufgebrist!«

Die Logisklappe wird aufgerissen. Das offene Loch genügt, das Brüllen oben stellt die Leute auf die Füße. Die Stimme des Bootsmanns, kurz und abgerissen:

»Wo bleibt ihr – – schnell, die Fässer!«

»Da hab’n wir’s, die Decksladung!« sagt Dierck.

»Die Petroleumfässer!« schreit Jan.

Sie ziehen sich die Treppe hoch, steigen durch die Klappe. Zuerst sind sie wie blind, tappen schrittweise vorwärts, dann sehen sie die Schaumköpfe aufleuchten, die hochgehenden Wogen, die das Schiff anrennen. Ein Stück des Himmelsraumes liegt frei, Sterne, matt und verwaschen. Die Formen an Deck heben sich aus neblig blauem Licht: Klumpen Fässer, die Männer der Wache.

Je fünfzig Fässer sind aneinander und gegen die Reling gelascht, zehnmal fünfzig Stück stehen auf dem Vorschiff. Sie sind leer, aber aus schwerem Metall und fast mannhoch. Die von der Wache sind dabei, die gelockerte Verspannung wieder steif zu setzen. Sie hängen an einem Drahtseil: »– – hoi – ho, hoi – ho! Nochmal! Und noch einmal! Pull boys, come on – – –«

Drei sind sie mit dem Steuermann.

Jetzt fallen auch Jan und Dierck mit ein.

Der Junge ist noch keine fünfzehn Jahre alt.

»Achtung, Fleischhaken!« singt der Vormann aus. Das Seil ist stellenweise angerostet und stachelt mit losen Drahtspitzen in die Handflächen. Man muß aufpassen, erst mit streifenden Griffen die Stacheln beilegen, aber dann einfallen, mit dem ganzen Gewicht des Körpers: »Alle Mann!

Zugleich! Pull boys! Come on – – –«

Wenn die Brecher über das Deck rennen, stehen alle bis an Bauch und Brust im Wasser. Das Schiff hat Schlagseite, hängt an Backbord. Die hochliegende Steuerbordwand ist dem Seegang zugekehrt, träge und tot wie ein Wall.

Dierck arbeitet zusammen mit dem Jungen, der das Drahtseil belegt, nachdem er es durchgeholt hat. Plötzlich fällt ihm auf, daß mit dem Steuermann und dem Bootsmann nur drei von der Wache da sind.

»Wo sind die beiden andern?« fragt er.

»Auf der Brücke!« antwortet der Steuermann. Und nach einer Weile – dieser Dierck Butendrift ist immerhin ein Kerl, der zupacken kann! – gibt er sogar eine Erklärung:

»Sie haben sich die Beine gequetscht.«

Auf dem Rücken einer Woge, über die das Schiff mit einer wiegenden Bewegung wegsetzt, geht es los: ein Faßklumpen hat die Drahtverspannung gesprengt. Mit Getöse setzen die frei gewordenen Fässer sich in Bewegung, knallen gegen die Luken und Winden, gegen die Reling, laufen wieder zurück und arbeiten an der Lockerung der übrigen Faßverbände.

Die Männer wühlen wie Verrückte. Ihre Leiber liegen in Dampf unter den dichtschließenden Ölanzügen. Und sie sind Sechs gegen fünfzig losgelassene Ungetüme, vielleicht sind es auch schon hundert. Das schlimmste ist, daß man die Fässer nicht sehen kann. Erst im letzten Moment tauchen sie auf, blau und gespenstisch. Sausen vorbei, bis sie gegen ein Hindernis rennen. Die rollende Bewegung des Schiffes hat sie mit unheimlichem Leben und zermalmenden Kräften begabt. Nur in den kurzen Pausen, wenn das Schiff ausbalanciert liegt, kann man arbeiten, das eine und andere Faß packen und über Bord werfen.

Die Mannschaft hat sich auf Luk II geflüchtet.

Doch der erhöhte Standpunkt kann gefährlich werden – die über das Deck spülenden Wogen! »Vor drei Reisen …«, sagt einer. Man kennt die Geschichte. Eine ganze Wache wurde damals über Bord gewaschen.

Die blaßschimmernden Gesichter drängen sich um Jan. Butendrift hat Knochen im Leib und Kräfte! Aber Jan Geulen ist der Beweglichste unter der Mannschaft. Bei Beginn der Reise haben sie ihn einstimmig zum Headman gewählt.

»Los dafür!« kommandiert der Steuermann.

Niemand rührt sich. Die Fässer vollführen einen höllischen Lärm, Eisen gegen Eisen.

»Nein, wir wollen nicht mehr! Schluß!« sagt Geulen.

»Dienstverweigerung«, konstatiert der Steuermann ohne Erregung. Eigentlich ist er froh; er hat einen Grund, das mörderische Deck zu verlassen. Er klimmt die Treppe hoch, auf die Brücke, Meldung machen.

Ein Schaumkopf hebt sich über die Reling, läuft gegen Luk II, zerschellt und fließt aufstäubend über das Deck, eine breit ausleckende, feurig gelbleuchtende Zunge. Und das Schiff ist ein Glattdecker, ein Typ, wie sie vor zwanzig Jahren gebaut wurden, der einzige erhabene Platz die auf eisernem Trägerwerk ruhende Brücke.

Der Kapitän ist ein ruhiger Mann. In den Levantehäfen, wo seine Mannschaft und auch die Steuerleute allerlei dunkle Handelsgeschäfte betrieben, saß er im Salon und strickte Netze für seinen Vater, der in der Ostsee einen Fischkutter fährt. Aber jetzt spricht er hochdeutsch: »Sie wollen also nicht? Ich werde das ins Journal eintragen!« Auf »Journal« legt er dabei besonderen Nachdruck. Als Kapitän hat er Polizeigewalt an Bord. Hinter ihm steht das Seemannsgericht und das Gefängnis.

»Nein! Wir wollen nicht! Bis es hell wird!«

Dabei blieb es. Sie wachen sich in den Tag hinein. Auf der Leeseite der Brücke steht der Kapitän mit dem ersten und zweiten Steuermann, in Luv die Leute, aneinandergedrängt zu einem Haufen. In der Mitte, vor dem Kartenhaus und dem dunkel ragenden Rauchschlot, schimmert das matt beleuchtete Kompaßgehäuse. Wenn der Wind einen Moment lang aussetzt, hört man unten im Kesselraum die Heizer rumoren.

