Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2017
Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Copyright © 2016 by Jennifer Ackerman
Ilustrationen Innenteil John Burgoyne
Mitarbeit Hubert Mania
Die Übersetzerin dankt Holger Mihm für die große Unterstützung bei allen Sach- und Fachfragen
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel «The Genius of Birds» bei Penguin Press.
Redaktion: Ulrike Gallwitz
Umschlaggestaltung nach dem Original von Penguin Press (Gestaltung: Gabriele Wilson)
Umschlagabbildung: Eunike Nugroho
Foto der Autorin: Robert Llewellyn
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Printausgabe 978-3-498-00098-1 (1. Auflage 2017)
ISBN E-Book 978-3-644-00068-1
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-00068-1
Für Karl, mit all meiner Liebe
Vögel, so hieß es lange abfällig, seien dumm. Knopfaugen und kein Grips. Reptilien mit Flügeln und Hühnerverstand. Kleine Trottel. Sie fliegen gegen Fenster, hacken auf ihr Spiegelbild ein, rauschen in Überlandleitungen, flattern in den Untergang.
Unsere Sprache verrät unsere Respektlosigkeit. Jemanden, dem das Schicksal hart zusetzt, nennen wir einen «Pechvogel» oder einen «Unglücksraben». «Der hat ’ne Meise», sagt man über jemanden, den man für nicht ganz bei Verstand hält. Ein zickiges, albernes Mädchen ist eine «dumme Pute», ein erfolgloser Politiker eine «lahme Ente», und wer viel Alkohol trinkt, eine «Schnapsdrossel» oder ein «Schluckspecht». «Weiß der Kuckuck», sagt man, weil man das Wort Teufel lieber nicht ausspricht. «Hahnrei» ist das etwas altmodische Wort für einen betrogenen Ehemann, und eine «Rabenmutter» kümmert sich nicht um ihre Kinder. Bei dem «piept es wohl», äußert man spöttisch über eine dumme, törichte oder schusselige Person mit einem «Spatzenhirn». Der entsprechende englische Ausdruck «bird brain» tauchte übrigens zum ersten Mal in den frühen 1920ern auf; Vögel wurden für bloße fliegende, pickende Automaten gehalten, in deren winziges Gehirn nicht der kleinste Gedanke hineinpasst.
Diese Ansicht ist Schnee von gestern. Seit etwa zwei Jahrzehnten berichten Feldforscher und Labore auf der ganzen Welt von Hirnleistungen bestimmter Vogelarten, die sich mit denen von Primaten vergleichen lassen. Da ist zum Beispiel ein Vogel, der aus Beeren, Glasscherben und Blüten bunte Muster kreiert, um Weibchen anzulocken, andere Vögel verstecken bis zu 33000 Samen auf einer Fläche von mehreren Dutzend Quadratmeilen und wissen noch Monate später, wo sie vergraben sind. Und da ist die Spezies, die ein klassisches Rätsel fast genauso schnell löst wie ein fünfjähriges Kind, und wieder eine andere ist Spezialist im Schlösserknacken. Dann gibt es Vögel, die können zählen und einfache Rechenaufgaben lösen, sich selbst ihr Werkzeug herstellen und sich im Takt von Musik bewegen, einfache Prinzipien der Physik begreifen, sich an die Vergangenheit erinnern und die Zukunft planen.
Bisher waren es andere Tiere, die allen Ruhm für ihre fast menschliche Klugheit einheimsten: Schimpansen machen Speere aus Stöcken, um kleinere Primaten zu jagen, und Delfine kommunizieren über ein komplexes System aus Pfiffen und Klicklauten. Menschenaffen trösten einander, und Elefanten trauern um den Verlust eines Verwandten.
Nun haben die Vögel sich dazugesellt. Eine Unzahl neuerer Forschungen hat die alten Ansichten revidiert, und wir begreifen allmählich, dass Vögel sehr viel intelligenter sind, als wir uns jemals vorgestellt haben – in mancher Hinsicht stehen sie unseren Primaten-Verwandten sogar näher als ihren Reptilien-Verwandten.
Es war in den 1980er Jahren, als der charmante und listige Graupapagei namens Alex zusammen mit der Wissenschaftlerin Irene Pepperberg der Welt vorführte, dass manche Vögel offenbar die kognitive Intelligenz von Primaten besitzen. Bevor Alex mit 31 Jahren (nach der Hälfte der erwartbaren Lebensspanne) plötzlich starb, beherrschte er ein Vokabular von Hunderten englischer Bezeichnungen für Gegenstände, Farben und Formen. Er erfasste den kategorialen Unterschied von gleich und verschieden für Zahl, Farbe und Form. Wenn ihm auf einem Tablett diverse Objekte verschiedener Farben und unterschiedlichen Materials präsentiert wurden, konnte er die Anzahl der Objekte gleichen Typs nennen. «Wie viele grüne Schlüssel?», fragte Pepperberg zum Beispiel und breitete mehrere grüne und orangefarbene Schlüssel und Korken vor Alex aus. In acht von zehn Fällen war seine Antwort richtig. Er konnte bei Fragen nach Additionsaufgaben mit Zahlen antworten. Zu seinen größten Triumphen, sagt Pepperberg, gehörten sein Erfassen abstrakter Ideen, darunter auch so etwas wie die Idee von Nichts; seine Fähigkeit, aus der Position einer Leerstelle innerhalb einer Zahlenreihe die entsprechende Ziffer zu erschließen; und schließlich seine Fähigkeit, Wörter so auszusprechen, wie Kinder es tun: «Nu-Hu-SS». Vor Alex dachten wir, wir seien die Einzigen oder fast die Einzigen, die Wörter benutzen können. Aber Alex konnte nicht nur Wörter verstehen, er konnte sie bei seinen Antworten im Gespräch auch benutzen, um mit Stringenz, Intelligenz und vielleicht sogar Gefühl zu reagieren. Seine letzten Worte zu Pepperberg, als sie ihn in der Nacht, bevor er starb, wieder in seinen Käfig setzte, waren sein täglicher Refrain: «Alles Gute, bis morgen. Ich liebe dich.»
