Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2017

Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © 2016 by Jennifer Ackerman

Ilustrationen Innenteil John Burgoyne

Mitarbeit Hubert Mania

Die Übersetzerin dankt Holger Mihm für die große Unterstützung bei allen Sach- und Fachfragen

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel «The Genius of Birds» bei Penguin Press.

Redaktion: Ulrike Gallwitz

Umschlaggestaltung nach dem Original von Penguin Press (Gestaltung: Gabriele Wilson)

Umschlagabbildung: Eunike Nugroho

Foto der Autorin: Robert Llewellyn

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-498-00098-1 (1. Auflage 2017)

ISBN E-Book 978-3-644-00068-1

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-00068-1

Die Genies der Lüfte

Vögel, so hieß es lange abfällig, seien dumm. Knopfaugen und kein Grips. Reptilien mit Flügeln und Hühnerverstand. Kleine Trottel. Sie fliegen gegen Fenster, hacken auf ihr Spiegelbild ein, rauschen in Überlandleitungen, flattern in den Untergang.

Unsere Sprache verrät unsere Respektlosigkeit. Jemanden, dem das Schicksal hart zusetzt, nennen wir einen «Pechvogel» oder einen «Unglücksraben». «Der hat ’ne Meise», sagt man über jemanden, den man für nicht ganz bei Verstand hält. Ein zickiges, albernes Mädchen ist eine «dumme Pute», ein erfolgloser Politiker eine «lahme Ente», und wer viel Alkohol trinkt, eine «Schnapsdrossel» oder ein «Schluckspecht». «Weiß der Kuckuck», sagt man, weil man das Wort Teufel lieber nicht ausspricht. «Hahnrei» ist das etwas altmodische Wort für einen betrogenen Ehemann, und eine «Rabenmutter» kümmert sich nicht um ihre Kinder. Bei dem «piept es wohl», äußert man spöttisch über eine dumme, törichte oder schusselige Person mit einem «Spatzenhirn». Der entsprechende englische Ausdruck «bird brain» tauchte übrigens zum ersten Mal in den frühen 1920ern auf; Vögel wurden für bloße fliegende, pickende Automaten gehalten, in deren winziges Gehirn nicht der kleinste Gedanke hineinpasst.

Diese Ansicht ist Schnee von gestern. Seit etwa zwei Jahrzehnten berichten Feldforscher und Labore auf der ganzen Welt von Hirnleistungen bestimmter Vogelarten, die sich mit denen von Primaten vergleichen lassen. Da ist zum Beispiel ein Vogel, der

Bisher waren es andere Tiere, die allen Ruhm für ihre fast menschliche Klugheit einheimsten: Schimpansen machen Speere aus Stöcken, um kleinere Primaten zu jagen, und Delfine kommunizieren über ein komplexes System aus Pfiffen und Klicklauten. Menschenaffen trösten einander, und Elefanten trauern um den Verlust eines Verwandten.

Nun haben die Vögel sich dazugesellt. Eine Unzahl neuerer Forschungen hat die alten Ansichten revidiert, und wir begreifen allmählich, dass Vögel sehr viel intelligenter sind, als wir uns jemals vorgestellt haben – in mancher Hinsicht stehen sie unseren Primaten-Verwandten sogar näher als ihren Reptilien-Verwandten.

Es war in den 1980er Jahren, als der charmante und listige Graupapagei namens Alex zusammen mit der Wissenschaftlerin Irene Pepperberg der Welt vorführte, dass manche Vögel offenbar die kognitive Intelligenz von Primaten besitzen. Bevor Alex mit 31 Jahren (nach der Hälfte der erwartbaren Lebensspanne) plötzlich starb, beherrschte er ein Vokabular von Hunderten englischer Bezeichnungen für Gegenstände, Farben und Formen. Er erfasste den kategorialen Unterschied von gleich und verschieden für Zahl, Farbe und Form. Wenn ihm auf einem Tablett diverse Objekte verschiedener Farben und unterschiedlichen Materials präsentiert wurden, konnte er die Anzahl der Objekte gleichen Typs nennen.