Der Bootsmann, der eine Zwischenstellung auf dem Schiff einnimmt, nicht zu den Offizieren und auch nicht zur Mannschaft rechnet, steht für sich allein. Nach einer Weile schlägt er sich auf die Seite der Mannschaft. Er erkennt das Gesicht von Jan, der ihm am nächsten steht.

»Das letzte Schiff mit Decksladung!« sagt der Bootsmann Karl Kleesattel. – »Wenn ich nur erst wieder runter bin«, antwortet Jan, »mich bringt keiner mehr auf ›sowas‹ rauf!« Sie ziehen ihre Köpfe ein, machen sich ganz klein, um dem Wind so wenig Fläche wie möglich zu bieten, ein steifstehender Nordwest! Alle halbe Stunde geht einer ins Kartenhaus, um die Wache bei den beiden Gequetschten abzulösen.

Ein paar klappernde Konservenbüchsen sind imstande, Pferde scheu zu machen. Hier sind Fässer, doppeltgeschiente Petroleumfässer, von den rollenden Bewegungen des Schiffes geschleudert wie Projektile. Fünfhundert zentnerschwere Hammerschläge bei jedem Neigen und Fallen des Schiffes! Wie lange können die Luken solchem Ansturm standhalten?

Fünf Uhr morgens.

Es wird Tag. Von unten, aus dem Meere, steigt er auf, mit schwerem, bleifarbenem Licht. Jetzt ist das Deck zu übersehen. Die Verschanzung ist demoliert, Enden der Reling sind wegrasiert, auch die Blechkappe über dem Logis. Das Logis steht voll Wasser.

»Ich habe gewußt, daß was passieren wird!«

Schon seit Wochen hat Dierck Butendrift es in den Knochen stecken, ein dämliches, lähmendes Gefühl, eine Vorahnung von Ereignissen. Das also ist es! Wenn die Fässer ein Luk zertrümmern, muß das Schiff sinken wie eine durchlöcherte Blechwanne.

Nachdem es hell geworden, ist Butendrift der erste unten auf dem Deck. Mit seinen breitausholenden Armen greift er in die hin und her rennenden eisernen Kolonnen, packt jedesmal eines der gefährlichen Dinger, hebt es in die Höhe und schleudert es im Bogen ins Meer. Die übrigen arbeiten in Trupps von je drei Mann. Angespannt und übernächtigt, wie sie nach den letzten Tagen sind, vollbringen sie ein Werk von Titanen.

Am selben Tag bringen die Heizer die Maschine wieder in Gang. Schwarz und schmutzig wischt die Rauchfahne aus dem schief stehenden Schornstein über das Wasser. »Die ›alte Kaffeemühle‹ läuft wieder!« Mit einem Kessel nur, aber sie läuft. Langsame Fahrt! Es genügt, das Schiff steuern zu können.

In der folgenden Nacht brennt das Leuchtfeuer von »Bishops Rock« auf. Dreißig Seemeilen weit wirft diese mächtige Station auf der äußersten der »Scillies« ihre Lichtbündel in den Atlantik.

Die Fahrt geht ohne Zwischenfälle weiter.

Im Kanal hat die »Lesbos« Wind und Strom von achtern. Und in der Nordsee, die unter einem zitternd heißen Julihimmel daliegt wie ein großes, gläsernes Wunder, sind die Tage in der Spanischen See vergessen.

Bei dem stillen Wetter ist der Weg in den Laderaum freigelegt worden. Man hat da unten zu tun: die Schlingen, das Geschirr zum Löschen des Stückgutes! Der Bootsmann hatte seinerzeit durchaus keinen anderen Platz zur Aufbewahrung dieser Sachen finden können, als ausgerechnet Luk I, wo der Wein von der Insel Samos gestapelt ist. Ganz nebenbei entdeckt man, daß eines der Fässer leck ist. Eimer hat man gleich mitgebracht, einen für die Heizer, den andern für die Matrosen. Die Eimer werden aufgefüllt und in den leeren Kohlenbunker geschafft. Die Steuerleute lassen sich die Wasserkannen ihres Waschgeschirrs auffüllen. Der Paragraph in der Seemannsordnung: »Mit Gefängnis wird bestraft, wer aus der Ladung usw.« hat hiermit nichts zu tun. Wo kein Kläger, kein Richter! Der Kapitän sitzt im Salon und verstaut die Netze, die er unterwegs gestrickt hat, in seine Koffer.

Etwas Schlagseite, eine kleine Backbordneigung hat das Schiff. Eine Seite ist verbeult und das Deck demoliert. Mit der Geschwindigkeit eines langsam fahrenden Güterzuges zieht es über die weiten, flimmernden Flächen, immer in der Mitte eines smaragdgrünen, kreisrunden Spiegels.

Stunden, eine Nacht, ein Tag …

Und wieder stößt der Sonnenball in den Raum, daß man die kosmischen Entfernungen des Gestirns vergißt und glühende Gasmassen einzuatmen meint. Solche Tage sind selten in der Nordsee, aber wenn sie aufstehen, ziehen sie das Blut zwischen den Schläfen zusammen.

Butendrift sitzt vorn auf dem Ankerspill. Sein struppiger Schädel ist umknistert von Sonnenstrahlen. Er hat Freiwache, läßt sich durchfluten von der heißen Luft – ein Ausgleich nach den nassen Tagen.

Das also war es nicht, das in der Spanischen See! Was aber ist es? Das verquere Gefühl von Unheimlichem, das sich zusammenbraut, hat ihn noch immer nicht losgelassen. Unbeweglich hockt er am Bug des Schiffes und starrt in die leere, glitzernde Welt.

Die Wasser verlieren ihre grüne Durchsichtigkeit, werden matt und milchig. Das macht die Nähe des Landes, die Düngung aus den breiten Mäulern der Flußmündungen. An Steuerbord liegt ein flacher Sandstreifen. Vorn, von unter dem Horizont, steigt Rauch hoch. Nicht die schmale Fahne eines Dampfers, viel eher die breite Dunstschicht, wie sie über Städten liegt, aber schwarzbrodelnd, einen düsteren Keil in den zitternden Sommerhimmel treibend. Kriegsschiffe!