In den 1990ern kamen dann aus Neukaledonien, einer kleinen Insel im Südpazifik, nach und nach erste Berichte über Krähen, die sich in der freien Natur ihr Werkzeug selbst herstellen und ihre spezielle Technik offenbar auch von Generation zu Generation weitergeben – eine Leistung, die an die menschliche Kultur erinnert und beweist, dass für raffinierten Werkzeuggebrauch kein Primatenhirn erforderlich ist.
Als die Wissenschaftler diesen Krähen Rätsel vorsetzten, um ihre Problemlösefähigkeit zu testen, verblüfften die Vögel sie mit ihren schlauen Lösungen. 2002 fragten Alex Kacelnik und seine Kollegen an der Universität Oxford die eingefangene neukaledonische Krähe namens Betty: «Kommst du an das Fressen, das sich außerhalb deiner Reichweite in einem kleinen Eimer am Ende dieser Röhre befindet?» Betty machte die Forscher fassungslos, indem sie spontan ein Stück Draht zu einem Haken bog und den kleinen Eimer zu sich heranzog.
Bei den Überschriften mancher Artikel, die derzeit die wissenschaftlichen Zeitschriften füllen, kann man einfach nur staunen: «Sind wir uns schon begegnet? Tauben erkennen vertraute menschliche Gesichter wieder»; «Tierische Syntax: Kohlmeisen zwitschern in ganzen Sätzen»; «Sprachdiskriminierung unter Reisfinken»; «Küken lieben harmonische Musik»; «Persönlichkeit begründet Führungsanspruch bei Weißwangengänsen» und «Tauben können ebenso gut zählen wie Primaten».
Spatzenhirn: Die Verunglimpfung rührte von dem Glauben her, die Gehirne von Vögeln seien so winzig, dass sie nur für instinktives Verhalten reichen. Ihr Gehirn besitze nicht wie unseres eine Hirnrinde, wo all die «schlauen» Sachen passieren. Wir dachten, Vögel hätten aus gutem Grund einen winzigen Kopfinhalt: für ihre luftige Fortbewegung; um der Schwerkraft zu trotzen; um zu schweben, zu tanzen, zu tauchen, tagelang durch die Luft zu segeln, Tausende von Meilen als Zugvögel zurückzulegen und sich in sehr engen Räumen zu bewegen. Ihre Beherrschung des Luftraums, so schien es, hatten die Vögel mit dem Verlust kognitiver Fähigkeiten bezahlt.
Bei näherem Hinsehen haben wir umlernen müssen. Vögel besitzen in der Tat ein sehr anderes Gehirn als wir – kein Wunder. Menschen und Vögel haben sich seit sehr, sehr langer Zeit unabhängig voneinander entwickelt: Den letzten gemeinsamen Vorfahren gab es vor mehr als 300 Millionen Jahren. Einige Vögel haben übrigens für ihre Körpergröße ein relativ großes Gehirn, genauso wie wir. Außerdem scheint die Größe, wenn es um Intelligenz geht, weniger wichtig zu sein als die Anzahl der Neuronen sowie ihre Positionierung und die Art und Weise, wie sie miteinander verbunden sind. In einigen Vogelhirnen drängen sich die Neuronen an wichtigen Stellen in sehr großen Mengen und einer Dichte, die der bei Primaten ähnelt, und sie sind kaum anders platziert und verknüpft als in unserem Gehirn. Das könnte zu großen Teilen erklären, wieso bestimmte Vögel über derart raffinierte kognitive Fähigkeiten verfügen.
Wie unser Gehirn ist auch das der Vögel «lateralisiert», d.h., bestimmte Bereiche sind auf bestimmte Funktionen spezialisiert, das Gehirn hat «Seiten», die verschiedene Arten von Informationen verarbeiten. Es besitzt außerdem die Fähigkeit, alte Gehirnzellen genau dann durch neue zu ersetzen, wenn sie am dringendsten benötigt werden. Und obwohl ein Vogelhirn auf gänzlich andere Weise als unseres organisiert ist, hat es doch ähnliche Gene und neuronale Schaltkreise und ist zu äußerst erstaunlichen intellektuellen Höchstleistungen in der Lage. Apropos Verstand: Elstern können sich selbst im Spiegel erkennen, haben also eine Vorstellung vom «Ich», die wir einst Menschen, Menschenaffen, Elefanten und Delfinen und einem hoch entwickelten sozialen Bewusstsein vorbehalten glaubten. Der Westliche Buschhäher benutzt machiavellische Taktiken, um sein Futter vor anderen Hähern zu verstecken – allerdings nur, wenn er das Futter selbst gestohlen hat. Diese Vögel scheinen irgendwie zu wissen, was andere Vögel «denken», sie können sich womöglich in sie hineinversetzen. Sie behalten auch, was für Futter sie wo vergraben haben – und wann, sodass sie sich den Happen wieder holen können, bevor er schlecht wird. Diese Fähigkeit, sich an das Was, Wo und Wann eines Ereignisses zu erinnern, wird episodisches Gedächtnis genannt und legt für einige Wissenschaftler die Vermutung nahe, dass diese Häher vielleicht in der Lage sind, im Geiste in die Vergangenheit zurückzuwandern – was einst als Schlüsselkomponente für jene Art mentaler Zeitreisen galt, zu denen ausschließlich Menschen fähig seien.