In den 1990ern kamen dann aus Neukaledonien, einer kleinen Insel im Südpazifik, nach und nach erste Berichte über Krähen, die sich in der freien Natur ihr Werkzeug selbst herstellen und ihre spezielle Technik offenbar auch von Generation zu Generation weitergeben – eine Leistung, die an die menschliche Kultur erinnert und beweist, dass für raffinierten Werkzeuggebrauch kein Primatenhirn erforderlich ist.

Als die Wissenschaftler diesen Krähen Rätsel vorsetzten, um ihre Problemlösefähigkeit zu testen, verblüfften die Vögel sie mit ihren schlauen Lösungen. 2002 fragten Alex Kacelnik und seine Kollegen an der Universität Oxford die eingefangene neukaledonische Krähe namens Betty: «Kommst du an das Fressen, das sich außerhalb deiner Reichweite in einem kleinen Eimer am Ende dieser Röhre befindet?» Betty machte die Forscher fassungslos, indem sie spontan ein Stück Draht zu einem Haken bog und den kleinen Eimer zu sich heranzog.

 

Spatzenhirn: Die Verunglimpfung rührte von dem Glauben her, die Gehirne von Vögeln seien so winzig, dass sie nur für instinktives Verhalten reichen. Ihr Gehirn besitze nicht wie unseres eine Hirnrinde, wo all die «schlauen» Sachen passieren. Wir dachten, Vögel hätten aus gutem Grund einen winzigen Kopfinhalt: für ihre luftige Fortbewegung; um der Schwerkraft zu trotzen; um zu schweben, zu tanzen, zu tauchen, tagelang durch die Luft zu segeln, Tausende von Meilen als Zugvögel zurückzulegen und sich in sehr engen Räumen zu bewegen. Ihre Beherrschung des Luftraums, so schien es, hatten die Vögel mit dem Verlust kognitiver Fähigkeiten bezahlt.

Bei näherem Hinsehen haben wir umlernen müssen. Vögel besitzen in der Tat ein sehr anderes Gehirn als wir – kein Wunder. Menschen und Vögel haben sich seit sehr, sehr langer Zeit unabhängig voneinander entwickelt: Den letzten gemeinsamen Vorfahren gab es vor mehr als 300 Millionen Jahren. Einige Vögel haben übrigens für ihre Körpergröße ein relativ großes Gehirn, genauso wie wir. Außerdem scheint die Größe, wenn es um Intelligenz geht, weniger wichtig zu sein als die Anzahl der Neuronen sowie ihre Positionierung und die Art und Weise, wie sie miteinander verbunden sind. In einigen Vogelhirnen drängen sich die Neuronen an wichtigen Stellen in sehr großen Mengen und einer Dichte, die der bei Primaten ähnelt, und sie sind kaum anders platziert und verknüpft als in unserem Gehirn. Das könnte zu großen Teilen erklären, wieso

Wie unser Gehirn ist auch das der Vögel «lateralisiert», d.h., bestimmte Bereiche sind auf bestimmte Funktionen spezialisiert, das Gehirn hat «Seiten», die verschiedene Arten von Informationen verarbeiten. Es besitzt außerdem die Fähigkeit, alte Gehirnzellen genau dann durch neue zu ersetzen, wenn sie am dringendsten benötigt werden. Und obwohl ein Vogelhirn auf gänzlich andere Weise als unseres organisiert ist, hat es doch ähnliche Gene und neuronale Schaltkreise und ist zu äußerst erstaunlichen intellektuellen Höchstleistungen in der Lage. Apropos Verstand: Elstern können sich selbst im Spiegel erkennen, haben also eine Vorstellung vom «Ich», die wir einst Menschen, Menschenaffen, Elefanten und Delfinen und einem hoch entwickelten sozialen Bewusstsein vorbehalten glaubten. Der Westliche Buschhäher benutzt machiavellische Taktiken, um sein Futter vor anderen Hähern zu verstecken – allerdings nur, wenn er das Futter selbst gestohlen hat. Diese Vögel scheinen irgendwie zu wissen, was andere Vögel «denken», sie können sich womöglich in sie hineinversetzen. Sie behalten auch, was für Futter sie wo vergraben haben – und wann, sodass sie sich den Happen wieder holen können, bevor er schlecht wird. Diese Fähigkeit, sich an das Was, Wo und Wann eines Ereignisses zu erinnern, wird episodisches Gedächtnis genannt und legt für einige Wissenschaftler die Vermutung nahe, dass diese Häher vielleicht in der Lage sind, im Geiste in die Vergangenheit zurückzuwandern – was einst als Schlüsselkomponente für jene Art mentaler Zeitreisen galt, zu denen ausschließlich Menschen fähig seien.