»Manowars!« sagt der Bootsmann.

Er hat »seine Zeit« hinter sich. In der II. Matrosendivision, nachher auf dem Kleinen Kreuzer »Nymphe« hat er gedient. Butendrift hat keine Musterung mitgemacht. Nicht, daß er sich geradezu »gedrückt« hätte, das nicht; aber vor diesem Dampfer ist er auf Segelschiffen fremder Nationen gefahren.

»Seit vier Jahren der erste deutsche Hafen!«

Ein Heizer der Freiwache kommt auch nach vorn, in Holzpantinen, ein Schweißtuch um den Hals. Verwahrlost und schmierig sehen die drei aus, Kohlenstaub in den Gesichtern, an Armen und Kleidern. Seit das Logis abgesoffen ist, schlafen und wohnen sie in dem leeren Kohlenbunker.

Das Kriegsschiffsgeschwader nähert sich mit der Geschwindigkeit eines Meteors. Panzerkreuzer, flankiert von Torpedobooten.

Der Steuermann ruft den Jungen:

»Moses, bet’n dalli, an de Flag!«

Der Junge läuft nach achtern, bleibt an der Flaggenstange stehen.

Die grau angestrichenen »Panzer« fahren hintereinander in Kiellinie, schaufeln mächtige Bugwellen auf. Karl Kleesattel weiß die Namen: »›Seydlitz‹! ›Moltke‹! ›Von der Tann‹! Die laufen vor der Flotte her und kriegen die meisten Brocken ab, wenn’s mal losgeht!«

Jetzt liegt das vorderste dwars von der »Lesbos«.

»Flagge nieder!« brüllt der Steuermann.

Moses holt sie runter, setzt und streicht sie wieder, dreimal. An der Flaggenstange des »Panzers« ist niemand zu bemerken. Unter den Geschützrohren des Vorschiffes stehen die Kulis in blendend weißen Matrosenanzügen, ausgerichtet in langen Reihen, auf der Brücke Offiziere in blauen, hochgeschlossenen Uniformen. Die Kriegsflagge achtern bleibt unberührt. Der Gruß dieses Tramps, der zerschunden und schief im Wasser liegt, bleibt unbeachtet.

Der Fischersohn auf der Brücke der »Lesbos« spuckt aus, durch die Zähne, in weitem Bogen. Das ist sein Kommentar. Moses holt die Flagge wieder hoch, langsam und ohne besonderen Befehl.

»Fullspeed! Achtundzwanzig Meilen!« sagt Kleesattel. Und der Heizer: »Junge, wenn de mal mit den Engelsman tosam kommt! Alle Zeitungen waren voll von Krieg, als wir in der Levante lagen. Die Sache mit dem Österreicher ist nicht echt!« Butendrift sagt nichts. Sein Blick gleitet verloren über den breiten Schaumstreifen, den das Geschwader auf seinem Kurse hinter sich gelassen hat.

Auch auf der andern Seite ist jetzt Land zu sehen. Mit dunkelschraffierten Strichen hängt es unter dem Sonnenball. Auslaufende Dampfer werden passiert. Schiffahrtszeichen: Bojen, Baken. Ein Segler mit schlaffhängenden Tuchflächen läßt sich stromab treiben. Immer enger schieben die Landreviere sich zusammen.

Dann ist die Fahrstraße ein metallisch glänzendes Band. An den Ufern Apfelbäume, Wiesen, Gartenrestaurants. Erste Steine der Stadt. Der rote Backsteinbau einer Fabrik, Kohlenhaufen, Grasbüschel, spielende Kinder. Frauen schauen den vorbeiziehenden Schiffen nach.

In der Luft steht Rauch und flimmernder Staub.

Speicher. Einarmige Kräne. Auf der einen Seite der Neubau eines Ozeanriesen, dröhnend von einem Volk ameisenkleiner, geschäftiger Arbeiter. Auf der andern Seite Labyrinthe übereinandergestaffelter Mietskasernen. Ein Schleppdampfer vorn, einer hinten, bugsieren die »Lesbos« in den Hafen.

Der zweite Steuermann steht mit der Backbordwache auf dem Achterdeck, der erste mit der Steuerbordwache vorn auf der Back. Leinen und Drahtseile rauschen durch die Klüsen, erst vorn, dann achtern: »Belege das!«

Das Schiff liegt fest am Kai:

200 Faß Samoswein, 250 Tonnen süße Mandeln, 300 Tonnen Smyrnafeigen und 1000 Tonnen Kartoffeln aus Malta. Am nächsten Morgen die Stimme des Steuermanns in den Bunker hinunter:

»Abmustern!«

Heißes Wasser, Schmierseife, Landgehanzüge.

Auf dem Hafendampfer, der sie auf die Stadtseite des Flußes hinüberträgt, drängen sie sich um Geulen und Butendrift: »Das muß bezahlt werden!« – »Die Company hätte keine Decksladung nehmen brauchen!« – »Steuerbord hat vierzig, Backbordwache sechsundreißig Überstunden!« – »Hannes soll ein Bein abgenommen werden!« Die beiden Verletzten hat man gleich nach Einlaufen in das Hafenkrankenhaus abtransportiert.

Auf dem Seemannsamt werden die Namen der abmusternden Schiffe aufgerufen. Jetzt SS »Lesbos«! Die Matrosen und Heizer treten an das Schalterfenster. Einer nach dem andern bekommen sie ihr Seefahrtsbuch und die Heuer ausgehändigt, sechzig Mark pro Monat. Für das Überbordwerfen der Petroleumfässer, eine Überarbeit, mit der sie Schiff und Ladung gerettet haben, bekommen sie nichts. – »Von Gibraltar bis an die ›Scillies‹ vierzig Überstunden!« sagt Butendrift. Der Beamte schlägt ein Buch auf, liest mit monotoner Stimme einen Paragraphen der Seemannsordnung vor: »Als Überstunden gilt nicht … wenn höhere Gewalten …« Dann, ohne seine Stimme zu verändern, die Augen unter den Brillengläsern kaum merklich hebend: »Sie bekommen Ihr Seefahrtsbuch und die Heuer im Hauptbüro ausgehändigt!«

Ein Heizer muß auch ins Hauptbüro.