Wir wissen inzwischen auch, dass Singvögel ihre Lieder auf dieselbe Weise lernen, wie wir Sprachen lernen, und ihre Melodien dann weiterreichen; diese Tradition der Überlieferung begann schon vor zig Millionen Jahren, als unsere Primatenvorfahren noch auf allen vieren herumkrochen.
Manche Vögel sind geborene Euklidianer und können sich mit Hilfe geometrischer Merkmale und Landmarken im dreidimensionalen Raum orientieren, durch unbekanntes Territorium navigieren und verborgene Schätze lokalisieren. Andere wiederum sind geborene Buchhalter. 2015 fanden Forscher heraus, dass neugeborene Küken Zahlen räumlich von links nach rechts «verorten», genau wie die meisten Menschen (links bedeutet weniger; rechts bedeutet mehr). Das würde heißen, dass Vögel dasselbe Von-links-nach-rechts-Orientierungsschema benutzen wie wir – eine kognitive Strategie, die unserer menschlichen Befähigung zu höherer Mathematik zugrunde liegt. Frisch geschlüpfte Vögel können auch Größenverhältnisse erfassen und lernen, aus einer Reihe von Objekten eines auszuwählen, und zwar aufgrund seiner Position in einer Reihe (dritter, achter, neunter Platz). Sie können außerdem einfache mathematische Operationen wie Addieren und Subtrahieren ausführen.
Ein Vogelhirn mag klein sein, aber lassen Sie sich von seinem Gewicht nicht täuschen.
Mir sind Vögel nie dumm vorgekommen. Im Gegenteil, wenige andere Geschöpfe sind so aufgeweckt, so durch und durch lebendig und geschickt, so voll unermüdlichem Schwung. Natürlich kenne ich die Geschichte von dem Raben, der einen Pingpongball aufzuknacken versucht, vermutlich weil er sich darin etwas Eiähnliches erhofft. Ein Freund, der in der Schweiz Urlaub machte, hat beobachtet, wie ein Pfau seinen breiten Schwanz bei heftigem Wind aufzufächern versuchte. Er kippte um, stand wieder auf, spreizte erneut die Federn und fiel wieder um, sechs- oder siebenmal hintereinander. Und in jedem Frühling attackieren die Rotkehlchen, die in unserem Kirschbaum nisten, den Außenspiegel unseres Autos, als wäre er ein Rivale, picken wie wild auf ihr eigenes Spiegelbild ein und kacken unterdessen die Wagentür voll.
Doch wer von uns ist nicht auch schon über die eigene Eitelkeit gestolpert oder hat sich sein Ebenbild zum Feind erkoren?
Ich beobachte Vögel schon fast mein ganzes Leben lang und bewundere seit jeher ihren Mut, ihre Konzentriertheit und diese energiegeladene, hoch bewegliche Vitalität, die eigentlich für ihren winzigen Körper zu viel ist. Wie Louis Halle einst schrieb: «Ein Mensch wäre in kürzester Zeit vollkommen erschöpft von einer solch intensiven Lebensweise.» Die Vögel in meiner alten Wohngegend schienen die Anforderungen der Welt mit lebhafter Neugier und Selbstsicherheit zu bewältigen. Die Amerikanerkrähen etwa, die mit fürstlicher Besitzerarroganz um unsere Mülltonnen herumstrichen, machten den Eindruck höchst erfindungsreicher Geschöpfe. Und einmal sah ich, wie eine Krähe eine Nuss mitten auf einer Straße platzierte, um sie von einem Auto zerkleinern zu lassen, und anschließend mit der eingesammelten Beute an einen sicheren Platz flog und sie verschlang.
In einem Jahr nistete eine Östliche Kreischeule nur wenige Meter von meinem Küchenfenster entfernt im Nistkasten eines Ahornbaums. Tagsüber schlief die Eule, nur ihr runder Kopf war zu sehen, perfekt eingerahmt von dem runden Loch, das in meine Richtung zeigte. Doch nachts verließ die Eule den Nistkasten, um auf die Jagd zu gehen. Und in der Morgendämmerung sah ich dann die Zeichen ihres großartigen Erfolgs – den Flügel einer Trauertaube oder einen Singvogel, der wild zuckend halb aus dem Kasten hing, bis er hineingezogen wurde.
Sogar die Knuttstrandläufer, denen ich an den Stränden der Delaware-Bucht begegnete und die nicht gerade die Hellsten sind, wussten offenbar, wo sie wann sein mussten, um an die vielen köstlichen Eier zu gelangen, die die Pfeilschwanzkrebse im Frühling bei Vollmond legen. Welcher Himmelskalender verriet diesen Vögeln, wohin sie ziehen mussten, und schickte sie gen Norden?