Wir wissen inzwischen auch, dass Singvögel ihre Lieder auf dieselbe Weise lernen, wie wir Sprachen lernen, und ihre Melodien dann weiterreichen; diese Tradition der Überlieferung begann schon vor zig Millionen Jahren, als unsere Primatenvorfahren noch auf allen vieren herumkrochen.

Manche Vögel sind geborene Euklidianer und können sich

Ein Vogelhirn mag klein sein, aber lassen Sie sich von seinem Gewicht nicht täuschen.

 

Mir sind Vögel nie dumm vorgekommen. Im Gegenteil, wenige andere Geschöpfe sind so aufgeweckt, so durch und durch lebendig und geschickt, so voll unermüdlichem Schwung. Natürlich kenne ich die Geschichte von dem Raben, der einen Pingpongball aufzuknacken versucht, vermutlich weil er sich darin etwas Eiähnliches erhofft. Ein Freund, der in der Schweiz Urlaub machte, hat beobachtet, wie ein Pfau seinen breiten Schwanz bei heftigem Wind aufzufächern versuchte. Er kippte um, stand wieder auf, spreizte erneut die Federn und fiel wieder um, sechs- oder siebenmal hintereinander. Und in jedem Frühling attackieren die Rotkehlchen, die in unserem Kirschbaum nisten, den Außenspiegel unseres Autos, als wäre er ein Rivale, picken wie wild auf ihr eigenes Spiegelbild ein und kacken unterdessen die Wagentür voll.

Doch wer von uns ist nicht auch schon über die eigene Eitelkeit gestolpert oder hat sich sein Ebenbild zum Feind erkoren?

In einem Jahr nistete eine Östliche Kreischeule nur wenige Meter von meinem Küchenfenster entfernt im Nistkasten eines Ahornbaums. Tagsüber schlief die Eule, nur ihr runder Kopf war zu sehen, perfekt eingerahmt von dem runden Loch, das in meine Richtung zeigte. Doch nachts verließ die Eule den Nistkasten, um auf die Jagd zu gehen. Und in der Morgendämmerung sah ich dann die Zeichen ihres großartigen Erfolgs – den Flügel einer Trauertaube oder einen Singvogel, der wild zuckend halb aus dem Kasten hing, bis er hineingezogen wurde.

Sogar die Knuttstrandläufer, denen ich an den Stränden der Delaware-Bucht begegnete und die nicht gerade die Hellsten sind, wussten offenbar, wo sie wann sein mussten, um an die vielen köstlichen Eier zu gelangen, die die Pfeilschwanzkrebse im Frühling bei Vollmond legen. Welcher Himmelskalender verriet diesen Vögeln, wohin sie ziehen mussten, und schickte sie gen Norden?

 

Vieles über Vögel lernte ich von zwei Männern, die beide Bill hießen. Der eine war mein Vater, Bill Gorham, der mich, seit ich sieben oder acht war, in der Umgebung unseres Wohnorts in

Mein Vater lernte die Vögel als Pfadfinder durch einen fast blinden Mann kennen, der Apollo Taleporos hieß. Der alte Mann verließ sich allein auf seine Ohren, wenn er eine Vogelart bestimmte. Meisenwaldsänger. Kronwaldsänger. Rötelgrundammer. «Die Vögel sind da!», rief er den Jungen immer zu. «Los, findet sie!» Mein Vater wurde sehr gut darin, Vögel an ihrem Ruf zu identifizieren – er erkannte den melodiösen, flötenartigen Gesang der Walddrossel, das weiche Wi-tschi-ti, Wi-tschi-ti des Weidengelbkehlchens oder den hellen, pfeifenden Ruf einer Weißkehlammer.