Dierck erkennt sofort, nachdem er eingetreten ist: der Mann hinter dem Schreibtisch mit der schwitzenden Glatze und dem kurzgebauten, stämmigen Oberkörper – Polizei in Zivil, ein Kriminalbeamter! »Ihr Seefahrtsbuch ist nicht in Ordnung, Ihre Militärangelegenheiten! Sie müssen sich auf die Wache bemühen!« sagt er.

Fünf Schritte vor ihm geht der Heizer, flankiert von zwei Beamten. Der Mann links von Dierck trägt eine Mütze, der rechts einen steifen Hut. Ein volles, fleischiges Gesicht; mit dem hohen Hut reicht er ihm knapp in Augenhöhe. Die beiden Beamten sind ausgebildet in Boxen und Jiu-Jitsu. Dierck kann ganz allein die Bramrahe hissen, wenn es drauf ankommt. Er weiß, ein kurz entschlossenes Zupacken in die beiden festen Nacken, und ihre Schädel klappen gegeneinander. Er kennt Beispiele, aber er tut’s nicht, läßt sich durch die staubigen, volkreichen Straßen führen.

 

»Vater Lampel« muß selbst mit eingreifen. Sein Vize hat alle Hände voll zu tun. Beladen mit Getränken läuft er zu den Tischen und mit leeren Gläsern zurück zum Schanktisch – Bier! Schnaps! Grog! Wenn die bemalten Scheiben des Orchestrions rot aufflammen, die Lampen über den Tischen ausgehen und die Kneipe in Halbdunkel versinkt, verwischen sich die Gesichter, scheint der Geruch der Weiber heißer und betäubender zu sein. Wenn es wieder hell wird, stoßen Einzelheiten durch die Wolken dichten Tabakqualmes – Gruppen, Holztische, an den Wänden Schiffsmodelle. Die Hautfarbe der Männer zeigt den satten Bronzeton, den nur der Ozean gibt, die weichen Passate und Monsune tropischer Meere und die schweren Gegenwinde, die von den Polen abfließen in die gemäßigten Breiten.

»Sumatra, Borneo, Java

und die großen und die kleinen

Sundainseln im Stillen Ozean,

Sumatra, Borneo, Java …«

Sie sitzen um einen runden Tisch herum, wiederholen endlos und stumpfsinnig denselben Kehrreim; nur dann und wann setzt einer aus, wenn er sein Glas hebt, um mit den andern anzustoßen und zu trinken: eine Schiffsmannschaft, heute abgemustert von einem Segler – in Ballast nach Westamerika und mit Salpeter zurück nach Hamburg – zehn Monate Reise. Sie haben Geld in den Taschen.

»Prost Allan!«

»Prosit Jan!«

»Weißt du noch, der lange sandige Strand, das Gerümpel, unter das wir uns nachts verkrochen, die alte verbeulte Konservenbüchse, in der wir unsere Suppe gekocht haben! Fred, Fatty, Tinbox …« Jan Geulen von der »Lesbos« hat einen Bekannten getroffen, mit dem er an der Westküste zusammen »on the beach« gewesen ist.

»Eine verdammte Zeit«, sagt der Ire.

»Ja, eine Zeit!« antwortet Geulen.

Auf der Diele bewegen sich die Paare, schwere, dampfende Leiber. Ein ungeschlachter Kerl, mit einem Gesicht wie ein Seehund, hat die Bauchtänzerin im Arm. Hellbraun ihr Rücken und ihre Schultern; glänzende Spangen trägt sie an Arm- und Fußgelenken. Ein Matrose in gestreifter Bluse, ein Südfranzose, tanzt mit der Holländerin, die vorher dressierte Tauben vorgeführt hat, ein Neger mit einem Mädchen in mohnrotem Kleid.

»›Lesbos‹, Levantelinie!« schreit Geulen mit erhobener Stimme, damit der andere ihn in dem Lärm versteht. Ein Mädchen, das im gleichen Moment am Tisch vorbeitanzt, dreht sich nach Jan um, eine hochgewachsene Blonde. Der Mann, der mit ihr tanzt, hat einen lohend roten Haarschopf; er ist ohne Jacke, Hemdsärmel aufgekrempelt. Seine Arme fallen auf, Muskelstränge, wie sie ein Gorilla hat.

»… und die großen und die kleinen

Sundainseln im Stillen Ozean …«

Von der Straße kommen Hafenarbeiter herein, leere Kaffeekannen in den Händen. Sie bleiben am Schanktisch stehen und bestellen Schnaps.

»Verfluchte Schufterei!«

»Diese Schichtwirtschaft!«

»Achtzehnhundert habe ich heute geschrieben!«

Achtzehnhundert Nieten hat er eingezogen mit seiner Kolonne. Die Arbeit hinter ihnen ruht auch jetzt nicht. Auf den Werften, in den Schwimm- und Trockendocks geht es weiter, ohne Pausen, in Tag- und Nachtschichten. Die Schiffe, die an den Piers vertäut liegen, laden und löschen wie in einem Fieber.

»Es liegt was in der Luft!«

Der die achtzehnhundert Nieten geschrieben hat, sagt es. Ein großer, breitschultriger Kerl mit gebrochenem Nasenbein; er greift nach dem Schnapsglas, seine Hand ist ruß- und ölgebeizt und sieht wie eine große, dunkle Zange aus.

»Der Werftgrandy hat recht! Habt ihr die Kundgebung schon gelesen?«

Sie haben nichts gelesen und wissen von nichts, haben auch keine Zeit, sich darum zu kümmern, sind vollauf damit beschäftigt, ihr Geld ›auf den Kopf zu hauen‹. Sechsundneunzig Tage sind sie von Westamerika her unterwegs gewesen. Das Orchestrion spielt, da ist die schwarze Liese, die Fritzi und alle die andern. Der »Seehund« kennt die Bauchtänzerin schon von früher; sein Gesicht hellt sich auf, wenn sie kommt und eine Weile bei ihm bleibt.