Vieles über Vögel lernte ich von zwei Männern, die beide Bill hießen. Der eine war mein Vater, Bill Gorham, der mich, seit ich sieben oder acht war, in der Umgebung unseres Wohnorts in Washington, D.C., zum Vögelbeobachten mitnahm. Es war die Washingtoner Version des schwedischen gökotta – früh aufstehen, um die Natur zu erkunden – und gehörte zu meinen eindrücklichsten Kindheitsfreuden. An Frühlingswochenenden verließen wir das Haus morgens, wenn es noch dunkel war, und machten uns auf in die Wälder am Potomac-Fluss, um den geheimnisvollen Begrüßungschor mitzuerleben, jenen Augenblick, wenn die Vögel mit tausend Stimmen «Musik, die wimmelt wie das All / Doch nah wie Mittag ist» erklingen lassen, wie Emily Dickinson schrieb.
Mein Vater lernte die Vögel als Pfadfinder durch einen fast blinden Mann kennen, der Apollo Taleporos hieß. Der alte Mann verließ sich allein auf seine Ohren, wenn er eine Vogelart bestimmte. Meisenwaldsänger. Kronwaldsänger. Rötelgrundammer. «Die Vögel sind da!», rief er den Jungen immer zu. «Los, findet sie!» Mein Vater wurde sehr gut darin, Vögel an ihrem Ruf zu identifizieren – er erkannte den melodiösen, flötenartigen Gesang der Walddrossel, das weiche Wi-tschi-ti, Wi-tschi-ti des Weidengelbkehlchens oder den hellen, pfeifenden Ruf einer Weißkehlammer.
Wenn ich mit meinem Vater im späten Licht der Sterne durch den Wald wanderte, lauschte ich etwa dem heiseren Gesang eines Carolina-Zaunkönigs und fragte mich, was so ein Vogel wohl sagte, falls er überhaupt etwas sagte, und wie die Vögel ihre Lieder lernten. Einmal stieß ich auf eine junge Dachsammer, die offenbar gerade ihr Lied übte. Sie hockte irgendwo unsichtbar auf einem niedrigen Zweig einer Zeder, begann mit ihren Pfiffen und Trillern, machte einen Fehler und begann ruhig und hartnäckig so lange von vorn, bis sie die richtige Abfolge endlich beherrschte. Später erfuhr ich, dass diese Ammer sich ihre Lieder nicht vom eigenen Vater abhört, sondern von den Vögeln der Gegend, in der sie geboren wird – ebenjenen Wäldern und Flüssen, die ich von den Wanderungen mit meinem Vater kannte –, dort wird der spezielle Dialekt seit Generationen weitergegeben.
Den zweiten Bill lernte ich im Sussex Bird Club kennen, als ich in Lewes, Delaware, wohnte. Bill Frech brach jeden Morgen um fünf Uhr auf und beobachtete Watvögel und all die verschiedenen Sperlingsvogelarten, die in den Wäldern und Feldern um Lewes zu Hause waren. Er war ein geduldiger, hingebungsvoller und unermüdlicher Beobachter und notierte sich akribisch, welche Vögel er wo und wann sah; seine Aufzeichnungen landeten schließlich bei der Delmara Ornithological Society als Teil der offiziellen staatlichen Vogelverzeichnisse. Dieser Bill war fast taub, aber er war ein Meister darin, Vögel visuell über den generellen Eindruck, die Größe und die Form zu identifizieren. Er zeigte mir, wie man einen Goldzeisig hoch in der Luft an seinem wellenförmigen Flug erkennt und dass man Watvögel anhand ihres Charakters, ihres Verhaltens und ihres Erscheinungsbildes unterscheiden kann, ähnlich wie man Freunde aus der Ferne an ihrem Gang und insgesamt an ihrer Körpersprache erkennt. Er erklärte mir den Unterschied zwischen der gelegentlichen und der intensiveren, konzentrierteren Vogelbeobachtung und hielt mich dazu an, die Vögel nicht nur zu erkennen, sondern auch ihr Handeln und Verhalten zu verfolgen.
Die Vögel, die ich bei diesen und anderen Ausflügen beobachtete, schienen durchaus zu wissen, was sie taten. Genau wie der Schwarzschnabelkuckuck, den ein Freund direkt über dem Nest von Ringelspinnerraupen hocken sah: Der Kuckuck wartete, bis die Raupen aus dem Nest krochen, um den Baum hinaufzuklettern, und pflückte dann eine nach der anderen ab, wie Sushi von einem Förderband.
Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass die Elstern und Häher, die Meisen und Reiher, die ich für ihre Federn und ihren Flug, ihre Lieder und ihre Rufe so sehr bewunderte, über mentale Fähigkeiten verfügten, die denen meiner Primatenverwandtschaft entsprechen – oder sie sogar übertreffen.
Wie können Geschöpfe mit einem nussgroßen Gehirn solche raffinierten mentalen Meisterstücke vollbringen? Was hat ihre Intelligenz geformt? Ist sie wie unsere Intelligenz beschaffen, oder unterscheidet sie sich von ihr? Was haben uns ihre kleinen Gehirne über unsere großen zu erzählen, falls sie überhaupt etwas dazu zu sagen haben?