Wenn ich mit meinem Vater im späten Licht der Sterne durch den Wald wanderte, lauschte ich etwa dem heiseren Gesang eines Carolina-Zaunkönigs und fragte mich, was so ein Vogel wohl sagte, falls er überhaupt etwas sagte, und wie die Vögel ihre Lieder lernten. Einmal stieß ich auf eine junge Dachsammer, die offenbar gerade ihr Lied übte. Sie hockte irgendwo unsichtbar auf einem niedrigen Zweig einer Zeder, begann mit ihren Pfiffen und Trillern, machte einen Fehler und begann ruhig und hartnäckig so lange von vorn, bis sie die richtige Abfolge endlich beherrschte. Später erfuhr ich, dass diese Ammer sich ihre Lieder nicht vom eigenen Vater abhört, sondern von den Vögeln der Gegend, in der sie geboren wird – ebenjenen Wäldern und Flüssen, die ich von den Wanderungen mit meinem Vater kannte –, dort wird der spezielle Dialekt seit Generationen weitergegeben.

Den zweiten Bill lernte ich im Sussex Bird Club kennen, als ich

Die Vögel, die ich bei diesen und anderen Ausflügen beobachtete, schienen durchaus zu wissen, was sie taten. Genau wie der Schwarzschnabelkuckuck, den ein Freund direkt über dem Nest von Ringelspinnerraupen hocken sah: Der Kuckuck wartete, bis die Raupen aus dem Nest krochen, um den Baum hinaufzuklettern, und pflückte dann eine nach der anderen ab, wie Sushi von einem Förderband.

Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass die Elstern und Häher, die Meisen und Reiher, die ich für ihre Federn und ihren Flug, ihre Lieder und ihre Rufe so sehr bewunderte, über mentale Fähigkeiten verfügten, die denen meiner Primatenverwandtschaft entsprechen – oder sie sogar übertreffen.

Wie können Geschöpfe mit einem nussgroßen Gehirn solche raffinierten mentalen Meisterstücke vollbringen? Was hat ihre Intelligenz geformt? Ist sie wie unsere Intelligenz beschaffen, oder

 

Intelligenz ist ein schwammiger Begriff und selbst für unsere eigene Gattung weder einfach zu definieren noch einfach zu messen. Für den einen Psychologen ist es «die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen oder zu profitieren». Für den anderen «die Fähigkeit, Fähigkeiten zu erwerben» – eine Definition, die ebenso zirkulär ist wie die des Harvard-Psychologen Edwin Boring: «Intelligenz ist das, was mit Intelligenztests gemessen wird». Wie Robert Sternberg, ein ehemaliger Dekan an der Tufts University einmal spöttelte: «Es scheint ebenso viele Definitionen von Intelligenz zu geben wie […] Experten, die gebeten wurden, sie zu definieren.»

Wenn es generell um die Beurteilung der Intelligenz von Tieren geht, sollten Wissenschaftler vielleicht darauf schauen, wie erfolgreich sie in vielen unterschiedlichen Umgebungen überleben und sich reproduzieren. Und nach diesen Kriterien übertrumpfen Vögel nahezu sämtliche anderen Wirbeltiere, eingeschlossen Fische, Amphibien, Reptilien und Säugetiere. Sie sind die einzigen wild lebenden Tiere, die fast überall anzutreffen sind. Sie leben in sämtlichen Teilen des Globus, vom Äquator bis zu den Polen, in den am tiefsten gelegenen Wüsten ebenso wie auf den höchsten Gipfeln, praktisch in jedem Habitat – Land, Meer und Süßwasser. In biologischen Begriffen: Sie besetzen eine sehr große ökologische Nische.

Als Klasse gibt es Vögel schon seit mehr als 100 Millionen Jahren. Sie stellen eine der großen Erfolgsgeschichten der Natur dar, indem sie immer neue Strategien des Überlebens, ihre eigenen charakteristischen Formen von Einfallsreichtum erfinden, die, zumindest in mancher Hinsicht, die unsrigen zu übertreffen scheinen.