Neben Geulen setzt die hochbeinige Blonde sich hin. »Die ›Lesbos‹ ist wieder eingelaufen?« erkundigt sie sich. – »Ja, gestern mittag. Liegt am Levantekai.«

»Wo sind denn die andern? Hier ist noch keiner von der ›Lesbos‹ gewesen!«

»Zwei sind ins Krankenhaus. Und ein paar hewt se schnappt heute morgen, auf dem Seemannsamt. Ihr Militärkram war nicht in Ordnung.«

Die Mädel sind an den Eingängen im Hafen interessiert wie irgendein Schiffsmakler.

»Lene heiße ich!«

»Und du arbeitest?«

»Ja, auch … ich bin Verkäuferin in einem Warenhaus, in der Parfümerieabteilung. Vorher habe ich genäht, mit meinen Schwestern. Ich mochte nicht mehr zu Haus bleiben.«

»Extrablatt!« ruft ein Zeitungshändler. »Extrablatt! Der französische Abgeordnete Jaurès ermordet!« Der Song von den Sundainseln reißt ab. Blätter werden gekauft. Der Matrose in der gestreiften Bluse läßt das Mädchen, das er auf seinem Schoß hat, steht auf und redet vier, fünf Sätze, die mit Ausnahme von seinen Landsleuten hier niemand versteht. Aber Hände fahren hoch. Mützen werden abgenommen.

»Einer von den Linken!«

»Er hat gegen den Krieg gesprochen!«

»Jaurès ermordet!«

»Wirt, eine Stubenlage!« Der Hafenarbeiter mit dem gebrochenen Nasenbein ruft es, mit dröhnender Stimme, quer durch den Raum. Mit vollen Gläsern in den Händen erheben sie sich, die Segelschiffsmatrosen, Schweden und Finnen von einem russischen Dampfer, die Hafenarbeiter, Franzosen und Frauen.

»Gesundheit!«

»Good luck!«

Und immer wieder: »Jaurès!«

Stühle werden gerückt. Tische aneinandergestellt. Jan bestellt eine Lage, hinterher einer von den Schweden, dann der Irländer: »Skool Swenska!« – »Good luck Irland!« – »Wir halten zusammen!« – – Die groben Gesichter sind gelöst, wie ein Mann fühlen sie sich. Das Riesenkrokodil unter der Decke der Kneipe scheint aus langem Schlaf zu erwachen. Die verstaubten Schiffsmodelle an den Wänden, die Auslegerkanus menschenfressender Insulaner, die Segel von uralten Karavellen und Vollschiffen sind wie gespannt zu neuen Abenteuern.

Der Wirt läßt das Orchestrion anspringen, gibt seinem Vize einen Wink. Er soll die leeren Gläser von den Tischen wegholen. Die Stimmung ist gut – Stubenlagen!

»Hier gefällt’s mir am besten!« sagt Lene. »Sonst gehe ich ins ›Eldorado‹ oder in ›Wachtmanns Ballhaus‹. Sehr elegant. Teppiche, Garderobe. Aber hier ist mehr Leben! Wenn ich ein Mann wäre, würde ich auch zur See fahren. Du kannst einem alles so schön erklären!«

Jan erzählt weiter: Wasserpfeifen, Hundegebell, verschleierte Frauen an einer Küste! Hüte wie Wagenräder, Maultierkarawanen, Fandangohäuser an einer andern! Und Inseln, die aus dem Meer aufsteigen mit Kokospalmen, Pfahlhütten und nackten Eingeborenen.

»Das Leben vor dem Mast hat aber noch andere Seiten! Manchmal hat ein Schiff Decksladung, Petroleumfässer oder sowas. Ein andermal dauert die Reise lange. Dann gibt es nichts als Salzfleisch und Dörrkartoffeln zu fressen! Ja, das mache ich bestimmt, ich suche mir eine Stelle an Land, an einem Kran, vielleicht auf einem Hafendampfer. Das ›Fahren‹ gebe ich auf!«

Wieder brennen die roten Scheiben des Orchestrions auf, drehen sich die Paare, stampfen über die Diele. Die an den Tischen trommeln den Takt, Holz und Fäuste. Der rotierende Flügel des Ventilators steht in der Dämmerung wie ein riesiges exotisches Insekt.

Jan Geulen ist allein sitzengeblieben.

Lene tanzt mit einem andern.

Dieser verfluchte Trick mit dem Licht, die blöden Lampen! Die Lene ist wirklich nicht übel. Vor dem Ausschank steht sie jetzt, mit dem Kerl von vorher. Dieser Rothaarige, er redet auf sie ein – –

»Ein Heizer, liegt schon lange an Land. Hat zum Fahren keine Lust mehr!«

Wenn nur die Musik aufhören wollte und das Licht in den Lampen wieder anginge! Was für einen schweren Brustkasten der Kerl hat! Sachte, sachte! Was ist los … ist er verrückt geworden?

Ist er tatsächlich verrückt geworden?

Jan schnellt hoch, auch die andern in der Nähe springen hinzu. Aber alles ist so schnell gegangen, daß sie nur noch das zusammenbrechende Mädel auffangen können, Blut und die Scherben eines Bierglases in ihrem Gesicht.

»Ich kann mit ihr machen, was ich will! Einen Dreck geht euch das an!«

Der Kerl hat den Teufel im Leib. Er hat nicht nur die Kräfte, auch die Behendigkeit eines wilden Tieres. Mit schweren Hieben verteidigt er sich gegen die auf ihn eindringenden Seeleute. Sein Gesicht scheint auseinanderzuklaffen dabei. Nur die Augen sind zu sehen, ein dunkles Licht. Der Wirt brüllt in den Fernsprechapparat hinein. Stühle und Biergläser werden geworfen. Die ganze Kneipe ist alarmiert. Wie eine Feder schraubt der rothaarige Heizer sich aus der Umklammerung von Armen und Fäusten, springt an die Decke, zerschlägt die Lampe.