Intelligenz ist ein schwammiger Begriff und selbst für unsere eigene Gattung weder einfach zu definieren noch einfach zu messen. Für den einen Psychologen ist es «die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen oder zu profitieren». Für den anderen «die Fähigkeit, Fähigkeiten zu erwerben» – eine Definition, die ebenso zirkulär ist wie die des Harvard-Psychologen Edwin Boring: «Intelligenz ist das, was mit Intelligenztests gemessen wird». Wie Robert Sternberg, ein ehemaliger Dekan an der Tufts University einmal spöttelte: «Es scheint ebenso viele Definitionen von Intelligenz zu geben wie […] Experten, die gebeten wurden, sie zu definieren.»
Wenn es generell um die Beurteilung der Intelligenz von Tieren geht, sollten Wissenschaftler vielleicht darauf schauen, wie erfolgreich sie in vielen unterschiedlichen Umgebungen überleben und sich reproduzieren. Und nach diesen Kriterien übertrumpfen Vögel nahezu sämtliche anderen Wirbeltiere, eingeschlossen Fische, Amphibien, Reptilien und Säugetiere. Sie sind die einzigen wild lebenden Tiere, die fast überall anzutreffen sind. Sie leben in sämtlichen Teilen des Globus, vom Äquator bis zu den Polen, in den am tiefsten gelegenen Wüsten ebenso wie auf den höchsten Gipfeln, praktisch in jedem Habitat – Land, Meer und Süßwasser. In biologischen Begriffen: Sie besetzen eine sehr große ökologische Nische.
Als Klasse gibt es Vögel schon seit mehr als 100 Millionen Jahren. Sie stellen eine der großen Erfolgsgeschichten der Natur dar, indem sie immer neue Strategien des Überlebens, ihre eigenen charakteristischen Formen von Einfallsreichtum erfinden, die, zumindest in mancher Hinsicht, die unsrigen zu übertreffen scheinen.
Irgendwo im Dunkel der Zeit lebte einst der Urvogel, der gemeinsame Vorfahr aller Vögel, vom Kolibri bis zum Reiher. Heute gibt es etwa 10400 verschiedene Vogelarten – mehr als doppelt so viele wie Säugetierarten: Triele und Kiebitze, Kakapos und Milane, Nashornvögel und Schuhschnäbel, Chukarsteinhühner und Chacalakas. Als Wissenschaftler in den späten 1990ern die Gesamtzahl der wilden Vögel auf dem Planeten schätzten, kamen sie auf 200 bis 400 Milliarden einzelne Vögel. Das sind etwa 30 bis 60 lebende Vögel pro Person. Die Behauptung, Menschen seien erfolgreicher oder höher entwickelt, hängt entschieden davon ab, wie man diese Begriffe definiert. Denn schließlich geht es in der Evolution nicht um Höherentwicklung, es geht ums Überleben. Es geht darum, dass man lernt, die Probleme, die einem die Umwelt stellt, zu lösen, etwas, worauf Vögel sich seit sehr, sehr langer Zeit ganz hervorragend verstehen. Weshalb ich es umso überraschender finde, dass viele von uns – selbst die, die sie lieben – sich so schwer damit tun, den Gedanken zu schlucken, dass Vögel vielleicht auf eine Weise schlau sind, die wir uns gar nicht vorstellen können.
Vielleicht weil sie so anders als Menschen sind, finden wir es schwierig, ihre mentalen Fähigkeiten wirklich zu würdigen. Vögel sind Dinosaurier; sie stammen von den wenigen glücklichen Anpassungsfähigen ab, die die Katastrophen – welche auch immer – überlebt haben, an denen ihre Cousins und Cousinen zugrunde gingen. Wir sind Säugetiere und verwandt mit den furchtsamen, winzigen, spitzmausähnlichen Geschöpfen, die erst dann im Schatten der Dinosaurier auftauchten, als die meisten dieser Tiere schon ausgestorben waren. Und während unsere Säugetierverwandten immer größer wurden, wurden die Vögel im Verlauf desselben Prozesses natürlicher Auslese immer kleiner. Während wir lernten, uns aufzurichten und auf zwei Beinen zu gehen, perfektionierten sie Leichtigkeit und Flug. Während unsere Neuronen sich zu Rindenschichten gruppierten, um komplexes Verhalten zu erzeugen, entwickelten die Vögel eine vollkommen andere neuronale Architektur; sie unterscheidet sich zwar von der der Säugetiere, ist aber – zumindest in mancher Hinsicht – ebenso raffiniert. Genauso wie wir haben sie herauszufinden versucht, wie die Welt funktioniert; und gleichzeitig war die Evolution mit dem Ausbau und der Feinanpassung ihrer Gehirne beschäftigt und stattete ihren Verstand mit jener enormen Leistungsstärke aus, die sie heute besitzen.
Vögel lernen. Sie lösen neue Probleme und erfinden originelle Lösungen für alte. Sie stellen Werkzeug her und benutzen es. Sie zählen. Sie imitieren das Verhalten anderer. Sie erinnern sich, wo sie Dinge abgelegt haben.