Irgendwo im Dunkel der Zeit lebte einst der Urvogel, der gemeinsame Vorfahr aller Vögel, vom Kolibri bis zum Reiher. Heute

Vielleicht weil sie so anders als Menschen sind, finden wir es schwierig, ihre mentalen Fähigkeiten wirklich zu würdigen. Vögel sind Dinosaurier; sie stammen von den wenigen glücklichen Anpassungsfähigen ab, die die Katastrophen – welche auch immer – überlebt haben, an denen ihre Cousins und Cousinen zugrunde gingen. Wir sind Säugetiere und verwandt mit den furchtsamen, winzigen, spitzmausähnlichen Geschöpfen, die erst dann im Schatten der Dinosaurier auftauchten, als die meisten dieser Tiere schon ausgestorben waren. Und während unsere Säugetierverwandten immer größer wurden, wurden die Vögel im Verlauf desselben Prozesses natürlicher Auslese immer kleiner. Während wir lernten, uns aufzurichten und auf zwei Beinen zu gehen, perfektionierten sie Leichtigkeit und Flug. Während unsere Neuronen sich zu Rindenschichten gruppierten, um komplexes Verhalten zu erzeugen, entwickelten die Vögel eine vollkommen andere neuronale Architektur; sie unterscheidet sich zwar von der der Säugetiere, ist aber – zumindest in mancher Hinsicht – ebenso raffiniert. Genauso wie

 

Vögel lernen. Sie lösen neue Probleme und erfinden originelle Lösungen für alte. Sie stellen Werkzeug her und benutzen es. Sie zählen. Sie imitieren das Verhalten anderer. Sie erinnern sich, wo sie Dinge abgelegt haben.

Auch wenn ihre mentale Leistung nicht ganz unserem komplexen Denken entspricht, so enthält sie doch Ansätze dazu – zum Beispiel so etwas wie Einsicht, eine unserer kostbarsten kognitiven Fähigkeiten, die man als das plötzliche Auftauchen einer Lösung ohne langes vorheriges Herumprobieren definiert hat. Häufig bedeutet das ein mentales Simulieren des Problems mit einem plötzlichen «Aha»-Moment, wenn die Lösung sich als blitzartige Erkenntnis meldet. Ob Vögel tatsächlich über Einsicht verfügen, ist noch nicht entschieden, aber bestimmte Arten scheinen das Prinzip von Ursache und Wirkung zu verstehen – einen der Grundbausteine von Einsicht. Dasselbe gilt für die «native Theorie», d.h. das differenzierte Verständnis für etwas, das ein anderes Individuum weiß oder denkt. Ob Vögel diese Fähigkeit in vollem Umfang besitzen, ist umstritten, aber Mitglieder bestimmter Arten scheinen in der Lage zu sein, die Perspektive eines anderen Vogels einzunehmen oder zu spüren, was er braucht – beides notwendige Bestandteile der nativen Theorie. Einige Wissenschaftler halten diese Grundbausteine für das Kennzeichen von Wahrnehmung überhaupt und glauben, dass sie möglicherweise die Vorläufer solch hochkomplexer menschlicher Fähigkeiten wie Schlussfolgern und Planen, Empathie und Einsicht sowie Metakognition sind, wobei Letzteres das Wissen um die eigenen kognitiven Prozesse meint.

 

Welche Art von Intelligenz erlaubt es einem Vogel, ein fernes Unwetter vorauszuahnen? Oder den Weg zu einem Ort zu finden, an dem er noch nie war und der vielleicht viele tausend Meilen entfernt ist? Oder die komplexen Gesänge Hunderter anderer Arten zu imitieren? Oder Zigtausende Körner auf einer Fläche von mehreren hundert Quadratmeilen zu verstecken und sechs Monate später noch zu wissen, wo? (Ich würde bei dieser Art von Aufgaben genauso sicher versagen, wie Vögel vermutlich an den meinen scheitern würden.)

Vielleicht ist Genie das bessere Wort. Der Begriff, der dieselbe Wurzel wie Gen hat, leitet sich her von dem lateinischen Wort genius und bedeutete ursprünglich «persönlicher Schutzgott, der von Geburt an da ist; angeborene Fähigkeit oder Neigung». Später meinte genius dann angeborene Fähigkeit, schließlich (dank Joseph Addisons Essay «Genie» von 1711) außergewöhnliches Talent, sei es angeboren oder erworben.

Erst neuerdings ist Genie auch als die Fähigkeit definiert worden, «etwas einfach gut tun zu können, was andere nur schlecht tun können», und beschreibt ein mentales Talent, das außergewöhnlich ist, verglichen mit dem, was andere der eigenen oder einer fremden Spezies können. Tauben sind geniale Navigatoren und uns darin bei weitem überlegen. Spottdrosseln können unendlich viel mehr Lieder lernen und behalten als die meisten anderen Singvogelarten. Buschhäher und Tannenhäher haben ein Gedächtnis für ihre Verstecke, neben dem unseres alt aussieht.