»Die verfluchten Weibergeschichten!«

»Dicke Luft!«

»Muw, Heini!«

Das Trampeln schwerer Stiefel. Alle drängen zur Tür, auf die Straße hinaus. Aber es ist schon zu spät. Eine Kette breiter Gestalten – steife Hüte, Mützen, Knotenstöcke – verstellen den Weg.

»Die Bullen!« ruft ein Mädchen.

»Die Bullen …«

Kriminalbeamte!

Auch die Seitenstraße ist abgesperrt. Zwischen den steifen Hüten gleißen Helmspitzen. Die Budiken löschen ihre Lichter, schließen und verriegeln die Türen. Ein schrilles Pfeifensignal ertönt. Der Trupp aus der Lampelschen Kneipe setzt sich in Bewegung. »Das ist die ›Sitte‹!« – »De wöllt bloß de Wiebslüt!«

Der »Seehund« hat die Bauchtänzerin bei sich. – »Kuddl, hierher!« ruft einer ihm zu. »Nimm dein Fräulein mit. Wir machen an der Ecke einen Durchbruch!« Kuddl hat eine schwere Zunge. »Durchbruch!« wiederholt er. Und fügt noch hinzu: »Jimmy!« Das ist wie ein Versprechen: auf mich kannst du dich verlassen!

»Gesperrt!« rufen die Beamten.

»Platz!« prustet Kuddl Seehund.

Mit Jimmy an der Seite wirft er sich gegen die Polizeikette, hinter den beiden ein Keil von Gesichtern, Schultern und Armen. Die Kette zerreißt unter dem Ungestüm des Anpralls. Jimmy ist durch, andere folgen. Jedoch Kuddl ist schwerfällig, wenn es ans Laufen geht. Einen Mann hat er auf den Boden geworfen, ein paar weitere zur Seite geschoben. Aber die »Bullen« umringen ihn und verstellen den Weg. Die Pickelhauben ziehen blank, erhalten Verstärkung. Der ganze Trupp wird zurückgetrieben und eingekesselt.

Ein langer Polizeileutnant:

»Frauen dürfen passieren!«

»Männer hier antreten!«

Der Leutnant sichtet die eingetriebene Beute. Den Neger, die Südfranzosen und ein paar Dagos läßt er laufen. Alle, die blondhaarig sind, steif und deutsch aussehen, werden in Reihen hintereinander aufgestellt.

»Zu vieren aufstellen!«

»Abteilung marsch!«

Die Kolonne setzt sich in Bewegung.

 

Sie erwachen in dem Exerzierschuppen einer Infanteriekaserne, die auf dem Seemannsamt Gestellten, in Kneipen und Tanzsälen Zusammengetriebenen. Auf Grund des Paragraphen 78 der Wehrordnung zwangsweise aufgebrachtes Menschenmaterial! In normalen Zeiten genügt ein Raum in Stubengröße für die »Außerterminlich Gemusterten«, für die »A.G.s«, mit der die Marine neben den regelmäßigen Frühjahrs- und Herbstaushebungen ihre Mannschaftskontingente auffüllt. Aber die Zeiten sind unnormal, und alles geschieht krampfhaft und in größeren Ausmaßen.

Nach der Prüfung ihrer Ausweispapiere haben sie auf dem Fußboden gelegen. Bis Türen geschlagen wurden, der Häuserblock gegenüber zu dröhnen begann und schwere Stiefel durch die Halle polterten. Die militärische Ordnung beginnt, steht plötzlich mitten in dem jäh zusammengepackten Menschenhaufen.

»Aufstehen …!« Keiner ist unter ihnen, der den Zwang dieser Formel nicht kennt von den Schiffen und den Seewachen her. Aber das hier ist nicht die Hand aus der eigenen Mitte, einer von der Deckswache, der an der Schulter rüttelt: »Komm, hoch! Es ist Zeit!« Das ist etwas anderes: laut klappende Kommißstiefel, fremde, befehlerische Stimmen!

Sie richten sich auf, einer nach dem andern; ihre Knochen sind steif geworden auf dem harten Lager. »Diesmal hewt se uns!« – »Wenn ich wenigstens besoffen gewesen wäre! Nüchtern wie ein Fisch; und heute kommt meine Frau!« – »Einmal in Newcastle, New South Wales! Von einer Kneipe in die andere! Ich hab zuletzt bloß noch Laternen gesehen. Und als ich am andern Tag mit einem dicken Kopf aufwache, bin ich schon an Bord, auf so einem verfluchten Windjammer! Shanghaied! Vollmatrose für dreieinhalb Pfund im Monat, wo die Heuern an der Küste auf fünf standen! Aber gestern abend, und jetzt, das hier! Das ist das übelste Shanghaigeschäft, das ich gesehen habe!«

Der Feldwebel stöbert die letzten vom Boden hoch.

»Fertigmachen zur ärztlichen Untersuchung!«

Waschen. Kaffee-Empfangen. Ausziehen.

Das war morgens um fünf. Erst nach neun nahm die Untersuchung ihren Anfang. Ein Oberstabsarzt, ein Assistent, der Major, der die Eintragung in die Stammrolle macht, Schreiber, Sanitätspersonal. Auf dem einen Ende der Halle die Heizer, auf dem andern die Matrosen: zwei Haufen nackter Leiber, vom Warten stumpf gewordene Gesichter.

Es wird gemessen, gewogen, alles auf Formeln gebracht.

»Der nächste!«

Ein Stück löst sich aus dem Haufen, bewegt sich auf plumpen Schenkeln wie ein junger Ochse. Beruf Fischdampfermatrose, abgemustert nach vier Islandreisen.

»Schneller!« mahnt der Feldwebel.

»Ein Meter achtundsiebzig«, meldet der Schreiber.

»Hundertundsechzig Pfund!«

Der Arzt klopft die Lungen, horcht das Herz ab, das er mit Blaustiftstrichen auf die Brust markiert.

»Drei Kniebeugen!«

Der Fischdampferjantje! Seine Beine taugen für die schaukelnden Planken eines Schiffsdeckes; in Kniebeugen hat er sich niemals versucht.

»Tauglich«, sagt der Arzt.

»Marine«, schreibt der Major.

Der Oberstabsarzt tupft sich den Schweiß von der Stirn.