Auch wenn ihre mentale Leistung nicht ganz unserem komplexen Denken entspricht, so enthält sie doch Ansätze dazu – zum Beispiel so etwas wie Einsicht, eine unserer kostbarsten kognitiven Fähigkeiten, die man als das plötzliche Auftauchen einer Lösung ohne langes vorheriges Herumprobieren definiert hat. Häufig bedeutet das ein mentales Simulieren des Problems mit einem plötzlichen «Aha»-Moment, wenn die Lösung sich als blitzartige Erkenntnis meldet. Ob Vögel tatsächlich über Einsicht verfügen, ist noch nicht entschieden, aber bestimmte Arten scheinen das Prinzip von Ursache und Wirkung zu verstehen – einen der Grundbausteine von Einsicht. Dasselbe gilt für die «native Theorie», d.h. das differenzierte Verständnis für etwas, das ein anderes Individuum weiß oder denkt. Ob Vögel diese Fähigkeit in vollem Umfang besitzen, ist umstritten, aber Mitglieder bestimmter Arten scheinen in der Lage zu sein, die Perspektive eines anderen Vogels einzunehmen oder zu spüren, was er braucht – beides notwendige Bestandteile der nativen Theorie. Einige Wissenschaftler halten diese Grundbausteine für das Kennzeichen von Wahrnehmung überhaupt und glauben, dass sie möglicherweise die Vorläufer solch hochkomplexer menschlicher Fähigkeiten wie Schlussfolgern und Planen, Empathie und Einsicht sowie Metakognition sind, wobei Letzteres das Wissen um die eigenen kognitiven Prozesse meint.
Natürlich sind all das menschliche Maßstäbe für Intelligenz. Wir können nicht umhin, den Verstand von anderen an unserem zu messen. Aber Vögel besitzen auch Möglichkeiten, Wissen zu erwerben, von denen wir nichts ahnen und die wir nicht einfach als instinkthaft oder vorprogrammiert abtun können.
Welche Art von Intelligenz erlaubt es einem Vogel, ein fernes Unwetter vorauszuahnen? Oder den Weg zu einem Ort zu finden, an dem er noch nie war und der vielleicht viele tausend Meilen entfernt ist? Oder die komplexen Gesänge Hunderter anderer Arten zu imitieren? Oder Zigtausende Körner auf einer Fläche von mehreren hundert Quadratmeilen zu verstecken und sechs Monate später noch zu wissen, wo? (Ich würde bei dieser Art von Aufgaben genauso sicher versagen, wie Vögel vermutlich an den meinen scheitern würden.)
Vielleicht ist Genie das bessere Wort. Der Begriff, der dieselbe Wurzel wie Gen hat, leitet sich her von dem lateinischen Wort genius und bedeutete ursprünglich «persönlicher Schutzgott, der von Geburt an da ist; angeborene Fähigkeit oder Neigung». Später meinte genius dann angeborene Fähigkeit, schließlich (dank Joseph Addisons Essay «Genie» von 1711) außergewöhnliches Talent, sei es angeboren oder erworben.
Erst neuerdings ist Genie auch als die Fähigkeit definiert worden, «etwas einfach gut tun zu können, was andere nur schlecht tun können», und beschreibt ein mentales Talent, das außergewöhnlich ist, verglichen mit dem, was andere der eigenen oder einer fremden Spezies können. Tauben sind geniale Navigatoren und uns darin bei weitem überlegen. Spottdrosseln können unendlich viel mehr Lieder lernen und behalten als die meisten anderen Singvogelarten. Buschhäher und Tannenhäher haben ein Gedächtnis für ihre Verstecke, neben dem unseres alt aussieht.
In diesem Buch verstehe ich unter Genie die Gabe, zu wissen, was man tut – seine Umgebung «zu kapieren», Dinge zu erfassen und herauszufinden, wie man seine Probleme löst. Mit anderen Worten, es ist das Vermögen, den Herausforderungen der Gesellschaft und der Umwelt scharfsinnig und geschmeidig zu begegnen; und darüber scheinen Vögel in reichlichem Maße zu verfügen. Häufig gehört dazu auch das Talent, etwas Neues, Innovatives zu tun – zum Beispiel den Vorteil neuer Nahrungsquellen zu nutzen oder zu lernen, sie auszuschöpfen. Das klassische Beispiel dafür lieferten vor Jahren Meisen in Großbritannien. Kohlmeisen ebenso wie Blaumeisen kriegten den Dreh raus, wie man die Pappverschlüsse von Milchflaschen öffnet, die morgens an die Haustüren geliefert wurden. Es ging darum, an die fette Sahne oben in der Flasche zu kommen. (Vögel können die Kohlenhydrate in Milch nicht verdauen, nur die Lipide.) Die Meisen lernten den Trick zuerst 1921 in der Stadt Swaythling; 1949 wurde dieses Verhalten dann schon an vielen hundert Orten in England, Wales und Irland beobachtet. Offensichtlich hatte die Technik sich dadurch verbreitet, dass ein Vogel sie beim anderen abguckte – eine beeindruckende Demonstration sozialen Lernens.
Das «Spatzenhirn» hatte sich endlich für seinen verunglimpfenden Gebrauch gerächt. Das heißt, die angeblich zentralen Unterscheidungsmerkmale zwischen Vögeln und unseren nächsten Primatenverwandten – Werkzeugbau, Kultur, die Fähigkeit, zu schlussfolgern, sich an die Vergangenheit zu erinnern und an die Zukunft zu denken, die Fähigkeit, den Blickwinkel eines anderen einzunehmen sowie voneinander zu lernen – scheinen sich, eines nach dem anderen, in Luft aufzulösen. Viele unserer hochgeschätzten Formen von Intelligenz scheinen sich – entweder teilweise oder im Ganzen – bei den Vögeln ziemlich unabhängig und sehr raffiniert direkt neben den unsrigen entwickelt zu haben.