 

In diesem Buch verstehe ich unter Genie die Gabe, zu wissen, was man tut – seine Umgebung «zu kapieren», Dinge zu erfassen

 

Das «Spatzenhirn» hatte sich endlich für seinen verunglimpfenden Gebrauch gerächt. Das heißt, die angeblich zentralen Unterscheidungsmerkmale zwischen Vögeln und unseren nächsten Primatenverwandten – Werkzeugbau, Kultur, die Fähigkeit, zu schlussfolgern, sich an die Vergangenheit zu erinnern und an die Zukunft zu denken, die Fähigkeit, den Blickwinkel eines anderen einzunehmen sowie voneinander zu lernen – scheinen sich, eines nach dem anderen, in Luft aufzulösen. Viele unserer hochgeschätzten Formen von Intelligenz scheinen sich – entweder teilweise oder im Ganzen – bei den Vögeln ziemlich unabhängig und sehr raffiniert direkt neben den unsrigen entwickelt zu haben.

Wie kann das sein? Wie können Geschöpfe, die evolutionär seit 300 Millionen Jahren voneinander getrennt sind, ähnliche kognitive Strategien, Talente und Fähigkeiten entwickeln?

Auch den Herausforderungen der Natur begegnen wir auf ähnliche Weise wie Vögel, selbst wenn wir sie auf unterschiedlichen evolutionären Wegen erworben haben. So etwas nennt sich konvergente Evolution, und in der Natur ist sie überall zu finden. Die übereinstimmende Form der Flügel bei Vögeln, Fledermäusen und jenen Reptilien, die Flugsaurier genannt wurden, ist ein Resultat der Probleme, die sich beim Fliegen stellten. Tiere, die am Baum des Lebens so weit voneinander entfernt sind wie Bartenwale und Flamingos, entwickelten, vor die Aufgabe gestellt, ihre Nahrung aus dem Wasser herauszufiltern, erstaunliche Ähnlichkeiten in Verhalten, Körpergestalt (große Zungen und behaartes Gewebe, genannt Lamellen) und sogar in der Körperausrichtung. Wie der Evolutionsbiologe John Endler hervorhebt: «Immer wieder registrieren wir bei absolut nicht verwandten Gruppen vielerlei Übereinstimmungen in Form, Erscheinung, Anatomie, Verhalten und anderen Aspekten. Warum also nicht auch im Denkvermögen?»

Dass sowohl Menschen als auch bestimmte Vogelarten ein für ihr Körpergewicht großes Gehirn haben, weist mit ziemlicher Sicherheit auf konvergente Evolution hin. Ebenso die Entwicklung derselben Muster von Hirnaktivität im Schlaf. Wie auch die

Aus alledem ergibt sich, dass sich am Modell von Vögeln ganz hervorragend studieren lässt, wie unser eigenes Gehirn lernt und sich erinnert, wie wir Menschen Sprache erschaffen, welche mentalen Prozesse unserem Problemlösungsverhalten zugrunde liegen und wie wir uns im Raum und in sozialen Gruppierungen positionieren. Die Schaltkreise im Vogelgehirn, die das soziale Verhalten kontrollieren, sind, wie sich herausstellt, den Schaltkreisen in unserem Gehirn sehr ähnlich, sie werden von ähnlichen Genen und biochemischen Stoffen betrieben. Indem wir die neurochemischen Grundlagen des sozialen Verhaltens von Vögeln untersuchen, können wir etwas über die unseres eigenen Sozialverhaltens lernen. Auf die gleiche Weise können wir, wenn wir begreifen, was in einem Vogelhirn beim Erlernen einer Melodie vor sich geht, auch den menschlichen Spracherwerb besser ergründen, können begreifen, wie unser Gehirn Sprache erlernt, warum es mit zunehmendem Alter schwerer ist, eine neue Sprache zu erwerben, und vielleicht sogar, wie Sprache sich überhaupt entwickelt hat. Wenn wir begreifen, wieso zwei Wesen, die nur entfernt miteinander verwandt sind, im Schlaf das gleiche Muster von Gehirnaktivität

 