»Material, Herr Major! Bestes Material, diese A.G.s!«

»Weiter: der nächste!«

»Meter: 1,72; Gewicht: 60,5 Kilo; Brustumfang: 90:98.«

»Wo haben Sie die Narbe her?«

»Beim Ladungnehmen zwischen zwei Kisten gekommen!«

Der Arzt legt seine Finger unter die Hoden:

»Husten Sie! Noch mal!«

»Kehrt!«

»Fuß hoch!«

»Den andern!«

»Tauglich!«

»Marine«, schreibt der Major.

Draußen schlägt eine Uhr elf.

»Elf Uhr vier kommt meine Frau auf dem Bahnhof an.« Ein Mann mit grauer Haut und langen behaarten Armen: Heizer, sechs Monate auf Ostasienfahrt gewesen. Wie den Griff einer Faust fühlt er es um seinen Magen herum und dann hoch bis in den Hals.

»Bande!« würgt er.

Und noch einmal:

»Verfluchte Bande!«

Als ob er nichts gesagt hätte. Vor ihm steht ein Mann, Rücken, Hintern und Beine tätowiert, dreht sich nicht einmal um. Eng und dumpf ist es in der Halle. Der Geruch von schwitzendem Fleisch legt sich immer fester und erdrückender auf die Sinne.

Ein schweres Stück Arbeit, und der Herr Oberstabsarzt ist kein junger Mann mehr. Eine Herzneurose plagt ihn. Seine Knie zittern; kalter Schweiß steht ihm auf der Stirn. Er klopft und horcht, tastet Halsorgane ab, erkundigt sich nach Geschlechtsleiden, nach den Krankheiten der Eltern, prüft Sehstärke und Farbenempfindlichkeit der Augen.

»Kehrt! Fuß! Den andern!«

»Keinen Plattfuß bis jetzt. Herzen! Lungen! Erstklassig!

Kein Gramm zuviel Fett!«

»Wie heißen Sie?« –

Ein Kerl, ein bißchen tappig, aber Knochen wie ein Pferd – und Muskeln! Der Schädel ist eingepackt in Watte und Verbandzeug; nur ein Auge ist zu sehen.

»Was ist mit dem Kopf?«

»Gestern abend …«

Weiter sagt er nichts, sieht den Oberstabsarzt nur an mit dem einen freiliegenden Auge, Kuddl Bülow, der an der Straßenecke die Bauchtänzerin verteidigt und mit seinem Freund Jimmy ein halbes Dutzend Polizisten niedergeschlagen hat.

Tauglich! Marine! Auf die grauen Schiffe!

Der Herr Oberstabsarzt muß sich ein Glas Wasser bringen lassen. Er fühlt den harten Puls unter dem Uniformkragen. Wie in Nebeln sieht er die nackten Körper, keine Gesichter, nur Leiber, festes, gesundes Fleisch. Partien von Muskelbündeln, die an den Segelschooten und Fallen der Schiffe gehangen, im Kampf gegen Wind und Meeresweiten gewichtig geworden sind und monumental aussehen. Mattbraun schimmern die harten Rücken, Schultern und Arme der Matrosen, grau und pergamentfarben die Haut der Heizer.

»Weiter: der nächste!«

»L. 49. Herzfehler. G.V.!«

Der Klumpen wird kleiner. Die untersucht sind, dürfen sich anziehen. Der Oberstabsarzt hat die oberen Knöpfe seiner Uniform geöffnet; das schlaffe Fleisch unter seinen Backenknochen ist gerötet.

»Tauglich!«

»Tauglich!«

Zwei waren »D.U.« und sechs »G.V.«, das Gros »A.G.« für die Marinestation der Nordsee. Der Major schreibt eine Order für die Eisenbahndirektion aus. Drei Waggons fordert er an.

 

Jan Geulen hat ein paar Faustschläge gegen Schultern und Schläfen bekommen. Mit gesteigerter, fieberhafter Schärfe sah er nachher die plötzlich dunkel werdende Häuserschlucht, verlöschende Transparente, von Luftstößen grau und farblos an die Wände geklebte Fahnen, die lange Girlande von Straßenlaternen, an der sie vorbeigeführt wurden.

Als er morgens hochgerissen wurde, wußte er kaum, was geschehen war. Sein Kopf war ein Karussell. Der dicke Wirt, das blonde Mädchen, der rothaarige Heizer, Gesichter von Matrosen, die Polizisten, alles ging ringsherum.

Auskotzen! Das ist es! Wenn er erbrechen könnte, würde er diesen verfluchten Druck im Schädel loswerden. Aber es ging nicht, und das Dröhnen blieb. Betäubt stand er in dem schwitzenden Menschenhaufen, das Kinn auf die Brust gesunken, eine dumpfe Schwere in den Schenkeln. Wie ein Vieh ließ er sich auf die Dezimalwaage schieben – wiegen, abmessen, beklopfen.

Er steht in der vordersten Reihe. Drüben, hinter dem Kreidestrich, staut sich der Haufen Heizer. Beine, Bäuche. Mit den Armen wissen sie nicht wohin, ziehen sie bald den Leib hoch, gleiten wieder die Schenkel bis an die Knie hinunter damit. Glieder und Gesichter, eine graue, farblose Masse.

Geulen horcht auf.

»Dierck Butendrift – – ein Meter dreiundachtzig! 98:110.«

Der Arzt ruft den Major und läßt noch einmal messen. »Unglaublich, dieser Brustumfang! Großartig! Der erste Fall in meiner Praxis!«

Sie ziehen ihre Kleider an, warten noch, bis die zuletzt Eingelieferten ihre Habseligkeiten aus den Logishäusern oder von den Schiffen geholt haben. Dann müssen sie auf dem Kasernenhof antreten, zu vieren, Reihe hinter Reihe.

»Abteilung marsch!«

Durch die Straßen, zum Bahnhof!

Jan und Dierck sitzen zusammen. Die Waggontüren sind nicht abgeschlossen, aber auf den Stationen patrouillieren Posten an den Fenstern vorbei. Die in den Abteilen singen Soldaten- und Seemannslieder. Manche haben sich sogar geschmückt mit Blech- und Papierblumenkram, wie Bauernburschen, die von ihren Dörfern den Garnisonen zufahren, für die sie ausgehoben sind. Aus Kämmen und Seidenpapier haben sie Blasinstrumente improvisiert.