Wie kann das sein? Wie können Geschöpfe, die evolutionär seit 300 Millionen Jahren voneinander getrennt sind, ähnliche kognitive Strategien, Talente und Fähigkeiten entwickeln?
Zuerst einmal verbindet uns biologisch mehr mit Vögeln, als man glauben möchte. Die Natur ist eine Meisterin der Improvisation, sie hält an biologischen Details fest, die sich als nützlich erwiesen haben, und passt sie neuen Zwecken an. Vieles, was uns heute von anderen Geschöpfen trennt, ist nicht durch die Bildung neuer Gene oder Zellen, sondern durch leiseste Verschiebungen im Gebrauch der schon existierenden entstanden. Diese gemeinsame biologische Grundlage macht es möglich, dass wir andere Organismen als Modelle benutzen können, um unser eigenes Gehirn und unser eigenes Verhalten zu verstehen – dass wir, zum Beispiel, den Vorgang des Lernens an der riesigen Meeresschnecke Aplysia studieren, das Phänomen der Angst an Zebrafischen und das der Zwangsstörung an Border Collies.
Auch den Herausforderungen der Natur begegnen wir auf ähnliche Weise wie Vögel, selbst wenn wir sie auf unterschiedlichen evolutionären Wegen erworben haben. So etwas nennt sich konvergente Evolution, und in der Natur ist sie überall zu finden. Die übereinstimmende Form der Flügel bei Vögeln, Fledermäusen und jenen Reptilien, die Flugsaurier genannt wurden, ist ein Resultat der Probleme, die sich beim Fliegen stellten. Tiere, die am Baum des Lebens so weit voneinander entfernt sind wie Bartenwale und Flamingos, entwickelten, vor die Aufgabe gestellt, ihre Nahrung aus dem Wasser herauszufiltern, erstaunliche Ähnlichkeiten in Verhalten, Körpergestalt (große Zungen und behaartes Gewebe, genannt Lamellen) und sogar in der Körperausrichtung. Wie der Evolutionsbiologe John Endler hervorhebt: «Immer wieder registrieren wir bei absolut nicht verwandten Gruppen vielerlei Übereinstimmungen in Form, Erscheinung, Anatomie, Verhalten und anderen Aspekten. Warum also nicht auch im Denkvermögen?»
Dass sowohl Menschen als auch bestimmte Vogelarten ein für ihr Körpergewicht großes Gehirn haben, weist mit ziemlicher Sicherheit auf konvergente Evolution hin. Ebenso die Entwicklung derselben Muster von Hirnaktivität im Schlaf. Wie auch die Entwicklung analoger Gehirnschaltkreise und -abläufe beim Erlernen von Singen und Sprechen. Darwin sah im Vogelgesang «die nächste Analogie mit der Sprache». Er hatte recht. Die Parallelen sind unheimlich. Besonders wenn man den evolutionären Abstand zwischen Menschen und Vögeln bedenkt. Eine Gruppe von 200 Wissenschaftlern aus 80 verschiedenen Laboren ermöglichte uns vor gar nicht langer Zeit einen Blick auf diese Parallelen. Die Forscher sequenzierten die Genome von 84 Vögeln, und die 2014 veröffentlichten Resultate verrieten eine verblüffend ähnliche Genaktivität in den Gehirnen von Menschen, die sprechen lernen, und denen von Vögeln, die singen lernen. Das gibt zu der Vermutung Anlass, dass es eine Art Genexpressions-Grundmuster fürs Lernen geben könnte, das bei Vögeln und Menschen gleich ist und sich in konvergenter Evolution entwickelt hat.
Aus alledem ergibt sich, dass sich am Modell von Vögeln ganz hervorragend studieren lässt, wie unser eigenes Gehirn lernt und sich erinnert, wie wir Menschen Sprache erschaffen, welche mentalen Prozesse unserem Problemlösungsverhalten zugrunde liegen und wie wir uns im Raum und in sozialen Gruppierungen positionieren. Die Schaltkreise im Vogelgehirn, die das soziale Verhalten kontrollieren, sind, wie sich herausstellt, den Schaltkreisen in unserem Gehirn sehr ähnlich, sie werden von ähnlichen Genen und biochemischen Stoffen betrieben. Indem wir die neurochemischen Grundlagen des sozialen Verhaltens von Vögeln untersuchen, können wir etwas über die unseres eigenen Sozialverhaltens lernen. Auf die gleiche Weise können wir, wenn wir begreifen, was in einem Vogelhirn beim Erlernen einer Melodie vor sich geht, auch den menschlichen Spracherwerb besser ergründen, können begreifen, wie unser Gehirn Sprache erlernt, warum es mit zunehmendem Alter schwerer ist, eine neue Sprache zu erwerben, und vielleicht sogar, wie Sprache sich überhaupt entwickelt hat. Wenn wir begreifen, wieso zwei Wesen, die nur entfernt miteinander verwandt sind, im Schlaf das gleiche Muster von Gehirnaktivität aufweisen, können wir vielleicht sogar eines der größten Geheimnisse der Natur lösen – wozu Schlaf gut ist.