In diesem Buch versuche ich, nicht nur die verschiedenen Formen von Genie zu verstehen, die Vögel so erfolgreich gemacht haben, sondern auch, wie diese entstanden sind. Es ist eine Art Reise, die ebenso in die Ferne führt, bis nach Barbados und Borneo, wie in die nächste Nähe, in meinen eigenen Garten. (Man muss nicht an exotische Orte fahren oder exotische Arten untersuchen, um auf die Intelligenz von Vögeln zu stoßen. Sie findet sich überall, direkt bei Ihnen, an Ihren Vogelfutterstellen, im Park in Ihrer Nähe, auf städtischen Straßen und am ländlichen Himmel.) Das Buch ist auch eine Reise in das Gehirn von Vögeln, bis tief in die Zellen und Moleküle, die ihr Denken antreiben und manchmal auch unseres.

In jedem Kapitel wird eine Geschichte von Vögeln mit außergewöhnlichen Fähigkeiten oder Talenten erzählt – technischen, sozialen, musikalischen, künstlerischen, räumlichen, erfinderischen und solchen des Anpassungsgeschicks. Mitglieder der äußerst gewitzten Rabenvogel- und Papageienfamilien werden auf diesen Seiten immer wieder auftauchen, aber auch der Spatz und der Fink, die Taube und die Meise. Mich interessieren die Durchschnittsbewohner der Vogelwelt ebenso wie die Einsteins. Natürlich hätte ich mir auch andere Arten aussuchen können als meine Stars, aber ich habe mich aus einem einfachen Grund für sie entschieden: Sie können großartige Geschichten erzählen – Geschichten, die veranschaulichen, was möglicherweise im Verstand eines Vogels vor sich geht, wenn er die Probleme löst, die ihm seine Umwelt stellt; und vielleicht können diese Geschichten uns auch eine Perspektive auf das eröffnen, was in unserem eigenen Verstand vor sich geht. All diese Vögel erweitern unsere Vorstellung davon, was es heißt, intelligent zu sein.

Das abschließende Kapitel konzentriert sich auf die brillante Anpassungsfähigkeit bestimmter Vögel. Nur relativ wenige

 

Wissenschaftler nähern sich diesen Rätseln aus den verschiedensten Blickwinkeln. Einige heben den Deckel vom Vogelhirn und benutzen moderne Techniken, um zu sehen, was in den neuronalen Schaltkreisen passiert, wenn ein Vogel ein menschliches Gesicht wiedererkennt, oder um bestimmte Gehirnzellen zu beobachten, während ein Singvogel ein Lied lernt, oder aber um die Neurochemie von sehr geselligen Vögeln mit der von Einzelgängern zu vergleichen. Andere sequenzieren und vergleichen das Genom verschiedener Vögel, um die Gene herauszufiltern, die für komplexes Verhalten, wie etwa das Lernen, zuständig sind. Wieder andere befestigen winzige sogenannte Geolokatoren am Rücken von Zugvögeln, um ihre Reisen und ihre inneren Landkarten zu erforschen. Sie überwachen, markieren, messen und beobachten unermüdlich, bereiten sorgfältig und sehr ausführlich Experimente vor, von denen einige schließlich scheitern und neu geplant werden müssen, weil ihr Untersuchungsgegenstand entweder zu argwöhnisch oder zu widerspenstig ist. Kurzum, diese Wissenschaftler untersuchen das Gehirn und das Verhalten von Vögeln

Doch in diesem Buch sind die Vögel selbst die eigentlichen Helden ihrer Geschichten. Und ich hoffe, dass Ihnen die Meise und die Krähe, die Spottdrossel und der Spatz nach der Lektüre dieser Seiten ein wenig anders erscheinen werden. Nämlich als die gewitzten Mitbewohner der Erde, die sie sind – unternehmungslustige, erfinderische, verspielte, durchtriebene Wesen, die einander mit «Akzent» vorsingen, komplexe navigatorische Entscheidungen treffen, ohne nach der Richtung zu fragen, sich mit Hilfe von Landmarken und Geometrie erinnern, wo sie etwas hingetan haben, Geld stehlen, Nahrung stehlen und die innere Befindlichkeit eines anderen Wesens verstehen können.

Es gibt offensichtlich mehr als nur einen Weg zu einem klugen Gehirn.