»O Susanna, wunderschöne Anna …«

Kleine Stationen fliegen an den Fenstern vorbei, wellblechgedeckte staubige Schuppen, dann die weite, rotblühende Heide. An einem Schlagbaum stehen Kinder, Mädchen mit mageren Armen und langen, unentwickelten Beinen. Sie stehen und winken.

In Bremen steigen ein paar zurückberufene Urlauber in den Zug. Zwei vom »König Albert« und einer vom »Prinzregent Luitpold« kommen zu Jan und Dierck ins Abteil. Der Prinzregentmann trägt ein silbernes Mützenband.

»Da sind wir wieder, noch drei Stunden bis Schlicktown!«

»Schlicktown« und »Schlickazien« nennen die Mariner Stadt und Land Wilhelmshaven wegen der feuchten Beschaffenheit des Bodens. – »Wo warst du, Alwin?« – »In Berlin!« antwortet der Heizer vom »Prinzregent«. »Der erste Urlaub seit anderthalb Jahren. Vierzehn Tage, aber nach fünf Tagen habe ich schon diesen Wisch gekriegt: ›Sofort zurückkommen!‹« – »Uns geht’s genau so. Ich möchte bloß wissen, was los ist!«

»Ihr habt ja schon wieder einen neuen Ersten Offizier auf ›Prinzregent‹!« Die Rekruten sind still geworden und hören zu. Die drei Urlauber sind vom Jahrgang 1911 und haben ihre Zeit bald hinter sich. »Drei Monate noch, dann haben wir’s überstanden!«

»Kommt ihr auch nach Wilhelmshaven?«

»Ja, in die II. Matrosen-Division!«

»Hammel!« bemerkt einer der Matrosen vom »König Albert«, stolz, am Ende seiner Dienstzeit zu stehen und sich zu den »alten Knochen« rechnen zu dürfen. »Quatsch!« sagt der Heizer. »Wir auf ›Prinzregent‹ machen keinen Unterschied zwischen Rekruten und alten Leuten. Wir halten alle zusammen.«

»Das ist auch nötig!« wendet er sich an Dierck und Jan. »Der Dienst auf den ›dicken Schiffen‹ ist so schon schwer genug.«

Der »König«-Matrose lenkt wieder ein. – »Ein hübscher Brocken!« sagt er, auf Dierck Butendrift weisend. »Gefahren …?« – »Ja, Segelschiffe! Zuletzt habe ich einen Dampfer gehabt, Levantelinie.« – – »Wilhelmshaven! Alles aussteigen!«

»Auf Wiedersehen, Jungens! Alwin Köbis heiße ich. Wenn ihr erst aus der Kaserne raus dürft, kommt doch mal auf unsern ›Prinzregent‹ oder abends in den Flottenkeller!«

In der Kaserne ist Hochbetrieb. Die Stuben sind voll belegt. Die Rekruten werden in mit Stroh vollgepackten Kellern untergebracht.

In der Nacht fährt Jan hoch. Es ist warm. Das frische Stroh und die atmenden Leiber strömen einen süßlichen Geruch aus, wie in einem Kuhstall. In dem Lichtkeil, den der Mond quer durch den Keller wirft, sieht er geblähte Mäuler, Hände wie Fausthandschuhe. An der Wand schnarcht einer. Und jetzt kann er nicht mehr in Schlaf kommen. Gedanken treiben durch ihn hindurch, steigen aus unbekannten Tiefen wie Wasserblasen und zerplatzen an der Oberfläche seines Bewußtseins.

Petroleumfässer – – Kriegsschiffe mit dicken, schwarzen Rauchfahnen – – eine Hand mit gekrümmten Fingern, als ob sie etwas festhalten wollte! So sah die Hand seiner Mutter aus, als er von Hause fortlief. Er mußte in der Nacht durch ihr Zimmer. Wie lange hat er schon nicht mehr daran gedacht! – –

Der Prinzregentheizer heute, Alwin Köbis: »Komm doch mal in den Flottenkeller – –!« Die Hand ist so mager gewesen – –

Endlich versinkt Jan Geulen wieder in Schlaf und in die zuckenden Bilder seines Blutes. Bis es Morgen wird, das Treiben von dreitausend erwachenden jungen Männern, dröhnende Korridore, Waschräume, Latrinen und die schreienden Stimmen der »Korporale vom Dienst« ihn hochreißen.

Am ersten Tage wurden die Rekruten in die Stammrolle der Marine aufgenommen. Alle erhielten dasselbe Kennzeichen »A.G.« und dieselbe Jahreszahl »1914«. Dann wurden sie eingekleidet, in die gleichen Hemden, Hosen, Stiefel gesteckt. Sie wurden geschoren, ganz kurz. Wie helle, glänzende Kugeln sahen die Schädel nachher aus, einer fast wie der andere.

Der Herr Kapitänleutnant schreitet die Reihe ab.

Langschädel und Rundschädel sieht er, anliegende und abstehende Ohren, energische Mundpartien und fliehende Kiefer, kühn vorspringende Nasen und ganz bescheidene Riechwucherungen: eine erschreckende Mannigfaltigkeit, eine Blindheit der Natur, die in das System nicht hineinpaßt und die korrigiert werden muß.

»Abzählen!« – »Eins«, beginnt Butendrift am rechten Flügel »Zwei, drei …« Jeder reißt seinen Kopf herum und brüllt dem Nebenmann die Zahl ins Ohr.

»Feldwebel, die Rekruten müssen geschliffen werden!«

Und der Feldwebel instruiert das Ausbildungspersonal, die Sergeanten, Maate und Korporale: »… Schliff! Doppelschliff, denn sie haben es mit A.G.s mit außerterminlich Gemusterten, zu tun! Unsichere seefahrende Bevölkerung, die erst zusammengesucht werden mußte!«

Die Arbeit beginnt, die in Korporalschaften aufgeteilte Mannschaft marschiert auf der Stelle, springt über Hindernisse, dreht sich im Kreis.

»In Gruppenkolonnen aufmarschiert!«

»Kehrt marsch!«

»Halt!«