In diesem Buch versuche ich, nicht nur die verschiedenen Formen von Genie zu verstehen, die Vögel so erfolgreich gemacht haben, sondern auch, wie diese entstanden sind. Es ist eine Art Reise, die ebenso in die Ferne führt, bis nach Barbados und Borneo, wie in die nächste Nähe, in meinen eigenen Garten. (Man muss nicht an exotische Orte fahren oder exotische Arten untersuchen, um auf die Intelligenz von Vögeln zu stoßen. Sie findet sich überall, direkt bei Ihnen, an Ihren Vogelfutterstellen, im Park in Ihrer Nähe, auf städtischen Straßen und am ländlichen Himmel.) Das Buch ist auch eine Reise in das Gehirn von Vögeln, bis tief in die Zellen und Moleküle, die ihr Denken antreiben und manchmal auch unseres.
In jedem Kapitel wird eine Geschichte von Vögeln mit außergewöhnlichen Fähigkeiten oder Talenten erzählt – technischen, sozialen, musikalischen, künstlerischen, räumlichen, erfinderischen und solchen des Anpassungsgeschicks. Mitglieder der äußerst gewitzten Rabenvogel- und Papageienfamilien werden auf diesen Seiten immer wieder auftauchen, aber auch der Spatz und der Fink, die Taube und die Meise. Mich interessieren die Durchschnittsbewohner der Vogelwelt ebenso wie die Einsteins. Natürlich hätte ich mir auch andere Arten aussuchen können als meine Stars, aber ich habe mich aus einem einfachen Grund für sie entschieden: Sie können großartige Geschichten erzählen – Geschichten, die veranschaulichen, was möglicherweise im Verstand eines Vogels vor sich geht, wenn er die Probleme löst, die ihm seine Umwelt stellt; und vielleicht können diese Geschichten uns auch eine Perspektive auf das eröffnen, was in unserem eigenen Verstand vor sich geht. All diese Vögel erweitern unsere Vorstellung davon, was es heißt, intelligent zu sein.
Das abschließende Kapitel konzentriert sich auf die brillante Anpassungsfähigkeit bestimmter Vögel. Nur relativ wenige verfügen über dieses Genie. Veränderungen in der Umwelt – besonders solche, die von Menschen verursacht wurden – bringen das Leben vieler Vögel völlig aus dem Lot und stellen ihr erlerntes Wissen in Frage. In einem jüngst veröffentlichten Bericht der Audubon Society ist zu lesen, dass die Hälfte der nordamerikanischen Vogelarten – von der Schwarzkehl-Nachtschwalbe bis zum Weißschwanzaar, vom Eistaucher bis zur Löffelente, vom Flötenregenpfeifer bis zum Felsengebirgshuhn – vermutlich in etwa einem halben Jahrhundert ausgestorben sein werden, und zwar aus einem einzigen Grund: Sie sind nicht in der Lage, sich an das schnelle Tempo menschengemachter Veränderungen auf unserem Planeten anzupassen. Welche Vögel werden überleben und warum? Auf welche Weise sind wir Menschen eine evolutionäre Macht, die nur bestimmte Arten von Vögeln und Vogelintelligenz überleben lässt?
Wissenschaftler nähern sich diesen Rätseln aus den verschiedensten Blickwinkeln. Einige heben den Deckel vom Vogelhirn und benutzen moderne Techniken, um zu sehen, was in den neuronalen Schaltkreisen passiert, wenn ein Vogel ein menschliches Gesicht wiedererkennt, oder um bestimmte Gehirnzellen zu beobachten, während ein Singvogel ein Lied lernt, oder aber um die Neurochemie von sehr geselligen Vögeln mit der von Einzelgängern zu vergleichen. Andere sequenzieren und vergleichen das Genom verschiedener Vögel, um die Gene herauszufiltern, die für komplexes Verhalten, wie etwa das Lernen, zuständig sind. Wieder andere befestigen winzige sogenannte Geolokatoren am Rücken von Zugvögeln, um ihre Reisen und ihre inneren Landkarten zu erforschen. Sie überwachen, markieren, messen und beobachten unermüdlich, bereiten sorgfältig und sehr ausführlich Experimente vor, von denen einige schließlich scheitern und neu geplant werden müssen, weil ihr Untersuchungsgegenstand entweder zu argwöhnisch oder zu widerspenstig ist. Kurzum, diese Wissenschaftler untersuchen das Gehirn und das Verhalten von Vögeln auf ungewöhnliche, komplizierte und manchmal sogar heroische Weise.
Doch in diesem Buch sind die Vögel selbst die eigentlichen Helden ihrer Geschichten. Und ich hoffe, dass Ihnen die Meise und die Krähe, die Spottdrossel und der Spatz nach der Lektüre dieser Seiten ein wenig anders erscheinen werden. Nämlich als die gewitzten Mitbewohner der Erde, die sie sind – unternehmungslustige, erfinderische, verspielte, durchtriebene Wesen, die einander mit «Akzent» vorsingen, komplexe navigatorische Entscheidungen treffen, ohne nach der Richtung zu fragen, sich mit Hilfe von Landmarken und Geometrie erinnern, wo sie etwas hingetan haben, Geld stehlen, Nahrung stehlen und die innere Befindlichkeit eines anderen Wesens verstehen können.
Es gibt offensichtlich mehr als nur einen Weg zu einem klugen Gehirn.